Das gute Leben aus theologischer, pädagogischer und philosophischer Perspektive… … so lautet das mir gestellte Thema des Vortrages1. Mir erscheint ein modifizierter Titel eher stimmig. Am Ende des Vortrages nenne ich ihn. Ich beginne mit einer Erinnerung aus meiner Familiengeschichte: Im vergangenen Oktober starb mein Vater. Der Ansprache seiner Beerdigung lag der biblische Text zugrunde, der auch sein Konfirmationsspruch war: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8). Dieser Text bestimmte sein Leben als Pfarrer, als Direktor einer Schwesternschaft, als sozialpolitisch Handelnder und auch als Ehemann und Vater. Es war klar, was gut ist. Gut war, was Gott fordert, und zugleich: Was Gott fordert, das war gut. Und das Gute war in großer Selbstverständlichkeit verknüpft mit seiner Lebenspraxis. Auch wenn es nicht immer gelang, die Perspektive war klar: Es ist dir gesagt Mensch… Und dem, was von Gott gesagt ist, hat der Mensch zu folgen. Aus soziologischer, modernisierungstheoretischer wie philosophisch ethischer Sicht war das biblisch begründete und von daher normative und deshalb lebenslang selbstverständliche Lebensmotto meines Vaters Ausdruck eines vormodernen Verständnisses von Ethik und Gesellschaft – und Teil einer statischen und somit – ich komme darauf zurück – hochgradig gewaltförmigen Sprache: was „gut“ ist war klar und unveränderbar, denn: „Es ist dir gesagt“ – und das auch noch von Gott. Im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft wird freilich alle Normativität aus ihr selbst heraus erzeugt. Es gibt keine Position außerhalb der Gesellschaft, die über das, was gut ist, und das, was gutes Leben ist und was wir deshalb sollen oder dürfen oder müssen oder wollen, befinden kann. Stattdessen gilt: wir dürfen was wir dürfen, wir sollen was wir wollen – und das ist das, was sich in demokratischer Selbstverständigung oder auch im Streit jeweils herauskristallisiert. Ethik, gleich ob theologischer, philosophischer oder pädagogischer Herkunft, trägt einen Teil dazu bei, dieses herauszufinden, indem sie für diesen gesellschaftlichen Verständigungsprozess Modelle des Lebens, Modelle des Handelns oder Unterlassens bereitstellt und diesbezügliche Beratungsleistungen erbringt.2 Ich möchte Ihnen deshalb nicht sagen, was das gute Leben aus pädagogischer, philosophischer und theologischer Perspektive ist, sondern ich möchte Ihnen davon berichten, was ich – mehr oder weniger begründet – zu Fragen nach dem Leben theologisch und pädagogisch denke und ich schließe mit einem ganz kleinen philosophischen Ausflug zu Aristoteles. Und Sie haben dann die Freiheit, dies für sich und in Ihren Lebenskontext zu übersetzen und dort begründet zu integrieren oder zu verwerfen – und die gleiche Freiheit Ihren Schülerinnen und Schülern ebenso zu gönnen wie zuzumuten. Ich komme zur Gliederung meines Vortrages: „Und siehe, es war sehr gut“ – ein Blick auf die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 Das Essen der Frucht – ein Blick auf die Paradiesgeschichte in Genesis 3 Das Unkraut inmitten des Weizens – ein Blick auf ein Gleichnis Jesu „In Christus hineinwachsen“ – ein Blick auf Jesus „Jenseits von richtig und falsch…“ – jetzt beginnt der pädagogische Blick auf das Leben „Ist die Kirche Anwalt der Menschen…“ – entscheidend sind die Bedürfnisse der Menschen „Gewaltfreie Kommunikation (GFK)“ – eine pädagogische Haltung „… kann ‚gut’ unmöglich etwas übergreifend Allgemeines sein“ – eine philosophische Erinnerung in („Im Anfang“) den Ursprung Europas. „Und siehe, es war sehr gut“ – ein Blick auf die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 „Im Anfang“, so die beiden Schöpfungsgeschichten, schuf Gott Himmel und Erde. Und ab dem dritten Schöpfungstag, nachdem es nun um die Erde und das Leben auf ihr geht, kommentiert der Autor: Und Gott sah, dass es gut war. Am sechsten Tag wird der Mensch erschaffen als Mann und 1 Vortrag, gehalten auf dem Regionalen Ökumenischen Lehrertag am17.11.2010 in Gardelegen Vgl. A. Grunwald, Vom Veränderer zum Schöpfer. Synthetische Biologie: Chancen, Risiken und Verantwortungsfragen. In: Forschung & Lehre 8/2010. S. 558-560. 2 1 Frau: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Inmitten einer Welt voller Unruhe und Störungen – Israel ist im Exil, fern der Heimat, weit weg von seinem politischen und religiösen Zentrum Jerusalem – hält dieser Satz fest: Kein Übel kam von Gott in die Welt. Redet der Glaube von Schöpfung und richtet seinen Blick auf Gott, so wird voller Vertrauen ausgesagt, dass Gott die Welt vollkommen geschaffen hat. Doch die Menschen erleben sich in einer Welt voller Unfrieden und Unheil und suchen nach Erklärungen jener Störungen. Das Essen der Frucht – ein Blick auf die Paradiesgeschichte in Genesis 3 In der ursprünglichen Erzählung vom in der theologischen Tradition so genannten Sündenfall ist weder von Sünde noch vom Fall die Rede, negative Wertungen finden sich keine, vor allem keine, die besonders die Frau treffen.3 Es wird eine Geschichte erzählt, die eine Tat und ihre Folgen berichtet und die erläutern soll, wie es kam, dass eine Geburt und die Abnabelung neuen, eigenständigen Lebens der Frau jetzt Schmerzen bereitet, dass in der Gegenwart des Erzählers der Mann über die Frau herrscht, dass für den Mann Arbeit jetzt Mühsal ist, denn gearbeitet wurde auch schon im Paradies (Gen 2,15), dass des Mannes Arbeit für die Nahrung des Menschen jetzt schweißtreibend ist, dass die Menschen sterblich sind und wieder zu Staub werden. Die Paradieserzählung ist eine Ätiologie: Sie will deuten, wie wurde, was jetzt ist. Das Interesse liegt in der Gegenwart; diese soll verstanden werden, und dazu sucht man nach Erklärungen. Die Paradieserzählung beschreibt nicht, und dies erscheint mir gegen weite Teile der theologischen Tradition festzuhalten wichtig, dass bleiben soll, was ‚jetzt’ ist. Ihr Ziel ist nicht, fest gelegte Ordnungen des Lebens vorzugeben! In der Erzählung folgt nach der Schöpfung von Mann und Frau aus dem Menschen schnell die Ansprache der Schlange an Mann und Frau. Die Frau ergreift die antwortende Initiative und so entsteht der Dialog der Schlange mit der Frau. Sie nimmt eine zum Essen verbotene Frucht von dem Baum. Doch die Frau behält die Frucht nicht für sich. Ihr Tun ist nicht eigensinnig. Sie teilt mit dem Mann und bezieht ihn mit ein: Auch ihm – so die Verheißung der Schlange an den Mann und die Frau – sollen die Augen aufgehen, auch er soll gut und böse unterscheiden können. Da erkennen beide, dass sie nackt sind. Sie machen sich Schurze und verstecken sich vor Gott. Hebräische Ethik ist bestimmt von der Erkenntnis, dass jede und jeder die Folgen seines Tuns zu tragen hat. Die Folgen der Tat treffen alle: Schlange, Frau und Mann, doch ein Fluch wird lediglich gegenüber der Schlange ausgesprochen. Nur die Schlange wird auf ihre Zukunft hin festgelegt. Die Folgen der verbotenen Tat für Frau und Mann spiegeln sodann die ‚klassische’ Verteilung von Arbeit und Herrschaft: Die Frau treffen die Schmerzen der Geburt und die Herrschaft des Mannes, den Mann, dass seine Arbeit Mühsal ist und schweißtreibend. Nun lässt Gott nicht nur die beiden Menschen nicht sterben, sondern im Gegenteil: Gott sorgt für die beiden Menschen: Er bekleidet sie. Sodann wird der Mensch, nachdem Gott festgestellt hatte, dass er im Blick auf die Erkenntnis von Gut und Böse einer wie Gott geworden war, weggeschickt aus dem Garten und dieser wird bewacht, um den Weg zum Baum des Lebens zu versperren. Die Vertreibung aus dem Paradies ist also nicht Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis. Sie markiert4 die bleibende Differenz von Gott und Mensch, die der Mensch als Endlichkeit erfährt – nicht als Strafe für sein Tun und das Erkennen von Gut und Böse, sondern als ‚Vor-Sicht’ Gottes und letzte Markierung der Differenz von Gott und Mensch: So wird das Sein-wollen-wie-Gott den Menschen verwehrt. Diese Erfahrung der Sterblichkeit der Menschen, die sie von Gott weiterhin als Mann und Frau unterscheidet, musste ja, die Geschichte abschließend, noch hergeleitet werden: So 3 Zum Folgenden vgl. G. Orth, Friedensarbeit mit der Bibel. Eva, Kain & Co. Göttingen 2009. Die andere Lesart soll nicht verschwiegen werden; sie hat ihre eigene Plausibilität: Gott kündigt in Genesis 2, 17 an, dass die Menschen sterben werden, wenn sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen; konsequenterweise ist der Mensch nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis sterblich (Genesis 3, 19). Dies war vermeidbar, wie der Blick auf Genesis 2, 9 und 3, 22 zeigt. 4 2 wurden sie aus dem Garten weggeschickt. Taten haben Folgen. Doch Gott mildert die Folgen: er sorgt am Ende für die Kleidung der Menschen und akzeptiert, dass „der Mensch“ Gut und Böse erkennen kann und in dieser Hinsicht geworden ist wie Gott selbst. Von nun an gehört zum Menschen seine Autonomie in ethischen Fragen: Der Mensch kann Gut und Böse unterscheiden. Der nahezu gesamten theologischen Tradition, die in dieser Geschichte den Sündenfall par excellence sieht, steht die Interpretation dieser Erzählung durch die Aufklärung gegenüber: Was theologischer Tradition als ‚Fall’ erschien, war der Aufklärung ‚die Menschwerdung’. Was der theologischen Tradition Sünde war, wurde in der Sicht von Aufklärung und Idealismus die Voraussetzung der Moralität. In Genesis 3, so kommentiert Jürgen Ebach, wird „der Mensch nicht bestraft für seinen Schritt hin zur Autonomie, freilich muss er die Folgen dieses Schrittes tragen. Also doch ‚Menschwerdung’ im Sinne der Aufklärung? Tatsächlich widerspricht Genesis 3 dieser Linie nicht, doch fügt die biblische Erzählung eine Dimension hinzu, die in der Linie der Aufklärung unterschlagen scheint. Es ist der Gestus der Trauer über den Verlust, der die biblische Geschichte durchzieht, der gleichwohl nicht mit nostalgischer Regression zu verwechseln ist, sondern verbunden wird mit einem sehr nüchternen Blick auf die folgende Geschichte der autonom gewordenen Menschheit. In der Sicht des biblischen Erzählers ist es keine Geschichte des ‚enlightenments’, der alles erhellenden Aufklärung. So erweist sich die biblische Erzählung, die gerade nicht moralisiert, sondern von den Folgen berichtet, als ‚aufgeklärter’ – nämlich die Kehrseite des Fortschritts miterzählend – als die Interpretation der Aufklärung.“5 Die biblische Erzählung ahnt die Dialektik der Aufklärung. Ich möchte Sie nun einladen zu einem Gedankenexperiment, von dem ich selbst noch nicht weiß, ob es trägt. Vielleicht haben Sie Lust, sich darauf einzulassen: Gegen die Interpretation dieser Geschichte durch den Begriff der Ur-Sünde habe ich lange einseitig die Interpretation der Aufklärung mit Jürgen Ebachs klugen Konnotationen bevorzugt: die Geschichte erzählt von der Menschwerdung des Menschen und der Kehrseite dieses Fortschrittes. Ich plädiere nun nicht für irgendein Konzept augustinischer Erbsündenlehre. Doch vielleicht gehört zu dem Gedanken von der Menschwerdung des Menschen jene Tragik (und ich spreche von Tragik und nicht von Sünde), die darin besteht, gut und böse zu unterscheiden, das Urteilen zu beginnen, zu wissen, was richtig und falsch ist, das Richten zu beginnen. Mit Urteilen wie „gut“ oder „böse“ beginnt eine statische Sprache bzw. sie findet in solchen Urteilen ihren Ausdruck. Jetzt steht etwas fest – jenseits aller prozessorientierten Lebendigkeit. Ein Zustand wird beurteilend festgeschrieben. Dazu eine Weisheit des muslimischen Sufi Poeten Rumi aus dem 13. Jahrhundert: ‚Jenseits von richtig und falsch, jenseits von gut und böse liegt ein Garten, dort treffen wir uns.’6 Mit dem Unterscheiden, mit dem Urteilen beginnt Trennung. Verbundenheit droht dem autonom gewordenen Menschen verloren zu gehen. Kann es das geben – ein Leben in Autonomie und Verbundenheit jenseits von richtig und falsch, jenseits von gut und böse – dort im Garten? Mein Vortrag ist ein Plädoyer für ein solches Leben in Autonomie und Verbundenheit jenseits von richtig und falsch, jenseits von gut und böse. Und ich erzähle Ihnen nun von einem anderen ‚Garten’: Das Unkraut inmitten des Weizens – ein Blick auf ein Gleichnis Jesu „Jesus legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein! Damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte.“ (Mt 13, 24 ff) Mir geht es jetzt nicht um die Endzeitvorstellungen des Matthäus, sondern darum, was dies Gleichnis recht modern für die Zeit hier auf der Erde formuliert: „Lasst beides miteinander wachsen bis 5 6 J. . Ebach, Ursprung und Ziel. Neukirchen-Vluyn 1986. S. 122. Zit. Nach M. B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation. AaO. S. 35. 3 zur Ernte.“ Ich lese dieses Gleichnis als Hilfe zu einem lebendigen und vielfältigen Leben: es relativiert die Unterscheidungen ausgehend von dem Wissen um gut und böse, beides darf wachsen, denn die Gefahr, zu unterscheiden, das Wissen des autonomen Menschen zu nutzen und Unkraut auszumerzen, zerstört das Unkraut und gefährdet den Weizen. „Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte“ bewahrt die Verbundenheit allen Lebens. Das Gleichnis erzählt eine Geschichte jenseits von Eden. Es ist eine Geschichte, die Verbundenheit und Miteinander betont gegenüber Trennung und Ausgrenzung. Es ist eine Geschichte jenseits von Eden, die erinnert, dass Kain geschützt wird von Gott mit einem Zeichen, eine Geschichte, die jeder Ausgrenzung wehrt, weil diese das Leben zerstört. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, dazu lädt Jesus in der Bergpredigt ein (Mt 7, 1). „In Christus hineinwachsen“ – ein Blick auf Jesus Dorothee Sölle beschreibt 1968 Jesus, der dies Gleichnis – so will es Matthäus – erzählt haben soll, als den glücklichsten Menschen, den sie kennt: „Es besteht ein Sachzusammenhang zwischen dem Glück, dem Ich und seiner Phantasie, ein Zusammenhang, der am Leben Jesu deutlich wird, aber für alle Menschen gilt. Wenn man diesen Zusammenhang mit den älteren theologischen Wörtern beschreibt, so ist es der von Gnade, Rechtfertigung des Sünders und Heiligung der Welt. In der Gnade, die so erscheint, dass einem Menschen sein Leben glückt, konstituiert sich ein anderes Ich, das den eigenen Ängsten entnommen ist, das befreit oder erlöst ist, und eben dieses Ich kann seine Aufgabe nun nicht mehr im Erfüllen bestimmter Vorschriften sehen, eine christliche Ethik nicht mehr auf Gehorsam und Pflicht gründen, weil die Aufgabe nun Weltveränderung ist, die die Tugend der Phantasie braucht.”7 Lebendiges und lebensförderliches Leben ist jenes, das von dieser Phantasie getragen ist. So kann ich zur Heiligung der Welt beitragen. Die Richtung dieser Phantasie, die wir üben und stärken können, formulierte Karl Barth 8 ebenfalls 1968, als er in einer schweizerischen Radiosendung nach einer Zusammenfassung seiner Theologie gefragt wird. Er antwortete: „Gott für die Welt, Gott für den Menschen, der Himmel für die Erde“9. Darum geht es im Leben, wenn wir von der Tugend der Phantasie reden möchten. Wir halten dann fest: „Eine andere Welt ist möglich“. Auch ohne Erfahrung und Kenntnis der gegenwärtigen Eiszeit neoliberaler, kapitalistischer Globalisierung mit ihrer auch in unserem Land immer frecher sich gebärdenden Gewinner-Verlierer-Semantik war für K. Barth die Richtung, in der diese andere Welt zu finden war, klar: „Gott für die Welt, Gott für den Menschen, der Himmel für die Erde“10. Die Beschränkung der Wirklichkeit auf das empirisch Vorfindliche war für ihn gottlos; auch deshalb war die politische Konsequenz dieses Satzes für ihn zeitlebens eine sozialistische. Wenn wir die Wunder nicht mehr glauben, kann Gott sie auch nicht tun. „Der Himmel für die Erde“ – diese Perspektive verändert die Wahrnehmung. Wer in dieser Perspektive glaubt und lebt, „glaubt an die Zukunft des Senfkorns, agiert und investiert im besten Sinne des Wortes ‚nachhaltig’ und zukunftsfähig in das, was noch nicht oder kaum sichtbar und trotzdem real ist.“11 Mit dieser „Richtung und Linie“ ist unmittelbar einsichtig, was Dorothee Sölle gegen Ende ihres Lebens so formuliert hat: „Gegen die Art,“ wie Menschen das Leben für sich und andere verhindern, „wie unsere Lebensgrundlagen zerstört, die Armen dem Tod ausgeliefert und ein so genannter Friede auf der Herrschaft des Wahnsinns aufgebaut wird, ist Widerstand notwendig. Man kann eigentlich nur Christ werden, in Christus hineinwachsen, indem man in eine Bewegung des Widerstands hineinwächst.“12 Als eine Lebensperspektive solchen auf Leben zielenden Widerstandes lese ich eine Weisung des großen Skeptikers der Bibel, des Kohelet an alle Menschen: „Iss gern dein Brot und trink freudig deinen Wein. Denn solch ein Lebensstil hat Gott schon immer gefallen. Trag jederzeit frische Kleidung und unterlass es nicht, dein Haar mit duftendem Öl zu pflegen. Und mit deiner Frau, die du liebst, 7 D. Sölle, Phantasie und Gehorsam, Stuttgart/Berlin 1968. S. 66f. Vgl. K. Barth, Letzte Zeugnisse. Zürich 1970. 9 K. Barth, aaO. S. 21. 10 K. Barth, ebd. 11 K. Haarmann, „Es ist so einsam im Sattel, wenn das Pferd tot ist“. In: J. Ebach u.a. (Hrsg.), Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche. Jabboq Bd. 4. Gütersloh 2003. S. 35-44. S. 44. 12 Publik Forum Extra, Dorothee Sölle. Eine feurige Wolke in der Nacht. 2004. S. 19. 8 4 genieß alle Tage deines Lebens – und mag es auch voller Windhauch sein.“ (Koh 9, 7-9)13 Kurz gesagt: Die Schönheit des Lebens soll genossen werden können – von allen Menschen! Dorothee Sölle, ein letztes Mal sei sie zitiert, hat dieses Bild des Lebens nicht selbstgenügsam, sondern widerständig weiter bedacht und in schöner Übertreibung und zugleich durchaus realistisch zusammengefasst in „drei Qualitäten, die allen offen stehen: grenzenlos glücklich absolut furchtlos immer in Schwierigkeiten. Es gibt Menschen, die Gott hörbar machen als die Musik der Welt, die den Kosmos und die Seele auch heute erfüllt.“14 „Jenseits von richtig und falsch…“ – jetzt beginnt der pädagogische Blick auf das Leben Ich beginne mit einer kleinen Beobachtung: Mit Studierenden sitze ich im theologischen Seminar. Wir unterhalten uns über einen Text und machen dann eine kleine Übung. Eine Studentin meldet sich, sagt etwas und ich antworte: „Hier stimme ich mit ihnen nicht überein“. Die Studentin ist irritiert: ‚Ist es nun richtig oder falsch’, fragt sie. Ich habe weder „richtig“ noch „falsch“ gesagt oder gedacht und lediglich Nichtübereinstimmung signalisiert. Doch etwas anderes gibt es für die Studentin kaum noch: ‚Entweder – oder!’ 13 Jahre Schule haben ihre Spuren hinterlassen. 13 Jahre, in denen Lehrer und Lehrerinnen und wohl auch die meisten Eltern – ich auch, doch man darf ja dazu lernen – wussten, was richtig ist. 13 Jahre, in denen Schülerinnen und Schüler keine Fehler machen durften, ohne dass sie sogleich abgestraft wurden. Vielleicht kennen Sie solche Sätze: „Falsch, setzen!“ – „Wieder nicht richtig gelernt zuhause, wie Kevin?“ – „Ich hab’s ja geahnt, du hast wieder eine fünf geschrieben.“ – „Kannst du nicht einmal was richtig machen?!“ – „Hättest du aufgepasst, wäre dies nicht passiert. Doch du hast ja immer anderes im Kopf. Kein Wunder, dass deine Hausaufgaben von Fehlern nur so wimmeln.“ – „Wie kann man nur so viele Fehler machen?“ – „Micha, das ist wirklich grottenschlecht!“ Eine zweite Beobachtung meines jetzt 13 Monate alten ersten Enkelkindes: Ein Kleinkind lernt laufen. Es stolpert und fällt, steht wieder auf und stolpert und fällt und geht ein Schrittchen, dreht sich zur Seite und fällt auf den Po und lacht und steht wieder auf und geht ein Schrittchen und stolpert und fällt und quengelt und schreit und dreht sich zur Seite und steht wieder auf und geht erneut einen Schritt und… Nie hätte Noah laufen gelernt, wenn ein Erwachsener daneben gestanden und jedes Mal beim Straucheln oder Fallen „Falsch!“ gesagt hätte. Ganz von alleine hat Noah sich an seinen Missgeschicken gefreut, mal gelacht, mal gequengelt, er hat aus ihnen gelernt. Hier sind Fehler Tore zum Lernen und Fenster zum Leben, Möglichkeiten, fröhlich zu lachen, ungeduldig zu quengeln und mürrisch zu schreien. Doch spätestens ab der ersten Klasse wird es anscheinend immer eindeutiger: ‚richtig’ ist das Ziel, und ‚falsch’ gilt es auszumerzen. Und wer etwas richtig macht, ist gut oder sehr gut. Wer etwas falsch macht, gilt vielleicht noch als befriedigend oder ausreichend. Und wer zu viele Fehler und dauernd Fehler macht, wird abgewertet. Und wer ganz viel richtig macht, kommt von der Grundschule auf die Realschule oder aufs Gymnasium. Und wer viele Fehler macht, kommt auf die Hauptschule oder geht aus der Realschule dorthin zurück oder muss auf die Förderschule. Hier haben Fehler längst Lernhoffnungen und Lernmöglichkeiten zerstört und wer zu viele Fehler macht, steht im Leben vor verschlossenen Türen. Die Fenster zum Leben, als die ich Fehler betrachten möchte, sind verrammelt und Wege kulturellen und sozialen Abstiegs sind gebahnt worden. „Irren ist menschlich“ lautet ein weises Sprichwort. Provozierend sagt Manfred Osten in seinem Buch „Die Kunst, Fehler zu machen. Für eine fehlerfreundliche Irrtumsgesellschaft“ (2006): „Wenn irren menschlich ist, dann ist nicht zu irren unmenschlich.“ Unsere technische und technologische Entwicklung hat unsere Gesellschaften weltweit dahin geführt, dass ‚Fehler’ tödlich sind. Auch deshalb ist es gesellschaftlich anerkannt und es wird im Bildungs- wie in anderen gesellschaftlichen Subsystemen mit hohem Aufwand, vielen Strafmöglichkeiten und oftmals gnadenlos trainiert, Feh13 14 Vgl. H. Goldstein, „Genieß das Leben alle Tage“. Eine befreiende Theologie des Wohlstandes. Mainz 2002. D. Sölle, Mystik und Widerstand. Hamburg 1999 (5. Aufl.). S. 370. 5 ler auszumerzen und diesen Teil unseres Menschseins zu ignorieren. Und wer da nicht mitkann oder will – der oder die bleiben eben erbarmungslos auf der Strecke… Von der Förderschule zu Hartz IV oder vom Abitur in die Psychiatrie… Ich kehre noch einmal zurück zu dem Zitat von Rumi: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Garten. Dort treffen wir uns.“ Und ich komme zu dem Sprachproblem, das damit verbunden ist, dass wir das, was andere anders machen als wir, oftmals „falsch“ nennen. Und ich möchte den Vorschlag machen, folgende Wörter aus unserem Vokabular zu streichen: richtig, falsch, gut, schlecht, normal, unnormal, kompetent, inkompetent. Warum dieser Vorschlag? „Das ist statische Sprache. Der Psychologe O. J. Harvey hat über den Zusammenhang von Sprache und Gewalt geforscht. Er ist um die ganze Welt gereist und hat die Sprache verschiedener Kulturen untersucht, wie häufig statische Sprache, also Worte, die festschreiben und beurteilen, in der Literatur dieser Kulturen vorkommen. Und dann hat er die Gewaltrate, Selbstmord, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Kinder und Frauen in dieser Kultur damit verglichen. Und er hat festgestellt: Die Korrelation zwischen statischer Sprache und Gewalt ist sehr hoch.“15 Stattdessen plädiere ich mit Marshall B. Rosenberg, einem US-amerikanischen Psychologen, für eine Prozesssprache, für eine gewaltfreie Kommunikation: „Das heißt, wir machen uns bewusst, dass wir uns in einem ständigen Veränderungsprozess befinden, und deshalb macht es … viel mehr Sinn, davon zu sprechen, was im Moment lebendig ist oder zu einem bestimmten Zeitpunkt lebendig war. … Durch statische Sprache macht man aus Menschen leblose Dinge, und wenn man Menschen zu einem solchen Denken erzieht, dazu, dass es richtig und falsch gibt, normal und unnormal, dann ist diesem Denken inhärent, dass es ganz oben eine Autorität gibt, die weiß, was richtig und was falsch ist. Man muss die Hirne von Menschen schon sehr früh entsprechend formen, damit sie in solchen Strukturen funktionieren.“16 In solchen Dominanzkulturen leben wir in Europa seit vielen tausend Jahren. Mit Bewertungen wie „richtig“ oder „falsch“ zeigen wir immer Macht über andere und schreiben fest, dass etwas so ist, wie wir es definieren, weil wir die Macht dazu haben. Denken Sie noch einmal an unser Ausgangsbeispiel und die Studentin, die so irritiert war, als ich sagte: „Hier stimme ich mit ihnen nicht überein.“ Eine solche Aussage, die lebendige Kommunikation signalisiert, war ihr fremd. Sie war gewohnt, Urteile zu hören, eben: „richtig“ oder „falsch“. Ihr war es ungewohnt darüber zu sprechen, wenn Menschen nicht miteinander übereinstimmen. „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Garten. Dort treffen wir uns.“ Dort ist Leben, dort nehmen wir Prozesse wahr und formulieren alles, was wir sagen, in einer offenen, lebendigen und prozesshaften Sprache, die nichts und niemanden festschreibt, die immer wieder neu den Menschen sieht und das, was er tut und lässt und lebt. Fehlerfreundlichkeit ist da ein ebenso zentrales pädagogisches Stichwort, wie es in der Theologie die Rede von dem fehlerfreundlichen Gott ist. Da wird Lebendigkeit ermöglicht. Ich schlage vor, den Austausch darüber, was jetzt gerade in uns lebendig ist, nicht durch statische Urteile unmöglich zu machen. „Ist die Kirche Anwalt der Menschen…“ – entscheidend sind die Bedürfnisse der Menschen Solche Lebendigkeit wird dort möglich, wo Menschen ihre Bedürfnisse wahrnehmen und sie erfüllen möchten. Von Ernst Lange stammt der schöne und lebensdienliche Satz: „Ist die Kirche Anwalt der Menschen in ihrer Bestimmung, in ihrem Recht auf volle Menschwerdung, dann ist die Nichtachtung der Bedürfnisse die Nichtachtung jenes Feldes, in dem dieses Recht und seine Uneingelös- 15 Vgl. M. B. Rosenberg, Konflikte lösen durch gewaltfreie Kommunikation. Freiburg 2009. S. 21. Vgl. dazu auch: M. B. Rosenberg, Anger and domination systems. www.cnvc.org, zitiert bei: G. R. Fritsch, Praktische Selbst-Empathie. Herausfinden, was man fühlt und braucht: Paderborn 2009. S. 16: „Als Marshall Rosenberg beim Volksstamm Orang Asli in Malaysia eingeladen war, teilte ihm sein Übersetzer mit, dass seine Sprache das Verb ‚sein’ nicht enthalte; darum gebe es keine Formulierungen wie ‚Du ‚bist’ gut, schlecht, richtig, falsch’. Rosenberg fragte den Übersetzer: ‚Wie übersetzt du dann ,Du bist egoistisch’?’ ‚Das ist schwer. Ich würde es in meine Sprache übersetzen mit ‚Marshall sagt, dass du für deine Bedürfnisse sorgst, aber nicht für die Bedürfnisse anderer. – In meiner Sprache sagt man Leuten, was sie tun und was man möchte, dass sie anders tun sollen, aber es würde uns nicht möglich sein, Menschen zu sagen, was oder wie sie sind.“ 16 Ebd. 6 theit konkret werden.“17 Darum geht es, denke ich, wenn wir kirchlicherseits über Bildung und Lernen nachdenken: sorgsam auf die Bedürfnisse der Menschen zu achten, mit denen wir lernen wollen, die mit uns lernen oder die wir lehren wollen. Was ist jetzt wichtig, was ist jetzt dran? Marshall B. Rosenberg erzählte einmal: ‚Ich bin so lange zur Schule gegangen, habe so lange studiert, Zeit in Schulen, Colleges und Universitäten verbracht – nie hat mich jemand dort gefragt, wie es mir geht und was ich brauche .....’ „Was ich jetzt brauche…“ – das ist die Frage nach den Bedürfnissen der Menschen. Ich bin fest davon überzeugt, wenn wir diejenigen, die mit uns lernen wollen, nach ihren Bedürfnissen fragen und diese respektieren, wird gerne gelernt und es wird mehr gelernt, die Lernenden fühlen sich ernst genommen und lernen macht Freude – wie laufen lernen oder sprechen lernen. Ich probiere es seit einem Jahr an der Universität aus, bedürfnisorientiert zu lehren, es ist ein spannender Prozess und „Lernen ist hier18 nicht mehr das ‚Fressen’ fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation“, ihrer Bedürfnisse und was jeder und jede dazu tun kann, die Bedürfnisse anderer wie die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. „Die pädagogische Lage, die Klassenzimmersituation, verändert sich von Grund auf.“19 Wie kann man das lernen, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen wie seine eigenen? Welche Haltung steckt hinter einem solchen pädagogischen Ansatz? „Gewaltfreie Kommunikation (GFK)“ – eine pädagogische Haltung Gewaltfreie Kommunikation bedeutet zunächst eine „Alphabetisierung in Bezug auf Gefühle und Bedürfnisse, die sehr verschieden ist von der Sprache, die den meisten Menschen beigebracht wurde. Anstatt eine Sprache des Lebens, eine Sprache von Gefühlen und Bedürfnissen sprechen zu lernen, wurde üblicherweise eine Sprache von Kritik, moralisierenden Beurteilungen, Analysen und Diagnosen gelehrt.“20 Doch Gewaltfreie Kommunikation ist mehr und anderes als eine Kommunikationsmöglichkeit – sie zielt auf „communio“, auf eine ebenso der Verständigung bedürftige wie der Verständigung fähige Gemeinschaft bleibend verschiedener Menschen, die gleichwohl eines eint: ihre Bedürfnisse. „Gewaltfreie Kommunikation“ (GFK), wie M. B. Rosenberg21 und andere sie konzeptionell und methodisch entwickelt haben und lehren, ist eine Einladung, anders als lediglich mit Hilfe unserer gängigen kulturellen Programmierungen zu kommunizieren und zu handeln. Beispielsweise in den Kontexten von Erziehung und Bildung ermöglicht GFK, mich selbst ernst zu nehmen und Verantwortung für mich, meine Gefühle und Bedürfnisse zu übernehmen und in dieser SelbstVerantwortung zu lernen. Das Konzept, gewaltfrei zu kommunizieren, ist – eigentlich – ganz einfach. GFK besteht aus vier Komponenten: Ich beobachte eine Situation und teile meine Beobachtungen anderen mit, ohne die Situation zu beurteilen oder zu bewerten. In einem zweiten Schritt, der klar von der Beobachtung der Situation getrennt wird, teile ich die Gefühle mit, die die Situation in mir auslöst. Drittens höre ich darauf, welche Bedürfnisse hinter meinen Gefühlen stehen. Schließlich äußere ich eine Bitte, die meinen Bedürfnissen entspricht – eine Bitte, die mein Leben in dieser konkreten Situation schöner werden lässt. Sich mit Hilfe dieser vier Komponenten auszudrücken, ist friedensförderlich und lässt das Leben schöner und reicher werden für alle, mit denen ich kommuniziere, und für mich selbst. 17 Ernst Lange, Sprachschule für die Freiheit. In: Ders., Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche. München/Gelnhausen1980. S. 117-132, Zitat S. 122. 18 Bei Ernst Lange ist hier die Pädagogik der Befreiung von Paulo Freire gemeint. 19 AaO. S. 125. 20 Eine Sprache des Mitgefühls. Ein Interview mit Marshall B. Rosenberg. In: Mit Kindern wachsen. April 2004. S. 2-7, Zitat S. 2. Das Gespräch führte Michael Mendizza, entnommen von touch the future, www.touch the future.com 21 Im Folgenden orientiere ich mich teils wörtlich, teils zusammenfassend an M. B. Rosenberg, aaO. Wesentliche Hinweise zu diesem Kapitel verdanke ich Hilde Fritz und Britta Hübener; vgl. dazu auch: G. Orth, H. Fritz, Ich muss wissen, was ich machen will… Ethik lernen und lehren in der Schule. Göttingen 2008. Eine ausführlichere Beschreibung dazu findet sich auch in: G. Orth, Friedensarbeit mit der Bibel. Eva, Kain & Co. Göttingen 2009. 7 Der Haken ist das „eigentlich“, denn die meisten von uns sind individuell und gesellschaftlich mit einer Sprache aufgewachsen, die uns ermuntert, andere zu bewerten, Diagnosen zu stellen, zu vergleichen, zu fordern, und Urteile auszusprechen, statt wahrzunehmen, was wir selbst fühlen und brauchen und was in uns lebendig und uns wichtig ist. Wir streiten kulturell programmiert auf der Ebene der Strategien, wir reden – ebenso kulturell programmiert – selten oder gar nicht auf den Ebenen der Gefühle oder der Bedürfnisse. Letztere würden uns mit den Menschen um uns herum verbinden, Strategien aber sind oft trennend (Bsp.: Bedürfnis nach Sinn; Religionen als Strategien). So bauen unsere Wörter oftmals eher Mauern um uns auf, als dass sie Fenster öffnen zu den Menschen und Situationen um uns herum. Zu dem Blick auf uns selbst gehört für Rosenberg die Frage, wie wir mit uns selbst umgehen: „Wenn wir innerlich gewalttätig mit uns selbst umgehen, dann ist es schwierig, auf andere empathisch zu reagieren. … Wenn uns kritische Selbsteinschätzungen davon abhalten, die Schönheit in uns zu erkennen, dann verlieren wir den Kontakt zur göttlichen Energie als unserer Quelle. Wir sind darauf getrimmt, uns selbst als Objekte zu betrachten – Objekte, die nicht perfekt sind. Wundert es dann, dass sich viele von uns in gewalttätigen Handlungsweisen gegen sich selbst wiederfinden?“ „Ich kann das ja nie“, „Ich bin nichts wert“, „Ein Einzelner kann da eh nichts tun“ – Gegenüber solcher Selbstentwertung lädt GFK dazu ein, ‚mir’ selbst Empathie zu schenken, uns selbst so zu betrachten, dass Wachstum gefördert wird und ich mich und andere nicht klein mache. Die Anerkennung „gelungener Halbheiten“ (F. Steffensky) fördert das Leben mehr als ein inneres „Müssen“ und „Sollen“, das uns antreibt, perfekt zu werden und zu funktionieren – woran wir scheitern (müssen). Sieh die Schönheit in mir; such’ das Beste in mir. Das ist es, was ich wirklich bin und was ich wirklich sein will. Es mag etwas dauern, Es mag schwer zu finden sein, aber sieh die Schönheit in mir. Sieh die Schönheit in mir, jeden Tag: Kannst du das Wagnis eingehen, kannst du eine Möglichkeit finden, in allem, was ich tue, mich durchscheinen zu sehen und meine Schönheit wahrzunehmen (Kathy und Red Grammer, „See Me Beautiful“)22 So ist GFK zuerst eine Haltung: „Jedem Menschen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen, ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können. Wenn ich mich dafür entscheide, in jedem Menschen seine Schönheit zu sehen, dann behandle ich auch mich selbst mit Liebe. Das habe ich mir nicht ausgedacht, alle Religionen sagen das auf ihre Weise: ‚Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet’, ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’.“23 Grundlage Gewaltfreier Kommunikation ist, ich habe es schon angesprochen, Empathie mir selbst und anderen gegenüber: Worauf es ankommt ist unsere Fähigkeit, für das präsent zu sein, was sich innen abspielt – für meine einzigartigen Gefühle und Bedürfnisse, die ich jetzt erlebe, ebenso wie für die einzigartigen Gefühle und Bedürfnisse, die andere, mit denen ich in Kontakt bin, gerade durchleben. Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit mir selbst und anderen gegenüber sind die Ba22 Copyrigth: 1986 Smilin Atcha Music Inc. Veröffentlicht auf Red Note Records 800-824-2980. Zit. Nach: M. B. Rosenberg, Erziehung, die das Leben bereichert. Gewaltfreie Kommunikation im Schulalltag. Paderborn 2005. 23 Zit. nach G. R. Fritsch, aaO. S. 150. 8 sis einer gewaltfreien Haltung: „In dem Maße, in dem wir uns von Moment zu Moment in der spielerischen Freude der Lebensbereicherung engagieren – einzig und allein motiviert durch den Wunsch, das Leben schöner, reicher, bunter, lebenswerter zu machen –, in dem Maße gehen wir auch einfühlsam mit uns selbst und anderen um.“ Ausschließlich intellektuelles Verstehen freilich blockiert solch mögliche Empathie: Wenn wir über die Worte eines Menschen nachdenken und darauf hören, wie sie in unsere Theorien passen, dann schauen wir auf (!) den Menschen – wir sind nicht bei (!) ihm. Die wichtigsten Voraussetzungen von Empathie sind Präsenz und Respekt: Ich bin jetzt ganz da – bei mir und bei dem Anderen und seine Erfahrungen, ich bin „einfach“ da und „muss“ nichts machen. Die Qualität der Präsenz unterscheidet in besonderer Weise Empathie von vernunftmäßigem Verstehen. Ich mache mich und den anderen nicht zum Objekt, sondern setze darauf, dass mein Subjektsein davon abhängt, den anderen als eigenes Subjekt und nur so als Gegenüber wahrzunehmen. „Empathie erfasst“, so formuliert es Gerlinde Ruth Fritsch, „welche Sehnsucht einen Menschen dazu drängt, zu handeln, ungeachtet dessen, wie er seine Sehnsucht umzusetzen versucht. Empathie ist die Suche danach, was den anderen bewegt: Was sind seine Schmerzen, was seine Freuden? Und bei allen Fragen, bei aller Suche gibt es keinerlei Verurteilung oder Ablehnung, sondern tiefes Verständnis und Mitgefühl. Wie wird eine solche liebevoll-zugewandte Haltung möglich? Sie wird möglich, wenn man sich auf das Paradigma einlässt, dass allem, was Menschen denken, sagen oder tun, eine sinnvolle und zutiefst positive Absicht zugrunde liegt: sich Bedürfnisse zu erfüllen – auch wenn durch die Art, wie sie es bislang getan haben, (vielleicht, v.m.) großer Schaden und Schmerz entstanden ist.“24 Der zentrale Punkt ist also der dritte Schritt der GFK: die Wahrnehmung und Anerkennung der Bedürfnisse, die in der Kommunikationssituation (oder der ihr voraus liegenden Konfliktsituation) deutlich werden. Sie verbinden mich mit anderen Menschen. Hier im Bereich der Bedürfnisse der Menschen wird deren Recht auf volle Menschwerdung, wie Ernst Lange formuliert, eingelöst. Hier stellt sich dann die Frage, welche Strategien ich für mich selbst oder mit anderen in wechselseitiger Sorge füreinander anwenden möchte, um Bedürfnisse zu erfüllen und das Leben schöner zu machen. Auf der Ebene der Strategien wird immer eine Vielfalt und Differenz möglich, die nicht zu wechselseitiger Ausgrenzung oder Abgrenzung führen muss, weil es (lediglich) die Differenz der Strategien unterschiedlicher Menschen ist, Bedürfnisse, die als gemeinsam (!) anerkannt sind, zu erfüllen. „Ich bin überzeugt davon,“ so Rosenberg, „dass es nichts gibt, was die Menschen mehr mögen, als zu ihrem gegenseitigen Wohlbefinden beizutragen.“25 Rosenberg nennt dieses „mögen“ die göttliche Energie in uns – die Spiritualität gewaltfreier Kommunikation wäre freilich ein neues Thema. Doch sie spüren vielleicht den Anfang meines Vortrages, dem Menschen so gerne entsprechen mögen: „und siehe, es war sehr gut…“ „… kann ‚gut’ unmöglich etwas übergreifend Allgemeines sein“ – eine philosophische Erinnerung in („Im Anfang“) den Ursprung Europas. Im Anfang Europas formulierte Aristoteles seine Nikomachische Ethik. In ihr heißt es: „Nachdem ‚gut’ in ebenso vielen Bedeutungen ausgesagt wird wie ‚ist’ – es wird in der Kategorie der Substanz ausgesagt, z. B. von Gott und der Vernunft, in der Kategorie der Qualität, z. B. von ethischen Vorzügen, in der Kategorie der Quantität, z.B. vom richtigen Maß, in der Relation, z.B. vom Nützlichen, in der Zeit, z.B. vom richtigen Augenblick, in der Kategorie des Ortes, z.B. vom gesunden Aufenthalt usw. – kann ‚gut’ unmöglich etwas übergreifend Allgemeines und nur Eines sein. Denn sonst könnte es nicht in allen Kategorien ausgesagt werden, sondern nur in einer.“26 Vielleicht taugt auch ob dieser Vielfalt, die schon Aristoteles konstatierte, das Wörtchen „gut“ nicht zur Präzisierung der Lebendigkeit des Lebens. Ich versprach Ihnen zu Beginn, am Ende den Titel des Vortrages zu benennen, den ich gehalten habe, so wie er mir stimmig erscheint; er lautet: Die Fülle des Lebens entdecken und gestalten aus 24 G. R. Fritsch, aaO. S. 9 f. Eine Sprache des Mitgefühls. Ein Interview mit Marshall B. Rosenberg. AaO. S. 6. 26 Aristoteles, Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen übersetzt von F. Dirlmeier. Buch 1,4. Stuttgart 1969. S. 11. 25 9 theologischer, pädagogischer und philosophischer Sicht. Und der Untertitel vielleicht: Zweifelnde und liebevolle, Gedanken zum ‚guten’ Leben. Dazu abschließend ein Gedicht des israelischen Dichters Jehuda Amichai27, möglicherweise inspiriert durch die Weisheit des Sufi-Poeten Rumi, die ich Ihnen bereits mitgeteilt habe: An dem Ort, an dem wir recht haben, werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr. Der Ort, an dem wir recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof. Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. Und ein Flüstern wird hörbar an dem Ort, wo das Haus stand, das zerstört wurde. 27 Zit. nach S. Korn, Die Gnade des Zweifels. Wirkliche Toleranz beginnt dort, wo das Einverständnis endet: Es kommt weniger darauf an, Widersprüche aufzulösen, als sie auszuhalten. www.faznet.de (27. 09. 2009) 10