Strada – Turich Zürich – Strada retuorn und zurück Wie Engadiner Musik nach Zürich und Ländlermusik ins Engadin kam Buchdruckmuseum Stamparia CH-7558 Strada Mai– Oktober 2015 | www.stamparia.ch | Vorwort Die Ländlermusik entsteht (1890 – 1920) «Strada – Turich retuorn» / «Zürich – Strada und zurück» stellt die Schweizer Ländlermusik sowie ihre Wechselwirkung mit der Engadiner Volksmusik in den Mittelpunkt. Die Sonderausstellung 2015 erweitert die letztjährige Ausstellung «Ferm tabac!...» über Volksmusik und Blasmusik im Unterengadin, welche die meistbesuchte in der Geschichte des Museums Stamparia Strada war. • • • • Die Auswirkungen der von Zürich aus populär gewordenen Ländlermusik werden ebenso aufgezeigt wie die vom Engadin ausgehenden Impulse. Die Sonderausstellung 2015 belegt die eindrückliche Eigenständigkeit und Kreativität der Engadiner Volksmusik. Zehn Stationen mit 50 ausgewählten Musikstücken machen die Entwicklungen der letzten 100 Jahre sicht- und hörbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen die Schweizer Städte stark. In Zürich zum Beispiel verdoppelte sich die Wohnbevölkerung von 1896 bis 1915 auf knapp 200‘000 Einwohner. Die meisten Zuzüger kamen aus ländlichen Gegenden der Schweiz. Sie nahmen ihre Tanzmusik mit, welche ihrerseits von den verschiedensten Seiten beeinflusst war (durchreisende Wanderkapellen, Klassik, Salonmusik, Blasund Militärmusik u.a.). Die Industrialisierung zieht die Landbevölkerung in die Städte Die Landbevölkerung nimmt ihre Tanzmusik mit Handorgel und Schwyzerörgeli werden erfunden und populär Die neue Stilrichtung «Ländlermusik» entsteht Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Handorgel eine beachtliche Verbreitung erreicht und das Schwyzerörgeli trat in Erscheinung. Diese neuen Instrumente erlaubten eine attraktive Art des Musizierens, eine «lüpfige» Spielweise mit raschen Rhythmen. Die Mischform der traditionellen Streich- und Blas-Tanzmusik mit dem neuen Örgelistil erhielt den Namen Ländlermusik (woher der Begriff stammt, ist historisch nicht eindeutig nachgewiesen). Schon vor dem Ersten Weltkrieg bildete sich in den Städten (allen voran in Zürich) eine beachtliche Ländlermusikantenszene. Schwyzerörgeli Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918 bremste die Entwicklung der Ländlermusik, förderte aber die Verbreitung des Schwyzerörgelis. Es war in den Kompanien an der Grenze ein häufig gespieltes, von den Soldaten gerne gehörtes Instrument und wurde so schweizweit populär. Die Voraussetzungen für den Siegeszug der Ländlermusik waren geschaffen. «Fränzlimusig» um 1890 1899 Giacomo Sartori «Crisantemo» 02 Das Engadin des beginnenden 20. Jahrhunderts war musikalisch weniger durch die Deutsch- 03 Bis ins Vorfeld des Zweiten Weltkriegs kannte die Ländlermusik keine Berührungsängste mit anderen Stilrichtungen. Alles, was im Trend war, wurde aufgenommen: deutsche Schlager, italienische Melodien, klassische Elemente. Für die damaligen Musiker war selbstverständlich, neue Ideen zu importieren. Sie wurden lokal weiterentwickelt und zu eigen gemacht. Besonders prägend waren Jazz (in der Schweiz ab Mitte der 1920er Jahre zu hören) und Swing. schweizer Städte als durch die östlichen und südlichen Nachbarn geprägt. Die Nähe zu Österreich und Italien, fahrende Musikanten und die «Randulins» («Schwalben» – Engadiner, die im Ausland arbeiteten und wieder zurückkehrten) beeinflussten die Engadiner Musik und die Musikanten nachhaltig. Der blinde Geiger Fränzli Waser (1857 – 1895, von Strada) nahm insbesondere die Melodien der Oberengadiner Kurund Salonorchester auf, denen er als Kind offenbar stundenlang gelauscht hatte. Waser und seine Brüder, die «Fränzlimusig», waren wohl die Südbündner Musiker ihrer Zeit. Die goldenen Zürcher Jahre (1920 – 1939) • • • • Ländlermusik ist neu, wild, exotisch Ländlermusik wird populärste Tanzmusik Ländlermusik ist offen für alle Neuerungen Zürcher Niederdorf wird zum Ländlermekka Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die Ländlermusik rasch zur populärsten Tanzmusik in den Städten. Ländlermusik galt als neu, wild, exotisch und gleichzeitig urchig. Pioniere und Aushängeschilder der neuen Musik waren Joseph Stocker, Kasi Geisser oder Jost Ribary sen., die aus der Innerschweiz nach Zürich gekommen waren. Das Zürcher Niederdorf wurde zum Zentrum für Ländlermusik. Die Stadt bot den Künstlern viele Auftrittsmöglichkeiten und ein grosses Publikum. Wer gute Ländlermusik hören wollte, ging von Graubünden, der Ostschweiz oder Innerschweiz nach Zürich. Von hier aus begann sich die neue, faszinierende Musik in die ganze Schweiz zu verbreiten. Kasi Geisser und seine Kapelle ca. 1925, Zürich Was New Orleans für den Jazz und Liverpool für den Beat, war Zürich für die Ländlermusik 04 Geschwister Schmid Viele Musiker spürten diese Amerikanisierung des Musikgeschmacks. Der Foxtrott-Rhythmus wurde 1928 erstmals in ein Ländlerstück übernommen (Heiri Meier, «Im Zeppelin») und führte zum noch heute sehr beliebten Ländler-Fox. Das Saxophon begann, Posaune und Trompete zu verdrängen. Die Ländlermusik teilt mit dem Jazz, dass gute Musiker auch ohne Noten frei improvisieren können. Schon damals lehnten aktive Puristen den Ländler-Fox ab – dem Publikum gefiel er. Der nachfolgende Swing beeinflusste die Ländlermusik ebenfalls. Die Popularität dieser Musikrichtung erreichte 1935 ihren Höhepunkt. Der typische, swingende Rhythmus wurde von Ländlerkapellen aufgegriffen. Bekannte Beispiele für die Vermischung von Schweizer Volksmusik und Swing-Elementen präsentierten die Geschwister Schmid mit Titeln wie «Swing in Switzerland» oder «Swing das isch Musig für d‘Bei». Die Ländlermusik beeinflusste die 1920er und 1930er Jahre wie Rock’n’Roll die 1950er (Dieter Ringli) Die heute so typische Tracht begannen die Musiker erst ab ca. 1920 zu tragen – vorher waren sie in ihren besten Anzügen aufgetreten. Joseph Stocker nannte seine Formation «Stocker Sepp’s 1. Unterwaldner Bauernkapelle», obwohl kein Musiker aus Nid- oder 05 Plakat ca. 1930, Zürich Obwalden kam und auch kein Bauer dabei war. Unterwaldner nannten sie sich, weil sie günstige Trachtenblusen von dort erwerben konnten… Der Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) Einige Ländlermusiker waren schon damals gewiefte Unternehmer und Public-Relations-Spezialisten – Beatrice Egli hatte vor 90 Jahren durchaus würdige Vorfahren. So liess Joseph Stocker am gleichen Abend bis zu vier Kapellen unter dem Namen «Stocker Sepp’s 1. Unterwaldner Bauernkapelle» musizieren und spielte bei jeder ein kurzes Ständchen. Bei der Eröffnung des Radiostudios Zürich 1924 trat Stocker ebenfalls auf und sogar auf Werbeflügen der Swissair nach Paris und London war er als Musiker dabei. Das Bild des volkstümlichen, ungebundenen, manchmal alkoholseligen Musikers der Pioniergeneration verschaffte der Ländlermusik erhöhte Popularität in breiten Schichten, trug aber auch zur lange dauernden Ablehnung in gehobenen Kreisen bei. • Dunkle Wolken am Himmel • Ländlermusik wird neu als identitätsstiftend, einigend für die Schweiz wahrgenommen • Ländlermusik wird musikalischer Teil der geistigen Landesverteidigung • Popularitäts- und Akzeptanz-Durchbruch bei allen Schichten an der Landi 1939 Der dem Rest der (Deutsch-)Schweiz so vertraut gewordene Ländlerstil schaffte es in der ZwischenAnton Erni, Cla Janett, unbekannt, kriegszeit noch nicht bis ins Engadin. In den 1930er Peder Nett um 1940, Engadin Jahren wurde zwar der auch heute noch populäre Bündner Ländlerstil (1-2 Klarinetten, 1-2 Schwyzerörgeli, Kontrabass) geschaffen und in Graubünden ausserhalb des Engadins häufig gespielt. Für die neue Musikrichtung erwiesen sich aber Albula und Flüela als hohe Schranken. Einer der wichtigsten Engadiner Musikanten der Zeit war der Klarinettist Cla Genua. Er liess sich um 1910, aus Italien kommend, in Sent nieder und schrieb viele Melodien nieder. Die Noten wurden später durch Nott Caviezel an Hanny Christen weitergegeben, welche mit ihrer umfangreichen Sammlung von rund 12‘000 Titeln zu einer Schlüsselfigur auf dem Gebiet der Schweizer Volksmusik wurde. Durch diesen «Transfer» wurden Engadiner Melodien später (1992 Publikation der gesamten Sammlung) auch im Unterland einem breiteren Publikum zugänglich. Cla Genua Hanny Christen (1899-1976) Nott Caviezel 06 Das Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland in den 1930er Jahren verdunkelte den Schweizer Himmel. Die Schweiz war bedroht und suchte Identitätsstiftendes, Einigendes. Mit dem Plan Wahlen («Anbauschlacht») kam dem Bauernstand eine neue Wertschätzung zu. Die Ländlermusik – obwohl eindeutig städtisch geprägt und von Nichtbauern gespielt – wurde nun als urschweizerische Musik der kräftigen, urtümlichen Bauern empfunden. Schweizer Volksmusik ist das, was als schweizerisch empfunden wird (Dieter Ringli) Die «Uminterpretation» von exotisch-bäuerlicher Unterhaltungsmusik zum musikalischen Ausdruck nationaler Einheit in schwerer Zeit wurde vor allem an der Landi 1939 in Zürich gefördert. Ursprünglich wollte sich die Schweiz im berühmten Landidörfli als weltoffenes Land zeigen. Moderne ausländische Rhythmen sollten gespielt werden (z.B. Charleston). Diese Absicht fiel beim Publikum von 1939, das unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Drohung von Hitler-Deutschland stand und innere Geschlossenheit suchte, jedoch durch. Die Landi-Leitung entschied sich, die anfänglichen modernen Formationen durch Ländlerkapellen zu ersetzen. Diese spielten an der Landi sehr erfolgreich und ihre Musik wurde erstmals von Schweizerinnen und Schweizern aller sozialen Schichten Landi 1939; Zürich 07 akzeptiert. Für den Geschäftssinn von Ländlerpionier Joseph Stocker spricht, dass er von der Landi beim Musik-Richtungswechsel einen Exklusivvertrag für Volksmusik erhielt und alle auftretenden Kapellen bestimmen konnte. Bis 1939 waren für uns Seminaristinnen und jungen Lehrerinnen Ländler kein Thema. Wir hielten sie recht überheblich für die Musik der einfachen Bauern in ihren Tälern. Nach der Landi und während des Kriegs begannen wir jedoch, Ländlermusik zu schätzen und gerne zu hören (Stamparia-Mitglied Lotti G., geboren 1920) Die Bedeutung der Landi zeigt sich auch darin, dass sie beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 geschlossen und nur drei Tage später von Henri Guisan wieder geöffnet wurde; der neu gewählte General hatte ein feines Sensorium für deren Symbolik und Bedeutung für die schweizerische Zusammengehörigkeit. Erst an der Landi wurde die Ländlermusik Teil des Mythos der Schweizer Nationalmusik – eines Mythos, der älter ist als die Ländlermusik selbst! 1939 erreichte die Ländlermusik ihren Popularitätshöhepunkt. Dazu trug neben der durch die politische Lage verursachten Besinnung nach innen vor allem der Landessender Radio Beromünster bei, der vor und während des Krieges sehr häufig Ländlermusik übertrug. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden während des Zweiten Weltkriegs nur wenige fremde Elemente in die Ländlermusik aufgenommen; der Stil entwickelte sich nicht weiter. Der Eidgenössische Jodler-Verband hielt 1943 gar fest: «Alles Unschweizerische ist erbarmungslos auszumerzen». Bündnertage an der Landi 1939 Die Anerkennung des Romanischen als Quarta Lingua (vierte Landessprache) durch das Schweizer Stimmvolk am 20. Februar 1938 war auch für das Engadin ein prägendes Ereignis. Nur ein gutes Jahr später bedeutete die Landi 1939 (zu welcher 4 Millionen Besucher erwartet wurden und 10 Millionen kamen!) für das Rätoromanische einen weiteren Triumph auf eidgenössischem Boden. Die Bündnertage vom 24. 08 und 25. Juni 1939 boten die Gelegenheit, Engadiner Musik und Brauchtum in Zürich einem grossen Publikum zu zeigen. Auch auf anderem Weg fand die Engadiner Musik ihren Weg in die Deutschschweizer Stuben: Rund 30 Jahre nach Cla Genua, um 1940, liess Steivan Brunies aus Cinuoschel, Mitgründer des Nationalparks, jene Engadiner Melodien aufschreiben, an die er sich erinnern konnte. In den Jahren von 1941 bis 1950 wurden über Radio Beromünster viele Sendungen mit den gesammelten Tänzen von Steivan Brunies ausgestrahlt. Dabei handelte es sich eindeutig um Stücke aus der «vorländlerischen» Zeit, die teilweise noch von Fränzli Waser gespielt worden waren. Hans Erni « Die Schweiz, das Ferienland der Völker» Schweizerische Landesausstellung , Zürich 1939 In umgekehrter Richtung trug vor allem Radio Beromünster dazu bei, dass die Ländlermusik während des Zweiten Weltkriegs die Alpenpässe überquerte, langsam ins Engadin vordrang und sich erste Freunde schaffte. Anerkennung des Romanischen als 4. Landessprache, 20. Februar 1938 09 Bewahrung oder Stagnation? (1945 – 1990) • • • • Das Ausland lockt – und mit ihm seine Musik Elvis Presley wird populärer als S’Guggerziitli Abschottung vor neuen Impulsen Politische Instrumentalisierung der Ländlermusik dige Anpassung an die sich verändernden Umstände und Bedürfnisse durch die Verarbeitung neuer Einflüsse und Anregungen (Dieter Ringli) Ab den 1980er Jahren brachen einzelne Ländlerkapellen aus dem engen Korsett aus, indem sie ihre Musik mit kommerziell erfolgreichen Richtungen kombinierten. Populäre «Fusionspartner» waren zum Beispiel die Musik der Oberkrainer mit viel «Drive» und der Schlager. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den wieder offenen Grenzen erwachte bei Schweizerinnen und Schweizern die Sehnsucht nach der Ferne. Italien und Frankreich lockten. Elvis Presley wurde populärer als S’Guggerziitli, Françoise Hardy und Johnny Hallyday wurden auf Europe 1 lieber gehört als S’Vreneli vo Guggisberg auf Beromünster. Elvis Presley Die Ländlermusik wurde immer mehr von älteren Traditionalisten beeinflusst. Bei der jungen Nachkriegsgeneration galt es als «uncool», Ländlermusik zu hören. Bis in die 1980er Jahre fand keine echte Weiterentwicklung statt, die ein breiteres Publikum erreicht hätte. Es bestand die Gefahr der Marginalisierung. Sicherlich gab es auch in jener Zeit Musikanten, die spielten, was ihnen gefiel. Sie wurden von der Öffentlichkeit jedoch nicht wahrgenommen und weder vom damals exklusiven staatlichen Fernsehen noch vom ebenso exklusiven staatlichen Radio übertragen. Dem Schweizer Fernsehen, allen voran Wysel Gyr, gelang es zwar, die traditionelle Ländlermusik zu bewahren. Es musste jedoch ein Preis bezahlt werden: Ländlermusik wurde politisch zunehmend in die rechtskonservative Ecke gedrückt, welche jegliche Änderungen am Stil ablehnte. Die Musik, die der Schweiz im Zweiten Weltkrieg so grosse Dienste geleistet hatte, sollte unverändert erhalten bleiben. Gerade dadurch verlor die Ländlermusik in einer sich ändernden Welt aber ihre Fähigkeit als nationale Identitätsstifterin! Ländlermusik kapselte sich in jenen Jahren von der modernen Unterhaltungsmusik ab. Sie stagnierte, weil keine neuen Elemente mehr eingebaut wurden. Rückblickend ist erstaunlich, dass die epochalen musikalischen Entwicklungen, welche durch die Beatles und die Rolling Stones in Gang gesetzt wurden, an der Ländlermusik ohne spürbaren Einfluss vorbeigingen. Diese Entwicklung stiess jedoch nicht nur auf Gegenliebe. Experten bemängelten, dass lediglich zwei Stilrichtungen zusammengeführt wurden und keine eigentliche Auseinandersetzung mit der Ländlermusik stattfand. Ueli Mooser nennt diese Art der Musik «Gebrauchs-Tanzmusik» oder «Touristen-Ländlermusik». Puristen halten sie für «Wegwerf-Musik» und die Übernahme von Schlagerelementen gilt als «seicht». Original Oberkrainer Von der Gegenseite griff der Glarner Schlagersänger Salvo den Konflikt auf. Im Stück «Volksmusig und Schlager gänd sich d’Hand» mit den Geschwistern Rymann steht er ein für ein Zusammenwirken der beiden Musikrichtungen: • «Mer musiziered mitenand…» • «Mer lönd das Ganzi richtig fahre - wer weiss, wie wiit mer so no chänd» • «Nüt isch schlimmer als wie s na früener enand i d Queri sind cho» • «Volksmusig hät nu den einte ghört und jede Schlagerton hät gstört» Einen ernsthafterern Versuch zur Revitalisierung brachte die Folk-Welle um 1980. Die zum Teil politisch inspirierten Berührungsängste konnten jedoch nicht nachhaltig überwunden werden: Die «Linken» spielten Folk, die «Rechten» Ländler. Auch 2015 ist diese Trennung noch spürbar: An 1. Mai-Feiern treten typischerweise «El Condor de los Andes» oder «The Djembé Kings of Africa» auf, am Puurezmorge «S‘Echo vo Maiegrüen». Den Bewahrungstendenzen zum Opfer fiel die einzige wirklich uralte Tradition in diesem Genre: der stete Wandel und die stän- Nach dem 2. Weltkrieg hatte sich die Handorgel auch im Engadin etabliert und beeinflusste die Entwicklung des Engadiner Sounds in Richtung Ländlermusik. Die Janetts und die Ernis aus Tschlin spielten an Tanzanlässen der 1960er Jahre ein breites Repertoire – von überlieferten Engadiner Tänzen bis zu Märschen, von Oberkrainer Stücken bis zu populären Schlagern. Spätestens mit der Gründung der Engadiner Ländlerfründa 1968 erreichte der Bündner Stil und somit die «klassische Ländlermusik» definitiv das Engadin. Die Engadiner Länd- 10 11 lerfründa zettelten mit ihrer Neuinterpretation des Bündner Stils (drei statt zwei Klarinetten, Integration verschiedener Musikstile, Einbezug des Saxophons) eine kleine Revolution an und wurden schnell in der ganzen Schweiz bekannt. Engadiner Ländlerfründa Domenic Janett (Fränzlis) und Vali Meier (Prättigauer Stelser Buaba) Zu jener Zeit absolvierten die Brüder Janett aus Tschlin und die Ramoscher Brüder Caviezel ihr Studium und spielten als Frars Janett/Caviezel im Engadin wie im Unterland zum Tanz auf. Die Beschäftigung mit den verschiedensten Musikstilen während ihrer Ausbildung und die persönlichen Vorlieben für Oberkrainer Musik, Beat, Pop und Jazz flossen in die Spielweise und die Kompositionen ein. Die Engadiner Musiker überwanden die Erstarrung, die in den Städten Einzug gehalten hatte. Vielleicht half die späte Ankunft der Ländlermusik mit, dass sie nicht wie im Unterland in eine nationalkonservative Ecke gedrängt wurde – Ländlermusik im Engadin war und ist unpolitisch. Aufbruch zu ungewissen Ufern (1990 – heute) • Sieben Fachhochschulen bringen jedes Jahr hervorragend ausgebildete Musiker hervor – mehr als je zuvor • Als Gegengewicht zur Globalisierung wird wieder das Lokale, Echte, Traditionelle gesucht • Die jungen Musiker wollen Neues entwickeln • Noch nie war die Aussicht so gut wie heute, die Ländlermusik nachhaltig zu erneuern. Aber: Der Erfolgsbeweis beim breiten Publikum steht noch aus Ab 1990 begannen die Medien, ihr Augenmerk auf die «Progressiven» in der Ländlerszene zu legen. Ein bekanntes Beispiel sind die Innerschweizer Pareglish. Sie gingen jedoch für den Publikumsgeschmack zu weit und lösten sich 2003 wieder auf. Die Kapelle gab aber wichtige Impulse und suchte mit der Nachfolgeband Hujässler einen publikumsnäheren Weg. Sehr konsequent bemühte sich auch der Zürcher Ueli Mooser um die Erneuerung der Ländlermusik. Zahlreiche spannende Experimente erreichten jedoch noch kein breites Publikum (seine aus Ftan stammende und ebenfalls auf Ländlermusik spezialisierte Gattin Chatrina Mooser-Nuotclà präsentierte von 1998–2012 die Sendung «Musica da qua e da là» von RTR). Es dauerte nicht lange, bis die Engadiner Kreativität auch im Unterland bemerkt wurde. Dank neuer Übertragungsmöglichkeiten flossen die musikalischen Impulse rasch wieder zurück, wo sie ab den 1990er Jahren in den städtischen Ländlerszenen offen aufgenommen wurden. Ueli Mooser Weitere ernsthafte Versuche übernahmen Einflüsse aus umliegenden Alpenländern, Skandinavien, dem Jazz und der Popmusik. Für viele Musiker wurde der Erfolg beim Publikum zum Massstab für den Wert ihrer Kompositionen – die Ländlermusik begann, auch im Unterland wieder unpolitisch zu werden. Die Globalisierung der Musik führte in den letzten Jahren zu einer Gegenbewegung. Diese ist ausgerichtet auf die Erhaltung kultureller regionaler Eigenheiten und sucht, Altes und Traditionelles mit Neuem zu verbinden – eine weitere Chance für die Erneuerung der Ländlermusik. Dem Engadin kommt bei der heutigen Weiterentwicklung der Ländlermusik eine wichtige Rolle zu. Mit der Gründung der Fränzlis da Tschlin 1982 (Nachfolgeformation der Frars Janett/Caviezel) zeigt sich ein Phänomen, das in den 1990er und 2000er Jahren 12 13 in der ganzen Schweizer Volksmusikszene aktuell wurde: Der Rückgriff auf die Musik des 19. Jahrhunderts, also die Musik der Zeit vor Handorgel und Schwyzerörgeli. Diese «vorländlerische Musik» kam beim Publikum gut an, das sich (u.a. aus politischen) Gründen von der klassischen Ländlermusik abgewandt hatte. Fränzlis da Tschlin Chapella Engiadina Aktuell sind im Engadin die verschiedensten Formationen aktiv, die zum Teil generationenübergreifend die Volksmusik im und aus dem Engadin pflegen und weiterentwickeln: Neben den Fränzlis da Tschlin und den Engadiner Ländlerfründa sind die Chapella Engiadina aus Strada, die Chapella Tasna aus Ardez, die Chapella Jünaiver aus Scuol und die Chapella Clavadatsch aus dem Oberengadin in dieser unvollständigen Aufzählung zu nennen. Alle spielen ein breites Repertoire von Engadinern Stücken, kombiniert mit Melodien aus der ganzen Schweiz und dem Ausland, Neues und Altes in diversen Instrumentierungen verbindend. Fazit Die Volksmusik ist keineswegs eine erstarrte, historische Musik. Sie ist lebendig und in dauernder Erneuerung begriffen (Kurt Pahlen) Die Erneuerungsschritte der Ländlermusik kommen bisher eher beim urbanen Publikum an. Die Landbevölkerung bleibt etwas skeptisch. Aber erstmals seit langem zeigt die Ländlermusik heute Zeichen von Aufbruch, von Offenheit und von Lebendigkeit. Sie wird von hervorragenden Musikern auf handwerklich höchstem Niveau gespielt. Sie ist so lebendig wie in der Anfangszeit und so vielseitig wie nie zuvor. Trio Robin Mark, Prättigau Das lässt hoffen für die Zukunft. Möge die Ländlermusik wieder den Platz einnehmen, den sie einmal hatte – in den Konzertlokalen wie in den Herzen der Schweizerinnen und Schweizer! Zukunftsmusik in der Ländlermusik Seit 2008 die «Stubete am See – Festival für neue Schweizer Volksmusik» in der Zürcher Tonhalle stattfindet, erklingen in Zürich auch in regelmässigen Abständen wieder Engadiner Töne vor einem breiten Publikum. Stubete am See Stadt und Berge – tauscht euch aus! 14 15 Texte und Quellen Dank Ausstellung und Text: Fundaziun Stamparia Strada Die Stamparia Strada dankt folgenden Damen und Herren herzlich (alphabetisch): Text- und Bildquellen: Dieter Ringli, Schweizer Volksmusik von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart, 2006, Mülirad-Verlag, Altdorf Ueli Mooser, Die instrumentale Volksmusik, 1989, Gesellschaft für die Volksmusik in der Schweiz Madlaina Janett und Dorothe Zimmermann, Ländlerstadt Züri, 2014, Elster Verlag, Zürich Diverse Fachartikel · Markus Brülisauer, Haus der Volksmusik (Altdorf ) · Madlaina Janett (Zürich/Tschlin) · Heiri Känzig (Meilen/Sent) · Ueli und Chatrina Mooser-Nuotclà (Birmensdorf/Ftan) · Roger Rhyner, Radio Zürisee (Rapperswil) · Dieter Ringli (Aathal) · Florian Walser (Wald) Grafik: grrrafica.ch, Tanya Schatzmann, Strada Übersetzungen: Corina Caviezel Ohne ihre grosse Unterstützung und ohne ihr geduldiges Beantworten unserer vielen, vielen Fragen hätte «Strada – Turich retuorn» nie realisiert werden können. Stamparia Strada, Strada, Mai 2015 Musikbeispiele: Ausgewählt mit Unterstützung von Madlaina Janett und Ueli Mooser Öffnungszeiten Mai bis Oktober, Samstag 15–17 Uhr Juli/August, Donnerstag 15–17 Uhr und Samstag 15–17 Uhr oder nach Vereinbarung: +41 (0)81 866 32 24 Postautolinie: Scuol-Tarasp(CH)–Landeck(A) Haltestelle: Strada i. E., Cuncalada Buchdruckmuseum Stamparia CH-7558 Strada Mai–Oktober 2015 | www.stamparia.ch |