Was genau besagt eigentlich der Schuldgrundsatz und wo in unserem Gesetz ist er verankert? Jürg-Beat Ackermann: Strafrecht ist Schuldstrafrecht. Es gibt grundsätzlich keine Strafe ohne Schuld, und die Sanktion muss schuldangemessen sein. Schuldhaft handelt nur, wer sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich hätte rechtmässig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Art. 19 Abs. 1 unseres Strafgesetzbuches formuliert es so: «War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen (Einsichtsfähigkeit) oder gemäss dieser Einsicht zu handeln (Steuerungsfähigkeit), so ist er nicht strafbar.» Strafe will von Taten abhalten, will also vorsorglich steuern. Dieses Ziel der Steuerung wird aber verfehlt, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat gar nicht gesteuert werden kann. So schliesst eine sehr schwere psychische Krankheit entweder die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit oder beides gänzlich aus. Deshalb nützt weder vorsorglich die drohende Strafe noch der Vollzug einer Strafe etwas, um eine schwer psychisch kranke Person auf andere Wege zu bringen. Sie lässt sich durch Strafen nicht steuern. Also lässt man das Strafen vernünftigerweise bleiben. Im Volksmund spricht man immer von «Zurechnungs(un)fähigkeit». Ist damit das Gleiche gemeint wie mit «Schuld(un)fähigkeit»? Ackermann: Schuldunfähigkeit wird immer wieder mit Zurechnungsunfähigkeit, umgangssprachlich gar mit Unzurechnungsfähigkeit gleichgesetzt. Da es im Strafrecht letztlich immer um Zurechnung von Verantwortung geht, ist der Begriff Schuldunfähigkeit jedoch treffender. Beurteilt wird ja die Unfähigkeit zu Einsicht und Steuerung, nicht die «Unzurechnung». Unzurechnungsfähigkeit ist also falsch. Richtig ist es heute von Schuldfähigkeit beziehungsweise Schuldunfähigkeit zu sprechen. Seit wann gibt es den Schuldgrundsatz in unserer Justiz? Ackermann: Wir situieren die Anfänge des Schuldgrundsatzes auf Ende 12., Anfang 13. Jahrhundert. Die Straftat wandelte sich damals vom äusserlichen Rechtsbruch zur sittlich vorwerfbaren Verfehlung. Während man sich zuvor einfach auf den äusserlichen Vorgang mit seiner Wirkung (z.B. Tod, Vermögensschaden, Verletzung des Eigentumsrechts) konzentrierte, stellt man heute den Vorwurf dieser Handlung ins Zentrum. Es wird als ungerecht angesehen, jemanden für etwas haften zu lassen, wofür er persönlich nichts kann. Strafe verlangt heute den Vorwurf an den Täter, dass er anders hätte handeln können. Gilt der Schuldgrundsatz auch in anderen Ländern? Ackermann: Den Schuldgrundsatz sieht man in der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie als eigenständigen, übergeordneten Rechtsgrundsatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht verankert. Und in Deutschland beispielsweise hat der Grundsatz Verfassungscharakter. Angenommen, ein Schuldfähiger und ein Schuldunfähiger begehen genau dieselbe Tat. Wird dann der eine bestraft und der andere nicht? Ackermann: Hier bestehen zwei Missverständnisse. Zum ersten: Es ist eben nicht dieselbe Straftat, wenn im einen Fall im schuldfähigen und im anderen Fall im schuldunfähigen Zustand gehandelt worden ist. Auch die Schuld gehört zur Straftat – Unrecht und Schuld machen sie aus. Zum zweiten: Der schuldunfähige Täter kann zwar nicht bestraft werden. Ist er aber gefährlich, kann beispielsweise eine langjährige geschlossene psychiatrische Massnahme oder eine Verwahrung, ein Berufsverbot und ein Fahrverbot angeordnet werden. Die Personen bleiben also nicht «ungestraft». Diese Massnahmen wirken für die Betroffenen nämlich oft weit härter als eine Gefängnisstrafe. Auch der norwegische Attentäter Breivik will ja offenbar keinesfalls in die geschlossene Psychiatrie. Was «bringt» es mir als Täter allenfalls, wenn ich auf schuldunfähig plädiere (auch wenn ich es tatsächlich gar nicht bin)? Ackermann: Das Plädieren an sich bringt nichts. Die Schuldunfähigkeit wird heute in Zweifelsfällen stets durch einen Sachverständigen (etwa einen Psychiater) streng geprüft. So will es Art. 20 StGB. Erklären Sie bitte, was «vermindert schuldfähig» bedeutet. Ackermann: Es wird zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer Herabsetzung der Schuldfähigkeit unterschieden. Es handelt sich also um Abstufungen in der Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit. Diese Stufen lassen sich natürlich nicht mathematisch voneinander abgrenzen, es steckt eine gewisse Generalisierung darin, aber bei zu vielen Schattierungen wären sie in der Gerichtspraxis auch gar nicht anwendbar. Ausserdem besteht heute die unverkennbare Tendenz bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften, eine «verminderte Schuldfähigkeit» nur in wirklich erheblichen Fällen, also bei relativ starken Störungen, anzunehmen. Wenn ich schuldunfähig bin, kommt es dann darauf an, ob meine Tat das Ermorden von 20 Menschen oder den Diebstahl eines Velos umfasst? Ackermann: Ja, natürlich! Im ersten Fall kommt eine Verwahrung in Frage, die ohne weiteres ein Leben lang dauern kann, im zweiten Fall wäre so etwas völlig unverhältnismässig. Sie würden jedoch in beiden Fällen nicht schuldig gesprochen und müssten nicht ins Gefängnis. Mit dem Konzept der Schuldunfähigkeit stellt man doch eigentlich das Wohl des Täters ins Zentrum, nicht? Aus Sicht der Gesellschaft ist doch allein die Tat und ihre Konsequenzen ausschlaggebend dafür, ob und wie ein Täter bestraft werden soll … Ackermann: Das ist eine Behauptung. Die Gesellschaft, also wir alle, wie auch die konkreten Opfer beziehungsweise deren Hinterbliebene verstehen durchaus, was mit dem Schuldprinzip gemeint ist. Wollen Sie wirklich die 34-jährige, zweifache Mutter, die infolge eines ihr zuvor völlig unbekannten, medizinisch aber klar attestierten Sekundenschlafs auf die Gegenfahrbahn gelangt ist, dort mit einem Fahrzeug kollidiert und dabei drei Personen tötet, mit einer langjährigen Freiheitsstrafe überziehen? Wie steht es eigentlich um die Schuldfähigkeit von offensichtlich geistig behinderten Menschen? Ackermann: Ein sehr starker Intelligenzmangel (mit entsprechender Lernbehinderung) kann dazu führen, dass die betroffene Person nicht erkennt, dass sie etwas Unrechtes tut. So soll etwa ein schwer demenzkranker 87-jähriger Herr nicht wegen Hausfriedensbruchs bestraft werden, nur weil er trotz Aufforderung den fremden Garten nicht verlässt, sondern vielmehr behauptet, es sei sein Garten. Auch diese Lösung entspricht doch unserem Gerechtigkeitsgefühl. Ist es vorstellbar, dass ein Amoktäter, der Dutzende Menschenleben auf dem Gewissen hat, tatsächlich als schuldunfähig erklärt wird und somit nicht ins Gefängnis gesteckt wird? Ackermann: War dieser Täter zum Tatzeitpunkt einer Schizophrenie oder wahnhaften Störung ─ und den damit verbundenen imperativen Stimmen ─ ausgeliefert, dürfte er in der Regel schuldunfähig sein. Aber wie gesagt, in einer Psychiatrie fürs Leben eingeschlossen zu sein und sich mit der Tat immer und immer wieder auseinandersetzen zu müssen, ist für viele Täter sehr viel schlimmer als Gefängnis. Bei Breivik steht aber auch die These im Raum, dass er eine extreme Ideologie vertrete und bloss psychologische Probleme bekomme, falls sein Weltbild platzen sollte. Mit den schrecklichen Gewalttaten wollte er so gesehen nur seine Ideologie abscheulich brutal durchsetzen. Das hätte dann bei uns eine Freiheitsstrafe oder eine Verwahrung zur Folge. Annette Wirthlin