Sarah Napthali Der kleine buddhistische Erziehungsberater Entspannt durch die ersten Lebensjahre Aus dem Englischen von Manja van Wezemael Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Buddhism for Mothers« bei Allen & Unwin, 83 Alexander Street, Crows Nest NSW 2065, Australia Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de Alle Titel aus dem Bereich MensSana finden Sie im Internet unter: www.mens-sana.de Vollständige Taschenbuchausgabe Januar 2013 © 2003 Sarah Napthali Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2003 O. W. Barth Verlag © 2013 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Nina Frenkel Satz: Andrea Mogwitz, München Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-426-87578-0 2 4 5 3 1 Inhalt Vorwort 7 1 Und plötz­lich ist man mit dem Kind allein zu Haus 15 2 Achtsame Erziehung oder Wie kann ich den gegenwärtigen Moment am besten nutzen? 41 3 Innere Ruhe finden – und unbedingt auch mal an sich selber denken 75 4 Vom Umgang mit der milden und der großen Wut 103 5 Sorge dich um deine Kinder – aber belaste sie nicht damit 133 6 Liebevolle Beziehungen pflegen – denn die Kleinen werden schneller groß, als man denkt 163 7 Und über allem »Kinderkram« den Partner nicht vergessen! 199 5 8 Das Bild von sich selber loslassen und Glück finden 231 9 Meditieren – eine zuverlässige Quelle für mehr Energie, Gelassenheit und Einsicht 261 10 Die Praxis im Alltag 289 Dank 315 6 Vorwort MIT 24 JAHREN lebte ich in Jakarta, Indonesien, wo ich Englisch unterrichtete. 1991 war Jakarta keine angenehme Stadt; man saß täg­lich stundenlang im dichten Verkehr fest, und die Luft war stark verschmutzt. Es gab haufen­ weise Frustrationen: Die Telefone funktionierten nicht, der unbeschreib­liche Lärm von 10 Millionen Menschen ließ so gut wie nie nach, und als Ausländerin musstest du ständig Straßenhändlern, Bettlern, Taxifahrern und Neu­ gierigen ausweichen. Offene Abwasserkanäle säumten die Straßen. Am Anfang liebte ich den Kontrast dieser Stadt mit meinem Zuhause – das Surren der unaufhör­lichen Aktivität, dieses Fest der Sinne – , aber wie es so geht, kam irgendwann der Kulturschock, und ich muss zugeben, dass ich nicht sehr subtil damit umgegangen bin. Indonesien ist größtenteils islamisch, aber es war das Buch eines Engländers, Guy Claxton, das mir während dieser Zeit in die Hände fiel: The Heart of Buddhism – Practical Wisdom for an Agitated World. Ich hatte noch nie zuvor etwas derart Substanzielles gelesen und fing an, die Punkte, die mich am meisten inspirierten, zu markie­ ren. Mein Stift war bald leer. Ich drängte meine Freunde, sich ebenfalls mit dem Text zu befassen, damit wir dar­ über reden konnten – und über die Jahre bin ich immer wieder zu diesem Buch zurückgekehrt. Die Aussage, die mich zuerst berührt hat und die ge­ eignet war, mein Leben auf den Kopf zu stellen, war, dass 7 der Mensch fast dauernd in einem Zustand vollkommener Sinnestäuschung lebt. Wir gehen davon aus, dass die Welt, die Menschen darin und wir selber so sind, wie wir sie sehen. Der Buddhismus lehrt, dass unsere Wahrnehmun­ gen total daneben sind und uns dazu verleiten, Energie zu verschwenden für illusorisches Glück. Ich konnte dies sofort übertragen auf den Kulturschock, dem ich zum Opfer gefallen war: Ich blickte nun mit neuen Augen auf die ständigen Irritationen, ich sah sie anders und konnte anders dar­auf reagieren. Die täg­lichen Ärgernisse wurden plötz­ lich zu Situationen, aus denen ich etwas lernen konnte. Der Buddhismus ermuntert uns dazu, uns all unserer Wahrnehmungen, Gedanken und Glaubenssätze bewusst zu werden, damit wir die falschen Konzepte aufgeben, die zum Leiden führen. Wenn wir lernen, uns bewusst zu sein, wie unser Geist funktioniert, können wir die Kraft finden, unsere Erfahrungen zu transformieren. Mit den Worten des Buddha: Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aufgrund unserer Gedanken. Mit unseren Gedanken schaffen wir die Welt. Dem Buddhismus zufolge hängt unsere Fähigkeit, glück­ lich zu sein, von unserem Geisteszustand ab. Und weil es im Buddhismus keinen Gott gibt, liegt die Verantwortung dafür, wie wir unseren Geist führen und unsere Welt transformieren, bei uns selbst. Mein ganzes Verständnis des Buddhismus beruhte jah­ relang auf The Heart of Buddhism, bis ich irgendwann 8 anfing, mich auch anderweitig zu informieren. Ich habe buddhistische Meditationspraktiken ausprobiert, fühlte mich aber mehr angezogen vom Buddhismus als Philoso­ phie als vom Buddhismus als Praxis. Ich habe sicher da­ von profitiert, Buddhismus als Philosophie zu gebrau­ chen – das Problem ist nur, dass der Buddhismus nie als Philosophie gedacht war. Wahrer Buddhismus ist kein zusätz­licher Teil unseres Lebens, sondern etwas, das du in jedem Moment, in dem du daran denkst, leben kannst. In meinen zwanziger Jahren konnte ich mir schlecht vorstellen, dass es ein sinnvoller Zeitvertreib sein könnte, die Augen zu schließen und sich auf das Kommen und Gehen seines Atems zu konzentrieren. Ich wollte Dinge erledigen, Menschen treffen, meinen Verstand entwickeln, meine Fähigkeiten ausbauen – und viel Spaß haben. Dies waren oft lustige und angenehme Erfahrungen, aber schließ­lich verlor ich die Menschen, die ich getroffen hat­ te, irgendwann aus den Augen, und ich vergaß auch den größten Teil dessen, was ich gelernt hatte. Im Nachhinein ist mir klar, dass ich mehr profitiert hätte, wenn ich mich stärker auf meine spirituelle Entwicklung konzentriert hätte, weil ich dann weiter wäre auf dem von mir gewähl­ ten Weg. Als mein Leben dann als Dreißigjährige mit Kindern eine ganz andere Wendung nahm, wurde der Buddhismus noch wichtiger für mich. Ich wollte eine weise Mutter sein, doch ich habe mich oft bei Gedanken und Handlun­ gen ertappt, auf die ich nicht sehr stolz war. Ich hatte das Bedürfnis, vor allem für das Wohl meiner Kinder, eine tugendhaftere Person zu werden: geduldiger, mitfühlen­ der und mit einer positiveren Haltung. Ich wusste, dass 9 dies nicht einfach so geschehen würde, weil ich es mir wünschte – dafür waren Engagement und Disziplin nötig. Also fing ich an, meine spirituelle Entwicklung ernster zu nehmen. Als Mutter eines kleinen Kindes, die von zu Hause aus ein Unternehmen führt, war das eine ganz schöne Herausforderung, und ich muss zugeben, dass es Monate gegeben hat, in denen ich den spirituellen Fragen überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkte. In anderen Phasen fand ich jeden Tag Zeit, um zu meditieren. Und doch spürte ich ein Verlangen nach Retreats und nach in­ tensiven Meditationsperioden. Als frischgebackene Mut­ ter hatte ich zwar nicht genügend Zeit dafür, aber inzwi­ schen konnte ich doch sehen, dass die Kombination der spirituellen Übung mit dem Alltag sehr wirkungsvoll war. Meine unregelmäßige Meditationspraxis machte mich ru­ higer und positiver. Indem ich die buddhistischen Lehren anwandte, wurde mein Blick auf die Dinge frischer, und mein Leben verlief glatter. Als ich schwanger war mit meinem zweiten Sohn, war ich mir der anstehenden Herausforderungen sehr bewusst und mehr als nur ein bisschen ängst­lich. Ich wusste, dass mit der Freude, der Erleichterung und dem hormonellen Hoch auch der Schlafmangel, die langen Stunden zu Hau­ se und die Schwierigkeit, Zeit für mich selber zu finden, kommen würden. Ich wollte mich mental vorbereiten und vermeiden, in eine Depression abzugleiten. Also intensi­ vierte ich mein Engagement für meine buddhistische Pra­ xis: Ich meditierte regelmäßig, besuchte Kurse und ver­ suchte, achtsamer, mitfühlender und ethischer zu leben. Während dieser Schwangerschaft entstand der erste Entwurf dieses Buches, aber als dann das zweite Baby da 10 war, wurde mir noch bewusster, wie schwierig Eltern­ schaft sein kann. In dieser neuen Situation, in der ich mit zwei Kindern fertig werden musste, war ich selber ver­ blüfft zu sehen, wie schnell meine Sicherungen durch­ brennen konnten im Umgang mit meinem Sohn Zac, der damals dreieinhalb war, und ich habe das Kapitel über Wut hinzugefügt. Ich hatte Zac gegenüber nie viel Wut empfunden, bevor Alex geboren wurde. Riesige Frustra­ tion, Ärger und Verzweiflung, ja! Aber niemals diese ge­ walttätige Wut, die mich so weit brachte, dass ich fluchen und physisch ausrasten wollte. Ich habe Zac nie geschla­ gen, aber einmal habe ich meinen Fingernagel in seinen Oberschenkel gebohrt, und plötz­lich war mir klar, dass Kindesmisshandlungen nicht unbedingt von Monstern begangen werden, sondern auch von Eltern wie mir. Ich war alarmiert, und mir wurde bewusst, dass Wut ein wichtiges Thema in meiner spirituellen Praxis werden würde. Aber damit war ich nicht alleine. Viele der Mütter, mit denen ich gesprochen habe, kämpfen mit den gleichen Problemen. Im Buddhismus wird Wut als äußerst schäd­ lich betrachtet, und die Lehren betonen ständig, wie wichtig es ist, sich aus ihrem Griff zu befreien. Plötz­lich Mutter zu werden kann bei einer Frau ein inneres Chaos auslösen. Und doch konzentriert sich die Elternliteratur ausnahmslos auf das Erziehen der Kinder anstatt auf die Mutter und ihre Schwierigkeiten bei dieser Erziehung. Bücher über das Innenleben von Müttern sind meistens deprimierende Berichte, die uns darstellen als Opfer, die unter einem Leben leiden, vor dem uns nie­ mand gewarnt hatte. Ich hatte das Bedürfnis nach einem Buch, das sowohl die Sorgen als auch die Freuden der 11 Mutterschaft betont. Ein Buch, das Strategien anbietet, die nicht nur funktionieren, sondern unserem Leben auch eine tiefere Bedeutung geben können. Auch in der populären buddhistischen Literatur wird der spezifischen Situation von Eltern kaum Aufmerksam­ keit geschenkt. Man geht davon aus, dass die Leserinnen und Leser Zeit haben, jeden Tag zu meditieren, aktiv an einer spirituellen Gemeinschaft teilzunehmen und lange Retreats zu machen. Die Vorzeigebuddhisten sind meis­ tens Singles, Nonnen, Mönche, Weltenbummler, Be­ rühmtheiten – Menschen, die uns viel lehren können, die aber nicht täg­lich mit der Herausforderung Erziehung konfrontiert sind. Der kleine buddhistische Erziehungsberater ist ein Buch für Mütter – und Väter. Indem er einige buddhisti­ sche Praktiken vermittelt, zeigt er einen Weg, wie wir uns wieder verbinden können mit unserem inneren Selbst und wie wir ruhiger und glück­licher zu werden vermögen. Ich habe viele buddhistische Mütter gefragt: »Wie hilft dir das Praktizieren von Buddhismus?« Die häufigste Antwort, die ich gehört habe, bestand aus den gleichen vier Wör­ tern: »Es macht mich ruhiger.« Und von ruhigeren, glück­ licheren Müttern können unsere Familien nur profitieren. In diesem Buch dient das Leben der Mütter als Aus­ gangspunkt: Mit welchen Sorgen und Problemen kom­ men sie in Berührung, und wie können die buddhistischen Lehren in diesen Fällen helfen? Zu den Themen, die ich behandle, gehören u. a. die Vorteile, die für uns und unse­ re Kinder entstehen, wenn wir im Moment leben, wie wir Ruhe und Stille finden und wie wir mit unserer Wut und unseren Sorgen umgehen können. Ich gehe auch ein auf 12 die Auswirkungen, die die Mutterschaft auf die Bezie­ hung zu unserem Partner, zu unseren Freunden und Ver­ wandten und nicht zuletzt zu uns selber hat. Ich möchte klarstellen, dass ich mich dem Buddhismus in diesem Buch mit einer eklektischen Haltung genähert habe; ich habe die kostbarsten Schätze aus den verschie­ denen buddhistischen Traditionen gesammelt. Manchmal habe ich mich wie eine Diebin gefühlt, die den Buddhis­ mus plündert und nach Kleinodien absucht, die für Eltern nütz­lich sein könnten. Ich habe mir dabei große Sorgen gemacht, ob meine Haltung mit dem buddhistischen Prinzip vereinbar ist, das uns dazu anhält, die Lehren nicht miteinander zu vermischen oder zu vergleichen, sondern uns auf eine Tradition zu beschränken, in Beglei­ tung eines qualifizierten Lehrers oder einer Lehrerin. Natür­lich gibt es viele Überlappungen, und das Herz des Buddhismus – die zentralen Lehren – sind in allen Tradi­ tionen die gleichen. Und doch kann es sein, dass ich in einigen Fällen eine Aussage gemacht habe, die nicht für alle Schulen gleichermaßen stimmt. Mein eklektischer Ansatz bedeutet auch, dass dieses Buch nur ein Anfang ist, ein Vorgeschmack auf das, was der Buddhismus zu bieten hat. Jede seriöse Praxis beschränkt sich auf eine bestimmte Tradition unter der Leitung eines qualifizier­ ten Lehrers. Es bleibt jedem selbst überlassen, wo in der weiten Welt des Buddhismus er am besten hinpasst – wenn überhaupt irgendwohin. Ich muss noch hinzufügen, dass ich eine ganz gewöhn­ liche Frau bin. Die meisten buddhistischen Autorinnen und Autoren haben eine Referenzliste, die so lang ist wie ein liegender Buddha. Einige von ihnen sind vielleicht so­ 13 gar erleuchtet. Die meisten haben Jahre im Retreat ver­ bracht und hatten einige sehr eindrucksvolle Lehrer oder Lehrerinnen. Ich hingegen war noch nie mehr als zwei Nächte in einem Retreat (und habe meine Söhne mitneh­ men müssen), und ich kann mich nicht daran erinnern, je länger als eineinhalb Stunden meditiert zu haben. Ich bin kein spirituelles Schwergewicht, sondern eher jemand, der sich abstrampelt und ständig daran erinnert wird, wie viel an Fortschritten noch vor ihm liegt, der aber auch erstaunt ist dar­über, in welchem Maße der Buddhismus seinen Tag verbessern kann. Gerade weil ich nichts Besonderes bin, hoffe ich, El­ tern, die ein »normales« Leben mit den üb­ lichen Be­ schränkungen führen, mehr Einblick geben zu können in ein paar kostbare Schätze, die der Buddhismus anzubieten hat. Nachdem ich dies gesagt habe, will ich den Leserin­ nen und Lesern ans Herz legen, noch lange nach der Lek­ türe dieses Buches weiterzusuchen und vor allem zu den Quellen zurückzukehren und die Übersetzungen von Buddhas Worten im Dhammapada und in anderen Schrif­ ten zu lesen. Letzt­lich aber spielt es nur eine kleine Rolle, was ir­ gendjemand geschrieben hat. Es ist deine Erfahrung, die deinen Lernprozess in Gang setzt und am Laufen hält. Die Lektionen des eigenen Lebens sind die verläss­lichsten und nütz­lichsten. Es ist deine Reise. Die buddhistischen Lehren bieten eine ausgezeichnete Erklärung dessen, was auf diesem Weg passiert, und sind deshalb ein viel began­ gener Pfad zum Glück. 14 1 Und plötz­lich ist man mit dem Kind allein zu Haus … 15