Kalifat und Scharia

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Zum Selbst- und Wertverständnis des Islam
Der Islamwissenschaftler Bernhard Lewis über den Aufgabenbereich des Kalifen:
Die Muslime regierten wie andere Herrscher auch, trieben Steuern ein und führten Krieg. In weit
höherem Maße als andere bezogen sie aber ihre Religion in alle diese Aktivitäten ein. Besonders
zwischen der christlichen und muslimischen Erfahrung gab es eine tiefe Kluft. Drei Jahrhunderte
lang, bis zur Bekehrung Konstantins 1, waren die Christen eine Minderheit, stets beargwöhnt und
5 häufig staatlicher Verfolgung ausgesetzt. In dieser Zeit entwickelten sie ihre eigenen Institutionen,
aus denen die Kirche hervorging.
Muhammed, der Begründer des Islams, war gewissermaßen »sein eigener Konstantin«. Zu seinen
Lebzeiten wurde der Islam sowohl zu einer politischen als auch zu einer religiösen Bindung, und die
Gemeinde des Propheten in Medina nahm die Gestalt eines Staates an, in dem der Prophet selbst
10 der Souverän – als Herrscher eines Landes und eines Volkes – fungierte. Die Erinnerung an seine
Herrschertätigkeit ist im Koran und in den ältesten Erzähltraditionen festgehalten, die den Kern des
historischen Selbstbewusstseins der Muslime in aller Welt ausmachen.
Deshalb standen der Prophet und seine Gefährten nicht vor der Wahl zwischen Gott und Kaiser –
jener Schlinge, in der sich nicht Christus (»Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist.« 2), aber viele Chris15 ten verfingen. In der muslimischen Lehre und Erfahrung gab es keinen Kaiser. Und Gott war das
Oberhaupt des Staates, und sein Prophet Muhammed lehrte und herrschte in seinem Namen. Als
Prophet hatte er keine Nachfolger und konnte keine haben. Als oberster Souverän der religiöspolitischen Gemeinschaft des Islams folgte auf ihn eine lange Reihe von Kalifen 3.
Manchmal hört man, der Kalif sei das Oberhaupt von Staat und Kirche – Papst und Kaiser in einem
20 – gewesen. Diese Beschreibung nach westlichen und christlichen Begriffen ist aber irreführend.
Gewiss gab es keine Trennung zwischen imperium und sacerdotium 4 wie im christlichen Reich und
keine separate Kircheninstitution mit ihrer eigenen Hierarchie. Das Kalifat wurde stets als ein religiöses Amt definiert, und die höchste Aufgabe des Kalifen bestand darin, das Vermächtnis des Propheten zu schützen und das heilige Gesetz durchzusetzen. Aber der Kalif hatte keine päpstliche
25 oder auch nur priesterliche Funktion, und er gehörte weder durch Erziehung noch kraft Ausübung
seines Amtes zu den ulama 5. Er hatte den Glauben weder zu erläutern noch zu interpretieren, seine Aufgabe war es, ihn aufrechtzuerhalten und zu schützen – die Bedingungen zu schaffen, unter
denen seine Untertanen ein gutes muslimisches Leben auf dieser Welt führen und sich auf die
kommende Welt vorbereiten konnten. Dazu musste er das gottgegebene, heilige Gesetz innerhalb
30 der Grenzen des islamischen Staates bewahren; außerdem musste er diese Grenzen verteidigen
und, wo immer möglich, ausweiten, bis sich die ganze Welt zu gegebener Zeit dem Licht des Islams
öffnete. In der muslimischen Historiografie werden die früheren Eroberungen mit dem arabischen
Wort futuh (»Öffnung«) bezeichnet.
[…]
In: B. Lewis, Stern, Kreuz und Halbmond. 2000 Jahre Geschichte des Nahen Ostens (übersetzt von Bernhard
Rutkötter), München 1997, S. 175f.
Flavius Valerius Constantinus (etw. 270/280-337), bekannt als Konstantin der Große (Κωνσταντῖνος ὁ Μέγας [Kontanstínos Mégas]) oder
Konstantin I., war von 306 bis 337 römischer Kaiser. Ab 324 regierte er als Alleinherrscher. Folgenreich war seine Regierungszeit vor allem
aufgrund der von ihm eingeleiteten konstantinischen Wende, mit der der Aufstieg des Christentums zur wichtigsten Religion im Imperium
Romanum begann. Seit 313 garantierte die Mailänder Vereinbarung im ganzen Reich die Religionsfreiheit, womit sie auch das noch einige
Jahre zuvor verfolgte Christentum erlaubte. In der Folgezeit privilegierte Konstantin das Christentum. 325 berief er das erste Konzil von
Nicäa ein, um innerchristliche Streitigkeiten (arianischer Streit) beizulegen. Im Inneren trieb Konstantin mehrere Reformen voran, die das
Reich während der weiteren Spätantike prägten.
2 Siehe Matthäus Ev. (22, 21).
3 Kalif ist die Eindeutschung des arabischen Begriffs chalīfa, der im allgemeinen Sinn einen Stellvertreter oder Nachfolger bezeichnet,
jedoch häufig in einer spezifischen Funktion als Titel für religiös-politische Führer verwendet wird. Wenn er als Kurzform für die Ausdrücke
chalīfat Allāh (Stellvertreter Gottes oder chalīfat rasūl Allāh (Nachfolger des Gottesgesandten) steht, dann ist damit üblicherweise der
Anspruch auf die Führung der gesamten islamischen Gemeinschaft verbunden.
4 Weltliche Herrschaft und geistliche Gewalt (Priestertum).
5 Ulama oder Ulema (Wissender) heißen die Religionsgelehrten des Islam. Ihre Organisation und ihr Einfluss variieren in den
unterschiedlichen islamischen Gemeinschaften. Am stärksten ist sie im schiitischen Islam, wo ihre Rolle institutionalisiert wurde. In den
meisten Ländern sind sie die lokalen Autoritäten, die über die korrekte Interpretation der islamischen Glaubenslehre entscheiden.
1
Der Islam – sein Selbst- und Wertverständnis
… zum islamischen Rechtssystem
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschrieb Mizra Abu Talib 6 […] einen Besuch im Unterhaus. Er
zeigte sich erstaunt […], dass die Bekanntgabe von Gesetzen und die Festlegung von Strafen für
Missetäter zu den Aufgaben und Pflichten des Unterhauses gehörten. Im Gegensatz zu den Muslimen, so erläuterte er seinen Lesern, hatten die Engländer kein vom Himmel geoffenbartes göttli5 ches Gesetz erhalten und seien deshalb gezwungen, »im Einklang mit den Notwendigkeiten der Zeit
und der Umstände, mit den Staatsangelegenheiten und der Erfahrung der Richter« eigene Gesetze
zu verabschieden.
Das islamische Rechtssystem unterschied sich völlig von den Verhältnissen, die der Reisende in
England vorgefunden und beschrieben hatte. Für Muslime war das einzige gültige Gesetz das von
Gott offenbarte, wie es sich im Koran und in den überlieferten Texten darstellte und später durch
die Arbeit von Juristen-Theologen erweitert und interpretiert wurde. Wo das Gesetz nach allgemeiner Überzeugung von Gott erlassen und vom Propheten bekannt gegeben wird, gehören Juristen und Theologen verschiedenen Zweigen desselben Berufsstandes an. Da die Kenner des heiligen
Gesetzes keine Staatsbeamten, sondern Privatpersonen waren, konnten ihre Entscheidungen, die
ohnehin nicht einstimmig getroffen wurden, formell nicht bindend sein. Der vom Staat ernannte
Kadi 7sprach Recht in seinem Gericht. Seine Aufgabe war es, das Gesetz anzuwenden, nicht es auszulegen. Die Interpretation oblag dem Mufti 8, einem Rechtsgelehrten, dessen Ansichten oder Entscheidungen fatwa9 genannt wurden. Im Prinzip umfasste die scharia 10 sämtliche Aspekte des muslimischen Lebens, ob öffentlich oder privat, gemeinschaftlich oder persönlich. Einige ihrer Vorschriften – besonders jene, die Ehe, Scheidung, Eigentum, Erbschaft und andere persönliche Angelegenheiten bezogen – nahmen den Charakter einer normativen Gesetzgebung an. Man erwartete,
dass die Gläubigen ihr gehorchten, und der Staat traf Maßnahmen, um ihr entsprechende Geltung
zu verschaffen. In anderen Punkten glich die scharia eher einem System von Idealen, deren Verwirklichung Einzelpersonen genauso wie die Gemeinschaft anzustreben hatten. Die politischen und
konstitutionellen Vorschriften der scharia, die der Regierungsausübung gewidmet waren, lagen
ungefähr in einem Mittelbereich zwischen Gesetzen und Idealen.
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[…]
35 Kamen sie aus dem Volk, nannte man sie Brauchtum, kamen sie von oben, bezeichnete man sie als
Verordnungen. Wenn sie – was am häufigsten vorkam – von den Juristen ausgingen, wurden sie
Interpretationen genannt. Die islamischen Rechtsgelehrten waren in der Umdeutung von heiligen
Texten nicht weniger geschickt als die Juristen anderer Gesellschaften. Aber in einem Punkt hatte
Mirza Abu Talib zweifellos Recht: Die Verabschiedung neuer Gesetze, so üblich und so verbreitet
40 sie war, fand nahezu im Verborgenen statt; deshalb gab es keinen Platz für gesetzgebende Körperschaften nach Art derjenigen, die die Ausgangsbasis der europäischen Demokratie bildeten.
In: B. Lewis, Stern, Kreuz und Halbmond, aaO., S. 278ff.
Mizra Abu Taleb (1752-1806) war ein westindischer Khan (Fürst).
Der Qādī (Entscheider, Richter) bzw. eingedeutscht Kadi, ist nach der islamischen Staatslehre ein Rechtsgelehrter.
8 Ein Mufti ist ein offizieller Erteiler von islamischen Rechtsgutachten.
9 Ein Fatwa ist eine von einer muslimischen Autorität auf Anfrage erteilte Rechtsauskunft, die dem Zweck dient, ein religiöses oder
rechtliches Problem, das unter den muslimischen Gläubigen aufgetreten ist, zu klären.
10 Die Scharia, auch Scharīʿa geschrieben (wörtl.: ‚Weg zur Tränke‘, ‚Weg zur Wasserquelle‘, ‚gebahnter Weg‘), ist das religiöse Gesetz des
Islam.
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Der Islam und die Arabische Expansion (7.-10. Jh.)
In Wirklichkeit war der Unterschied zwischen dem islamischen und westlichen Rechtssystem weniger krass, als Mirza Abu Talibs Kommentare vermuten lassen. Zwar räumt die scharia den Men30 schen keine gesetzgebende Gewalt im islamischen Staat ein, doch in der Praxis sind muslimische
Herrscher und Juristen in den mehr als vierzehn Jahrhunderten seit der Mission des Propheten auf
viele Probleme gestoßen, für die die Offenbarung keine expliziten Antworten liefert. Deshalb musste man andere Lösungen finden, die nicht als Gesetzgebungsakte betrachtet oder präsentiert werden durften.
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