Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Kalthoff, Cress, Röhl · Materialität
Herbert Kalthoff · Torsten Cress
Tobias Röhl (Hg.)
Materialität
Herausforderungen für die
Sozial- und Kulturwissenschaften
Wilhelm Fink
Publiziert mit Unterstützung des Forschungsschwerpunktes
SOCUM der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Umschlagfoto:
Roger McLassus: Rust and dirt
(http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rust_and_dirt.jpg – CC BY-SA 3.0
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5704-2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
KONZEPTE | PERSPEKTIVEN | ZUGRIFFE
Hans Peter Hahn
Die Unsichtbarkeit der Dinge.
Über zwei Perspektiven zu materieller Kultur in den Humanities . . . . . . . . . 45
Theodore Schatzki
Materialität und soziales Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Bruno Latour
Ein Plädoyer für irdische Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Gesa Lindemann
Reflexive Technikentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Manfred K. H. Eggert und Stefanie Samida
Menschen und Dinge. Anmerkungen zum Materialitätsdiskurs . . . . . . . . . . 123
ARTEFAKTE | OBJEKTE | DINGE
Uwe C. Steiner
Vom Materialismus zur Materialität. Wie die Literatur des
19. Jahrhunderts handlungsmächtige Dinge entdeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Ralph Buchenhorst
Ding und Gedenken. Materialität und
Authentizität in Erinnerungskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Ann-Sophie Lehmann
Objektstunden. Vom Materialwissen zur Materialbildung . . . . . . . . . . . . . . 171
6
Inhaltsverzeichnis
Martin Brückner
Karten als Objekte.
Materielle Kultur und räumliche Arbeit im frühen Nordamerika . . . . . . . . . 195
BILDTEIL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
ZEICHEN | SYMBOLE | TEXTE
Markus Hilgert
Materiale Textkulturen.
Textbasierte historische Kulturwissenschaften
nach dem material culture turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Marcella Biasi
Lyrik, die Widerstand leistet.
Verdinglichung als poetologisches Paradigma
der Materialität von Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Ursula Verhoeven
Von Pyramiden und Papyrusrollen.
Gedanken zur Materialität im Alten Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Bettina Bildhauer
Die Materialität von Zeichen in mittelalterlichen Mären . . . . . . . . . . . . . . . 305
Oliver Scheiding und Anja-Maria Bassimir
Religion – Schrift – Differenz. Materialität im Spiegel
evangelikaler Zeitschriften der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Elke Wagner und Niklas Barth
Die Medialität der Liste. Digitale Infrastrukturen der Kommunikation . . . . 343
SINNLICHE PHÄNOMENE | NATUR | MATERIAL
Christiane Schürkmann
Eisen, Säure, Rost und Putz. Material in der bildenden Kunst . . . . . . . . . . . 359
Bill Brown
Eine kleine Geschichte des Lichts (Dan Flavin/Gaston Bachelard) . . . . . . . . 377
Inhaltsverzeichnis
7
Rainer Schützeichel
Materialitäten und Atmosphären.
Eine soziologische Analyse am Beispiel der menschlichen Stimme . . . . . . . . 393
Holger Schulze
Der Klang und die Sinne.
Gegenstände und Methoden eines sonischen Materialismus . . . . . . . . . . . . . 413
Jens Lachmund
Ruderale Räume. Ökologie, Politik und die Natur der Stadt . . . . . . . . . . . . 435
Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Vorwort
Dieser Band geht auf eine internationale und interdisziplinäre Tagung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Oktober 2011 zurück. An ihr nahmen
mehr als 35 Kultur- und Sozialwissenschaftler/innen sowie viele Gäste aus dem
In- und Ausland teil. Der Band dokumentiert eine Vielzahl von Perspektiven auf
das Thema Materialität, von denen einige im Rahmen der Tagung vorgetragen und
diskutiert worden sind; andere Beiträge sind für den vorliegenden Sammelband
verfasst worden. Ein wichtiges Anliegen aller Beiträge ist es, Materialität in ihren
verschiedenen Ausprägungen und sozialen Bedeutungen disziplinär zu erforschen
und dadurch (wieder) auf die Agenda der Sozial- und Kulturwissenschaften zu
setzen. Sie schlagen dabei unterschiedliche Wege ein – stärker konzeptioneller Art
die einen, stärker empirisch-analytischer Art die anderen.
Die Durchführung einer Tagung und die Publikation eines Sammelbandes sind
ohne die Mitwirkung anderer Beteiligter kaum möglich: Wir danken dem Forschungsschwerpunkt Social and Cultural Studies Mainz (SOCUM) der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz für die finanzielle Unterstützung der Tagung und
der Buchpublikation. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung war uns
Vanessa Wein eine sehr große Hilfe, ebenso die Kolleg/innen Walter Bisang, Stefan
Hirschauer, Carola Lentz, Bärbel Tischleder und Gregor Wedekind. Bei der Vorbereitung dieses Bandes haben uns geholfen: Laura Weidauer und Martin Kutter bei
der Erstellung des satzfertigen Manuskripts, Ulla Bröcker bei der sorgfältigen Korrektur aller Beiträge und Christiane Schürkmann bei der Gestaltung des Bildteils.
Sie alle haben auf generöse Art und Weise zum Gelingen der Tagung und des
Sammelbandes beigetragen. Ihnen allen gilt dafür unser Dank.
Mainz, im Juli 2015
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
1. Sozio-materielle Konstellationen
Die Dinglichkeit der sozialen Welt, die Bedeutung von Artefakten, natürlichen Dingen, Substanzen und Organismen für das soziale, körpergebundene Handeln von
Menschen, die Arbeitsweise und Auswirkungen von (neuen) Technologien, die Verschmelzung des Menschen mit den Artefakten, die er erfindet und nutzt – diese und
weitere Themen durchziehen seit Jahrzehnten die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung, ihre Publikationen und Diskurse (etwa Gumbrecht/Pfeiffer 1988).
In jüngerer Zeit dokumentiert sich dieses Forschungsinteresse in einer ganzen Reihe von Publikationen aus verschiedenen Disziplinen, etwa der Kunstwissenschaft
(Wagner/Rübel 2002), Literatur- und Medienwissenschaft (Brown 2004; Köhler et
al. 2004; Thielemann/Schüttpelz 2013), Geschichtswissenschaft (Gerritsen/Riello
2015), Psychologie (Habermas 1996) und Wissenschaftsgeschichte (Daston 2004).
Der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zu dieser Diskussion.
Es gibt zwei Gründe dafür, dass diese Debatte in den vergangenen Jahren intensiviert worden ist: Zum einen läßt sich eine gesellschaftliche Sensibilisierung durch
eine zunehmende Ausdehnung von Technologien in alltägliche und professionelle Lebenswelten beobachten; zum anderen haben empirische und konzeptionelle
Entwicklungen in der Wissenschafts- und Technikforschung dazu beigetragen, dass
die Sozial- und Kulturwissenschaften die materielle Dimension von Kultur und
Gesellschaft gegenwärtigen. Beide Entwicklungen haben die Sozial- und Kulturwissenschaften an frühe Entwürfe und Diskussionen zurückgeführt, die das spannungsreiche Verhältnis von Mensch und Ding, Mensch und Technik, Mensch und
Natur etc. auf ganz unterschiedliche Weise thematisiert haben. Angesichts neuer
technisch-materieller Konstellationen setzen beide Entwicklungen allerdings nicht
nur eine Besinnung auf die Theorietraditionen der Fächer in Gang, sondern erfordern zugleich neue, theoretisch-empirische Anstrengungen. Diese Entwicklungen
sind insofern eine Herausforderung für die Sozial- und Kulturwissenschaften, da
sich diese lange Zeit vor allem als sinndeutende und verstehende Wissenschaften
verstanden und in erster Linie das menschliche Handeln und Schaffen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben.
Dieser Herausforderung stellen sich die Beiträge dieses Bandes. Sie interessieren
sich für die Frage, wie sich das Verhältnis von menschlichem Handeln und Erkennen einerseits und den materiellen Voraussetzungen und Folgen dieses Handelns
und Erkennens andererseits gestaltet und formt. Um diese Relationen zu erkunden,
nehmen die Beiträge des Bandes zwei Verschiebungen vor: Die erste Verschiebung
besteht darin, dass sie den Blick nicht mehr allein auf technische Artefakte richten,
sondern Materialität konzeptionell weiter fassen. Zu den materiellen Dimensionen
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Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
des Sozialen zählen hier Materialien (u.a. Farbe, Pigmente, Stoffe), Zeichen, Schrift
und graphische Systeme (u.a. Typographie, Schrift, Landkarten), physikalische Phänomene (etwa Licht und Klang), Organismen (etwa Natur, Tiere), Substanzen (etwa
Wasser, Luft) und Artefakte (etwa Bauwerke, Computer, Werkzeuge, Apparaturen).
Hiermit knüpfen sie an neue Forschungsentwicklungen an, die materielle Entitäten analysieren, die für die menschliche Praxis zwar hochgradig relevant sind, bislang aber tendenziell ignoriert wurden. Zu nennen sind hier etwa Forschungen zu
Natur, Tieren und Organismen (Wiedemann 2002; Lachmund 2013; die Beiträge
von Schatzki, Lachmund in diesem Band), zu Substanzen und Materialien (Strässle
et al. 2013; Lehmann 2012; Henkel 2011; Wagner/Rübel 2002; Heibach/Rohde
2015), zu Licht, Klängen und Geräuschen (Sterne 2003; Bille/Sørensen 2007; die
Beiträge von Brown, Schützeichel, Schulze in diesem Band) sowie zu Schrift, Zeichen, Texten und anderen graphischen Systemen (Krämer 2001; Assmann 1988;
Greber et al. 2002 sowie die Beiträge von Biasi, Bildhauer, Brückner, Hilgert und
Scheiding/Bassimir in diesem Band).
Besteht die erste Verschiebung in einer konzeptionellen Öffnung dessen, was
unter Materialität zu verstehen ist, so zielt die zweite Verschiebung auf eine Öffnung der Erforschung des Verhältnisses von Materialität und Sozialität. Diese konzeptionelle Öffnung operiert mit einer graduierenden Perspektive, die auf eine empirische Erforschung des Verhältnisses von Handeln mit Objekten und Handeln
durch Objekte abzielt.1 Auf diese Weise sucht sie nach einer empirisch fundierten
und konzeptionell gehaltvollen Synthese theoretischer Gegensätze, die entweder
das situierte und Sinn konstituierende Handeln mit Objekten betonen, oder aber
die wirkmächtige Rahmung sozialen Handelns durch Objekte in den Vordergrund
und die Handelnden in den Hintergrund rücken. Diese Graduierung – die auch
als Re-Symmetrisierung beschrieben werden kann (Kalthoff 2014) – plädiert somit
für eine empirische Analyse der Konstellationen des Materiellen und des Sozialen,
Konstellationen, in denen das Handeln, die Praxis bzw. das soziale Ereignis unterschiedlich figuriert sind. Statt etwa die Analyse materieller Dimensionen des Sozialen auf funktional-technisches Bewirken zu reduzieren, plädieren wir dafür, von
einem offenen Kontinuum auszugehen: Dieses reicht von Artefakten und anderen
materiellen Entitäten, die als ein wirkendes Gegenüber auftreten, über Formen der
Hybridisierung und des leiblichen Verschmelzens in der subjektiven Erfahrung bis
hin zu einer das Materielle transzendierenden Praxis. Dies impliziert, die physische
Dimension von Materialität ebenso in den Blick zu nehmen wie ihre symbolische
und perzeptive Dimension.2
1 Wir verwenden den Begriff des „Objektes“ der Einfachheit halber als übergeordnete Kategorie und
meinen hiermit die verschiedenen, soeben beschriebenen Formen des Materiellen wie Artefakte,
Naturdinge oder Schrift.
2Materialität und Sozialität als Pole eines Kontinuums zu konzipieren meint also nicht, dass wir
von einer starken Trennung von Sozialem und Materiellem ausgehen. Vielmehr betrachten wir
mit Latour und anderen das Materielle und das Soziale als immer schon grundlegend miteinander
verflochten.
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
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Unter Sozialität verstehen wir dabei in Anschluss an George Herbert Mead
(1969; 1987) die Fähigkeit des Menschen, „mehrere Dinge gleichzeitig zu sein“
(Mead 1969: 280). Gemeint ist die Fähigkeit, die Haltung von anderen Akteuren und generalisierten Anderen, aber auch von Objekten einnehmen zu können
(Mead 1987: 228). Dies geschieht erstens nicht isoliert, sondern in einem interaktiven Geflecht von anderen Akteuren und allgemeinen Regeln, und zweitens in der
Temporalität der Praxis und der Ereignisse. In den Ereignissen, in denen Menschen
beziehungsweise soziale Akteure sich als in der Zeit-Seiend erfahren, vollzieht sich
ihr aufeinander-reagierendes Handeln, ihr Umgang mit Dingen und ihre Einbettung in die Praxis.3
Wir gehen davon aus, dass materielle Objekte in unterschiedlicher Weise mit
diesen beiden Polen – Materialität und Sozialität – korrespondieren. Sie verändern
beispielsweise dann ihren Status, wenn sie von Produktions- in Gebrauchskontexte
(oder umgekehrt) wechseln. Diese andernorts als Öffnung oder Schließung einer
Black Box beschriebene Praxis lässt sich dort gut beobachten, wo die Objekte eben
als diese jeweiligen Objekte Gegenstand der Bearbeitung werden. Zwei Beispiele:
Wenn man nicht mehr beobachtet, wie ein Excel-Sheet von einem Finanzhändler
genutzt, sondern wie es von Finanzmathematikern unter Zuhilfenahme anderer
technischer Dinge (etwa der Software „C++“) mit komplizierten Formeln hinterlegt und designt wird, dann geht man von ihrer Verwendung zur Beobachtung ihrer Konstruktion über. Wenn Schrifttypen (Fonts) nicht mehr allein in der Herstellung von Texten aufgehen, sondern selbst in den Werkstätten der Schriftdesigner
entwickelt und verändert werden, findet ein Wechsel von der Arbeit mit Objekten
zur Arbeit an Objekten statt. Aber auch innerhalb von Kontexten des Gebrauchs
lassen sich Statuswechsel beobachten, wenn Objekte entsprechend situativer Erfordernisse „passend gemacht“ werden. Das heißt: Schon in den alltäglichen Routinen
lässt sich ein derartiges Changieren beobachten.
Solche Transformationen machen darauf aufmerksam, dass Objekte weder praktisch noch semiotisch eindeutig festgelegt, sondern – in einem gewissen Maße –
mehrdeutig sind und über einen Sinnüberschuss verfügen. So legen etwa manche Objekte den Umgang mit ihnen relativ klar fest, während andere Spielräume
eröffnen und abweichende Handlungsoptionen zulassen. In diesen Fällen ist das
Materielle relativ unbestimmt. So gibt es etwa Objekte, deren Gebrauch kaum
auf einen bestimmten Verwendungssinn festgelegt ist oder deren Verwendungssinn
von den Nutzern mehr oder weniger leicht ignoriert werden kann (Stieve 2008).
Diese Ambiguitäten erfahren ihre Begrenzung durch ein Zusammenwirken von
vier Formen der Rahmung: Praktiken, in welche die Objekte involviert sind; die
physische Umwelt, in die sie eingebettet sind; die physischen Eigenschaften und
Qualitäten, die sie besitzen; und die institutionalisierten Erwartungen und Konventionen, die an sie gebunden sind (Cress 2015). Betrachten wir diese Formen
der Rahmung im Einzelnen. Mit Praktiken sind Formen des sozialen Gebrauchs
3 Dieses Verständnis von Sozialität schließt an neuere Kulturtheorien an (etwa Reckwitz 2000).
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Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
oder Umgangs bezeichnet. Sie stellen Objekte in einen Handlungszusammenhang
und weisen ihnen situativ Sinn zu. So wird etwa in der katholischen Liturgie über
den ostentativ würdevollen Umgang mit der Hostie angezeigt, dass man es mit
einem (potentiell oder aktuell) heiligen Objekt zu tun hat. Gleichzeitig wird die
Hostie durch ihre physische Umwelt, das heißt durch die anderen Objekte, die
sich in der Kirche beziehungsweise im Altarraum befinden, kontextiert und als
solche kenntlich gemacht: Das bedeutet auch, dass die Hostie in der Schale auf
dem Altar eine andere ist, als die Hostie in der Tüte in der Sakristei. Weiter erlaubt
es die physische Beschaffenheit der Hostie, sie zu zerbrechen, zu verteilen und zu
konsumieren, während sie zugleich aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit einen sorgsamen Umgang mit ihr nahelegt. Objekte selbst weisen also in ihrer Beschaffenheit
auf ihre Funktionalität und Nützlichkeit hin und zeigen damit ihren möglichen
Gebrauch an. Schließlich werden die konkreten Verwendungs- und Rezeptionsweisen der Hostie durch institutionelle Vorgaben, Erwartungen und Konventionen
geregelt (Lindemann 2014). Das heißt, auch wenn die Objekte in ihren physischen
Erscheinungsformen Spielräume zulassen, werden diese oft durch soziale Konventionen etc. eingeschränkt.
Um zu resümieren: Was Objekte jeweils sind, was sie darstellen und was sie
leisten können, ergibt sich aus ihren materiellen und immateriellen Rahmungen.
Somit stehen Objekte im Spannungsfeld verschiedener Rahmungsdynamiken, die
ihren Handlungssinn mit erzeugen und ihre praktische Wirkmacht mit hervorbringen. Dies gilt in gleicher Weise für Schrifttypen, natürliche Dinge (Kieselsteine), Materialien (Ölfarben) oder technische Artefakte (Werkzeuge).
Mit diesen beiden Verschiebungen – Erweiterung des Materialitätskonzepts einerseits, Resymmetrisierung von Sozialität und Materialität andererseits – erweitert
der Band die Auffassung, die Materialität sozialen Handelns bestünde wesentlich in
zwei Formen – dem menschlichem Körper und den Artefakten (Reckwitz 2003).
Wie erläutert, legt der Band hingegen eine Ausdehnung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Annäherung an das Phänomen nahe. Dabei ist zu beachten,
dass nicht-dingliche materielle Entitäten mitunter Eigenschaften aufweisen, die
durch die bisherige Materialitätsforschung mit ihrem Fokus auf Artefakte verfehlt
worden sind. So sind beispielsweise Substanzen (etwa Ölfarbe) anders als Dinge
nicht klar begrenzt, behalten bei Teilung aber ihre materiellen Eigenschaften bei
(Hahn/Soentgen 2011). Dementsprechend müssen Überlegungen zur Wirkung
und Handlungsinitiative dieser materiellen Entitäten überdacht und neu entworfen werden. Mit der Ausweitung des Materiellen und seiner Relationierung werden
deshalb nicht nur weitere Forschungsgegenstände erschlossen, sondern eine Forschungsperspektive entwickelt, in der die materielle Dimension jedweder Praxis
in all ihren Details berücksichtigt werden kann. Materialität ist dann nicht bloße Eigenschaft klar umrissener Entitäten, sondern als Sozio-Materialität immer
schon verschränkt mit allem, was wir tun und beobachten. Eine Forschung, die
sich hingegen auf (technische) Artefakte beschränkt, läuft Gefahr, Materialität als
abstrakte Größe einseitig Objekten zuzuschreiben und aus dem Blick zu verlieren,
dass Artefakte selbst nur vorläufige und dynamische Entitäten sind, die erst durch
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
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das Zusammenspiel von Materialien, Oberflächen und menschlichem Gebrauch
zu Objekten werden (Ingold 2007).
Die Beiträge dieses Bandes interessieren sich dementsprechend nicht für eine
kategoriale Zuschreibung von menschlicher und technischer Kausalität. Statt entweder eine Zentralität menschlichen Handelns oder aber (technischer) Objekte zu
postulieren, erkunden sie deren Relation und plädieren für eine theoretisch inspirierte empirische Forschung.
2. Die Materialitätsforschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften
Die Graduierung von Materialität und Sozialität hat ihre Spiegelung in theoretischen Ansätzen, die mal die Macht der Dinge, der Technik oder des Materials, mal
die Herrschaft des Individuums über seine Werkzeuge betonen. So heben manche
Autoren insbesondere die symbolische Qualität materieller Objekte hervor, während andere das Handeln-Können als ein Zusammenwirken von materiellen Objekten und sie verwendenden Akteuren beschreiben. Sind materielle Entitäten also
in den Augen der Einen einzig und allein Werkzeuge im Dienste des Menschen,
so sind sie bei den Anderen gleichwertige Akteure, die ein Geschehen ermöglichen
und Zeit und Raum – wenn auch unsichtbar – miteinander verbinden; sehen die
Einen ihre Relevanz insbesondere in der Symbolisierung einer spezifischen sozialen Ordnung, so die Anderen in der Präjudizierung der sozialen Wirklichkeit. Die
Diskussion im Überblick:
Sozialkonstruktivismen
Sozialkonstruktivsmen vertreten eine Perspektive, in der das Handeln sozialer Akteure im Zentrum steht. Hierzu gibt es Varianten: Einmal wird betont, dass die
von Menschen geschaffenen einfachen Artefakte den Menschen, die sie verwenden,
als Werkzeuge zur Verfügung stehen. So unterscheidet Flusser (1997) historische
Perioden, in denen der Umgang mit Werkzeug, Maschinen oder Apparaten dominiert; in diesen historischen Perioden ist das Verhältnis von Mensch und Werkzeug/
Maschine jeweils anders figuriert: Eine handwerklich dominierte Gesellschaft ‚stellt‘
den Menschen in Bezug zu Werkzeugen, während in industriellen Gesellschaften, in
denen Maschinen dominieren, Menschen im Takt der Maschine leben und arbeiten. Zum anderen wird konstatiert, dass die von Menschen geschaffenen Objekte in
ihrer symbolischen Bedeutung zu sehen sind – etwa als Ausdruck einer (kosmologischen) sozialen Ordnung (Bourdieu 1979; Berger/Luckmann 2003). Schließlich
betonen Autoren der Social Construction of Technology (Bijker et al. 1987), dass
moderne Gesellschaften nicht ohne die Analyse von Wissenschaft und Technologie verstanden werden können. Gezeigt wird in diesen Studien, wie verschiedene
Wissensformen, die zur Herstellung technischer Artefakte notwendig sind, sich
in einem langen Prozess herauskristallisiert und durchgesetzt haben. Das heißt:
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Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen befinden sich in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess darüber, wie ein Artefakt verstanden, entwickelt und
gebraucht werden soll. Wissen ist also weder eindeutig noch unstrittig, sondern
widersprüchlich und umkämpft. Damit sich Wissen durchsetzen kann, ist seine
soziale Anerkennung (etwa durch eine scientific community) notwendig (Collins/
Pinch 1999: 115ff.). Was materielle Objekte oder technische Artefakte anbelangt,
so ist man der Auffassung, dass ihr Gebrauch – vor allem in der Produktions- und
Erprobungsphase – nicht eindeutig festgelegt ist. Die Regeln der Technikverwendung liegen demnach nicht als ein abgeschlossenes und interpretationsfreies Skript
vor, sondern erfordern Deutungen und einen kreativen Umgang – Objekte sind
gekennzeichnet durch „interpretative Flexibilität“ (Bijker et al. 1987). Insgesamt
orientiert sich diese Forschungsrichtung an der Wittgensteinschen Gebrauchstheorie der Bedeutung, der zufolge Artefakte offen für situative Umdeutungen und
Verwendungen sind. Es ist aber genau ein Problem der sozialkonstruktivistischen
Theorieoptik, dass der Herstellungsprozess – das heißt die Arbeit menschlicher
Akteure an der Entwicklung, Erprobung und Produktion von Artefakten, und sei
es unter Mithilfe anderer technischer Artefakte – oft auf einen sozialen Deutungsprozess reduziert wird.
Schauen wir uns die Position von Pierre Bourdieu genauer an: In einem Aufsatz „Le mort saisit le vif #“ plädiert Bourdieu (1980) dafür, soziale Handlungen
als zwei miteinander verknüpfte Geschichtsformen zu denken: auf der einen Seite
die in Artefakten objektivierte Geschichte (das Habitat), auf der anderen Seite die
inkorporierte Geschichte der Familie und des sozialen Status (der Habitus). Habitat ist nach Bourdieu „die Geschichte im objektivierten Zustand, d.h. die im
Laufe der Zeit in den Dingen (Maschinen, Gebäuden, Monumenten, Büchern,
Theorien, Sitten, dem Recht usf.) akkumulierte Geschichte“ (Bourdieu 1997: 28);
Habitus ist eine Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix, die, in der Familie erworben und durch die Schule überformt, praktische Logiken koordiniert und
abstimmt (Bourdieu 1979: 139ff.). So stehen Artefakte bei Bourdieu einerseits für
eine Stellung im sozialen Raum, anderseits präfigurieren sie aber auch das Handeln
der Menschen (so etwa in seiner Studie zum kabylischen Haus; Bourdieu 1979:
48ff.). Deutlich wird, dass Bourdieu eine Position vertritt, die Artefakte in ihrer
symbolischen Qualität analysiert und zugleich die soziale Praxis in Relation zur
Objektwelt setzt. Bourdieu hat diese Position, wenngleich er sie an verschiedenen
Gegenständen empirisch exemplifizierte (etwa Kunst, Kleidung, Hausbau etc.),
nicht systematisch konzeptualisiert.
In ähnlicher Weise betrachtet die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie (Berger/Luckmann 2003) Artefakte sowohl als mit menschlichem Sinn ausgestattete
kulturelle Gegenstände als auch als institutionalisierte Objektivierungen, die uns
wirkmächtig gegenübertreten. Schon bei Alfred Schütz verweisen Artefakte als kulturelle Gegenstände „in Ursprung und Bedeutung auf die Tätigkeiten menschlicher
Individuen zurück“ (Schütz 1971: 12). Verstehen kann man Artefakte in dieser
Perspektive nur, wenn man den mit ihnen verbundenen Sinn oder Handlungsentwurf kennt. Die methodische Konsequenz heißt deshalb, Artefakte als geschichtli-
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
17
che „Sedimentation menschlicher Tätigkeiten“ (Schütz 1971: 12) zu begreifen und
hinsichtlich ihres Sinns in menschlichen Handlungszusammenhängen zu interpretieren. Peter L. Berger und Thomas Luckmann schließen daran an: Für sie sind
Artefakte institutionalisierte Lösungen für gesellschaftliche Probleme, die – wie
andere Objektivierungen auch (etwa Sprache) – zur Dauerhaftigkeit der sozialen
Wirklichkeit beitragen (Rammert 2006). Der daran anschließende kommunikative
Konstruktivismus weitet den Kommunikationsbegriff aus und fasst darunter alle
körperlich-materiell vollzogenen Objektivierungen des Menschen. Artefakte sind
dementsprechend hinsichtlich des sich mit ihnen beziehungsweise ihrer Nutzung
ausgedrückten gesellschaftlichen Sinns relevant. Im Fokus steht deshalb nicht das
praktische Wirken technischer Artefakte, sondern deren Relevanz im Vollzug des
Handelns, welches durch das (Alltags-)Wissen der Akteure gerahmt wird (Knoblauch 2013).
Posthumanismus
Für Autoren des Posthumanismus steht nicht mehr der Mensch (oder das Individuum) im Zentrum der Wirklichkeit, auch nicht die sozialen Situationen und Bindungen, in denen er sich bewegt und lebt, sondern Systeme (Luhmann 1998), hybride
Mensch-Technik-Konstellationen (Haraway 1995), sozio-technische Netzwerke (Latour 1999; 2001) oder das Gestell (Heidegger 1994; 2000). Wir gehen hier auf die
Arbeiten der Actor Network Theory ein und kommen später auf Martin Heidegger
zurück.
Der Actor Network Theory zufolge rahmen und ermöglichen materielle Objekte geradezu das Handeln von Menschen: Ohne sie wären viele Handlungen und
Abläufe nicht realisierbar. Die Objekte, zu diesem Zweck an anderen Orten und
zu anderen Zeiten durch andere Akteure entwickelt, hergestellt und erprobt, präjudizieren die Praxis, erlauben uns zu handeln, lassen aber auch handeln, wobei sie
den situativen lokalen Gebrauch transzendieren. Mit anderen Worten: Artefakte
symbolisieren – so die Annahme – soziale Erwartungen nicht, sondern haben ihnen eine externalisierte materielle Form gegeben (Latour 2001).
Ein weiteres Merkmal der Actor Network Theory ist ihr Symmetriepostulat.
Gemeint ist damit ein methodisches Prinzip der Beobachtung: Menschliche und
nicht-menschliche Akteure werden gleichwertig behandelt, da sie auf je spezifische
Art in die Funktionsweise eines Netzwerks eingebunden sind. Ganz unabhängig
von ihrem ontologischen Status tragen alle im Netzwerk angesiedelten und aktiven
Entitäten zum Vollzug des durch das Netzwerk ermöglichten Handlungen, Handlungsanforderungen, Handlungsketten und Handlungsfolgen bei. In diesem Sinne
sind nicht-menschliche Wesen für Latour (1999) Akteure, die handeln, denn sie
tragen dazu bei, dass sich ein bestimmtes Netzwerk realisiert. Ein gutes Beispiel
ist das Fliegen eines Flugzeugs: Aus dieser posthumanistischen Sicht sind Piloten
als menschliche Akteure eingespannt in ein dichtes technisches und räumliches
Netzwerk, das das Fliegen des Flugzeugs erst ermöglicht. Dies beginnt bei den
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Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Eigenschaften des Materials, den physikalischen Gesetzen des Auftriebs, den Beobachtungs- und Steuerungsinstrumenten im Flugzeug und am Boden. Die Piloten
setzen mit ihren Handlungen – Knöpfe drücken, Schalter umlegen, Steuerung bedienen, Instrumente beobachten etc. – genau dieses Netzwerk in Gang, das dann
das Flugzeug abheben lässt. Die Aufforderung lautet also, genauer hinzusehen, um
zu erkennen, was menschliche Akteure in diesen Netzwerken tun: Sie bremsen
nicht, sondern setzen das Bremsen in Gang; sie heben nicht ab, sondern setzen
das Abheben in Gang etc. Deutlich wird aber auch, dass dieser akribische Blick
mit einer Nachlässigkeit korrespondiert: Es wird nicht detailliert beobachtet, wie
etwas funktioniert, vielmehr wird beobachtet, dass etwas im Netzwerk funktioniert
und es Handlungen ermöglicht. Dass also materielle Objekte aktiv am Geschehen
teilhaben (‚handeln‘) können, wird mit der Implementierung von theoretisch-technischem Wissen, sozialen Regeln und moralischen Anforderungen in Artefakten
begründet: Nutzen Menschen dann diese induzierten Objekte, setzen sie Theorie,
Regeln oder Moral in Gang.
Die Actor Network Theory nimmt drei konzeptionelle Veränderungen vor, die
in den Sozial- und Kulturwissenschaften intensiv diskutiert worden sind. Erstens
nimmt sie Abschied vom Primat der mündlich-kommunikativen Konstitution von
Gesellschaft. Die gesprochene Sprache spielt in der Actor Network Theory keine prominente Rolle. Sprache existiert nur in zwei Medien, die sich überschneiden: in der
Schriftsprache und in den Formaten der Darstellung (Grafiken, Tabellen, Listen
etc.). Der Verzicht auf die alltäglichen Sprechaktivitäten der Akteure steht, so meinen wir, für eine Vernachlässigung des Menschen – seines Körpers, seiner Wünsche
und Stimmungen. Zweitens nimmt die Actor Network Theory – wie gezeigt – eine
methodisch intendierte Korrektur der Annahme vor, das Soziale habe immer schon
mit einer zentralen Unterscheidung zu tun, die menschliche von nicht-menschlichen Akteuren trennt. Diese akteurstheoretische Verschiebung beruht auf einer
Kritik der großen Trennung von Kultur/Natur sowie von Natur-und Sozialwissenschaften. Drittens dehnt die Actor Network Theory den Handlungsbegriff aus,
indem sie ihn auf das Tun und Funktionieren von Artefakten überträgt und damit
auf die für den Handlungsbegriff zentralen Annahmen einer Vorrangstellung des
Menschen und seiner Intentionalität verzichtet.
Die theoretische und empirische Beschäftigung mit nicht-technischen Feldern
zeigt nun aber, dass materielle Entitäten wesentlich offener sind, als viele der technischen Beispiele der Actor Network Theory vermuten lassen. So finden sich beispielsweise in der Kunst oder in der Bildung zahlreiche Artefakte, für die sich kein
klar umrissenes Skript identifizieren lässt, das eine bestimmte Umgangsweise nahezu unumgänglich einfordert. Stattdessen kommt dem praktischen Wissen und
der Deutung der menschlichen Akteure die Rolle zu, die Artefakte praktisch zu bestimmen. Technische und nicht-technische Artefakte sind somit weniger stabil als
von der frühen Actor Network Theory unterstellt. Theorieintern hat man auf diese
Herausforderungen durch eine zunehmende Dynamisierung und Differenzierung
der begrifflichen Architektur reagiert. Im Vordergrund steht nicht mehr das einmalige Zustandekommen und Wirken stabiler Netzwerke, sondern fragilere und
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
19
dynamischere Typen der Assoziation, bei denen sich Bestandteile ständig ändern
und neu konfigurieren können (De Laet/Mol 2000). Und die Rede von ‚harten‘
Skripten und stabilen Artefakten ist einem radikalen Relationismus gewichen, bei
dem sich die Wirkmacht einzelner Entitäten ausschließlich über die Stellung innerhalb eines Netzwerks klären lässt und nicht durch die Rückführung auf den Status
als technisches Artefakt (Latour 2007).
Die Actor Network Theory hat die Sozial- und Kulturwissenschaften für die materiellen Dimensionen des Sozialen (erneut) sensibilisiert. Allerdings hat der Diskurs der Actor Network Theory andere Zugänge unter den Generalverdacht gestellt,
das Materielle nur ‚unwirklich‘ zu fassen, da sie etwa die symbolische Qualität von
Dingen oder ihre soziale Verwendung erforschen. Das heißt: Die erneute Sensibilisierung für die Einbettung des Sozialen in technische Artefakte hat auch zu
einer Engführung ihrer Perspektiven geführt, so als gäbe es keine Einbettung des
Technischen in das Soziale. Deutlich wird dieses Problem an dem bekannten Symmetriepostulat der Actor Network Theory, das die Sozial- und Kulturwissenschaften
in eine eigentümliche Situation manövriert hat: Die Einebnung der Differenzen
zwischen den Akteuren, durch die diese – nicht nur heuristisch – auf Augenhöhe
gebracht werden, hat die Differenzen verwischt, die zwischen den Akteuren bestehen (Kirchhoff 2009). Es verwundert daher nicht, dass die Actor Network Theory
mit ihrem technikwissenschaftlichen Profil die menschlichen Individuen geradezu
in die Rolle von Artefakt-Vollziehern drängt – und diese haben weder einen Körper noch Sinne, Wünsche und Vorstellungen, noch wirken diese Dimensionen
des individuellen Seins auf die (technische) Wirklichkeit zurück. Wird hierdurch
bestritten, dass materielle Objekte das soziale Leben mit konstituieren? Nein, aber
es wird gefragt, wie Individuen als Individuen, soziale Akteure als soziale Akteure
daran beteiligt sind, sie so zu instituieren, dass ihnen temporär erhebliches Gewicht
zufällt. Und es wird gefragt, wie man vermeiden kann, menschliche Akteure zu
vergessen und sie mit ihrer Körperlichkeit, ihren Wünschen und Vorstellungen
gleichfalls ernst zu nehmen.
Theorie verteilten Handelns
Auch die Theorie verteilten Handelns betont die Verflechtung von menschlichen
Akteuren und Technik in hybriden Konstellationen (Rammert 2008; Rammert/
Schulz-Schaeffer 2002). Allerdings fragt man hier – anders als die Actor Network
Theory – nicht nach der Wirkmacht weitreichender und ausufernder Netzwerke,
sondern nach dem konkreten Beitrag einzelner Entitäten in begrenzten sozio-technischen Konstellationen. Hierzu wird ein „gradualisierter Handlungsbegriff“ (Rammert 2008: 356) vorgeschlagen, der zwischen verschiedenen Graden der Handlungsinitiative unterscheidet: vom technisch-kausalen Bewirken über die Fähigkeit
zum Anders-Handeln bis hin zur intentionalen Erklärung. Die Entitäten, die Teil
dieser sozio-technischen Konstellationen sind, werden in diesem Ansatz entsprechend ihrer Handlungsinitiative differenziert. Dies kann bedeuten, dass einfache
20
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Werkzeuge oder komplexe Expertensysteme relevant sind – wenn auch in ungleicher Weise. Auch wird angenommen, dass Handlungsmotive verteilt und nicht
mehr auf menschliche Akteure zentriert sind (Schulz-Schaeffer 2008). Dank zunehmender Technisierung delegieren menschliche Akteure die ursächliche Wirkmacht
einer Handlung immer öfter an technische Artefakte – etwa wenn wir uns morgens
vom Radiowecker wecken lassen. Gleichwohl bleiben wir zumeist diejenige Entität, die den Wirkungen der Handlungen Bedeutung zuschreibt – der Klingelton
des Weckers, der uns mitteilt, dass es Zeit ist aufzustehen, um etwa rechtzeitig zur
Arbeit zu erscheinen und seine Anstellung zu behalten. Und wenn wir vergessen,
den Wecker einzuschalten, sind wir es, die darüber Rechenschaft ablegen müssen.
Trotz dieser Differenzierungen unterscheidet dieser Ansatz nicht a priori zwischen
Mensch und Materialität, sondern formuliert empirische Fragen zur Verteilung von
Handlungsträgerschaft innerhalb sozio-technischer Konstellationen.
Theorie der Praktiken und Arrangements
Auf eine systematische Berücksichtigung des Materiellen zielt auch der Zugang von
Theodore Schatzki (2002). Schatzki, der mit seiner sozialtheoretischen Konzeption
an Überlegungen von Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger anknüpft, versteht das Soziale zunächst vor allem als dynamisch prozessierendes Gewebe sozialer
Praktiken, die den kontinuierlichen Fluss menschlicher Aktivität organisieren. Praktiken sind dabei sich in Raum und Zeit entfaltende Zusammenhänge körperlicher
Bewegungen und Sprechakte, die über bestimmte Organisationsprinzipien miteinander verbunden sind. Das heißt, dass sie Regeln folgen, mit Hierarchien von Aufgaben und Zielen verbunden sind und mit bestimmten Gefühlen und Stimmungen
einhergehen. Sie bilden den Ort, an dem das menschliche Zusammenleben sich ereignet, organisiert und strukturiert wird. Demnach vollziehen sich Prozess und Zusammenhang des Sozialen dadurch, dass Menschen an einer Fülle etwa politischer,
landwirtschaftlicher, touristischer, Sport-, Koch- oder Beziehungspraktiken teilhaben
und auf diese Weise in vielfältiger, direkter oder indirekter Weise miteinander verbunden sind (Schatzki 1996).
Während die Materialität sozialer Praktiken zu Beginn eine eher beiläufige Rolle
spielt, interessiert sich Schatzki später systematisch für diesen Aspekt. Demnach
sind die eine Praktik konstituierenden Handlungen nicht nur körperlicher, sondern auch dinglicher Natur: Menschliche Aktivitäten werden gedacht als umfassend eingebettet in eine materielle Umwelt, inmitten derer sie sich vollziehen und
mit der sie sich auseinandersetzen. Sie sind demnach wesentlich etwa mit Objekten
verbunden und verflochten, stützen sich auf sie oder sind auf sie gerichtet, werden durch sie beeinflusst, mitgeformt, stabilisiert und teils auch bedingt (Schatzki
2002). Schatzki arbeitet diese Verflechtungen im Rahmen seiner „Site-Ontology“
(2002; 2003) mithilfe des Begriffs der „Orders“ beziehungsweise „Arrangements“
heraus – einer Art sozio-materieller Konfigurationen, die Menschen, Organismen, Artefakte und natürliche Dinge umfassen und die mit sozialen Praktiken
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
21
zeit-räumlich variierende Bündel oder Verflechtungen bilden (wie etwa Footballstadien, Gestüte oder Fabriken). Das menschliche Leben ereignet sich im Rahmen
solcher Verflechtungen von Praktiken und (materiellen) Arrangements.
Indem Schatzki das Materielle als Dimension des Sozialen konzipiert, kommt
Materialität hier in einer sehr grundsätzlichen und umfassenden Weise in den Blick:
Das Handeln des Menschen erscheint als grundlegend in einer materiellen Umwelt
situiert und aufs Engste mit ihr und ihren materiellen Elementen verschränkt. Für
die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung bietet ein solches Theorieangebot die Möglichkeit, die je konkreten Formen solcher Verflechtungen systematisch in den Blick zu nehmen. Gefragt wird dann nicht von einem Ergebnis her
danach, welche Entitäten in welcher Weise an dessen Zustandekommen beteiligt
sind – wie dies etwa die Actor Network Theory oder die Theorie verteilten Handelns
tun – sondern vielmehr nach den je konkreten Arten und Weisen solcher (immer
wechselseitig gedachter) Verflechtungen; danach, wie das Materielle menschliches
Handeln ermöglicht und beschränkt, anregt, in bestimmte Bahnen lenkt, stabilisiert, wie es sich auch qualitativ darauf auswirkt; wie menschliches Handeln umgekehrt aber auch das Materielle gezielt einbezieht, nutzbar und verfügbar macht,
es transformiert und seine Spuren in oder auf ihm hinterlässt. Das breit angelegte
Konzept des Arrangements bietet die Möglichkeit, verschiedene Dimensionen des
Materiellen einzubeziehen: Lebensformen wie Menschen, Tiere und Organismen
erscheinen ebenso als Teile von Arrangements wie Artefakte, natürliche Dinge oder
physikalische Phänomene. Zentraler Bezugspunkt bleiben bei Schatzki dennoch
die sozialen Praktiken, die aber nicht von ihrer Einbettung in materielle Umgebungen zu trennen sind (Schatzki 1996; 2002; in diesem Band).
Dinge und Technik bei Martin Heidegger
In seinem Werk thematisiert Martin Heidegger in verschiedenen Schaffensperioden
die Bedeutung, Verwendung und Wirkungsweise von materiellen Objekten; wir gehen hier auf zwei Perioden näher ein: (1) die 1920/30er Jahre u.a. mit „Sein und
Zeit“ (Heidegger 2001) und (2) die 1950/1960er Jahren mit der späten Technikphilosophie (Heidegger 1991; 1994; 2000). In seiner Analyse des Daseins sind Dinge
für Martin Heidegger (2001) ein zentraler Bestandteil menschlicher Praxis und mit
der Existenz des Menschen verwoben. Seine Pointe ist, dass die Dinge nur im Gebrauch verfügbar und auch erfahrbar sind; sie sind aber in dieser Unmittelbarkeit
des Gebrauchs und ihres Funktionierens nicht als Ding an sich erkennbar, sondern
Gebrauchsdinge („Zeug“). Als solche sind sie unauffällig, unaufdringlich und unaufsässig (Heidegger 2001: 75). Dinge werden zu Gebrauchsdingen, wenn sie bestimmten Zwecken dienen. Zwecken dienen meint, in um-zu-Motive eingespannt zu sein.
Dinge erfüllen aber nicht nur instrumentelle, intendierte Zwecke, sondern sie konstituieren auch die Möglichkeit, auf eine bestimme Art und Weise Mensch zu sein.
Nach Heidegger werden Dinge erst dann als Dinge erkennbar und nicht nur als
Zeug gebraucht, wenn eine „Störung der Verweisung“ (Heidegger 2001: 74; Herv.
22
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
i.O.) auftritt. Gemeint ist hiermit die Dysfunktionalität und Widerständigkeit des
Materials: Die technischen Objekte (oder Dinge) passen nicht, sie funktionieren
nicht gut, sie widersetzen sich den Entwürfen, für die sie vorgesehen sind. Dies können etwa der qualmende Kühler eines liegengebliebenen Autos, die verlegte und
daher fehlende Fernbedienung sowie der noch nicht hergestellte Internetzugang sein.
Das heißt: Nicht nur defekte, fehlende oder ungeeignete Dinge stören die Verweisung, sondern auch „Unerledigte[s]“ (Heidegger 2001: 73), das „nach Erledigung
ruft“ (Heidegger 2001: 74). Diese Unzuhandenheit kennt drei Formen: sie ist auffällig (z.B. der defekte Kühler), sie ist aufdringlich (z.B. die fehlende Fernbedienung)
und sie ist aufsässig (z.B. der noch nicht hergestellte Internetzugang): „Auffälligkeit“,
„Aufdringlichkeit“ und „Aufsässigkeit“ bringen „am Zuhandenen den Charakter des
Vorhandenen zum Vorschein […].“ Dabei „geht das Zuhandene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit verlustig“ (Heidegger 2001: 74). Mit anderen Worten: Die
Störung der Verweisung entreißt den zu verwendenden Objekten ihre wie selbstverständlich erlebte und erfahrene Einbettung in praktische Vollzüge alltäglicher Routinen.
In seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“ geht Heidegger (1952) unter
anderem der Frage nach, wie Dinge, aus denen ein Kunstwerk fraglos besteht, sich
selbst transzendieren, um Kunstwerk zu sein.4 Mit anderen Worten: Wie tritt das
„Stoffliche der Dinge“ (Heidegger 1952: 16) zurück, um die „Wahrheit“ des Kunstwerkes entbergen und damit hervorbringen zu können? In diesem Zusammenhang
benennt Heidegger verschiedene Eigenschaften von Dingen: Sie dienen bestimmten
Zwecken; ihre „Dienlichkeit“ (Heidegger 1952: 18) zeigt sich in einer Verwendung,
in der die Dinge, die man benutzt, vergessen werden – eben weil sie in einer Weise
funktionieren, die unseren Gebrauch nicht stören. Um in diesem Sinne dienlich
sein zu können, müssen Dinge auch verlässlich sein. Das heißt: Voraussetzung der
Dienlichkeit ist die „Verläßlichkeit“ der Dinge (Heidegger 1952: 23). Im Gebrauch
materieller Objekte können wir uns oft auf das Funktionieren eines Objektes verlassen. Es ist nicht nur beständig verfügbar, sondern auch beständig in der vorgesehenen Weise nutzbar. Über diesen verlässlichen Gebrauch gewinnen und leben
wir – so Heidegger – unser Verhältnis zur Welt. Gemeint ist, dass unser Handeln,
unsere Praxis in der Verlässlichkeit der Dinge geborgen ist. In ihrem wiederholten,
alltäglichen Gebrauch nutzen sich Dinge ab; sie werden verbraucht und verlieren
ihre Verlässlichkeit, die doch ihr Wesen ausmachte. Heidegger betont mit diesem
Aufsatz u.a., dass ein Objekt nicht in seiner Funktionalität („Dienlichkeit“) aufgeht,
sondern sich durch seine „Verlässlichkeit“ auszeichnet, die ihrerseits zeitliche Kontinuität und Vertrautheit im Gebrauch impliziert (Kalthoff 2016).
4Theodor W. Adorno (1997a; 1997b) zufolge ist das Verhältnis von Material und Künstler ein Verhältnis des „Übergangs von Potentialität zur Aktualität“ (Adorno 1997a: 24). Das heißt, dass die
im Material angelegte Lösung durch den Künstler „entbunden“ wird. Ähnliche Stellen finden sich
auch in der „Philosophie der neuen Musik“ (Adorno 1997b): Material ist neben Naturmaterial
(Marmor etc.) immer auch etwas Geistiges: Es ist „sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs
Bewusstsein von Menschen hindurch Präformiertes“, das seine Forderungen an das Subjekt stellt
(Adorno 1997b: 39).
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
23
In seinen späteren ding- und technikphilosophischen Arbeiten formuliert Heidegger (1991; 1994; 2000), dass sich das Wesen der Technik nur offenbart, wenn
man die Art und Weise betrachtet, wie etwas, das nicht anwesend ist, anwesend gemacht wird; dies beschreibt Heidegger als Hervorbringen oder auch „Entbergen“.
Er schreibt: „Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise
des Entbergens.“ (Heidegger 1991: 12). Entbergen meint hier Hervorbringen oder
Entfalten; in der Entfaltung einer Entität bestimmt Heidegger das Wesen der Technik. So stellt etwa ein Wasserkraftwerk einen Fluss auf seine Funktion, Turbinen
anzutreiben (Heidegger 1994:18). Das zweite Argument lautet: Moderne Technik
ist ein Ordnungssystem, das jede menschliche und nicht-menschliche Entität als
Ressource behandelt, die genutzt, herausgefordert und transformiert wird. Es ist
ein fraglos gegebenes Geschehen, das alles in einen Zusammenhang stellt – und
dies wiederholt und andauernd.
Mit dem zweiten Argument nimmt Heidegger eine Neubestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses vor: Die moderne Technik konstituiert die Welt, indem
sie zeigt, wie mit Objekten umzugehen ist und wie ein effektives Ordnen der Ressourcen organisiert wird. Heidegger (2000: 20f.) illustriert diesen Punkt am Beispiel
des Flugzeugs: Das Wesen eines Flugzeugs erschließt sich nicht ausschließlich und
allein durch seine materiellen Eigenschaften oder durch seine Startfähigkeit, sondern
durch den Zusammenhang, in den es gestellt ist. Dieser Zusammenhang ist das internationale Transportsystem, in dem Menschen den Zweck erfüllen, diese Maschinen, die starten und transportieren sollen, auch zu füllen (Dreyfus 1993: 306).
Heidegger geht es auch in dieser Phase um das Wesen der Dinge. Aber es ist
nicht mehr das Verhältnis von Zuhandenheit oder Vorhandenheit, nicht mehr das
Verhältnis von Ding und Zeug. Das Ding ist nun ein Geschehen – es bedingt die
soziale Welt – und damit ein Ereignis, das Menschen und Objekte versammelt: Als
solches koordiniert es Menschen auf der Basis der Zeichen, der Stofflichkeit und
der Beschaffenheit. Sie sind jeweils dauerhaft verfügbar, aber auch bearbeitbar. Die
Versammlung kann ihrerseits in zweifacher Form erfolgen: einmal mit Objekten
(etwa in einem Rechenzentrum) oder in Objekten (etwa die Koordination über
Zeichen in virtuellen Gemeinschaften) (ausführlich Luckner 2008). Die Arbeiten
Martin Heideggers erinnern an die Unsichtbarkeit der Dinge im selbstverständlichen Vollzug, umgekehrt aber auch daran, dass sich die Dinge dann in den Vordergrund drängen, wenn sie sich ihrem Gebrauch widersetzen. Sie machen auch
darauf aufmerksam, dass Technik sich menschliche Subjekte in großen technischen
Systemen zu Eigen macht.
(Post-)Phänomenologische Technikforschung
Im Anschluss an Heidegger und Merleau-Ponty arbeitet die phänomenologisch informierte Technikforschung heraus, wie Menschen und materielle Artefakte aufeinander
leiblich bezogen sind (Introna et al. 2008; Waldenfels 2006). Artefakte vermitteln
auf unterschiedliche Art zwischen Mensch und Welt (Ihde 1990; siehe Lindemann
24
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
in diesem Band): Einige Objekte (etwa Teleskope) lassen die Welt dadurch anders
hervortreten, dass wir ihnen selbst keine Beachtung schenken und wir die Welt durch
sie hindurch wahrnehmen; andere Objekte (etwa Thermometer) verlangen hingegen
eine Beschäftigung mit zu interpretierenden Zeichen, die auf ihrer Oberfläche erscheinen und uns so etwas über den Zustand der Welt verraten; als ein opakes Gegenüber
erscheinen hingegen solche Objekte, die ein Eigenleben zu besitzen scheinen (etwa
Roboter und Spielzeuge); gänzlich im Hintergrund unserer bewussten Zuwendung
bleiben – zumindest im Regelfall – schließlich Infrastrukturen vielfältiger Art (etwa
Lüftungssysteme). In all diesen unterschiedlichen Mensch-Technik-Beziehungen
verstärken und reduzieren technische Artefakte jeweils verschiedene Ausschnitte der
Welt. Diesen Aspekt beschreiben Postphänomenologen – jenseits der Husserlschen
Bewusstseinsintentionalität – mit dem Begriff der „technological intentionality“
(Ihde 1990: 141): Der menschliche Bezug zur Welt wird durch technische Artefakte
und die ihnen innewohnenden Eigenschaften vermittelt.
Diese Änderung der perzeptiven Bezugnahme auf die Welt geht einher mit einer veränderten pragmatischen Bezugnahme (Verbeek 2005). In anderen Worten:
Durch technische Artefakte nehmen wir nicht nur anders wahr, sondern wir handeln auch anders. Dinge besitzen einen Aufforderungscharakter (Langeveld 1955;
Meyer-Drawe 1999).5 Sie legen durch ihre sinnliche Gestalt bestimmte Gebrauchsweisen nahe und drängen andere zurück. In den Dingen sind so bestimmte Lösungen für praktische Probleme angelegt. Gleichzeitig sind technische Artefakte
aber immer durch „Multistabilität“ (Ihde 2009: 12ff.) gekennzeichnet. Sie sind
nicht gänzlich durch ihr Design bestimmt und sind in verschiedenen Kontexten
je unterschiedlich praktisch eingebunden. So kann ein Hammer auch dazu auffordern, ihn als Briefbeschwerer oder gar als Waffe zu benutzen. In dieser praktischen
Vieldeutigkeit der Dinge ist ihre Widerständigkeit angelegt. Das heißt: Dinge entziehen sich auch den Versuchen, sie gebrauchend zu vereindeutigen. Sie sind durch
ein „zu nichts gedrängtes Insichstehen“ (Gadamer 1986: 112) gekennzeichnet und
„zugleich Produkt unserer Sinngebungsarbeit und autonome Bürger einer Welt der
offenen Sinnlosigkeit“ (Langeveld 1955: 83).6
Im Kern der (post)phänomenologischen Ansätze steht somit zweierlei: Zum einen sind materielle Objekte so gestaltet, dass sie in je unterschiedlicher Weise auf
den menschlichen Leib mit all seinen Sinnen zugeschnitten sind. Zum anderen
weisen sie uns (mit anderen Autoren) auf die Widerständigkeit der Dinge hin.
Dinge lassen sich nicht gänzlich auf menschliche Sinnzuschreibungen und Gestaltungsbemühungen zurückführen, aber eben auch nicht auf ein Netzwerk aus
Relationen – es muss etwas an ihnen geben, das diese Beziehungen erst ermöglicht
(Harman 2009: 132).
5 In ähnlicher Weise ist Gibsons (1986) Konzept der Affordances zu verstehen; zur Kritik hieran siehe
u.a. Bloomfield et al. (2010).
6 In ähnlicher Weise streicht Mead (1987; 1988) die Widerstände heraus, die „physische Dinge“ unserem Handeln entgegensetzen können. Um überhaupt mit Dingen umgehen zu können, müssen
wir – so Mead – die Rolle des Gegenstands übernehmen und sein Verhalten beziehungsweise seine
Widerständigkeit antizipieren, um eben diese zu überwinden (siehe oben).
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
25
Material Culture Studies
Das Materielle steht auch im Mittelpunkt der Material Culture Studies. Ursprünglich hervorgegangen aus Archäologie und Anthropologie, sind die Material Culture
Studies seit den 1980er Jahren ein eigenständiger, interdisziplinärer Forschungsbereich, zu dem so unterschiedliche Disziplinen wie etwa Anthropologie, Archäologie, Ethnologie, Soziologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Psychologie oder Konsumforschung beitragen (Hahn 2005). Während die Auseinandersetzung mit Materialität in der Regel disziplinären Fragestellungen und Agenden untergeordnet
bleibt, stellen die Material Culture Studies die Untersuchung von Objekten und
ihrer Beziehung zum Menschen als einen Forschungsgegenstand eigenen Rechts in
den alleinigen Mittelpunkt ihres Interesses (Woodward 2007). Sie begreifen Materialität als einen wesentlichen Bestandteil von Kultur und gehen entsprechend
davon aus, dass Kultur ohne eine angemessene Berücksichtigung ihrer materiellen
Dimension nicht vollständig verstanden werden kann (Tilley et al. 2006). Die Material Culture Studies interessieren sich ganz grundlegend für Beziehungen zwischen
Sozio-Kulturellem und Materiellem und sehen ihre Aufgabe dementsprechend in
der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Menschen und Dingen über Raum
und Zeit hinweg (Miller/Tilley 1996).
Die Material Culture Studies pflegen dabei ein weites Verständnis ihres Gegenstandsbereichs. ‚Materielle Kultur‘ bezieht sich auf all die Dinge, die den Menschen
umgeben und in irgendeiner Weise genutzt werden und/oder bedeutungsvoll sind
(Hahn 2005: 18f.). Natürliche, also ohne menschliches Zutun existierende Dinge
wie Steine, Bäume oder Berge können demnach ebenso Teil materieller Kultur
sein wie Artefakte, also vom Menschen gemachte Dinge; aber auch die Substanzen
und Materialien, aus denen sich die genannten Dinge zusammensetzen, können
Gegenstand der Forschung sein (Tilley et al. 2006). Die Material Culture Studies
haben inzwischen mehrere Phasen durchlaufen und verschiedene Schwerpunkte
gebildet (für einen Überblick vgl. Hicks 2010). Eine zentrale, einheitliche und
verbindliche Perspektive, die für den Forschungsbereich charakteristisch wäre, ist
angesichts der Diversität des Feldes nur schwer ausmachen. Dennoch lässt sich
sagen, dass sich das Feld insbesondere durch eine Konzentration auf Praktiken mit
Dingen, auf Kontexte des Gebrauchs und auf Prozesse der Generierung und Zuschreibung von Bedeutung auszeichnet. Diese Orientierung an der Bedeutung des
materiellen Objekts hat den Material Culture Studies die Kritik einer ‚Entmaterialisierung des Materiellen‘ eingebracht. Der Bedrohung, dass Materielle könne in
den Hintergrund verschoben werden, begegnen andere Autoren jedoch mit einem
verstärkten Blick auf die physischen Eigenschaften und Wirkungen von Dingen
(Hicks 2010: 69; 74ff.).
Jenseits disziplinärer Beschränkungen werden hier sowohl theoretische als auch
empirische Zugänge miteinander ins Gespräch gebracht und die perspektivische
Diversität auf das Thema gebündelt. Erstens gibt es eine vielfältige empirische
Forschung zu sehr unterschiedlichen Arten von Gegenständen (insbesondere zu
Alltagsgegenständen, aber etwa auch zu Lebensmitteln oder Landschaften) (etwa
26
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Tilley et al. 2006; Samida et al. 2014). Teilweise werden zweitens auch Probleme
der theoretischen Konzeption der Materialitätsforschung, unter anderem die Subjekt-Objekt-Dichotomie oder die Agency der Dinge, erörtert (Miller 2005). Am
Beispiel verschiedener Autoren werden wichtige theoretische Überlegungen und
Konzepte sowie methodische Herangehensweisen zusammengetragen, aber auch
kritisch diskutiert (Hahn 2005; Hicks 2010). An der empirischen Diversität und
den vielfältigen theoretischen Bezügen wird der produktiv heterogene Charakter
der Material Culture Studies deutlich.
3. Perspektiven und Fragestellungen
Für die theoretisch-konzeptionellen Perspektiven, von denen hier einige dargestellt,
andere weggelassen wurden, ist Heterogenität zu konstatieren. Kennzeichnend für
diese Diskussion sind Spannungsverhältnisse zwischen dem Physischen und dem
Symbolischen sowie zwischen Materialität und Sozialität. Man kann nun beobachten, dass viele Forschungen oft zur einen oder anderen Seite tendieren. Oft werden
materielle Entitäten entweder in ihrer unmittelbar erfahrbaren Stofflichkeit gefasst
(Ingold 2007) oder stehen als kulturell und sozial bedeutsame Symbole für etwas
anderes. Statt solche Verhältnisse als sich ausschließende Gegensätze zu begreifen,
plädieren wir für eine Öffnung und Empirisierung dieser konzeptionellen Fragen.
Für die Forschung sind folgende Punkte wichtig:
Erstens ist das Materielle in seiner konkreten, physischen Beschaffenheit mit
seiner je spezifischen Oberfläche, seiner Zusammensetzung, seiner Leichtigkeit/
Schwere, seiner Mobilität/Immobilität und Konsistenz sowie seiner phänomenologischen Bezogenheit auf den menschlichen Körper zu untersuchen; zugleich ist
es aber auch in seiner Zeichen- und Sinnhaftigkeit und als Träger abstrakter symbolischer Bedeutungen zu analysieren. Aus einer solchen Sicht lässt sich dann nach
dem jeweiligen Zusammenspiel der materiellen und symbolischen Dimensionen
in spezifischen Kontexten, Umgangsweisen und materiellen Arrangements fragen.7
Damit werden analytische Engführungen vermieden, wie sie aus einer Konzentration auf bestimmte Formen des Materiellen (etwa technische Artefakte oder symbolische Dinge) resultieren.
Zweitens kann Materialität in ihrer Zirkulation und damit gleichermaßen in den
Kontexten der Produktion und des Gebrauchs untersucht werden. Über eine Betrachtung des sozialen Lebens der Dinge (Kopytoff 1986; Marcus 1998; Samida/
Eggert in diesem Band) lässt sich nachzeichnen, wie diese in ganz unterschiedliche
Handlungslogiken eingebunden sind, unterschiedliche Bedeutungen annehmen,
je unterschiedliche Wirkungen entfalten und andere Existenzweisen annehmen.
Drittens rücken aus einer Sicht, die Sozio-Materialität ganz grundlegend als
unhintergehbare Einbettung menschlichen Seins, Handelns und Wirkens in eine
7So analysiert etwa Jones (2004), wie die textuelle Rezeption und Antizipation von Kunstwerken
deren symbolischen Stellenwert beschreiben und zuschreiben.
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
27
materiell konstituierte und materiell heterogene Umwelt betrachtet (Heidegger
2001), die engen Verflechtungen zwischen Natur und Kultur in den Blick. Hierzu
gehört auch, zu beobachten, dass diese Umwelt in ganz unterschiedlicher Weise
sozio-kulturell relevant werden kann. Menschliches Sein, Handeln und Wirken
erscheinen dann in ihrer engen Bezüglichkeit auf ihre grundlegende Gebundenheit
an Natur – wie vermittelt auch immer sich solche Verbindungen darstellen mögen
(vgl. Schatzki in diesem Band).
Mit einer solchen Konzeption des Materiellen, die seine physisch-phänomenologische und symbolische Dimension gleichermaßen in den Blick nimmt, die
jeweilige Art und Weise sozio-materieller Verflechtungen als empirische Frage betrachtet, die sich für Zirkulation des Materiellen interessiert sowie für die enge
Gebundenheit menschlichen Handelns an Natur, lassen sich verschiedene empirisch-theoretische Fragen und Perspektiven ableiten:
Zeichen und ihre Zirkulation: Aus einer Perspektive, die sich unter anderem für
die Materialität von Zeichen interessiert, können globale Informations- und Kommunikationsströme auf neue Weise in den Blick genommen werden. Was geschieht
etwa, wenn im Zuge des routinisierten und veralltäglichten Gebrauchs von Informationstechnologien die verschiedensten Aktivitäten plötzlich bedeutungsvolle
Zeichen (Daten) produzieren, die Bestand haben und in komplexen, nur schwer
durchschaubaren Netzwerken zirkulieren? Welchen Weg nimmt ein Datum, wenn
es in solche Netze eingespeist wird? Wie genau ist die technologische Infrastruktur
beschaffen und gesichert, die erst die Grundlage für den Fluss und die Verarbeitung
immer größer werdender Datenmengen ermöglicht?
Medialität: An dieser Stelle gibt es Verbindungen zu Arbeiten, die Artefakte oder
Zeichen als Medien auffassen und theoretisieren (Thielmann/Schüttpelz 2013).
Denn mit der potentiellen Zeichenhaftigkeit von Objekten ist auch ihre Medialität
angesprochen und damit die Frage danach, wie sie Abwesendes zur Darstellung
bringen können. Unter bestimmten Bedingungen werden Objekte also gerade
nicht hinsichtlich ihrer präsenten Materialität betrachtet, sondern fungieren als
durchlässiger Kanal für eine medial vermittelte Botschaft. Demzufolge tritt ihre
Materialität in den Hintergrund und ihre Botschaft in den Vordergrund (Krämer
2008). Wenn Objekte als Medien genutzt werden, stehen sie nicht als Zeichen
für Abwesendes, sondern machen es sinnlich erfahrbar. Durch sie muss Etwas zur
Darstellung kommen können, das durch eine spezifische sinnlich-materielle Selektivität gekennzeichnet ist. Das heißt: Das Dargestellte besitzt sinnlich-materielle
Eigenschaften, die nicht in der Materialität des darstellenden Objekts aufgehen.
In ihrer Betrachtung bringen etwa Gemälde eine „reine Sichtbarkeit“ (Wiesing
1997: 160ff.) eines Bildes hervor, welche im Gegensatz zur Leinwand oder der darauf aufgetragenen Farbe nicht angefasst, gerochen oder geschmeckt werden kann.
Deutlich wird hieran, dass die Gestaltung von Objekten wichtig ist, wenn sie als
Medien wirken sollen. Für eine sozio-materielle Perspektive geht es dabei weniger
um die Inhalte und Bedeutungen von Objekten, sondern um ihre Wirkung und
Wirkweise als Medien. Mit anderen Worten: Die Medialität der Objekte steht im
Vordergrund, nicht deren Referenz (vgl. Wagner/Barth in diesem Band).
28
Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
Natur und (soziales) Handeln: Im Umgang mit (knappen) natürlichen Ressourcen zeigt sich eine moderne Domestizierung und Beherrschung von Natur. Wie
werden Rohstoffe – wie Erze und Öl, Wasser und Gas, Holz und Sand – als Baustoff, als Lebensgrundlage oder als Energieträger nutzbar gemacht? Unter welchen
Bedingungen werden Ressourcen ‚aus der Erde geholt‘, wie zirkulieren sie, wie werden sie zur Ware? Wie sind die Netzwerke gebaut, die solche Zirkulationen ermöglichen, in welche Verhältnisse setzen sie Produzenten und Konsumenten zueinander? Eine solche Perspektive ermöglicht auch Fragen nach der Rolle des Materiellen
für die Schaffung und Ausübung von politischer und ökonomischer Macht. Damit
wird auch die grundlegende Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Natur
thematisch: ein Verhältnis, das immer wieder durch technologische Entwicklungen
(Fortbewegungsmittel, Gentechnologie, Raumfahrt etc.), kulturelle Darstellungen
von Natur (Kunstwerke, Fotografie, mediale Berichterstattung etc.) oder soziale
Bewegungen (Umwelt, Gesundheit etc.) geformt und verändert wird (siehe Latour
und Schatzki in diesem Band).
Objekte und Moral: Moralische Fragen erscheinen nicht mehr – wie in der humanistischen Tradition – allein einem einzelnen Individuum und seinen Entscheidungen zurechenbar. Stattdessen ist Moral auch stets und unweigerlich in uns umgebende technische Artefakte eingeschrieben (Latour 1994). Die Forschung kann
damit etwa untersuchen, wie am Beispiel technischer oder anderer Objekte implizite moralische Anforderungen vermittelt werden: Objekte sind keine unschuldigen
Werkzeuge oder Darstellungen, sondern vermitteln, wie Menschen die Welt sehen
und sich in ihr verhalten, welche Handlungsoptionen sie wahrnehmen sollen. Mit
der Verfeinerung und Zunahme pränataler Frühdiagnostik müssen sich werdende
Eltern etwa der Entscheidung stellen, was sie tun, wenn bei ihrem ungeborenen
Kind ein Gendefekt festgestellt wurde (Verbeek 2011). Selbst wenn sie sich gegen die Untersuchung entscheiden, ist dies mit der prinzipiellen Verfügbarkeit der
Technologie bereits eine moralische Entscheidung hinsichtlich des ungeborenen
Lebens. Ein weiteres Beispiel: Auf Seiten der Automobilhersteller entstehen dann
ethische Fragen, wenn etwa der Algorithmus festgelegt werden soll, der situativ
‚entscheidet‘, ob ein autopilotierendes Fahrzeug einem Fußgänger ausweicht, dafür
aber mit dem Gegenverkehr kollidiert. Wo in solcher Weise Technik zunehmend
Handlungsinitiative übernimmt, müssen neue institutionelle Regelungen gefunden werden (etwa für die Verantwortung bei Unfällen; Schulz-Schaeffer 2007).
Damit ist einerseits das Verhältnis von in der Produktion eingeschriebener und im
Gebrauch vollzogener Moral angesprochen, andererseits geht es um den Sinn der
mit materieller Technik vollzogenen Handlungen.
Objekte und Zeit: Objekte sind immer ein ‚Kind ihrer Zeit‘. Sie erinnern in ihrer
materiellen Form an vergangene Entwürfe ihres Sinns und ihres Gebrauchs, ihrer
Widerständigkeit und Unverfügbarkeit. Dies gilt in gleiche Weise für alte Schriften
wie für alte technische Artefakte. Ist ihre Gebrauchszeit (etwa durch geplante Obsoleszenz oder durch Verfall) abgelaufen, können sie musealen oder Erinnerungswert
erhalten, Müll werden, aber auch als solcher neuen Wert erlangen (in der Kunst, im
Handel etc.). Wie sie das Vergangene markieren, untergegangene Welten bezeugen,
Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft
29
so zeigen sie auch das Neue, die zukünftige Gegenwart an: Wie wir auf neue oder
andere Weise (er)leben und arbeiten werden, und wie fortwährende Technisierung
und Konsum die sozialen Welten immer wieder rekonfigurieren. Dinge gestalten
aber auch unsere Praxis im Detail: So kann ihre räumliche Anordnung die zeitliche Folge ihre Gebrauchs anzeigen und damit die Erfüllung bestimmter Zwecke
(Lynch et al. 1985).8 Das heißt: Objekte strukturieren Zeit, indem sie der menschlichen Praxis ihre eigene Zeit aufdrängen, einen Rhythmus, eine Dauer, einen Turnus. Dies betrifft nicht nur ihre Verwendung, sondern sie erfordern ebenso unsere
Aufmerksamkeit und Pflege, unser Versammeln und Wünschen (Perec 1965; Dörpinghaus/Uphoff 2012a). In der Weise, wie wir als Individuen in unserem Alltag
mit diesen Dingen verstrickt waren, betrachten wir über die abgelaufenen Dinge
auch uns selbst und insbesondere das, wie sie uns oder anderen, in einer anderen
Zeit, bedeutet und abverlangt haben – unsere von ihnen untrennbare Praxis und
Biographie (Hoskins 1998; Kimmich 2011).
Objekte und Humandifferenzierungen: Hier sind zwei Perspektiven zu unterscheiden. Objekte werden erstens eingesetzt, um Menschen kategorisieren und vergleichen zu können: etwa Somatogramme in der Kindervorsorgeuntersuchung, Hochleistungskameras bei sportlichen Wettkämpfen. Zweitens werden Objekte von Individuen erworben und verwendet (etwa Schmuck, Kunst, Kleidung), um über ihre
Präsentation individuelle Räume oder den eigenen Körper symbolisch auszuzeichnen
und so den sozialen Status darzustellen (Bourdieu 1984). Zu berücksichtigen bleiben
hierbei syntaktische und paradigmatische Beziehungen der Objekte zueinander: Syntaktische Beziehungen stehen für Konsistenz- und Passungserfordernisse der Objekte
zueinander, die in einem System ästhetischer Bedeutungen relationiert sind (Diderot-Effekt); paradigmatische Beziehungen verweisen hingegen auf die Differenz zu
den nicht gewählten, nicht verwendeten Objekten. Mit anderen Worten: Objekte
erhalten ihre (temporäre) Bedeutung somit auch durch die Differenz zu anderen,
(nicht-)anwesenden Objekten. Für die Forschung impliziert dies unter anderem, die
Rolle von Objekten in Kontexten technischer und symbolischer Differenzierung zu
analysieren.
4. Materialität und empirische Forschung
Eine wesentliche Gemeinsamkeit der hier diskutierten und versammelten „neuen
Materialismen“ (Coole/Frost 2010) ist die Relationierung des Materiellen. Dinge,
Substanzen, Texte, Licht etc. werden nicht als isolierte, mit statischen und essentiellen Eigenschaften ausgestattete Monaden verstanden, sondern als in unterschiedliche Beziehungen gestellte Entitäten. Dieser Blick auf die Verstrickung des Materiellen mit dem Sozialen – auf Sozio-Materialität – ist der wesentliche Unterschied
8Diese Strukturierung von Zeit verweist zugleich auf die räumliche Dimension von Objekten, die
eng mit kulturell geformten Vorstellungen von (Un)Ordnung und (Un)Reinheit verbunden ist
(Douglas 1983).
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Herbert Kalthoff, Torsten Cress, Tobias Röhl
zu einem naiven Materialismus, der davon ausgeht, dass die materielle Welt unabhängig von der kulturellen Welt auf diese determinierend einwirkt. Stattdessen
ist das Materielle stets in Beziehung zu anderen Elementen und zu seiner sozialen
Bedeutung gefasst und erhält dort seinen jeweiligen Status als eine bestimmte Entität: als Teil von heterogenen Arrangements und Konstellationen aus materiellen
und anderen Objekten; als Teil von leiblichen Beziehungen, in denen beispielsweise Artefakte zum prothetischen Teil des Körpers werden können; als Teil von
Gebrauchsweisen, die den jeweiligen Entitäten erst ihre praktische Bedeutung zuweisen – und umgekehrt verweisen die jeweiligen materiellen Entitäten auf diese
Einbindungen. Mit anderen Worten: Materielle Entitäten stehen stets in „Verweisungszusammenhängen“ (Heidegger) und sind eben keine isolierten Objekte.
Offen bleibt dennoch folgende Frage: Wenn Dinge, Substanzen und andere
materielle Objekte nur innerhalb der skizzierten Beziehungen ihre Bedeutung und
Wirkmacht erhalten, läuft die Forschung Gefahr, sie als austauschbare Produkte
dieser Relationen anzusehen. Wir sind hingegen der Auffassung, dass materielle
Objekte über einen Eigensinn oder Eigenständigkeit verfügen, der sich der sozialen
Praxis des Umgangs oder des Gebrauchs entzieht. Diese „wilde Materialität“ (Dörpinghaus/Uphoff 2012b: 155) meint zum einen die Widerständigkeit oder auch
Festigkeit der Objekte, die von den Handelnden im Vollzug selbst leiblich erfahren
werden, zum anderen aber in der phänomenologischen Tradition die ontologischen
Qualitäten der Dinge selbst, die sich nicht vollkommen auf relationale Gefüge zurückführen lassen. Es gibt etwas an Dingen, Substanzen etc., das sich stets entzieht:
Beobachtet etwa ein Künstler minutenlang im Zuge seines Arbeitens das Wirken
der von ihm gerade aufgetragenen Farbe auf einer Betonwand, tritt ihm das Geschaffene als ein Eigenständiges entgegen, das eine spezifische Wirkung entfaltet,
von der er auch überrascht werden kann und zu der er sich verhalten muss (vgl.
Schürkmann in diesem Band). Dies gilt in ähnlicher Weise für Sozial- und Kulturwissenschaftler, die sich von den Objekten, die sie erforschen, auch irritieren lassen.
Hiermit formulieren wir eine erkenntnistheoretische und methodische Vorsicht,
die dafür sensibilisieren soll, den Objekten immer auch anders begegnen, sie anders in den Blick nehmen oder sich ihnen anders nähern zu können. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung kann die Funktion von Objekten und
ihr Wirken beobachten, ihren Sinn und ihre Sinnlichkeit analytisch beschreiben,
ihre symbolisch-semiotische und affektive Qualität erfassen (Simmel 1907) – ganz
gleich, ob sie dies hermeneutisch-rekonstruierend als Interpretation von (historischen) Dokumenten, ethnographisch beobachtend als Explikation sozialer Praxis
mit Objekten oder materialitätsanalytisch als Beschreibung der Objekte und ihrer
funktional-sinnlichen Gestaltung tut. Die Materialität des Sozialen erschließt sich
auf unterschiedliche Weisen, die sich gegenseitig informieren (können). Dabei sind
folgende Heuristiken für eine Analyse sozio-materieller Konstellationen wichtig:
Erstens lassen sich Verwendungen (und ihre Krisen) beobachten und darüber
performative Wirkungen sowie soziale Bedeutungen für einzelne Akteure und soziale Gemeinschaften erkennen (Cress 2015). In diesem Zusammenhang drängen
sich folgende Fragen auf: Wie gehen Akteure mit ihnen um und was machen sie
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