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Neue Z}rcer Zeitung
LITERATUR UND KUNST
Samstag, 10.11.2001 Nr.262
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Vernunft als innigste Ergebenheit in Gott
Lessing und der Islam
Von Friedrich Niewöhner
Gotthold Ephraim Lessings Spiel «Nathan der Weise», gefeiert als Symbol deutschjüdischer Symbiose im Zeitalter der Aufklärung, entpuppt sich bei näherer Betrachtung zugleich als ein Stück islamischer Theologie.
Der weise Sultan Saladin hörte im 12. Jahrhundert von dem Juden Nathan eine Geschichte, in
der drei Ringe eine besondere Rolle spielen.
Diese «Ringparabel» ist der Kern von Gotthold
Ephraim Lessings Spiel «Nathan der Weise», sie
gilt heute als Ausdruck von Toleranz schlechthin
und steht in allen Schul- und Lehrbüchern. Weniger ist bekannt, dass der Kairener Rechtsgelehrte
Achmad ibn al-Idris al-Qarafi (er starb 1285) eine
ganz ähnliche Geschichte erzählt hat. Diese findet
sich in seinem erstmals 1905 in Kairo edierten
Buch mit dem Titel «Die ruhmvollen Antworten
auf die schändlichen Fragen».
Bei al-Qarafi lautet die Geschichte so: Der
Apostel Paulus lässt nacheinander drei Könige zu
sich kommen, und jedem sagt er: «Ich trage ein
Geheimnis bei mir, das ich dir vor meinem Tode
anvertraue: Lerne dieses Geheimnis kennen und
heb es wie ein Leuchtfeuer empor!» Aber jedem
der drei Könige erzählt Paulus ein anderes Geheimnis, so dass nach dem Tode des Apostels ein
Streit zwischen den Königen ausbricht, denn
jeder der Könige meint, im Besitz des wahren Geheimnisses zu sein: «Jeder von ihnen bekämpfte
darum den anderen um seines Bekenntnisses willen, und es kam zu einer grossen Schlacht, in der
sie grossen Mut bewiesen. Sie töteten sich mit
ihren Schwertern.»
Diese Parabel des al-Qarafi – sie hört sich wie
eine Pervertierung der Ringparabel an – konnte
bis 1905 nur in den wenigen Handschriften der
«Ruhmvollen Antworten» (keine ist in England
nachzuweisen) gelesen werden, dennoch wusste
der englische Arzt Dr. Henry Stubbe, der 1632
geboren wurde und 1676 starb, diese zu erzählen.
Er schrieb die Erzählung in seinem Buch «An
Account of the Rise and Progress of Mahometanism with the Life of Mahomet and a Vindication
of him and his Religion from the Calumnies of
the Christians». Dieses Buch war von solch einer
Brisanz, dass er es während seines Lebens nicht
selbst zu veröffentlichen wagte. Es ist erstmals
1911 in London publiziert worden, dann noch
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einmal in Lahore in Pakistan 1954.
RELIGION DER VERNUNFT
Stubbe, ein Freund von Thomas Hobbes,
schrieb sein Buch über Muhammad kurz nach
dem Dreissigjährigen Krieg (1671), also kurz nach
einer Zeit, in der die christlichen Parteien in
Europa sich gegenseitig zerfleischt hatten. Die
Geschichte des al-Qarafi soll bei Stubbe aber
nicht nur die christlichen Kriege illustrieren, sondern auch zeigen, wie sich der Islam vom Christentum unterscheidet. Im Islam gebe es nämlich
keine Geheimnisse und Mysterien, wie sie Paulus
den Königen erzählt habe und «die der Vernunft
und dem allgemeinen Menschenverstand widersprechen» würden. Die Lehren des Islam seien
«sehr vernünftig (very rational)». Stubbes Darstellung des Islam der Vernunft gipfelt in den
Worten: «Die Lehre des Muhammad stimmt genau mit dem Gesetz der Natur (law of nature)
überein (. . .) und mit der Lehre des Maimonides
(dessen Ausführungen genau übereinstimmten
mit denen Muhammads wie dem Gesetz der
Natur).» Dies ist ein erstaunlicher Satz: Das Gesetz der Natur stimmt überein mit den Predigten
des Begründers des Islam sowie mit den Lehren
des grossen jüdischen Philosophen Moses ben
Maimon (1135–1204), der so oft mit Lessings
weisem Nathan verglichen worden ist.
Es ist ganz unwahrscheinlich, dass der Wolfenbütteler Bibliothekar Lessing das Manuskript von
Stubbes Buch über Muhammad kannte, als er
1779 seine Ringparabel dichtete, doch stimmen
seine Ansichten über den Islam mit denen Stubbes überein. Das lässt sich schon zeigen an Lessings
«Rettung
des
Hieronymus
Cardanus»
(1752).
Hieronymus
Cardanus
veröffentlichte
1550 ein Buch («De subtilitate»), worin er einen
Götzendiener, einen Juden, einen Christen und
einen Muslim miteinander streiten lässt. Es siegt
natürlich der Christ – und das ärgert Lessing, weil
er meint, Cardanus sei mit den anderen drei Gesprächspartnern
nicht
«aufrichtig»
verfahren.
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Lessing verteidigt («rettet») darum «unparteiisch» die zu kurz Gekommenen, wobei er besonders dem Islam seine vorurteilslose Aufmerksamkeit zuwendet. Bevor er einen Muslim auftreten
lässt, der den Islam verteidigt, wirft Lessing Cardanus vor, er hätte vor seinem Religionsvergleich
erst einmal versuchen müssen, den Islam richtig
kennenzulernen. Ohne «völlige Erkenntnis» dieser Religionen sei ihre Vergleichung «unanständig».
Wir wissen, dass Lessing selbst, bevor er über
den Islam schrieb, das wichtigste islamkundliche
Schrifttum seiner Zeit gelesen hatte. Lessing war
ausserdem
mit
dem
brillanten
Orientalisten
Johann Jacob Reiske befreundet; mit ihm zusammen sichtete er 1771 die Orientalia der HerzogAugust-Bibliothek. Dass Lessing Muslime persönlich gekannt oder islamische Schriften gelesen
hat, kann allerdings bezweifelt werden. Er wusste
also auch nicht, dass gerade zu seiner Zeit sich auf
der Arabischen Halbinsel eine radikal-puristische
Erneuerung des Islam zu formieren begann, der
später so genannte Wahhabismus, benannt nach
seinem Begründer Muhammad ibn Abdal Wahhab (1709–1792). Heute gelten die Wahhabiten
als die Begründer und Ahnherren des neuzeitlichen islamischen Fundamentalismus.
OHNE GEHEIMNIS
Lessing lässt also seinen Muslim auftreten (der
natürlich Lessings Ansicht des Islam wiedergibt).
Seine Rede ist lang, doch gelingt es diesem
Manne, in nur vier Sätzen den Kern der islamischen Religion zu charakterisieren: «Wirf einen
Blick auf sein [Muhammads] Gesetz! Was findest
du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme? Wir glauben an einen einigen Gott; wir glauben an eine zukünftige Strafe
und Belohnung, deren eine uns, nach Massgabe
unserer Tage, gewiss treffen wird. Dieses glauben
wir, oder vielmehr (. . .) davon sind wir überzeugt,
und sonst von nichts!»
Lessing meint, im Islam gebe es keinen Glauben, weil es keine «Geheimnisse» in dieser Religion gebe, vor allem nicht «die Verehrung heiliger
Hirngespinste»
oder
«höhere
Offenbarungen,
deren Möglichkeit noch nicht einmal erwiesen
ist». Besonders ausführlich beschäftigt sich Lessing mit der Tatsache, dass der Islam keine Wunder zu seiner Rechtfertigung braucht. Muhammad
hatte es nicht nötig, durch übernatürliche Wunder
die Menschen von der Gültigkeit seiner Lehre zu
überzeugen, diese stimme nämlich mit der «allerstrengsten Vernunft» überein. Das heisst: Jeder
Mensch als ein Vernunftwesen kann nicht anders,
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als den Islam als vernünftige Religion mit seiner
Vernunft anzuerkennen. Der Islam enthalte nämlich nur Lehren, «deren Probierstein ein jeder bei
sich führet» – die Vernunft. Der Islam braucht zu
seiner Rechtfertigung keine übernatürlichen Wunder, weil er eine natürliche Religion ist, genauer:
die einzige natürliche, der Vernunft angemessene
Religion.
Das sind starke Worte, doch Lessing hält zeit
seines Lebens an dieser Ansicht fest. Als er 1774
Teile aus Samuel Hermann Reimarus' «Apologie
oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes» (um 1750) unter dem Titel «Von Duldung
der Deisten» zum Druck befördert, zitiert er mit
Zustimmung daraus: «Ich getraue mir, (. . .) das
Vornehmste der natürlichen Religion aus dem
Alkoran gar deutlich und zum Teile gar schön
ausgedruckt darzutun, und glaube, dass ich bei
Verständigen leicht darin Beifall finden werde,
dass fast alles Wesentliche in Mahomets Lehre
auf natürliche Religion hinauslaufe.» Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hatte im Vorwort zu seiner
«Théodicée» (1710) den Islam als eine «religion
naturelle» bezeichnet.
Für Lessing wie für Reimarus ist, ebenso wie
für Stubbe, der Islam die Religion der Vernunft,
eine natürliche Religion. Stubbe und Reimarus
wussten, warum sie ihre Schriften nicht veröffentlichen konnten. Umso mutiger ist Lessings Veröffentlichung der «Duldung der Deisten» zu bewerten – doch ihm wurde daraufhin die ZensurFreiheit entzogen, und er führte seinen Kampf für
die Toleranz auf dem Theater fort: Er schrieb den
«Nathan». Die Ringparabel im «Nathan» ist bekannt. Vergleicht man sie mit der Geschichte des
al-Qarafi, dann erkennt man deutlich, warum die
Geschichte des Kaireners zu einem selbstzerstörerischen Kampf, die Geschichte des Wolfenbüttelers zu einem friedlichen Zusammenleben führt:
In Nathans Erzählung rufen die Streitenden einen
Kadi an und bitten um eine rechtliche Klärung
des Streites. Dieser Richter rät zur Sanftmut, zu
herzlicher Verträglichkeit und «innigster Ergebenheit in Gott».
Als der Sultan Saladin, der für seine Frömmigkeit bekannt war, diese Worte des Nathan hörte,
wird er wohl an die Verse 34 und 35 der Koransure «Das Schreibrohr» (Nr. 68) gedacht haben,
denn die Unterhaltung zwischen diesen Männern
wurde natürlich auf Arabisch geführt. Die Verse
lauten: «Den Gottesfürchtigen werden dereinst
bei ihrem Herrn die Gärten der Wonne zuteil.
Oder sollen wir etwa diejenigen, die Gott ergeben
sind, den Sündern gleichsetzen?» Diejenigen, die
Gott ergeben sind, heissen auf Arabisch: «musli-
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mun». Die Begriffe Muslime und Islam sind nach
diesem Koranvers gebildet worden. Muslime
heisst wörtlich übersetzt: «die (Gott) ergeben
sind».
Der weise Jude Nathan erinnert den frommen
Muslim Saladin also durch die Worte des Richters
an das, was den Kern des Islam ausmacht, an die
Ergebenheit in Gott. Lessings Spiel «Nathan der
Weise», gefeiert als ein Symbol der deutsch-jüdischen Symbiose im Zeitalter der Aufklärung, ist
somit auch ein Stück islamischer Theologie. Dies
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deutet auch Goethe in einem Gespräch mit Eckermann am 11. April 1827 an, in welchem er Lessings Suche nach Wahrheit mit jenem «philosophischen System der Mohammedaner» vergleicht
und hinzufügt, dieses sei «ein artiger Massstab,
den man an sich und andere anlegen kann, um zu
erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man
denn eigentlich stehe». Lessings Toleranz ist eingebettet in sein Verständnis des Islam.
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