Ursi Barandun Schäfer - Schweizerischer Verein für

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Pflege von multimorbiden
PatientInnen
Ursi Barandun Schäfer
Pflegeexpertin MNS
12. November 2015
(Einige Folien übernommen von Paola Massarotto, 2010)
Themen
• Begriffsklärung
• Krankheitsverläufe im Wandel
• Bedeutung für die Betroffenen
• Anforderungen an die Betreuung (smodelle)
• Chronisch Kranke im Akutbereich
Begriffsklärung
«Multimorbidität» (auch: Polymorbidität, Polypathie)
… gleichzeitig mehrere Krankheiten bei einer einzelnen Person.
Je nach Quelle
- zwei oder mehr akute oder chronische und „medical conditions“ (von
den Akker et al., 1996 in Battegay, 2014)
-
zwei oder mehr chronische Krankheiten, ohne dass eine davon
bedeutsamer sein muss als die andere(n) (Boyd & Fortin, 2010 ebenda)
jede Art von Kombination von chronischer Erkrankung mit
mindestens einer anderen Erkrankung (akut oder chronisch) oder
biopsychologischem Faktor (mit der Krankheit assoziiert oder nicht)
oder körperlichem Risikofaktor (Le Reste et al., 2013 ebenda)
«Chronische Krankheit/en»
„Chronische Krankheiten werden von pathologischen
Veränderungen des Körpers verursacht, die irreversibel und
dauerhaft sind oder eine bestimmte Behinderung hinterlassen.
Sie sind durch Perioden von Verbesserungen und Rückfällen
charakterisiert und brauchen meist über längere Zeit hinweg
Beobachtung, Überwachung, Pflege und Rehabilitation“
(Commission on Chronic Illness, 1956; Kerson & Kerson, 1985 in Funk et al., 1997, S.13)
Geläufige Unterteilung: ♦Nicht-, resp. ♦übertragbare Krankheiten
♦Psychiatrische Krankheiten ♦Behinderungen
Einschub: Epidemiologische Begriffe
• Morbidität = Anteil Menschen, zu an einer bestimmten Krankheit
erkrankt sind
• Prävalenz = Anteil Menschen einer Gruppe (Population), die zu
einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Krankheit leiden
• Inzidenz = Anteil Menschen einer Population, die neu an einer
bestimmten Krankheit erkranken
• Mortalität = Anteil Menschen einer Population, die in einem
bestimmten Zeitraum sterben
• Letalität = Anteil Menschen mit einer bestimmten Erkrankung, die
daran sterben im Verhältnis zu allen daran Erkrankten
Multimorbididät: mehr als die Summe der einzelnen
Erkrankungen
Prävalenz
CH und Europa: ca. 30 Prozent der Bevölkerung (Battegay, 2014)
•
> 50 Jahre: 22%, > 85 Jahre: 44% (Moreau-Gruet, Gesundheitsobservatorium 2013/2014 ebenda)
•
Kinder: ca. 7% (Barnett et al, 2012 ebenda); 70-90% aller Pat. NFS USZ (Schneider et al., 2012 ebenda)
UK: <9% haben KHK als einzige Krankheit (Guthrie et al., 2012 in Battegay, 2015)
Folgen
- Polypharmazie: ≥4 Medikamente bei der selben Person
- Disease-Disease-(Medication) Interactions
- therapeutische Konflikte
Multimorbidität: Einer der inhaltlichen Schwerpunkte der SAMW 2017-2020
Professionelle Pflege:
“… fördert und erhält Gesundheit,
beugt gesundheitlichen Schäden vor
… unterstützt Menschen in der
Behandlung und im Umgang mit
Auswirkungen von Krankheit und
deren Therapie. …
… mit dem Ziel, … die bestmögliche
Behandlungs- und Betreuungsergebnisse
sowie die bestmögliche Lebensqualität
in allen Phasen … bis zum Tod zu
erreichen”.
(SAMW, 2004; Spichiger, 2006)
Bevölkerung Trends in der Schweiz
Personen in ärztl. Behandlung 2007
(BFS, CH Gesundheitsbefragung)
Total
Männer
Frauen
Hoher Blutdruck
15,0
15,9
14,1
Heuschnupfen / Allergien
14,4
13,7
15,1
Arthrose / (rheumatische) Arthritis
11,3
8,8
13,8
Depression
8,0
6,2
9,8
Migräne
6,0
3,7
8,3
Asthma
6,0
5,5
6,7
Krebs / Geschwulst
3,8
3,2
4,5
Nierenerkrankung
3,5
4,3
2,8
Chronische Bronchitits / Emphysem
3,3
3,3
3,4
Diabetes
3,0
3,5
2,5
Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür
2,9
3,1
2,7
Ostheoporose
2,8
0,6
4,9
Herzinfarkt
2,1
3,1
1,2
Schlaganfall
1,0
1,3
0,8
Häufige Kombinationen chron. Krankheiten
(Van den Bussche et al., 2011)
1. Hypertonie + Dyslipidämie + chron. Rückenschmerz
2. Hypertonie + Chron. Rückenschmerz + Arthrose
3. Hypertonie + Dyslipidämie + Koronare Kerzkrankheit
4. Hypertonie + Dyslipidämie + Diabetes mellitus
5. Hypertonie + Dyslipidämie + Arthrose
6. Dyslipidämie + chron. Rückenschmerz + Arthrose
7. Hypertonie + Dyslipidämie + Gicht
8. Hypertonie + Chron. Rückensz + Koronare Herzkrankheit
9. Hypertonie + Chron. Rückenschmerzen + Diabetes mellitus
10. Hypertonie + Diabetes mellitus + Koronare Herzkrankheit
Krankheitsverlaufskurve: illness trajectory (1/3)
(Corbin & Strauss, 2004)
Krankheitsverlaufskurve: illness trajectory (2/3)
(Corbin & Strauss, 2004)
Krankheitsverlaufskurve: illness trajectory (3/3)
(Corbin & Strauss, 2004)
Neun Phasen bei chronischer Krankheit
1/2
(Corbin & Strauss, 2004)
•Pretrajectory – Phase vor der Pflege- und Krankheitsverlaufskurve;
keine Anzeichen von Krankheitssymptomen oder Veränderungen;
jedoch begünstigendes Verhalten oder genetische Disposition
•Trajectory onset – Einsetzen der Pflege- und Krankheitsverlaufskurve;
Diagnosestellung, Unsicherheit, Ungewissheit und Angst, entwickeln
von Copingstrategien
•Stable – Stabilisierungsphase; Kontrolle besteht über Krankheitsverlauf
und –symptome, keine Einschränkung im Alltag
•Unstable – Instabile Phase; Kontrollverlust, Versuch wieder in Phase 3
zu gelangen
•Acute – Akutphase; evtl. Hospitalisierung oder Bettruhe
Neun Phasen bei chronischer Krankheit
(2/2)
(Corbin & Strauss, 2004)
•Crisis – Krise; Kritische- oder lebensbedrohliche Situationen erfordern
medizinische oder pflegerische Notfallmassnahme
•Comeback – Genesungsphase; zurück ins ‚normale‘ Leben, jedoch mit
Einschränkungen
•Downward – Verfallsphase; fortschreitende Verschlechterung der
körperlichen Verfassung, starke Einschränkungen
•Dying – Sterbephase; beschreibt die letzten Tage beziehungsweise die
letzten Wochen vor dem Tod. In dieser Phase wird Abschied
genommen und ein friedvoller Tod ermöglicht.
Übliche Betreuung entspricht “Radar System”
•Patient tritt ins Spital ein
kommt ins Ambulatorium
•Patient wird behandelt:
„find it and fix it“
•Patient wird entlassen
…und verschwindet
vom Radarschirm!
(Yach, WHO, 2002)
“Radarsystem” führt zu ungenügender Betreuung
•Systeme orientieren sich an Therapie akuter Krankheiten
•Psychosoziale Aspekte unbeachtet
•Verhalten unberücksichtigt
•Rolle der Betroffenen unbeachtet
•Follow-up‘s sporadisch, unsystematisch
•(Sekundär-) Prävention unberücksichtigt
(Yach, WHO, 2002)
Unterschiedliche Perspektiven
•Reaktion von Betroffenen (inkl. Angehörige):
• Die Krankheit beherrscht das Leben
• Das Positive hervorheben
(Grypdonck in Seidl & Walter, 2005)
Balance zwischen normalem und krankheitsbedingtem Leben
•Profis (inkl. Pflegende):
• Ausrichtung auf Funktionieren im Alltag
• Orientiert am Erleben der Betroffenen
(Grypdonck in Seidl & Walter, 2005)
Im (Spital-) Alltag: Orientierung an Krankheit und Spitalwelt
An-/ Forderung: Modelle für integrierte Betreuung
• Mehr Evidenz zur medizinischen Betreuung
• Mehr Berücksichtigung der individuellen Folgen,
Bewältigung und Bedürfnisse von Betroffenen
• Mehr Förderung der aktiven Rolle der Betroffenen
> Grosses Potential für die Rolle der Pflege(nden)!
Aufgabe und Rolle der Pflege(nden)
(Grypdonck in Seidl & Walter, 2005)
Gibt Trost; teilt Machtlosigkeit und Einsamkeit; fürsorgliche
Anwesenheit; pflegt Dialog; schafft Raum fürs Leben trotz Erkrankung
Vorschlag: «Trajectory Nurse»
- Unterstützt Betroffene, das Leben über die Krankheit zu stellen
- Unterstützt Betroffene bei der Anpassung an veränderte Umstände
- Unterstützt Betroffene beim Management der Therapie und
(Sekundär-) Prävention; bietet selbst Pflege an. Ziel:
Selbstbestimmung und möglichst positiver Verlauf der Krankheit
- Unterstützt Betroffene bei der Organisation der Pflege; erhebt die
Bedürfnisse, stellt Kontakt zu Anderen her; koordiniert. Ziel:
Tagesplan der Pflege bestimmt durch PatientIn – nicht umgekehrt.
Chronic Care Modell
(Bodenheimer et al., u.a. 2002 in Steurer-Stey, 2009)
Fünf Prinzipien der Betreuung von chronisch
kranken Menschen
1. Kollaborative Beziehung zwischen Betroffenen
(PatientInnen und Angehörigen) und Betreuenden
2. Behandlungs- und Pflegeplan vereinbart und aktualisiert
3. Unterstützung des Selbstmanagement
4. Proaktives Follow-Up
5. Evidenzbasierte Interventionen und Protokolle
(WHO, 2002)
Selbstmanagement
«the patient as a worker»
Chronischkrank
Die Patientin / den Patienten kennen (lernen)
(Entw. erweiterte Pflegeanamnese bei chronischer Krankheit USB, 2015)
-Angaben zu Gesundheit / Krankheit
-Körperliche und psycho-soziale Beschwerden und Einschränkungen
-Ressourcen: Umgang im Alltag, inkl. Unterstützung durch Andere
-Präferenzen (Vorlieben)
- Angaben zur Lebenswelt
-Herkunft (z.B. Migration; Stadt/Land; …)
-Wichtigste Angehörige (Familie und Andere)
-Wohnsituation und ggf. entspr. Probleme (z.B. Treppen …)
-(ehem.) Beruf; ggf. in Rente seit …; ggf. IV wegen …
-Beschäftigung / Zeitvertreib / Hobby
-Pat.Verfügung, resp. Vorlieben zu Behandlung, Rehabilitation und Pflege
Take home messages
• Anzahl Menschen mit chron. Krankheiten nimmt zu auch im Akutspital
• “The patient as a worker” – “The Patient as an expert” auch im Akutspital
• Gefragt sind innovative evidenz-basierte Betreuungsmodelle für medizinische
Behandlung und für die Pflege, z.B. “Patient als Coach” (Klug Redmann, 2008)
• Interprofessionelle Zusammenarbeit, z.B. Visiten, gemeinsame Dokumentation
von Anamnese und Verlauf, gemeinsamer Verlegungs- und Austrittsbericht
Konkret:
• “Knowing the patient” und Perspektivenwechsel
• Patientin/Patient und Angehörige einbeziehen
Kontakt: [email protected]
Literatur
Battegay, E. (2014). Multimorbidität: Herausforderung der Neuzeit. SAMW Bulletin (4), 1-4.
Corbin, J.M., Strauss, A.L. (2004). Weiterleben lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer
Krankheit. Bern: Huber.
Battegay, E. (2015). Multimorbidität. Schweizerische Ärztezeitung, 96(36), 1271-2
Klug Redmann, B. (2008). Selbstmanagement chronisch Kranker. Bern: Huber.
Kocher, & Oggier, W. (2007). Gesundheitwesen Schweiz 2007-2009. Bern: Huber.
Seidl, E. & Walter, I. (Hrsg.) (2005). Chron. kranke Menschen in ihrem Alltag. Das Modell von
Mieke Grypdonck, bezogen auf Menschen nach Nierentransplantat. Wien: Maudrich.
Steurer-Stey, C. (2009). Chronische Krankheiten, die neue Epidemie des 21. Jahrhunderts.
Care Management, 2(4), 3.
Unterlagen aus der Vorlesungsreihe ‚Chronical Illness‘ von A. Kesselring & R. Spirig (2005)
sowie von L. Berben & S. De Geest 2013. Uni Basel: Institut für Pflegewissenschaft.
Van den Bussche, H. et al. (2011). Which chronic diseases and disease combinations are
specific to multimorbidity in the elderly? ... Study in Germany. BMC Public Health, 11: 101.
Wiener, C. (1989). untrained, unpaid and unacknowledged: The patient as worker. Arthritis
Care and Research, 2(1), 16-21
Internet-Links:
http://.multimorbidity.net
www.bfs.ch (Bundesamt für Statistik)
www.who.int
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