30 Tages-Anzeiger – Dienstag, 15. November 2011 Kultur & Gesellschaft Expedition durchs Klanglabor Die Tage für Neue Musik sind in ihrem 25. Jahr in einer versöhnenden Gegenwart angelangt. Von Tom Hellat Mit dem Rücken zum Publikum, so sitzen die Musiker des Ensembles Laboratorium im Konzert. Die Musik von Francesco Filideis «Partita» aber tut das Gegenteil, sie spricht die Zuhörer direkt an. Über Schaben, Schrubben und Insru­ mente-Streicheln kommt der Tonsatz zwar nicht hinaus. Ja, man könnte fast sagen, es erklinge kein einziger «richtiger» Ton. Und doch entwickelt sich Grossartiges. Wie in einem Biotop werden da Rhythmen gezüchtet, verschiedene Parameter verstärkt und die Wirkung dieser Veränderungen beobachtet. Das Stück des Italieners war einer der Höhepunkte der Jubiläumsausgabe der Zürcher Tage für Neue Musik (TfNM), die ihren 25. Geburtstag feierten. Sechs Konzerte fanden diesmal statt mit über fünfzehn Werken von Komponisten, die grösstenteils auch persönlich anwesend waren: von den Schweizern Beat Furrer (dem die ZHdK zeitgleich eine ganze Werkstattwoche widmete) und Hans Ulrich Lehmann bis hin zum Dänen Morten Olsen oder dem Türken Cenk Ergün. Das Programm, ein letztes Mal entworfen von Mats Scheidegger und Nadir Vassena, trägt dieses interessenlose Wohlgefallen an allem, was irgendwie klingt und ringt, überrumpelt, überrascht. Somit sind die Tage für Neue Musik denn auch ein Musikfestival ganz ohne Leitbild und ohne Thema. Oder wie es der ehemalige Künstlerische Leiter Walter Feldmann an einer Podiumsdiskussion formulierte: «Die TfNM wollen schlicht und einfach gute Musik bieten.» Und gut war tatsächlich einiges. Zu erwähnen wäre etwa Cenk Ergüns Stück «Nasreddin»: Ausgehend von einem leise singenden Ton, begeben Erregung. Aber auch hier wieder: keine Uraufführung. Das ist eine beachtsame Besonderheit des Zürcher Festivals: Die TfNM surfen nicht auf der Welle des Uraufführungswahns. Und setzen damit einen Kontrapunkt zum bedauerlichen Umstand, dass es zu wenig zeitgenössische Werke gibt, die ihre Erstaufführung überleben. Pseudointellektuelle Sprache Nahm sich Hans Ulrich Lehmanns Werk an: Das Galatea-Quartett. Foto: Raphael Fleury sich da die Musiker des Ensembles Laboratorium auf Expedition durch Klangwelten und zoomen sich in ausgedehnte Talebenen aus Atem und Improvisation, wo Trompeten leise tröpfeln und laut blubbern können. Wenn es eines Beweises bedarf, dass die Musik des 21. Jahrhunderts noch lange nicht am Ende aller Zeiten und Farben angekommen ist, dann höre man sich dieses Werk an. Neben solchen Entdeckungen gibt es aber bisweilen auch Altbacken-Akademisches zu hören wie etwa Hans Ulrich Lehmanns «Nachklänge für Streichquartett» (umsichtig aufgeführt vom GalateaQuartett). Lehmann setzt die traditionelle Rhetorik um die Gleichberechtigung der Streicher in Bewegung, ohne ihr einen neuen Sinn abzugewinnen. Das wirkt etwas harmlos in seiner routiniert dissonanten Klangsprache, gerade neben der im gleichen Konzert dargebotenen Ausdrucksintensität und Vielseitigkeit des sechsten Streichquartetts von Rudolf Kelterborn. Zum unbestrittenen Höhepunkt des Festivals wurde aber die Aufführung von Beat Furrers Musiktheater «Fama» unter der Leitung des Komponisten selbst. Da hechelt Schnitzlers Fräulein Else Wortkaskaden (fabelhaft: Isabelle Menke), scheint nach innen zu verglühen und nach aussen hin jeden Halt unter den Füssen zu verlieren. Das Ensemble Arcen-Ciel lässt die Musik mal angeätzt langsam dahintröpfeln, nur um im nächsten Augenblick schmerzhafte Klangballungen aufzureissen. Ein Stenogramm der Dass vielleicht auch deswegen die meisten Programmhefttexte pseudointellektuell aufgeladen werden, als bräuchte die Musik noch eine aussergerichtliche Rechtfertigung, sagt einiges über den Erklärungsdruck aus, dem das Elfenbeinturm-Dasein der Neuen Musik ausgesetzt ist. Exemplarisch sei hier Brian Ferneyhoughs Text zu seinem Stück «Chronos-Aion» genannt. Ob er mit seiner Rede von «materialgebundener Zeitlichkeit» bezweckte, dass das Publikum nach der Aufführung nicht «Bravo, Bravo!», sondern «Logisch, logisch!» rufen würde? Rettung vor dieser Schaumschlägerei einer möchtegern-philo­ sophischen Sprache bot die Flucht in die Musik selbst. Denn sie war meist ­beredt, auch ohne Erklärungen. Kann man also getrost in die Zukunft blicken? Nach acht Jahren Co-Intendanz durch Scheidegger und Vassena zeigt sich nun neu jedes Jahr ein anderer «Kurator» für die Programmgestaltung verantwortlich. Werden die TfNM so zum Land, wo jeder alles dürfen darf ? Interessant wird es jedenfalls schon nächstes Jahr. Hat man sich doch den Coup erlaubt, mit dem Musiker und Journalisten Christoph Keller einen der profiliertesten Kritiker des Festivals als Programmgestalter zu engagieren. Trost und Andacht mit Josh T. Pearson Ein dünner, hoher Mann in schwarzer Jeans und schwarzem Hemd steht wie eine Wachsfigur auf der Bühne. Wenn er leise und nuschelnd mit den 30 Leuten spricht, die am Sonntagabend ins El Lokal nach Zürich gekommen sind, ist kaum etwas zu verstehen. Ein Witz über Willie Nelson, von dem er nachher einen Song spielen wird, bleibt halb fertig und fällt auf den Bühnenteppich. Aber wenn dieser Josh T. Pearson zu spielen und zu singen beginnt, wird alles ganz klar. Die Stimme erhebt sich zu langen Klagegesängen über eine zerbrochene Liebe, und weil diese Liebe gross und einzig war, gehen die Lieder eins ums andere ineinander über, sie gehören ja auch alle zusammen. In den filigran gepickten Mustern auf der akustischen Gitarre heben sich der Blues und der Gospel auf, irgendwo auf halbem Weg zwischen Erde und Himmel. Es herrscht Trost und Andacht im Lokal. Josh T. Pearson, Sänger und Songwriter aus Texas, hat mit Lift to Experience, seiner alten Band, vor zehn Jahren eine Platte veröffentlicht. Dann löste er die Band auf und irgendwie auch sich selbst. Erst diesen Frühling erschienen neue Lieder von ihm, eben diese wunden, gebetsmühlenartigen Songskelette über eine schmerzhafte Trennung. «Sweetheart I Ain’t Your Christ» hiessen sie, «Woman, When I’ve Raised Hell» oder einfach nur: «Sorry with a Song». «Last of the Country Gentlemen» ist eines der schmerzhaftesten, aber auch schönsten Break-up-Alben der letzten Jahre; und mit der gleichen, still glühenden Intensität stellt Pearson sie jetzt in Zürich in diesem kurzen Konzert vor. Ruhig und gefasst rücken die Songs voran und tröpfelt der Balsam der ewigen Folkmusic auf den Seelenschmerz. Ein musikalisches Sakrament, das zu Recht ohne Pointe bleibt. Christoph Fellmann Anzeige Lesen Sie morgen in unserer Spezialbeilage «HOME» alles über anpassungsfähige Grundrisse und neue Wohnkonzepte. Dranbleiben.