Der Komponist und sein Lebenslied Ursula Zauns Vor noch gar nicht so langer Zeit haben wir in schamanischen Reisen uns angesehen, wie unsere Vorfahren ihre Mitmenschen geheilt haben. In meiner Reise begegnete ich einer alten Frau, die mir erzählte, dass jeder Mensch ein nur ihm gehörendes Lebenslied habe. Doch die meisten Menschen würden es nicht kennen. Ihre Sehnsucht nach diesem ganz besonderen Lied ließe sie dann oft krank werden. Ihre – also der alten Frau – Aufgabe sei es, für diese Menschen das Lebenslied zu holen. Und dann zeigte sie, wie sie das machte. Diese Idee des Lebensliedes faszinierte mich. Es passte zu dem, was ich in einer anderen schamanischen Reise erfahren hatte, nämlich dass unsere DNA Materie gewordener Gesang sei. Es passt auch zu den Erfahrungen, die wir und andere mit heilenden Klängen gemacht haben. Wir wissen, dass Menschen, die aus ihrem Herzen heraus tönen, sich damit heilen können. Und in unserer schamanischen Arbeit melden sich häufig Töne und Melodien, die unsere Klienten ebenfalls als heilsam erfahren. Als ich dies alles eine Zeit lang in mir arbeiten ließ, ging mir auf, dass es ja noch so viel mehr bedeutet. Mir war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass es oft kleine Tonfolgen oder Melodienteile sind, an denen wir einen Komponisten erkennen können. Ich höre eine Wendung von einem Stück, das mir unbekannt ist und sage dann, das ist bestimmt von Mozart oder das ist von Schubert. Die Musikwissenschaftler haben sicherlich andere Erklärungen dafür, aber mir wurde auf einmal bewusst, dass diese Tonfolgen, die bei einem Komponisten besonders häufig auftreten, wohl sehr nahe an seinem Lebenslied sind. Manche Musiker haben Melodien immer wieder – abgewandelt – benutzt, sich sozusagen selbst zitiert. Schubert-Freund der ich bin, denke ich natürlich als erstes an die Themen, die Schubert immer wieder verwendet hat, sicherlich deshalb, weil sie ihn faszinierten. Bekanntestes Beispiel: das Rosamunde-Thema, eine einfache Melodie, die er mindestens dreimal verwendet hat, einmal in der Musik zum Schauspiel Rosamunde – daher der Name – dann in dem Impromptu D 935 Nr. 3 in B-Dur und im zweiten Satz des Streichquartetts D 804 in a-moll. Mit dem Lied „Die Forelle“ hat er es genau so gemacht: nämlich im vierten Satz des Forellenquintetts, da hat er das Thema gleich in mehreren Variationen verarbeitet. Doch das alleine ist es nicht. Früher habe ich mich immer gefragt, was mich an Schubert so fasziniert. Zugegeben, es ist zum einen der häufige Wechsel von Dur nach Moll und umgekehrt, manchmal ziemlich unverhofft, es ist das Liedhafte in seiner Musik auch außerhalb der Lieder. Dann ging mir auf, dass es noch etwas anderes ist, das für einen Musiklaien – der ich nun mal bin – schwer zu beschreiben ist. Und deshalb versuche ich es eher als Gefühlsbeschreibung: es ist diese Melancholie, diese Disharmonie, die fast schon schräg wirkt, und die sich dann plötzlich in eine himmlische Melodie auflöst, die wie von Zauberhand herangeschwebt kommt. Bestes Beispiel für das, was ich meine, ist der dritte Satz aus seinem Streichquintett D 956. Mir ist allerdings auch aufgefallen, dass nicht alle Menschen das empfinden, was Schuberts Musik mit mir macht. Auch hier musste ich wieder an das Lebenslied denken. Was wäre, wenn wir besonders gerne die Komponisten hören, deren Lebenslied unserem ähnelt? Dann müsste meines dem von Schubert schon sehr ähnlich sein. So gerne ich andere Musik höre, kein anderer Komponist schafft es, so leicht mein Herz zu erreichen. Kein anderer drückt mit seiner Musik so sehr mein Lebensgefühl aus wie Schubert. Und ich kann dann gar nicht begreifen, wenn andere Menschen sagen, die Musik von Schubert sei schwer. Ich könnte es auch so formulieren: wäre ich als Komponist auf die Welt gekommen, dann hätte ich genau diese Musik komponiert. Gehen wir einmal davon aus, dass es wirklich das Lebenslied des Komponisten ist, das seine Musik prägt, dann würde dies noch etwas anderes erklären. Wir wissen von Komponisten, die überhaupt nicht darüber nachdenken müssen, was sie komponieren, die Musik fließt einfach durch ihre Hand aufs Papier. Das dafür schönste Bild findet sich – wie ich meine – im Film Amadeo: Mozart steht am Flügel, ein paar Kerzen brennen und seine Hand huscht über das Papier und es hat den Anschein, dass er gar nicht schnell genug notieren kann. Schubert hat anscheinend auf die gleiche Art und Weise komponiert. Von ihm stammt ein entsprechender Ausspruch, als er mal gerade einundzwanzig war. Da schrieb er einem Freund: „Ich lebe und komponiere wie ein Gott, als könne es gar nicht anders sein.“ Mir kommt das so vor, als hätten diese Komponisten intuitiv ihr Lebenslied gekannt. Andere Musiker haben sich gequält, immer wieder nach dem richtigen Ausdruck gesucht; entweder, weil sie nicht zufrieden waren mit dem, was da auf dem Papier stand, oder aber – meine Vermutung – weil die Gesellschaft eine Musik verlangte, die weit von ihrem Lebenslied entfernt war. Das war dann fast schon wie eine Vergewaltigung. Wenn dies alles stimmt, dann ist eines auch klar: nämlich das man Musik überhaupt nicht objektiv betrachten kann – es wird sich immer das eigene Lebenslied in die Betrachtungsweise mit einmischen, ob das einem nun bewusst ist oder nicht. Andererseits bedeutet das aber auch, dass wir im Grunde als Menschheit eine große wundervolle Sinfonie bilden. Und hier verwende ich ein großes Wort, das ich ebenfalls in einer schamanischen Reise gehört habe: Dann bilden wir alle die Sinfonie Gottes. Ursula Zauns http://www.schalitaverlag.de – Der Komponist und sein Lebenslied Seite 2 –