Im Angesicht der großen Zeitenwende

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Im Angesicht der großen Zeitenwende
In den Industriestaaten steht die Alterspyramide auf dem Kopf. Der
Bevölkerungsrückgang wird schon bald für eine spürbare
Wachstumsschwäche sorgen. Mehr Globalisierung könnte ein Ausweg sein.
Nur in einer Katastrophe kann die Bevölkerungsentwicklung des Industriezeitalters
enden, prophezeite der Ökonom Thomas Malthus. Um Hungersnöte abzuwenden,
müsse die Vermehrung eingedämmt werden, schrieb der Engländer um 1800 unter
dem Eindruck der grassierenden Landflucht und des rasanten Wachstums der
Städte.
Etwa 200 Jahre später hat sich dieses Problem der Industriestaaten ins Gegenteil
verkehrt. Jetzt ist der Mangel an Nachwuchs die Bedrohung - und Ökonomen können
mittlerweile immer genauer modellieren, wie sich sinkende Geburtenraten und die
schleichende Alterung langfristig auswirken.
Die erschreckende Botschaft: Den Industriestaaten droht ab sofort ein Zeitalter
chronischer Wachstumsschwäche und schwindenden Wohlstands. Besonders
schlimm sind Europa und Japan betroffen - mit rein demographisch bedingten
Wachstumseinbußen von jährlich bis zu 0,8 Prozentpunkten bei der Pro-KopfWirtschaftsleistung, so der Internationale Währungsfonds (IWF) in einer Studie.
(...)
So schwindet die EU-Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter von heute 166 Millionen
auf 145 Millionen im Jahr 2050 - ein veritables Schrumpfprogramm, denn unter
Ökonomen gilt als ausgemacht, dass Zuwächse in der Beschäftigtenquote der
wichtigste Leistungstreiber in entwickelten Volkswirtschaften sind.
Für Deutschland könne es somit allein demographiebedingt zeitweise zu negativen
Wachstumsraten kommen, meint Gerhard Fels, ehemaliger Direktor des Instituts der
deutschen Wirtschaft. Höhere Erwerbsquoten durch späteren Renteneintritt oder
mehr berufstätige Frauen könne zwar Linderung schaffen. Der Wohlstand würde
auch stabilisiert, wenn es gelänge, durch mehr Kapitaleinsatz die Produktivität zu
steigern. Doch Ökonomen wie Demographie-Experte Axel Börsch-Supan aus
Mannheim geben zu bedenken, dass mit der Arbeitskräfteknappheit die Löhne stark
steigen werden, was zu weniger Investitionen führen könnte. Eine alternde
Arbeitsbevölkerung dürfte zudem weniger produktiv und innovativ sein als eine
jüngere.
Die zweite große Wackelnummer sind die staatlichen Renten- und
Gesundheitssysteme im Umlageverfahren. Bis 2050 soll sich die Zahl der EU-Bürger
über 65 Jahre fast verdoppeln - von 45 Millionen auf 84 Millionen. Immer weniger
Berufstätige müssen dann den Wohlstand für immer mehr Rentner verdienen.
Als Gegenmaßnahme müsste man das Renteneintrittsalter laut IWF etwa in
Deutschland auf 74 Jahre oder in Japan auf 77 Jahre anheben, wenn das Verhältnis
von Rentnern zu Berufstätigen langfristig gleich gehalten werden soll. Deutschland
könnte alternativ auch den Bevölkerungsanteil von Einwanderern von jetzt zehn
Prozent auf 35 Prozent anheben.
Einen Hoffnungsschimmer in der Misere bietet der dritte große Schauplatz des
Demographie-Umbaus: die Kapitalmärkte.
Zunächst war man noch davon ausgegangen, dass auch ihnen wegen der Alterung
große Risiken drohen. Ab der Lebensmitte sinkt die Sparneigung und zudem machen
immer mehr langlebige Rentner ihre Häuser oder Aktien zu Bargeld, was
Bewertungsverluste verursachen kann.
Dazu fehlt der Nachwuchs an Sparern im mittleren und jungen Alter, was auf die
Kapitalausstattung drückt.
Noch sind die Sparquoten aber relativ hoch und für viele Beobachter sind deswegen
freier Kapital- und Güteraustausch mit Entwicklungsländern und ihrem großen
Arbeitskräfte- und Wachstumspotenzial die beste Antwort. Der IWF mahnt, dass
Investitionsflüsse in die demographiegünstigen Länder wie die Türkei noch viel zu
gering seien. Zudem gingen 2003 etwa 40 Prozent der Auslandsinvestitionen nach
China, das aber auch relativ weit im Alterungsprozess sei.
(...)
US-Notenbank-Chef Alan Greenspan meint altersweise: Einige Folgen der
demographischen Entwicklung seien wohl vorhersehbar, viele aber auch nicht.
Der vollständige Artikel erschien am 16. Juni 2005 in der Zeitschrift „Börse-Online“.
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