Bericht über den Workshop „Multireligiöse Rituale“ im Rahmen der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) vom 14. bis 17. September 2011 in Wien. Von Volker Gottowik, Universität Heidelberg Während ökumenische Veranstaltungen hierzulande starken Reglementierungen unterliegen, sind sie in anderen Teilen der Welt fester Bestandteil des rituellen Repertoires. Vor allem in Süd- und Südostasien, aber auch in weiten Teilen Afrikas pilgern Angehörige unterschiedlicher Konfessionen zum Beispiel zu Heiligengräbern, um dort gemeinsam zu opfern und zu beten, und gelegentlich unterhalten sie sogar gemeinsame Kultstätten. Diese multireligiöse Praxis wird entweder auf die Annäherung der verschiedenen Religionsgemeinschaften zurückgeführt („Synkretismus“) oder gilt als Ausdruck eines überkommenen Ahnen- und Naturkultes („Archaismus“). Es liegt auf der Hand, dass eine Ritualpraxis, die Angehörige unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in die gleichen rituellen Handlungen einbindet, mit einer fundamentalistischen Auslegung von Religion nicht zu vereinbaren ist. Wie sich entsprechende Konflikte zur integrativen Funktion multireligiöser Rituale verhalten, war Gegenstand dieses Workshops. Der Titel des Workshops nahm bewusst keine regionale Eingrenzung vor, da er sich auf ein Phänomen bezieht, das weltweit zu beobachten ist – unter der Voraussetzung gleichwohl, dass sich moderne Religionen mit einem geoffenbarten Text und einem davon abgeleiteten Dogma nicht oder noch nicht vollständig durchgesetzt haben. Vor diesem Hintergrund war es für mich auch keine Überraschung, dass im Rahmen dieses Workshops Beispiele für multireligiöse Rituale aus Afrika und Südostasien oder genauer gesagt: aus Uganda, Madagaskar, Bali und Java angeführt wurden – allesamt Länder, in denen sich neben den sogenannten Weltreligionen (Islam, Christentum, Hinduismus, Buddhismus etc.) autochthone oder lokale Glaubenssysteme erhalten haben. Angesichts der Verbreitung multireligiöser Rituale erscheint es einigermaßen überraschend, dass sich unser Fach, die Ethnologie, bislang nicht systematisch mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat. Der Grund dafür ist meines Erachtens in einer Ausrichtung der ethnographischen Neugier zu sehen, die in erster Linie an vermeintlich authentischen, d.h. durch äußere Einflüsse unverfälschten Religionen interessiert war. Religiöse Veranstaltungen und rituelle Ereignisse, an denen mehrere Religionsgemeinschaften gleichzeitig beteiligt sind, scheinen dieses Kriterium per se nicht zu erfüllen. Ereignisse dieser Art wurden vielmehr entweder als Ausdruck einer Annäherung ursprünglich getrennter Glaubensanschauungen angesehen, d.h. als Synkretismus, oder als Ausdruck schon immer geteilter Auffassungen, die sich trotz einer Ausdifferenzierung der religiösen Anschauungen als gemeinsames Fundament erhalten haben. Im Sinne eines solchen Archaismus werden bis heute multireligiöse Anschauungen zum Beispiel in Südostasien gedeutet, wo, gemäß dieser Auffassung, eine gemeinsame Ritualpraxis zwischen Muslimen, Christen und Hindus vor allem deshalb möglich ist, weil sie auf einem geteilten Ahnen- und Naturkult (Animismus) aufruht, der durch die historisch nachgeordneten Weltreligionen nur oberflächlich überdeckt wurde. Insofern changiert die ethnologische Haltung gegenüber multireligiösen Ritualen zwischen Archaismus und Synkretismus – eine Haltung, die erst mit einer Überwindung des in der Ethnologie lange Zeit vorherrschenden Essentialismus abgelegt werden konnte. Dagegen wurde von mir die prinzipielle Offenheit nicht-skripturaler, orthopraktischer Glaubenssysteme gegenüber einer ökumenischen Ritualpraxisals These zur Diskussion gestellt. Entscheidend für das Auftreten einer multireligiösen Praxis ist meiner Meinung nach die Abwesenheit eines wie auch immer gearteten Schriftkanons, von dem ein verbindliches Dogma abgeleitet werden könnte. Tatsächlich bin ich auf das Phänomen einer multireligiösen Ritualpraxis im Verlauf meiner eigenen Forschung in Indonesien aufmerksam geworden, wo diese Praxis ganz unterschiedliche Formen und Inhalte annehmen kann: Persönlich bin ich ihm in Zentraljava an den Gräbern verstorbener Könige begegnet, die von der lokalen Bevölkerung als deifizierte Ahnen bzw. Heilige und Propheten (Wali) verehrt werden; oder in der Gestalt der Ratu Kidul, einem weiblich imaginierten Wassergeist, der überall an der Südküste von Zentralindonesien (Java, Bali, Lombok) umfangreiche Opfergaben empfängt; oder am Grab von Layon Sari, einem unglücklichen Liebespaar, das von Muslimen und Hindus unterhalten wird und zu dem junge Liebespaare sowohl aus Java als auch aus Bali pilgern. An allen genannten Orten treffen Angehörige unterschiedlicher Konfessionen aufeinander und vollziehen, gemeinsam oder getrennt, die gleichen rituellen Handlungen: Meditation, Gebet, Opfergabe – um nur die wichtigsten zu nennen. Das damit benannte Phänomen, d.h. eine multireligiöse Ritualpraxis, massiert sich in gewisser Weise auf Bali, wo einige der wichtigsten rituellen Veranstaltungen (Eka Desa Rudra etc.) die Anwesenheit sowohl hinduistischer als auch buddhistischer Priester voraussetzen und die meisten zentralen hindubalinesischen Tempelanlagen (Pura Besahki, Pura Ulu Danu etc.) chinesisch anmutende Schreine aufweisen, zu denen auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften pilgern, um dort zu opfern und zu beten Die verschiedenen Religionsgemeinschaften sind hier nicht nur auf der Ebene sakraler Architektur in einander verschränkt (im Sinne, dass buddhistische Schreine in hinduistischen Tempelanlagen anzutreffen sind), sondern auch auf der Ebene der rituellen Ereignisse miteinander verbunden: Feiert eine der beiden genannten Konfessionen ein Fest (Odalan), ist es ungeschriebenes Gesetz, auch die andere dazu einzuladen, die es sich – zumindest bis in die jüngste Vergangenheit hinein - nicht nehmen ließ, an diesem Fest teilzunehmen und dabei auch den „fremden Göttern“ ihre Reverenz zu erweisen. Was die Beispiele verdeutlichen sollen, ist folgendes: Die hier beschriebene multireligiöse Praxis basiert auf den gleichen rituellen Handlungen, die von Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften vollzogen werden, ohne dass diese Handlungen notwendig den gleichen Adressaten haben müssen. Was der Einzelne dabei denkt, wenn er vor einem Tempelschrein niederkniet, um zu opfern und zu beten, bleibt vielmehr ihm selbst überlassen, solange er seine Opfer und seine Gebete so entrichtet, wie die Gemeinschaft es von ihm erwartet. Angesichts der Verbreitung multireligiöser Rituale stellt sich die Frage, welche sozialen Implikationen eine solche Praxis für die betreffende Gemeinschaft hat. Ist zum Beispiel die bekannte Trias von Victor Turner bestehend aus Liminalität, Communitas und Antistruktur auch auf multireligiöse Rituale übertragbar? Erfahren Christen, Muslime und Hindus, die gemeinsam auf einen Berg pilgern oder ein religiöses Fest feiern, einen Moment der Communitas, einen Moment der Zusammengehörigkeit, der 1.) stabilisierend in die Gesellschaft zurückwirkt, aber auch 2.) alle Differenzen, die in Bezug auf Alter, Geschlecht, Religion gegeben sein mögen, für einen Moment außer Kraft setzt? Und sofern sich ein solcher Moment einstellt, beinhaltet er tatsächlich eine Antistruktur, ein subversives Element, das darauf zielt, die Erfahrung der Gemeinsamkeit und Solidarität auch im Alltag zu leben und darüber ein gesellschaftsveränderndes Potential entfaltet? Victor Turner, der bekanntlich sein dreigliedriges Ritualkonzept auch auf profane Veranstaltungen wie z.B. das Woodstock-Festival ausgedehnt hat, legt eine positive Beantwortung dieser Frage nahe. Doch ist Turner, ein praktizierender Katholik, für seine positive Sicht auf Religion und Ritual vielfach kritisiert worden. Denn selbst ein oberflächlicher Blick auf multireligiöse Rituale offenbart, dass sie nicht nur Differenzen überbrücken, sondern vielfach Grund oder Auslöser gesellschaftsinterner Konflikte sind. Von daher liegt es in gewisser Weise nahe, in multireligiösen Ritualen eher eine Arena der Austragung von Konflikten zu sehen, statt sie im Anschluss an eine funktionalistische bzw. prozessanalytische Ritualtheorie zu verklären. Aus diesen einleitenden Ausführungen ergaben sich drei Fragekomplexe, die im Verlauf des Workshops diskutiert wurden:: Welche sozialen Implikationen haben multireligiöse Rituale, wirken sie integrativ oder segretativ in die betreffende Gesellschaft hinein, oder vermögen sie möglicherweise beides gleichzeitig zu tun (im Sinne einer übergreifenden Ambivalenz)? Können ihre Implikationen kontextunabhängig bestimmt werden, oder bleiben diese Implikationen an die konkrete Aufführungspraxis gebunden? Welches Bewusstsein hinsichtlich einer multireligiösen Ritualpraxis liegt auf Seiten der Ritualteilnehmer vor; gibt es ein lokales Wissen über die Genese und die historische Verankerung dieser rituellen Praxis; oder ist vielmehr die Abwesenheit eines solchen Bewusstseins die Voraussetzung dafür, dass sie sich gewissermaßen unbefragt bis in die Gegenwart entfalten bzw. immer wieder neu erfinden kann? Wie gelingt es den rituellen Akteuren, angesichts eines sich ausbreitenden Fundamentalismus eine multireligiöse Praxis aufrechtzuerhalten? Welche Implikationen hat die in Indonesien immer wieder zu beobachtende Umdeutung von Religion (Agama) in profanes Brauchtum (Adat); verlieren multireligiöse Rituale darüber ihre Funktion als Medium kollektiver Verständigung bzw. Arena der Austragung sozialer Konflikte? Obwohl diese Fragen noch einer weiteren Bearbeitung bedürfen, kann als erstes Resultat der Vorträge und Diskussionen an dieser Stelle bereits folgendes festgehalten werden: Rituale, die von verschiedenen religiösen Gruppen gemeinsam durchgeführt werden, scheinen in besonderer Weise geeignet, Macht und Herrschaft zu legitimieren. Wie das ethnographische Beispiel von Raphaela von Weichs (Université de Neuchâtel) aus Uganda zeigte, begründen lokale Herrscher ihren Machtanspruch gerade aus der konfessionelle Grenzen möglichst überschreitenden Zustimmung breiter Bevölkerungskreise, die sich zum Beispiel in gemeinsam durchgeführten Inthronisationsritualen äußert. Dass diese Form der Legitimation von Herrschaft mit der Ausgrenzung dogmatischer und fundamentalistischer Gruppen einhergeht, die eine solche Ritualpraxis ablehnen oder gar bekämpfen, wird dabei billigend in Kauf genommen. Dass multireligiöse Praktiken verstärkt zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden, konnte auch das ethnographische Beispiel von Eva Spies (Universität Mainz) aus Madagaskar verdeutlichen. Solche Praktiken treffen entweder auf die Ablehnung dogmatischer Gruppen, oder es wird ihnen jeder Bezug zu Religion und Glaube abgesprochen. Die hier behauptete Inkommensurabilität von Vorstellungen und Praktiken ist wiederum Voraussetzung dafür, eine Konfessionen übergreifende Ritualpraxis aufrechterhalten zu können, deren ökumenischer Charakter sich gleichwohl dem Bewusstsein der Teilnehmer entzieht. Dass multireligiöse Praktiken durch mythisch-legendarische Erzählungen ihre Begründung erfahren, versuchte Volker Gottowik (Universität Heidelberg) anhand eines Sakralfigurenpaares auf Bali zu zeigen. Die genannten Erzählungen erinnern die Ritualteilnehmer nicht nur daran, dass Buddhisten und Hindus, Chinesen und Balinesen seit Menschengedenken auf Bali zusammenleben, sondern erst das Zusammenspiel dieser verschiedenen ethnischen und konfessionellen Gruppen die vorherrschende Agama Hindu-Bali hervorgebracht hat. Die angesprochenen Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Konfessionen werden in multireligiösen Ritualen periodisch erneuert, von dogmatischen Gruppen jedoch vehement in Frage gestellt.. In welchem Maße multireligiöse Ritualpraktiken in Indonesien bereits unter den Druck eines normativen Islam geraten sind, konnte Michael Prager (Universität Münster) am Beispiel von Java verdeutlichen. Konfessionen übergreifende Rituale, die auf gesellschaftlichen Ausgleich zielen (z.B. Slameten-Ritual und Zyarah-Pilgerwesen), sehen sich einer grundlegenden Revision unterzogen, zugleich werden alternative kosmologische Weltanschauungen sukzessive zurückgedrängt. Welche Konsequenzen sich aus diesen religiösen und politischen Umbrüchen in Indonesien ergeben, ist aktuell noch nicht abzusehen. Sie zu untersuchen entwickelt sich zur vornehmen Aufgabe einer an der religiösen Dynamik interessierten Ethnologie. Fazit: Da die Vorträge und Diskussionen in Wien als äußerst produktiv empfunden wurden, haben Raphaela von Weichs und Volker Gottowik einen gemeinsamen Workshop auf der anstehenden EASA-Tagung in Paris (11. bis 13. Juli 2012) angemeldet. Dieser Workshop, der bereits vom “Scientific Committeee” der EASA akzeptiert wurde, trägt folgenden Titel: Multi-religious rituals: performativity, ambivalence and the need to cope with uncertainty.