TELEMATIK René Schoenauer Telematik-Tarife und Innovationskultur: Vorbild Italien Telematik-Produkte haben großes Potenzial, die Versicherungsbranche zu revolutionieren. Dennoch geht die Entwicklung in Deutschland nur zögerlich voran. Wie man es anders macht, zeigt Italien. Den Vorreiter in Sachen Telematik und digitale Innovationen suchen viele intuitiv in den USA, im Silicon Valley in der Nachbarschaft von Google, Amazon und Co. Dass es aber tatsächlich Italien ist, welches die Entwicklung mit einer Marktdurchdringung von 15% im Bereich der telematik-basierten Kfz-Versicherungen anführt, vermuten die wenigsten. Entsprechend ist es kaum verwunderlich, dass in Italien auch erste Schritte unternommen werden, die positiven Erfahrungen aus dem Kfz-Bereich auch auf andere Versicherungssparten wie Gesundheits-, Lebens- oder Immobilienversicherungen zu übertragen. Die Einrichtung von Think Tanks wie dem „Observatory on Telematics, Connected Insurance & Innovation“ sollen diese Entwicklung unterstützen. Im Observatory haben sich 30 Versicherer und drei Rückversicherer, der Verband italienischer Versicherer ANIA und die italienische Versicherungsaufsichtsbehörde IVASS sowie Technologie- und Softwareanbieter wie Guidewire zusammengeschlossen. Ziel ist es, eine Innovationskultur innerhalb der Versicherungsbranche zu schaffen, die es erlaubt, zukunftsfähige Produkte wie „Connected Insurance“ oder Telematik-Tarife zu entwickeln, von denen Versicherungen und Versicherungsnehmer gleichermaßen profitieren. Deutschland steckt noch in den Kinderschuhen Einer der wesentlichen Gründe für die vorangeschrittene Entwicklung in Italien liegt in den früher vergleichsweise teuren Kfz-Tarifen. Durch die hohen Beiträge waren die Versicherungsnehmer sehr viel schneller bereit, sich für die günstigeren Telematik-Tarife zu entscheiden und sich beispielsweise eine sogenannte „Black Box“ im Auto zu installieren. Diese liefert dem Versicherer Daten über das Fahrverhalten, und der Tarif kann entsprechend angepasst werden. Doch auch deutsche Versicherer erkennen mehr und mehr die Chancen hinsichtlich individualisierbarer Produkte und nehmen immer mehr Telematik-basierte Ange- Abbildung: Die Entwicklungszyklen der Telematik-Technik (Quelle: Bain & Company) bote in ihr Programm auf – bisher vor allem natürlich im Kfz-Bereich. So führte zum Beispiel erst kürzlich die Allianz einen solchen Tarif für junge Autofahrer ein. Auch hier macht die Möglichkeit eines günstigeren Beitrags das Angebot für das spezielle Kundensegment interessant, das auf noch keinen oder einen nur geringen Schadenfreiheitsrabatt zurückgreifen kann. Neben der Belohnung für umsichtiges und defensives Fahrverhalten versprechen sich die Versicherer auch einen erzieherischen Effekt und demzufolge sinkende Unfallzahlen. Trotz dieser ersten Schritte in Richtung Telematik-Tarife steht Deutschland im Vergleich zu Italien noch ganz am Anfang der Entwicklung. Der Trend führt jedoch beinahe zwangsläufig zu Telematik-Produkten. Auch die Verbreitung von „Connected Cars” wird die Entwicklung hin zu den datenbasierten Tarifen begünstigen. Spätestens ab 2018, wenn alle Neuwagen in der EU mit dem automatischen Notrufsystem eCall ausgestattet werden müssen, wird jedes neue Fahrzeug Daten übermitteln können. Die dann vorhandene technische Ausstattung der Fahrzeuge kann auch für eine leichtere Übermittlung von Daten genutzt werden, deren Auswertung im Rahmen eines Telematik-Tarifs benötigt werden. Es liegt nahe anzunehmen, dass sich im Zuge dieser technischen Entwicklung das Angebot entsprechender Telematik-Tarife ausweiten wird. Risikoselektion und Risiko-basierte Preisgestaltung Auch auf Underwriting-Ebene kann Telematik gewinnbringend eingesetzt werden und direkt oder indirekt zur verbesserten Selektion von Risiken beitragen. Zum Beispiel führt das konsequente Monitoring, das Telematik-Tarife mit sich bringen, zu defensiverem Fahrverhalten auch bei normalerweise risikofreudigen Fahrern. Es motiviert grundsätzlich zu einem vorsichtigeren René Schoenauer Product Marketing Manager EMEA, Guidewire. 84 Zeitschrift für Versicherungswesen 03 | 2017 TELEMATIK Fahrstil – und auch Betrugsversuche werden durch die objektiven, gesicherten Daten reduziert. Darüber hinaus kann das Sammeln von Daten bereits in der Vorbereitungsphase den Underwriting-Prozess deutlich verbessern. Es erlaubt in Verbindung mit einer Predictive-Analytics-Lösung zum Beispiel, die basierend auf historischen Daten durch intelligente Mustererkennung Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen erstellen kann, eine fundierte individuelle Preisgestaltung mit maßgeschneiderten Vertragsoptionen. Dadurch wird eine flexible Preisgestaltung möglich, die risikovermeidendes Verhalten in Form von günstigeren Tarifen belohnt. Gleichzeitig reduziert es die tatsächlichen Risiken, da defensives Fahrverhalten direkten, positiven Einfluss auf Anzahl und Höhe der Schäden hat. Neben den auch in Deutschland schon erhältlichen „Pay-how-you-drive“-Tarifen, die zum Beispiel Faktoren wie Bremsverhalten, Beschleunigung oder Geschwindigkeit bewerten, sind vor allem auch „Pay-as-youdrive“-Tarife für Versicherer und Versicherungsnehmer interessant, die die tatsächliche Nutzung des Fahrzeugs berücksichtigen. Das heißt Kunden, die weniger fahren, zahlen auch weniger Beiträge als diejenigen, die viel mit dem Auto unterwegs sind. Besonders in Kombination beider Varianten lassen sich höchst individuelle Tarife gestalten. Auch hier lohnt sich der Blick in andere Länder, die bereits Erfahrungen und Erfolge mit diesen Modellen gesammelt haben. So berechnet sich beispielsweise die KfzPrämie beim US-Versicherer Metromile nach den mit dem Auto zurückgelegten Meilen. Ein weiteres Beispiel ist der UK-basierte Versicherer Cuvva. Dieser bietet Versicherungen für kurze Zeitspannen an. Dadurch kann zum Beispiel die Fahrt mit einem geliehenen Auto rundum abgesichert werden. Um in den Genuss eines umfassenden Versicherungsschutzes zu kommen, genügt es, mit dem Telefon ein Foto des Nummernschilds zu machen, online ein kurzes Formular mit persönlichen Daten auszufüllen und die Dauer des gewünschten Versicherungsschutzes anzugeben. Bezahlt wird direkt über die zugehörige CuvvaApp. Letzteres Beispiel ist in Deutschland ist zwar nicht eins zu eins umsetzbar, da hierzulande der Versicherungsschutz an ein Zeitschrift für Versicherungswesen 03 | 2017 „In Zukunft wird es nicht mehr in erster Linie darum gehen, Risiken abzusichern. Vielmehr werden das Verhindern von Risiken und eine noch engere, individuelle Beziehung zum Kunden in den Vordergrund rücken“ spezifisches Fahrzeug gebunden ist. Jedoch zeigt es nicht nur die Möglichkeiten, die dank neuer Technologien bereits umgesetzt werden können, sondern auch das Entstehen neuer Geschäftsmodelle in der Versicherungsbranche. Den Anschluss nicht verlieren Die ersten Schritte in Sachen Telematik sind in Deutschland zwar getan, doch dürfen es die Versicherer nicht dabei bewenden lassen. Ständig entstehen neue Datenquellen und damit neue Möglichkeiten für kundenorientierte Versicherungsprodukte. Das wachsende „Internet of Things“ beispielsweise bietet die außergewöhnliche Gelegenheit für Versicherer, ihre Risikoselektion zu verbessern und neue Produkte und Services zu entwickeln. Außerdem kann die Preisgestaltung und der gesamte Schadenprozess neugestaltet werden: In Zukunft wird es nicht mehr in erster Linie darum gehen, Risiken abzusichern. Vielmehr werden das Verhindern von Risiken und eine noch engere, individuelle Beziehung zum Kunden in den Vordergrund rücken. In Zeiten, in denen Start-Ups und Fintechs massiv auf den Markt drängen und ge- nau diese Services versprechen, sollten sich Versicherer noch mehr bemühen, nicht den Anschluss an die neue Konkurrenz zu verlieren. Entsprechend ist es durchaus möglich, dass sich in den nächsten Jahren Versicherungsprodukte grundlegend verändern werden – und zwar in Richtung einer personalisierten und kundenorientierten Dienstleistung, die auf Telematik-Produkten basiert. Mehr Service, günstigere Tarife, mehr Vertrauen Als Argument gegen Telematik-Tarife wird häufig der Datenschutz ins Feld geführt. Auch deshalb verlieren viele die Vorteile einer vernetzten Welt aus den Augen: Zum Beispiel könnten Versicherer mit der „Black-Box“ ihren Kunden zusätzliche Services im Bereich Schaden oder Schadenservice bieten. Im Kfz-Bereich wären das Dienste wie ein eingebauter Diebstahlschutz oder Notfalldienste mit Schadenmeldung auf Knopfdruck – oder automatisiert, wie es eCall ab 2018 bei Neuwagen vorsieht. Der Versicherung wird dann automatisch mitgeteilt, was wann wo und wie geschehen ist, so dass Autofahrer sich im Fall eines Unfalls nicht auch noch Sorgen um die korrekte Übermittlung ihrer Daten machen müssen. Selbstverständlich profitieren davon auch die Versicherer. Sie erhalten auf diesem Weg unmittelbar objektive Daten für die Bearbeitung ihrer Schadenprozesse. Eine weitere denkbare Einsatzmöglichkeit ist die Abwicklung des Zahlungsverkehrs über das Telematik-Gerät. Beispielsweise beim Parken, beim Bezahlen von Maut oder beim Tanken. Trotz aller Möglichkeiten, die „Connected Insurances“ bieten: Der Datenschutz spielt gerade in Deutschland eine wichtige Rolle, die nicht unterschätzt werden darf. Dabei sind viele Ängste unbegründet, denn aus technischer Sicht sind umfassender Datenschutz und Telematik-Tarife heutzutage durchaus miteinander vereinbar. Und auch in der öffentlichen Meinung vollzieht sich ein Wandel in Bezug auf den Datenschutz: Besonders deutlich wird dies, seit das Smartphone seinen Siegeszug durch die Gesellschaft gehalten hat. Millionen Nutzer geben regelmäßig freiwillig Facebook, Google und Co. umfassenden Zugriff auf ihre persönlichen Daten. Es ist daher nicht undenkbar, dass die Bereitschaft, persönliche Daten auch mit Versicherungen zu teilen, 85 DIGITALISIERUNG größer ist als vermutet – zumal die Vorteile für den Kunden nicht nur durch die günstigeren Tarife, sondern auch durch den besseren Service und die allgemeine Kundenund Nutzererfahrung auf der Hand liegen. Die Versicherer sind dabei nun vor allem gefragt, Vertrauen auf- und auszubauen und ihre Kunden über den Mehrwert, der sich ihnen durch Telematik-Tarife eröffnet, zu informieren. Der Schlüssel zum Erfolg dürfte hier Transparenz sein. Der offene Umgang mit der Frage, welche Daten erhoben und wie sie verarbeitet werden, und vor allem wie sie zum Vorteil des Kunden genutzt werden, führt zu Vertrauen bei Kunden. Wichtig ist jedoch, dass es auch weiterhin „traditionelle“ Verträge angeboten werden, sodass Versicherungsnehmer die Wahl haben und die Preisgabe ihrer Daten stets auf Freiwilligkeit beruht. Mit gemeinsamer Anstrengung zu neuen Möglichkeiten Industrie beteiligen muss. Zusammenschlüsse wie das „Observatory on Telematics, Connected Insurance & Innovation“ in Italien könnten auch hierzulande die Basis für eine neue Innovationskultur im Versicherungswesen sein und die Diskussion über „Connected Insurance“ voranbringen. André Jung / Michael Hemm Die Last der Altsysteme Betrachtung und Implikationen der historisch gewachsenen IT-Infrastrukturhistorie in Versicherungsunternehmen im Kontext der digitalen Transformation 1. Historie der IT-Landschaft in Versicherungsunternehmen Telematik-Tarife kommen. Auch in Deutschland nimmt die Verbreitung zu – noch langsam, aber die Bewegung nimmt an Fahrt auf. Die Kfz-Sparte ist dabei der Anfang. Think Tanks wie das „Observatory on Telematics, Connected Insurance & Innovation” denken darüber nach, wie sie ihre Erfahrungen auf andere Sparten übertragen können. Ein Bereich, der sich hier anbietet, sind Versicherungen, die sich im Bereich Smart Homes beziehungsweise Connected Homes bewegen. Denkbar sind Sensoren, die den Schadenprozess automatisch anstoßen sobald ein Rohr undicht wird und Versicherungsnehmer sowie Versicherer informieren. Wasserrohrbrüche werden so beispielsweise entdeckt, bevor sie echten Schaden anrichten können. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sind Sensoren, die aufzeichnen, wie lange ein Haus oder eine Wohnung leer stehen. Ist jemand oft zuhause, profitiert er von niedrigeren Tarifen, während lange Leerzeiten die Beiträge steigen lassen. Die Wahrscheinlichkeit eines Einbruchs wird somit anhand realer Daten ermittelt. Der nachstehende Artikel zweier (jetzt ehemaliger) Studenten der Dualen Hochschule Mannheim beschäftigt sich mit dem aktuelle vieldiskutierten Problem der Altlasten der Versicherungsbranche aufgrund ihrer digitalen Historie. Bevor sich solche Anwendungen auch im deutschen Markt endgültig etablieren können, stehen die Versicherer jedoch vor der Aufgabe, ihren Kunden den Mehrwert, den Telematik-Versicherungen mit sich bringen, deutlich zu kommunizieren. Das ist jedoch keine Aufgabe, die ein Versicherer alleine lösen kann. Sie bedarf einer allgemeinen Anstrengung, an der sich die gesamte Was in der Tat stimmt: Die Versicherungsbranche leidet an ihren alten IT – Systemen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Branche einmal Vorreiter der Digitalisierung war. Es hat oftmals den Schein, dass das Wort Digitalisierung inflationär benutzt wird und viele nicht verstehen, was sich darunter alles verbirgt. Viele Versicherungsunternehmen haben sich schon in den 86 Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Telematik-Versicherungen durchsetzen. Dass sie kommen, steht außer Frage. Versicherer sollten sich daher möglichst frühzeitig entscheiden, die modernen Produkte in ihr Portfolio aufzunehmen, um auch weiterhin erfolgreich zu bleiben und Kunden den Service zu bieten, den sie sich wünschen. Die Liste der Vorwürfe an die Versicherungsbranche ist lang: Man habe die Entwicklung verschlafen, das Geschäftsmodell werde durch InsurTechs und Giganten der digitalen Welt bedroht, man habe den Kontakt zum Kunden verloren. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber, dass die meisten digitalen Maklerapplikationen, welche unter den Terminus InsurTechs fallen, mit mehr oder weniger simplen und nicht besonders originellen Personalverwaltungssystemen an den Markt gehen. Mit Slogans wie „Versicherungen neu erfinden“ versuchen sie, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Darüber hinaus ist es selbst den Giganten der digitalen Welt nicht möglich, eines der Fundamente des Versicherungsprinzips, nämlich den Ausgleich im möglichst großen Kollektiv, außer Kraft zu setzen. 50er, 60er und in den 80er Jahren digital (!) mit ihrem Außendienst vernetzt und es gab auch schon in einer gewissen Form „Big Data“, um diesen Anglizismus für Massendatenverarbeitung zu gebrauchen. Ohne Zweifel ist es eine große Herausforderung für die Branche, trotz der Altlasten, beweglich in einem sich schnell verändertem Umfeld zu bleiben, aber dennoch nicht die Prinzipien des Versicherungsprinzips über Bord zu werfen. Zum Beispiel durch extreme Individualisierung. Zum Schluss kann dies dazu führen, dass jeder seinen Schaden selbst bezahlen muss, weil die Kollektive immer mehr atomisiert werden. 2. Derzeitige Chancen und Herausforderungen der gewachsenen ITInfrastruktur Die Versicherungsbranche ist nahezu vollständig von der IT-Infrastruktur abhängig. Die IT erfüllt zahlreiche integrale Aufgaben innerhalb eines Versicherungsunternehmens. Hierzu zählen hauptsächlich finanzwirtschaftliche Geschäftsprozesse, welche auf die Unternehmensstrategie ausgerichtet werden. Als Kernproduktionsfaktor für die Erzeugung und Bereitstellung von Versicherungsleistungen ist die IT daAndré Jung Michael Hemm Duale Studenten der DHBW Mannheim. Sie haben sich in ihrer Bachelorarbeit mit dieser Thematik befasst. Der vorliegende Beitrag ist die komprimierte Fassung dieser Arbeit. Zeitschrift für Versicherungswesen 03 | 2017