bund deutscher architekten bda Point de vue Was wäre die Welt des Bauens ohne ihre lieb gewonnenen Klischees? In der einen Ecke der Projektentwickler, der mit spitzem Stift die renditeoptimierte Brutto-Geschossfläche gegen den ästhetischen Anspruch ausspielt. In der anderen Ecke der künstlerisch ambitionierte Architekt, der in seinem romantischen Streben nach einer gestalteten Lebenswelt für manche seltsam verklärt wirkt. Kosten- und Terminaspekte scheinen häufig die allein bestimmenden Kriterien für erfolgreiche Bauprojekte zu sein. Darüber wird mit juristischem Unterton in Protokollen kraftvoll kommuniziert. Dazwischen stehen Bauherren und Investoren, die zwischen wirtschaftlichen Argumenten und gestalterischen „Sehnsuchtsorten“ schwanken. Verlässt man für einen Moment das klischeehafte Bild, eröffnen sich eine Reihe von Zielen, die Projektentwickler wie Architekten gleichermaßen verfolgen. Längst hat sich in beiden Branchen ein Denken in Lebenszyklen von Immobilien etabliert, das die langfristige Wirkung von Investitionen in Gestalt, Funktionalität und Ökologie anerkennt. Niedrige Erstellungskosten dürfen nicht durch die Einschränkung der Ausführungs- und der Materialqualität erreicht werden. Der beispielhafte Blick auf den Schulbau zeigt darüber hinaus, dass sich die „Werthaltigkeit“ eines Bauwerks nicht allein aus optimierten Funktionsabläufen für minimale Baukosten berechnet. Schulen sind längst keine reinen Zweckgebäude mehr, sondern müssen mit einem differenzierten Raumangebot für moderne Lernkonzepte den gestiegenen Anforderungen und Erwartungen an die Ausbildung gerecht werden. Mittlerweile urteilen nicht nur Eltern, sondern auch Unternehmen anhand der Qualität des pädagogischen und architektonischen Schulkonzepts über die Attraktivität von Standorten und damit über die Zukunft ganzer Stadtviertel. Gleiches gilt für Wohn- und Bürogebäude. Schon lange wird die Standardimmobilie den gestiegenen Ansprüchen einer individualisierten Gesellschaft nicht mehr gerecht. der architekt 1/11 Foto: Daniel Hubert Gestalterische Qualität entscheidet ebenso wie Erstellungs- und Unterhaltungskosten darüber, ob ein Gebäude eine langfristige Nachfrage erfährt. Mit dem Anspruch auf Nachhaltigkeit löst sich der über Jahrzehnte kultivierte Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie in einer Architektur auf, die sich durch eine Gesamtkonzeption aus herausragender Gestalt und sensiblem Kostenbewusstsein für Bau- und Unterhaltungsphase auszeichnet. Darin liegt eine große Chance verbunden mit einer großen Verantwortung. Sind Gebäude denkbar, in denen Ökologie und Ästhetik eine Einheit bilden, die energetisch, formal und gestalterisch überzeugen? Kriterien dafür scheinen bekannt zu sein. Oft wird die rein technische, durch Kennziffern überprüfbare Lösung gewählt. So entstehen hoch gedämmte Häuser mit Photovoltaikzellen auf den Dächern und Attributen zur Energieeinsparung an den Fassaden, die zu Fremdkörpern in unseren historisch gewachsenen Stadtbildern werden. Die gut gemeinten und vielleicht auch kurzfristig gut vermarktbaren Maßnahmen führen auf einen falschen Weg. Vor diesem Hintergrund ist die Konfrontation von Architekten und Projektentwicklern mit ihren vermeintlichen Sachzwängen kontraproduktiv und somit schädlich. Die Ziele von beiden sollten in einer qualitätsorientierten Architektur liegen, die nachhaltige Gebäude und Orte in gestalterisch und wirtschaftlich überzeugender Form schafft. Dennoch ist das gezeichnete Bild noch nicht ideal und vollkommen. Die Entwicklung und der Bau von Wohn- und Büroquartieren prägen Stadtteile und ganze Städte. Hierbei wird gerne das Schlagwort „Renaissance der Stadt“ zitiert. Dies wirkt jedoch bisweilen wie Heuchelei, denn unsere Städte laden immer weniger mit vitalen Orten zum gesellschaftlichen Miteinander ein. Stattdessen entstehen innerstädtisch mehrheitlich privatrechtlich genutzte und halböffentliche Räume, die öffentliches Leben ausschließen. Die Stadt wird zur Eventkette, zur Aneinanderreihung von Projekten, pragmatisch und marktwirtschaftlich gesteuert, fallweise mit guter Architektur ansehnlich gewürzt. Es gibt zu viele Beispiele rein wirtschaftlich orientierter Projektentwicklungen in unseren Städten. Man muss an das Ganze denken, wenn man in Teilen etwas verändert. Unsere Glaubwürdigkeit als Bauschaffende wird sich künftig mehr denn je darüber definieren, wie es uns gelingt, Entwürfe für die langfristige Weiterentwicklung einer Stadt an den grundlegenden Erfordernissen unserer Gesellschaft zu orientieren. Die Herausforderung besteht darin, über das Bauen soziale Strukturen positiv zu beeinflussen und die Lebensqualität der Menschen zu steigern. Gefragt sind Lebens-, Wohn- und Arbeits- formen, die nicht nur den global-abstrakten Herausforderungen wie Demographie und Klimawandel gerecht werden, sondern die im Stadtquartier eine Mischung aus sozialer Vielfalt, privaten und öffentlichen Räumen, urbaner Atmosphäre und Authentizität erreichen. Dieses Verständnis erfordert einen erweiterten Blick, der bei der Planung eines einzelnen Gebäudes das gesamte städtische Gefüge einbezieht. Architekten, Projektentwicklern und Bauherren muss hierbei ein Zusammenwirken gelingen. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfordernisse und der Anspruch auf eine hohe gestalterische Qualität müssen die Architektur bestimmen. An der Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgabe wird sich entscheiden, ob wir uns endgültig von den gegenseitig aufrechterhaltenen Klischees verabschieden können. Michael Frielinghaus Erstabdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, 19.12.2010 73