Religion in bioethischen Diskursen: Internationale und interreligiöse

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Religion in bioethischen Diskursen: Internationale und
interreligiöse Perspektiven
Rückblick auf ein Symposium vom 18. bis 19. Februar 2009 in München
Von Stephan Schleissing und Michael Zichy
Die Bedeutung von Religion in bioethischen Diskursen
hat in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erfahren. In Deutschland ist die Wahrnehmung dieses Themas
vor allem durch das Auftreten von Kirchenvertretern
geprägt worden, die für die komplexen bioethischen
Fragen eine religiöse Deutungshoheit aus Sicht des
Christentums beanspruchen. Blickt man genauer hin,
dann relativiert sich freilich die Einheitlichkeit einer
»christlichen« Sicht auf die Bioethik zugunsten einer
innerchristlichen Pluralität ganz unterschiedlicher
Argumentationen und Bewertungen, die zwar konfessionsspezifischen Differenzierungen folgen, sich aber
längst nicht mehr darauf reduzieren lassen. Nimmt man
zusätzlich die Debatten außerhalb Deutschlands in den
Blick und kontrastiert man diese darüber hinaus mit
Positionen anderer Religionen, dann drängt sich eine
Thematisierung aus der Perspektive von »Religionskulturen« auf. Erste Vermessungen auf der weitläufigen
Landkarte einer solchen religionskulturellen Hermeneutik bioethischer Diskurse standen auf einem internationalen Symposium an der Ludwig-Maximilians-Universität
zur Diskussion, zu dem der Leiter der BMBFNachwuchsgruppe Friedemann Voigt nach München
eingeladen hatte. Sein Forschungsprojekt »Religion in
bioethischen Diskursen« wird gegenwärtig im Namen
des EU-Programms ELSA (Ethical, Legal and Social
Ascpects of Modern Life Sciences and Biotechnology)
gefördert und ist am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik von Friedrich Wilhelm Graf angesiedelt.
Um der inneruniversitären Vernetzung willen fand die
Tagung in Kooperation mit dem Institut TechnikTheologie-Naturwissenschaften (TTN) sowie dem
Münchner Kompetenzzentrum Ethik (MKE) in dessen
Räumen statt.
Das Ziel der Tagung bestimmte Voigt in seinen einleitenden Thesen nach zwei Seiten: Zum einen geht es um
den Einfluss, den die Religion über Personen, Institutionen, aber auch Ideen, Vorstellungen und Symbolen auf
die Bioethik nimmt. Über diese analytisch-deskriptive
Aufgabe hinaus sollte aber auch diskutiert werden,
inwiefern die Religion in bioethischen Diskursen Werte,
Normen und Maßstäbe an die Hand gibt bzw. geben
kann. Damit war auch die Frage nach den Konsequenzen
einer religionskulturellen Perspektivik bioethischer
Debatten im Hinblick auf das Selbstverständnis von
Religionen bzw. Kirchen berührt. Dieser doppelten
Leitperspektivik korrespondierten auch die Beiträge der
Tagung: Auf der einen Seite eher systematisch orientierte Vorträge, die sich an der normativen Rolle der Religion in bioethischen Diskursen abarbeiteten, und zwar aus
medizinischem (Christian Kupatt, München), juristischem (Bijan Fateh-Moghadam, Münster), theologischem (Reiner Anselm, Göttingen) und christlichethischem (Svend Andersen, Aarhus) Blickwinkel. Auf
der anderen Seite Beiträge, die die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Religion und Bioethik
in einzelnen Ländern (Shai Laiv – Israel, Teodora
Karamelska – Bulgarien, Michael Zichy – Österreich,
Ulla Schmidt – Norwegen, Stefanie Schardien –
Deutschland) zum Thema hatten. Durch alle Vorträge
und anschließenden Diskussionen zogen sich dabei drei
wesentliche, miteinander zusammenhängende Problematiken: Das notorische Problem der Definition von Religion, das Problem der Sichtbarkeit und Fassbarkeit von
Religion, und das Problem der religionsinternen Pluralität. An diesen Problematiken wurde zugleich deutlich,
dass es wenig Sinn macht, den ethischen Status von
Religion ohne seine kulturelle Verortung vorzunehmen.
Insofern dient die Klärung des Verhältnisses zwischen
Religion und Bioethik nicht nur der Selbstaufklärung der
Bioethik, sondern zentral auch der Selbstverständigung
der Religion in ihrem Verhältnis zu denjenigen kulturellen Deutungen, in denen sie praktisch wirksam ist.
1. Medizin, Recht und Religion in bioethischen Diskursen
Den ersten Anlass zur Reflexion des religiösen Selbstverständnisses gab der Münchner Mediziner und Theo-
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loge Christian Kupatt, der die Tagung mit einem Vortrag
über die Rolle von Religion in bioethischen Diskursen
aus der Sicht der Medizin und der medizinischen Ethik
eröffnete. Er verortete die Thematisierung von Religion
vor allem im Hinblick auf die Integration von Krankheit
bzw. Heilung in das bestehende Sinnsystem einer
Gesellschaft. Die auch heute noch enge Beziehung
zwischen Religion und Medizin manifestiert sich dort,
wo durch medizinische Innovation herkömmliche
religiöse Sinnsysteme in Frage gestellt und neu geordnet
werden (müssen), und dort, wo aus religiösen Sinnsystemen öffentlichkeitswirksame Forderungen an die
Medizin abgeleitet werden. Bei den Kirchen konstatierte
Kupatt allerdings eine partielle Blindheit für diejenigen
Folgen des medizinischen Fortschritts, die nur als
»diskrete Veränderungen« wahrgenommen werden,
obwohl sie zahlreiche und zum Teil weitreichende
Folgen für die Lebensführung des Einzelnen mit sich
bringen. Exemplarisch hierfür stehen neuartige Behandlungen von Herzproblemen bei Kindern, die eine enorme
Lebenszeitverlängerung mit sich bringen sowie die
Fortschritte in der Kinderonkologie, die innerhalb der
kirchlichen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Weil diese medizinischen Innovationen auf eine
Normalisierung des Patienten zielen, und dies mit den
kirchlich normativen Vorgaben, wie etwa Gerechtigkeitsvorstellungen (ausgleichende Gerechtigkeit) kompatibel ist, erscheinen sie nicht als eigenes Thema kirchlicher Medizinethik. Dort hingegen, wo die Kongruenz
zwischen medizinischem Fortschritt und religiösen
Normen nicht zustande kommt, wie dies z.B. bei der
PID, bei humanen embryonalen Stammzellen oder am
Lebensende der Fall ist, kommt es zum Konflikt. Hier
prallen, so Kupatt, unterschiedliche Formen der Kontingenzbewältigung aufeinander: die medizinische, die auf
Kontrolle und Überwindung, d.h. Veränderung der
Kontingenz-Konstellation durch menschliche Kulturtätigkeit abzielt, und die religiöse, die auf Akzeptanz und
Annahme der Kontingenz im Lichte eines höheren,
guten Sinnzusammenhangs zustrebt. Religion bzw.
Kirche tritt in diesen Fällen als Agentur der – aus der
medizinischen Perspektive inakzeptablen – »Bestandswahrung« auf, und kann – wie im Fall von Aids – selbst
zum Teil des Problems werden. In der sich anschließenden Diskussion stand vor allem Kupatts Verwendung des
Kontingenzbegriffs anstelle von »Krankheit« im Mittelpunkt, die ihm eine funktionale Vergleichbarkeit von
Religion und Medizin ermöglichte. Dabei blieb kontrovers, inwieweit Medizin und Religion auf unterschiedliche Quellen der Normativität rekurrieren, oder aber die
in der Moderne zu beobachtende Konkurrenz zwischen
medizinischem und religiösem Heilsversprechen als
Folge einer im Christentum immer schon vorhandenen
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Spannung zwischen Liebesideal und religiös gebotener
Kontingenzhinnahme – Stichwort: Unverfügbarkeit des
Lebens – zu verstehen ist. In dieser Perspektive müssten
dann die auf Differenz fokussierten kirchlichen Wahrnehmungen des medizinischen Fortschritts als Folge
einer institutionellen Ausdifferenzierung und Professionalisierung von Medizinbetrieb und »Heilsanstalt«
interpretiert werden, deren Wurzeln gleichwohl nur auf
dem Boden einer vom Christentum geprägten Welt
verstanden werden können.
Beanspruchen Kirchen und Religionen für sich allerdings einen exklusiven Normativitätsanspruch, dann
stellt sich sofort die Frage, ob und wie diese Ansprüche
in ein primär nicht religiös bzw. säkular verfasstes Feld
eingebracht werden können. Diese Frage der Übersetzbarkeit religiöser Einsichten, wie sie in der Auseinandersetzung zwischen Jürgen Habermas und John Rawls
exemplarisch geführt wird, war eine der dominanten
Fragestellungen in den Diskussionen des Symposiums.
Sie beschäftigte auch den Münsteraner Juristen Bijan
Fateh-Moghadam, der in seinem Vortrag »Bioethische
Diskurse zwischen Recht, Ethik und Religion. Juristische
Perspektiven« die Rolle und den Einfluss von Religion
in staatlichen Bioethikgremien thematisierte. Er konstatierte das Scheitern der Säkularisierungsthese, was sich
nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass Religion gerade
auch in der Biopolitik eben nicht auf die Privatsphäre
eingegrenzt ist, sondern im Gegenteil öffentlich auftritt.
Aus der Sicht der weltanschaulichen Neutralität des
Staates sei der Rekurs auf religiöse Normen allerdings in
den Fällen problematisch, wo es um Aspekte der Rechtsanwendung sowie der politischen Willensbildung und
institutionellen Politikberatung geht. Lediglich auf der
Ebene der zivilgesellschaftlichen Selbstkontrolle z.B. in
Klinischen Ethikkomitees, wo die Neutralitätspflicht des
Staates per definitionem nicht mehr gelte, habe Religion
nach Fateh-Moghadam ihre normative Berechtigung,
wobei er ihre Übersetzbarkeit in einen öffentlichen
Vernunftgebrauch lediglich als moralische Pflicht
verstanden wissen wollte. Damit argumentierte er
zugleich kritisch gegen die Besetzung z.B. der Zentralen
Ethik-Kommission für Stammzellforschung oder des
Deutschen Ethikrates mit Theologen, weil er hier das
weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates nicht
mehr gewährleistet sieht. Gleichwohl räumte FatehMoghadam für den ethischen Diskurs die Notwendigkeit
ein, dass an diesem nicht nur Juristen, sondern auch
»Laien« beteiligt sind. Doch was qualifiziert einen
Bürger zum Laien? Kann von ihm mehr als eine bloß
individuelle Betroffenheit erwartet werden? In der
Diskussion wurde deutlich, dass die Ausbildung eines
angestrebten common sense in normativen Fragen der
Bioethik einen anspruchsvollen und reflektierten Begriff
von »Laienkompetenz« voraussetzt. Aufgabe der Theologie und der Theologen könnte es dann gerade sein,
mithilfe der christlich angeleiteten Unterscheidung von
Religion und Recht die Geltung von common senseArgumenten in Bioethikdebatten zu unterstützen.
Aus theologischer Sicht kritisch gegenüber der von
den Kirchen betriebenen Ethisierung des biopolitischen
Diskurses argumentierte der evangelische Theologe
Reiner Anselm aus Göttingen, wenn er forderte, dass die
Theologie verstärkt daran arbeiten müsse, ihre Anthropologie wieder aus einer dezidiert theologischsystematischen Perspektive zu entfalten. Auf dem Felde
der Bioethik identifizierte er auch im protestantischen
Raum die Anfälligkeit für eine Reduktion des Verständnisses von Menschsein auf die biologischen und körperlichen Aspekte, wie dies für die Naturwissenschaften per
definitionem konstitutiv sei. Zwar kann damit dem
Interesse an möglichst »klaren Grenzziehungen« in
bioethischen Debatten Genüge getan werden, ohne dass
man auf diesem Wege jedoch schon die Frage geklärt
hat, ob der naturwissenschaftlichen Sicht des Menschen
überhaupt die normative Beweislast aufgebürdet werden
könne, die ihr in ethischen Konfliktlagen zugebilligt
wird. Anselm votierte demgegenüber für eine Neubesinnung auf das Sinnerschließungspotenzial des christlichen
Menschenbildes, wie es in der theologischen Formel von
der leib-seelischen Einheit des Menschen vorgestellt ist.
Er wies nach, dass dieser dezidiert christliche Topos
nicht nur für die theologische Tradition, sondern zumindest ebenso für die Rechtskultur der Bundesrepublik als
zentraler Bezugspunkt fungiert, in den letzten Jahren
aber ausgerechnet in den Stellungnahmen der Kirchen
zunehmend der Fixierung auf biologischen Kriterien von
Anfang und Ende des Lebens gewichen ist. Demgegenüber plädierte Anselm für die Wiedereinführung des LeibSeele-Duals am Ort der individuellen Selbstauslegung
des menschlichen Individuums. In dieser Perspektive
kann aber weder in einem normativen noch in einem
biologischen Sinne von einer ungebrochenen Ganzheit
und Unverfügbarkeit des Menschen gesprochen werden.
Vielmehr erlebe der Einzelne sein eigenes Leben als
spannungsvolles und entwicklungsfähiges AufeinanderBezogensein sowohl von Seele und Bewusstsein auf der
einen als auch von Körperlichkeit und Leib auf der
anderen Seite: »Etwas pointiert gesagt: Wir kommen als
Körper zur Welt, bilden im Prozess des Heranwachsens
unser Bewusstsein, unsere Identität und unsere Personalität aus, die schließlich auch unsere physische Existenz
überdauert.« Nach Anselm besteht der genuin theologische Beitrag in der Bioethik darin, deutlich zu machen,
dass und wie diese zu Grunde liegenden Unterscheidungen für eine genaue Beschreibung menschlicher Lebenswirklichkeit – und auch menschlicher Selbsterfah-
rung – mit Hilfe des christlichen Topos von der leiblichseelischen Einheit des Menschen dienlich gemacht
werden können.
2. Internationale und interreligiöse Perspektiven in der Bioethik
Argumentierten die bisher vorgestellten systematisch
ausgerichteten Vorträge vor allem auf dem Hintergrund
des deutschen Bioethikdiskurses, so machten die folgenden fünf Länderberichte deutlich, wie sehr das Verhältnis von Religion und Biopolitik in internationaler und
interreligiöser Perspektive variiert.
Geradezu ein Labor für die Untersuchung der Beziehung zwischen Religion und Bioethik sei Israel, so der in
Tel Aviv lehrende Jurist Shai Lavi. Das Engagement von
Personen, die sich im jüdischen Sinne als religiös bezeichnen, sei zwar vergleichsweise hoch, jedoch finde
die Bioethikdebatte in der israelischen Gesellschaft
selten in konflikthafter Zuspitzung statt. Der Grund für
die gänzlich andere Debattenkultur liegt nach Lavi darin,
dass die ethische Rolle des Judentums vom Primat des
Verständnisses des jüdischen Gesetzes her ausgeht,
dessen Eigenart Lavi in dreifacher Hinsicht als normatives System, als Funktion des Zusammenhalts des Volkes
und als Kosmologie vorstellte. Da im jüdischen Verständnis jedoch ein vormodernes Menschenbild zum
Tragen kommt, das im Unterschied zum christlichen
keine Vermittlung am naturwissenschaftlichen state of
the art intendiert, kann man zwar von einem dezidiert
religiösen Technikverständnis in Israel sprechen, dessen
methodisch-historische Reflexion innerhalb des jüdischen Gesetzesverständnisses aber kein Thema ist. So
erklärt es sich, dass in Israel zwar eine ausgesprochen
permissive Auffassung bei der Stammzellforschung
herrscht, in der Frage der Todesdefinition allerdings
nach wie vor das Herztodkriterium – und nicht der
Hirntod – als vom jüdischen Gesetz her geboten angesehen wird.
Die Rolle von Religion in der Bioethik stellt sich aber
nicht nur zwischen den monotheistischen Weltreligionen
gänzlich verschieden dar. Auch innerhalb des europäischen Christentums finden sich große Unterschiede in
der Art und Weise, wie von kirchlicher Seite zum Thema
Biopolitik Stellung genommen wird. Die Religionswissenschaftlerin Teodora Karamelska aus Sofia machte
deutlich, dass man in Bulgarien zumindest öffentlich
keinen Einfluss der orthodoxen Kirche in Fragen der
Regulierung der Biomedizin erkennen könne. Dies hängt
zum einen mit der traditionell staatstragenden, national
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orientierten Rolle der Kirche zusammen; zum anderen
hob sie als politisch entscheidende Ebene religiöser
Einflussnahme das politisch relevante Engagement der
Mönche hervor, deren weltabgewandte Askese allerdings jeden öffentlichen Diskurs verbietet. »Religion«,
so Karamelskas Fazit, ist aufgrund der primär rituellen,
staatsstabilisierenden Funktion der Kirche in ethischen
Debatten kein öffentliches Streitthema, gleichwohl aber
auf den Kanälen informeller politischer Kommunikation
des Klerus Gegenstand zumeist pauschaler Ablehnung,
die sich in der Öffentlichkeit aber weniger ethisch denn
mithilfe religiöser Symbolik vernehmen lässt.
Auf wenig öffentliche Resonanz stößt das Thema
Bioethik auch in Österreich. Der im Münchner Institut
TTN forschende Philosoph Michael Zichy erklärte dies
vor allem mit den schlechten Erfahrungen, die man in
Österreich mit der weltanschaulichen Aufladung öffentlicher Debatten zur Abtreibung und zur grünen Gentechnik gemacht habe. Zwar könne man grundsätzlich von
einer ausgesprochen wissenschafts- und technologieskeptischen Grundhaltung der Bevölkerung sprechen,
doch verunmögliche sowohl das Fehlen geeigneter
publizistischer Medien als auch eine konservative
Mentalität in Bezug auf rechtliche Veränderungen eine
Debattenkultur, die mit Deutschland oder der Schweiz
vergleichbar wäre. Der Einfluss der Religion auf den
rudimentären bioethischen Diskurs sei gleichwohl
erheblich, wenn auch nicht immer effektiv: Auf kultureller Ebene existiere er in einem tief verankerten Katholizismus, auf institutioneller (kirchliche Ethikeinrichtungen) wie auf personeller (etwa durch Religionsvertreter
in der Bioethikkommission beim Bundeskanzler) Ebene
zeichne er sich durch kirchliche Dominanz aus und auf
der schwer fassbaren Ebene des politischen Lobbyismus
funktioniere er durch gute Beziehungen zur Österreichischen Volkspartei.
Auf den ersten Blick der deutschen Situation durchaus
ähnlich ist die Situation in Norwegen, dessen lange
staatskirchliche Tradition freilich dafür gesorgt hat, dass
nach wie vor vier Fünftel der als religiös gemeldeten
Bevölkerung sich zum lutherischen Protestantismus
bekennen. Die in Oslo lehrende Theologin Ulla Schmidt
machte zwar deutlich, dass in der norwegischen Öffentlichkeit – ähnlich wie in Deutschland – eine lebhafte und
kontroverse Debatte über bioethische Themen wie
Embryonenforschung, IVF, PID und Sterbehilfe im
Gange ist, dabei aber »Religion« nicht als die unterscheidende Größe wahrnehmbar sei. Schmidt konstatierte ein hohes Maß an Übereinstimmung von kirchlichen
und politischen Positionen, deren religiöse Artikulation
aber weniger von Kirchenvertretern, sondern vor allem
von den Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteuren
vorgetragen werden. Zugleich hob sie hervor, dass
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christliche Positionen nur teilweise als ausdrücklich
religiös inspirierte Positionen artikuliert werden; zumeist
werden sie als den common sense bestimmende Werte –
auch ohne explizites religiöses Bekenntnis – geteilt, was
zur Folge hat, dass ihre Inanspruchnahme nur selten den
Charakter einer weltanschaulichen Auseinandersetzung
annimmt.
Auch wenn man in der hierzulande geführten Debatte
zum Verhältnis von Bioethik und Religion bisweilen den
Eindruck erhält, dass die Fronten zwischen religiösen
und säkularen Positionen in Deutschland relativ klar
verlaufen, machte die in Hildesheim lehrende evangelische Theologin Stefanie Schardien in ihrem Vortrag
doch zugleich deutlich, dass die jeweiligen Positionen in
Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen
Subsystemen, in denen sie zum Thema werden, bisweilen deutlich variieren. Schardien intendierte eine systemtheoretisch angeleitete Analyse der medizin- und bioethischen Debatten in Deutschland, wobei sie den
starken Einfluss der Kirchen im politischen System
hervorhob.
3. Europäische Religionskultur und Bioethik
– ein Fazit
Angesichts der Heterogenität der bioethischen Debattenlage in internationaler und interreligiöser Perspektive
drängte sich als Ertrag des Symposiums die These
geradezu auf, dass die Rolle von Religion in bioethischen Diskursen weniger über die Selbstpositionierung
religiöser Akteure, als vielmehr über die kulturell bedingte Eigenart politischer Öffentlichkeit zu beschreiben
ist. In dieser Perspektive erscheinen vor allem längerfristige historische Konfigurationsprozesse und kulturell
gewachsene Institutionenarrangements als maßgeblich
für die Frage, wie sich das religiöse Agenda-Setting in
biopolitischen Fragen öffentlich vollzieht. Prozesse der
Konfessionalisierung in Europa, aber auch die mentalitätsgeschichtlich differierenden Erfahrungen mit der
Geschichte der jeweils eigenen Nation – in Deutschland
z.B. die Erfahrungen mit Euthanasie und Judenvernichtung – erscheinen als prägender als die aktuellen Handlungsintentionen religiöser Akteure und ihr Anspruch auf
Gesellschaftsgestaltung. Inwieweit man gleichwohl von
einer typisch »christlichen« Bioethik in Europa sprechen
kann, war Thema des abschließenden Vortrags von
Svend Andersen, der in Aarhus systematische Theologie
lehrt. Gegenüber der Rhetorik eines gemeinsamen
europäischen Erbes insistierte er darauf, dass das Gemeinsame in Europa keine Voraussetzung, sondern
allererst Auftrag sei. Andersen entwickelte das Bild einer
europäischen Kultur, die ihre Identität aufgrund charakteristischer »Spaltungen« erfährt. Neben die ältere
Spaltung des Christentums in die römisch-katholische
Kirche, die protestantischen und die orthodoxen Kirchen
trat nachaufklärerisch der weltanschauliche Gegensatz
zwischen einem sich zunehmend naturwissenschaftlich
entwerfenden Humanismus und einem solchen, der – bei
aller Kirchenkritik – an der bleibenden Verortung im
Christentum festhielt. Für diese zwei typischen Stränge
verwendete Andersen die Opposition von »Kantischer
Synthese« und »atheistischem Utilitarismus«. Letzterer
ist heute die eigentliche Herausforderung der Wiedergewinnung einer ökumenischen Position in Fragen der
Biopolitik. In dieser Situation plädierte Andersen dafür,
dass die Kirchen das säkulare Verständnis von Menschenwürde nicht zugunsten einer religiösen Letztfun-
dierung relativieren, sondern gerade wegen seiner
Säkularität anerkennen. Weil religiöse Positionen in der
Bioethik nie mehr sein können als subjektiv bedingte
Interpretationen von Konfliktbeschreibungen, die wissenschaftlich immer umstritten bleiben, benötige eine
europäische Rechtskultur ein von allen Europäern
gemeinsam geteiltes Verständnis von Menschenwürde,
dass sich weltanschaulichen Instrumentalisierungsversuchen jeglicher Couleur enthält.
Korrespondierender Autor:
Dr. Stephan Schleissing
Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN)
Marsstr. 19/V
D-80335 München
[email protected]
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