Populäre Musik in Russland - kultura

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POPULÄRE MUSIK
IN
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RUSSLAND
Gastredakteur: Mischa Gabowitsch (Berlin)
e d it or ial
Russländische Musikkulturen im Wandel
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Rock in Leningrad/St. Petersburg: vom Leben vor und nach dem Tod
Anna Zaytseva (Paris)
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p or t r ait
Zurück in die Zukunft: Die Renaissance der russischen Gaunerlieder
Uli Hufen (Köln)
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a n alyse
Russische Pop-Musik heute: Kampf um Unabhängigkeit
David MacFadyen (Los Angeles)
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p or t r ait
Melodien für Millionen
Uli Hufen (Köln)
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kultura. Russland-Kulturanalysen
Herausgeber: Prof. Wolfgang Eichwede, Direktor der Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen.
Redaktion: Dr. Isabelle de Keghel, Hartmute Trepper M.A.
Technische Redaktion: Matthias Neumann
Die Meinungen, die in den Russland-Kulturanalysen geäußert werden, geben ausschließlich
die Auffassung der AutorInnen wieder.
Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet.
© 2006 by Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
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R U S S L Ä N D I S C H E M U S I K K U LT U R E N
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WA N D E L
Wie alle anderen Bereiche der Kultur war das
Richtungen der populären Musik differenzier-
musikalische Leben in der Sowjetunion strengen
ten sich, und es entstanden neue Formen, vom
Regeln unterworfen. Die klassische Unterschei-
russischen Blues über Ethno-Rock bis hin zu
dung zwischen ernster und Unterhaltungsmusik
weitverzweigten Punk-, Rap- und Hip-Hop-Kul-
war offiziell aufgehoben, denn alle musikalischen
turen. Jede von ihnen verfügt inzwischen über
Formen, von der Oper bis hin zur Filmmusik, soll-
eine eigene „Szene“ mit einschlägigen Klubs und
ten den Patriotismus und die staatliche verordnete
Festivals, darunter zum Beispiel die alljährliche
Lebensfreude fördern. Dieser Anspruch machte
KaZantip-Technoparty auf der Krim, das Ethno-
den Umgang mit der Musik zu einer verantwor-
life-Festival für Weltmusik, das jeden Sommer
tungsvollen Aufgabe. Nicht nur um Symphonien
jeweils bei Moskau und Sankt-Petersburg statt-
und Oratorien zu komponieren, sondern auch um
findet, und für LiebhaberInnen der Autorenmu-
Lieder für ein Massenpublikum zu schreiben oder
sik das traditionsreiche Gruschin-Festival an der
vorzutragen, musste man eine musikalische Aus-
Wolga.
bildung nachweisen können und Mitglied in den
Gleichzeitig bringt die neue Freiheit jedoch er-
entsprechenden Verbänden sein. Die nach diesem
hebliche Probleme mit sich: Der chronische Geld-
Muster funktionierende sowjetische Pop-Musik
mangel wird durch die weitverbreitete Missach-
– nach dem russischen Wort für „Konzertbüh-
tung von AutorInnenenrechten noch verschärft;
ne“ Estrada genannt – brachte neben kurzlebigen
der Wegfall des Sowjetregimes stürzt vor allem
Schlagern viele erstklassige Lieder hervor, die
den oppositionellen Rock in eine Sinnkrise;
bis heute nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt
gleichzeitig bleibt der Geschmack der meisten
haben.
MusikliebhaberInnen konservativ-sowjetisch ge-
Daneben entstanden jedoch außerhalb des offizi-
prägt, so dass neue Talente und Richtungen es
ellen Musikbetriebs, aus russischen Traditionen
schwer haben, sich bei einem größeren Publikum
heraus oder unter westlichem Einfluss, auch im-
durchzusetzen, zumal sie sich auch gegen die jetzt
mer wieder neue populäre Musikrichtungen, die
frei zugängliche westliche Pop-Musik behaupten
nicht in diesen engen Rahmen passten: das Lager-
müssen. Schließlich bremsen auch die begrenzten
oder Gaunerlied, das Autorenlied der russischen
Vertriebsmöglichkeiten und die Schwierigkeiten
LiedermacherInnen sowie sowjetische Ableger
der Konzertorganisation die Entfaltung der popu-
von Swing, Jazz und Rock. Da alle diese Stile vor
lären Musik.
allem bei Teilen der jeweils jüngeren Generation
All dies verschärft die für Musikkulturen weltweit
beliebt waren, wurden sie teilweise in das System
relevanten Spannungen zwischen künstlerischer
integriert, um eine bessere Kontrolle zu ermög-
Kreativität und kommerziellem Erfolg. Davon,
lichen, die jedoch auch immer wieder umgangen
wie die Pop- und Rock-Musik mit diesen Proble-
wurde.
men umgeht, beschreiben in dieser Ausgabe von
Durch die Aufhebung der Zensur und die Öff-
kultura David MacFadyen und Anna Zaytseva.
nung zum Ausland seit der Perestroika haben
Uli Hufen vervollständigt das Bild mit einem Be-
sich für russländische MusikerInnen ungeahnte
richt über den ehemaligen staatlichen Schallplat-
Möglichkeiten ergeben. Sie fanden Anschluss
tenmonopolisten Melodija und einem Einblick in
an internationale Musikkulturen, konnten frei
das vielseitige und schwer definierbare Genre des
Platten aufnehmen und verlegen, konzertieren
russischen Blatnjak oder Gaunerlieds. An dieser
und neue Stile entwickeln. Die bereits bekannten
Stelle sei auch auf die Ausgabe 2/2005 von kultu-
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ra zurückverwiesen, in der genauer auf jugendli-
gilt in erster Linie gesellschaftlichen Reaktionen
che Musik-Szenen und vor allem auf die russlän-
auf den extremen russischen Nationalismus seit
dische DIY-Punk-Kultur eingegangen wird.
der Perestroika. Von Januar 2003 bis März 2006
war er Chefredakteur der Moskauer interdiszip-
ÜBER DEN GASTREDAKTEUR
DIESER
AUSGABE:
linären Zeitschrift Neprikosnowenny sapas (Die
Mischa Gabowitsch ist Soziologe, Übersetzer
Eiserne Ration).
und Redakteur. Sein wissenschaftliches Interesse
ROCK
IN
L E N I N G R A D /S A N K T -P E T E R S B U R G :
VO R U N D N AC H D E M TO D
VO M
LEBEN
Anna Zaytseva
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Die sowjetische Rockmusik zeichnete sich durch das Primat des Wortes aus. Leningrader Bands wie
wurden vor allem für die dichterischen Qualitäten ihrer Texte geschätzt, ihre Frontmänner wurden für
die Fans oft zu Propheten. Die Perestroika bescherte der Rockmusik landesweiten Ruhm, der jedoch
bald verblasste. Heute ist die Rock-Szene in Russland gespalten. Der sogenannte „russische Rock“ betont weiterhin die Bedeutung der Texte, wird aber von KritikerInnen der Kommerzialisierung beschuldigt. Dagegen bemüht sich die St. Petersburger Klubszene um eine Förderung alternativer Stilrichtungen, bei denen die instrumentale Musik im Vordergrund steht. Diese zieht allerdings nur ein kleines
Publikum an. Um ihr Überleben zu sichern, folgen die Klubs ebenfalls zunehmend einer kommerziellen
Logik. So haben es weniger gewinnbringende Bands auch hier schwer, sich durchzusetzen.
KritikerInnen und WissenschaftlerInnen haben
MusikerInnengenerationen, die in Klubs auftre-
es sich zur Gewohnheit gemacht, als Haupt-
ten und eine Rückkehr zur Musik predigen. Von
merkmal der russischen Rockmusik das Primat
der Vorgeschichte und den Wurzeln dieses kultu-
des Wortes und die im Vergleich zum westlichen
rellen Bruchs im Rahmen der Leningrader/Sankt-
Rock größere Bedeutung der Texte hervorzuhe-
Petersburger Rock-Szene handelt dieser Artikel.
ben. Seit den 1990er Jahren werden literaturwissenschaftliche Studien zur „Poesie des russischen
DIE 1980 ER: EIN K ANON
Rock im Kontext der russischen Literatur“ ver-
Sieht man von dem Vorurteil ab, die Russlände-
öffentlicht; 2004 erschien ein Geschenkband mit
rInnen seien die „literarischste“ aller Nationen,
dem Titel „Russische Rockpoeten“. Tatsächlich
liegt es nahe, das Primat des Wortes in der sow-
vollzog sich die Legitimierung des Rock in der
jetischen Rockmusik mit dem erschwerten Zu-
Sowjetunion und sein Einzug in die Annalen der
gang zu hochwertigen Tonanlagen in Verbindung
russischen Kultur bereits seit Anfang der 1980er
zu bringen: Importierte Anlagen waren nur für
Jahre, indem die dichterischen Qualitäten von
viel Geld auf dem Schwarzmarkt zu haben, da-
Bands wie Maschina wremeni („Zeitmaschine”),
her behalf man sich mit improvisiertem, selbst-
Aquarium, Zoopark („Zoo“), Alisa oder DDT
gebasteltem Zubehör. Ein anderer Grund war der
betont wurden. Von eben dieser Eigenschaft dis-
Platzmangel: Besonders unter Andropow und
tanzieren sich aber seit den 1990er Jahren neue
Tschernenko, als Rockmusiker verstärkt verfolgt
BILDET SICH HERAUS
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wurden, fanden Konzerte vielfach in Privatwoh-
Poesie“ spielte die Leningrader Richtung, die sich
nungen statt; gespielt wurde auf akustischen In-
ab 1981 um den Leningrader Rock-Klub (LRK)
strumenten. Die Russifizierung des Rock ging
kristallisierte. Die Initiative zu seiner Gründung
Hand in Hand mit einer Vereinfachung der mu-
ging von den Musikern aus, und irgendwann gab
sikalischen Form: Ab Ende der 1970er Jahre kam
der KGB grünes Licht, da er darin eine Kontroll-
es aus der Mode, die Lieder der Beatles nachzu-
möglichkeit sah. Die Texte der Gruppen aus dem
singen und die „coolen Solos“ von Led Zeppelin
Rock-Klub mussten eine „Lit(eratur)-Kontrolle“
haargenau nachzuspielen („mit unseren Anlagen
passieren, also vom Künstlerischen Rat des Klubs
kriegen wir den Ton der Zeps ohnehin nicht hin“).
abgesegnet werden. Fiel ein Text bei der Kontrol-
Auch der Generationenbruch spielte eine Rolle:
le durch und sangen ihn die Musiker doch, muss-
Viele Hippie-Helden „verkauften sich“, indem
ten sie damit rechnen, auf Entscheidung ihrer ei-
sie im etablierten Konzertbetrieb das Repertoire
genen Kollegen aus dem Klub ausgeschlossen zu
sowjetischer KomponistInnen spielten oder aber
werden. Die Konzerte waren halböffentlich, denn
in die Fänge des illegalen Konzertgeschäfts ge-
statt Eintrittskarten gab es Einladungen, die die
rieten.
Musiker unter ihren Bekannten verteilten.
Eine führende Rolle in der Entwicklung der „Rock-
In den 1980er Jahren bildete sich um den LRK
DAS
RUSSISCHE
AUTORENLIED
Viele populäre Musikrichtungen im heutigen Russland entwickelten sich in Anlehnung oder Abgrenzung zu einem eigentümlichen Genre, das seine Blütezeit in den 1960er Jahren erlebte: zum
russischen Autorenlied. Oft wird auch von Laienlied, Bardenmusik, gesungener Poesie oder Gitarrenlyrik gesprochen. Jede dieser Bezeichnungen hebt einen wichtigen Aspekt hervor.
In der Sowjetunion war es selbst in der Unterhaltungsmusik üblich, dass ausgebildete KomponistInnen, oft in Zusammenarbeit mit hauptberuflichen DichterInnen, Lieder schrieben, die von professionellen SängerInnen unter Begleitung von BerufsmusikerInnen in Konzerthallen aufgeführt wurden.
Die als „Barden“ bezeichneten LiedermacherInnen hingegen sangen eigene Texte und begleiteten
sich selbst auf der Gitarre, meist ohne jemals Stimmbildung oder Instrumentalunterricht erhalten
zu haben. Oft vertonten sie auch klassische Gedichte oder zeitgenössische Lyrik. Darin ähnelten sie
deutschen LiedermacherInnen, französischen Chansonniers wie Jacques Brel oder Georges Brassens
oder der US-amerikanischen Folk-Bewegung.
In zweierlei Hinsicht unterschieden sie sich jedoch von ihnen: Zum einen waren viele der russischen
„Barden“ geächtet, allein schon wegen ihrer Unabhängigkeit von staatlichem Musikbetrieb, vor allem
aber aufgrund der nicht gerade staatstragenden Sentimentalität ihrer Texte und der oft subversiven
oder offen regimekritischen Inhalte. Gesungen wurde daher in Privatwohnungen oder in der freien
Natur. Zum anderen entfaltete das Genre eine weitaus stärkere Massenwirkung als seine westlichen
Pendants. Dank der ab den 1960er Jahren auch für einfache SowjetbürgerInnen erschwinglichen
Tonbandgeräte verbreiteten sich Konzertmitschnitte – parallel zu der im Selbstverlag erschienenen
Samisdat-Literatur „Magnitisdat“, „Tonband-Verlag“ genannt – in Windeseile über das ganze Land,
und Zehntausende nahmen selbst Gitarren in die Hand, um die Lieder nachzusingen oder eigene zu
(Fortsetzung auf der nächsten Seite)
schreiben.
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herum eine Gruppe führender Bands heraus –
den Leningrader Rock-Kanon bis in die hinters-
Aquarium, Zoopark, Alisa, DDT, Kino –, die den
ten Winkel des Landes; er fand jede Menge Nach-
Grundstein für den Kanon der sogenannten „neu-
ahmer. LiteratInnen und JournalistInnen, die der
en Welle“ legten, die New Wave und Post-Punk
Rock-Szene nahe standen und für Jugendmaga-
aus Großbritannien und New York mit Elementen
zine und „dicke“ Literaturzeitschriften schrieben,
der Tradition der russischen, „Barden“ genannten
vollendeten schließlich die Kanonisierung der
Liedermacher verband. So finden KennerInnen
Wortlastigkeit des russischen Rock und drängten
allein in den Texten der Gruppe Aquarium An-
nicht-textzentrierte Gruppen an den Rand.
spielungen an David Bowie, Donovan, die Beat-
Gleichzeitig kristallisierte sich ein Verständnis
les, Velvet Underground, T. Rex, Reggae und
von Rockmusik als eines Mediums der Wahr-
Bulat Okudshawa. Die Texte vieler Gruppen der
heitssuche und der Musiker als Propheten heraus.
„neuen Welle“ enthalten Anklänge an die Poesie
Sowohl die Texte, vor allem die von Aquarium,
des russischen Symbolismus, Bloks, Puschkins
als auch die Mythologie der Rock-Szene wurden
und der Dichter der OBERIU-Gruppe.
mit asiatischer Mystik und Phantasien über ein
Das Primat des Wortes galt auch für die illegal
psychedelisches Paradies angereichert. Ende der
aufgezeichneten Tonbandaufnahmen: Der Klang
Achtziger erklärten Boris Grebenschtschikow
der Leningrader Gruppen zeichnet sich dadurch
(Aquarium) und Jurij Schewtschuk (DDT) bereits
aus, dass die Stimme im Vordergrund steht, wäh-
offen, die Rockmusik sei für sie der Weg zu Gott
rend Bass und Schlagzeug gedämpft spielen. Der
gewesen. Viele führende Mitglieder beliebter
Vater dieses Sounds war Andrei Tropillo, der in
Underground-Gruppen wurden für ihre Fans zu
den Achtzigern in einem Underground-Studio
so etwas wie Gurus und Quellen der Weisheit.
Alben aller führenden Leningrader Gruppen auf-
Gleichzeitig konnte sich diese Wahrheitssuche in
zeichnete. Die weitverzweigten Vertriebsnetz-
den Texten der vom LRK kontrollierten Gruppen
werke des illegalen „Magnitisdat“ verbreiteten
nicht politisch ausdrücken. Telewisor („Fern-
(Fortsetzung von der vorherigen Seite)
Die Lieder etwa eines Wladimir Wyssozki oder des Ehepaars Sergei und Tatjana Nikitin gehören bis
heute zu den wenigen Kulturgütern, die über soziale, Bildungs- und Generationengrenzen hinweg
bekannt sind. Das bedeutendste unter den vielen einschlägigen Treffen – das inzwischen alljährlich
bei Samara stattfindende Gruschin-Festival – ist mit jeweils weit über 100.000 TeilnehmerInnen eine
der größten Musikveranstaltungen der Welt. Trotzdem gehört das Autorenlied für die meisten RussländerInnen in eine vergangene Epoche: Die heute tätigen AutorInnen sind zwar meist professioneller
als ihre VorgängerInnen und können nun frei auftreten und publizieren, singen aber meist in kleinen
Klubs oder Musiktheatern.
Eine besondere Bedeutung hat das Bardenlied für die russischsprachige Diaspora im Ausland, vor
allem in Deutschland, Israel und den USA. Für die hier ansässigen ehemaligen SowjetbürgerInnen
stellt dieses Genre, das besonderen Wert auf Texte legt, eine wichtige Verbindung zur Heimat dar. So
touren bekannte LiedermacherInnen inzwischen regelmäßig durch die ganze Welt, und die Festivals
in Wuppertal, am See Genezareth oder in Bloomsburg/Pennsylvania sind zu regelrechten Großveranstaltungen geworden.
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seher“) wagte es als eine von wenigen Bands,
Stars zu bereichern. Doch nur wenige Rockstars
auf dem Festival des Rock-Klubs unzensierte
konnten von der Musik leben, beispielsweise
Texte vorzutragen, wodurch sie einen Skandal
Grebenschtschikow, der mit der Firma CBS ei-
verursachte, allerdings nicht aus dem Klub aus-
nen Vertrag über das Album „Radio Silence“ un-
geschlossen wurde. Die Leningrader Rocker dis-
terschrieb. Neue Labels gab es noch nicht, und
tanzierten sich später oft heftig von Versuchen,
die staatliche Plattenfirma Melodija bot Musike-
im Nachhinein eine politische Bedeutung in ihre
rInnen als Entlohnung 30 AutorInnen-Exemplare
Texte hineinzulesen. So heißt es etwa in einem
bei einer Auflage von 10.000 Schallplatten. Als
Lied der Gruppe Kino: „Unsere Herzen fordern
dann Andrej Tropillo zum Direktor von Melodija
Veränderungen“, doch der Frontmann der Grup-
wurde, brachte er ohne Rücksicht auf Urheber-
pe, Wiktor Zoi, behauptete, das Lied habe entge-
rechte alle Alben heraus, die er zuvor in seinem
gen einer weitverbreiteten Auffassung keine Vor-
Underground-Studio aufgezeichnet hatte. Dies
ahnung der Perestroika enthalten.
führte allerdings kaum zu Protesten; denn schon
die Tatsache, dass ihre Alben in Massenauflagen
AUF
DEM
P RÜFSTEIN
DER
P ERESTROIKA
vertrieben wurden, stimmte viele MusikerInnen
Auch wenn die Rockmusiker später ihre Distanz
damals euphorisch. Gegen Ende der Perestroika
zur Politik betonten, wurde die Rockmusik, als
entstanden überall Kassetten-Kioske, die den
sie sich 1987–89 für kurze Zeit aus dem Unter-
MusikerInnen keine Kopeke Tantiemen zahlten.
grund erhob, von den Medien während der Peres-
Der Rock-Boom währte nicht lange. Die bald
troika zur „Vorhut der jugendlichen Massenpro-
darauf folgende Krise hatte auch wirtschaftliche
testbewegung“ erkoren. Die Rockmusiker füllten
Gründe; außerdem ging vielen MusikerInnen an-
Stadien und wurden in populäre Show-Programme eingeladen. In der Perestroika entstand
der „sowjetische Protest-Pop“
mit Texten in einer schablonenhaft-plakativen Sprache. Einige
Gruppen veranstalteten auf der
Bühne ein regelrechtes absurdes Theater, wobei sie Lenin,
die Revolution, die Armee und
die Bürokraten verspotteten.
Als 1987 sogenannte „Kooperativen“ (eine Art von Privatunternehmen) erlaubt wurden,
traten
des
die
Geschäftemacher
sowjetischen
Schatten-
Showbusiness sofort aus dem
Schatten heraus, um sich an
den ehemaligen Underground-
Konstantin Kintschew von der Gruppe Alisa im Leningrader RockKlub (1985), Foto: unbekannt
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gesichts der neuen Informationsfreiheit das Ge-
für Tausende Teenager zum Idol zu werden und
fühl, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben,
als erster einen offiziellen Fan-Klub zu gründen.
verloren. Bereits Ende 1989 ging die Zahl der
Dass diese „Spitze“ heute eine kulturelle Legi-
Stadien füllenden Rockkonzerte zurück, und An-
timität besitzt, wird auch dadurch deutlich, dass
fang der Neunziger mussten die Rockstars leich-
fast alle kommerziellen Bands außerhalb von
teren Disko-Gruppen Platz machen. Nachdem
Popmusik und „Starfabrik“ weiterhin in erster Li-
die Enthüllungswelle der Perestroika abgeflaut
nie auf Texte setzen, mit einfachen Melodien und
war und eine Wirtschaftskrise einsetzte, verlor
von leichter Gitarrenmusik begleitet. Allerdings
das Selbstbild des „Wahrheitskämpfers“ an Ak-
haben sie sich vom früheren prophetischen Ge-
tualität. Viele Gruppen zerfielen, andere produ-
habe verabschiedet. Umfragen mehrerer FM-Ra-
zierten von 1987 bis zur Mitte der 1990er Jahre
diosender zufolge kommt diese Kombination bei
nichts Neues. In Memoiren, Kritiken und in den
HörerInnen, die mit dem russischen Rock groß
Aussagen von MusikerInnen wurde der „Tod des
geworden sind, am besten an. Aufbauend auf den
russischen Rock“ zu einem Gemeinplatz.
Ergebnissen solcher Umfragen entstand der Sender „Unser Radio“, der mit seinem am russischen
POPULÄRE ROCKMUSIK
Rock – sowohl in alter wie neuer, leichterer „Pop-
War der Rock im Untergrund, als Möglichkeiten
Rock“-Ausprägung – orientierten Format zahl-
der Professionalisierung fehlten, eine „Gemein-
reiche Nachahmer ins Leben rief. Auch Fuzz,
schaft von Gleichen“ gewesen, so strukturierte
das erste russische Rock-Magazin, widmet sich
er sich ab den 1990er Jahren pyramidenförmig.
inzwischen ausschließlich dieser Stilrichtung.
Auf dem Gipfel der Pyramide waren Rockstars,
Zu ihr gehören so bekannte Gruppen und Sän-
die sich ins Showbusiness integriert hatten, mit
gerInnen wie Mumiy Troll, Sweri („die Tiere“),
Popmusik konkurrieren konnten und weiterhin
Tanzy Minus, Bi-2, Spleen und Semfira.
riesige Konzerthallen füllten. Den Sockel bildete
eine Klubszene mit Gruppen, die weder regelmä-
K LUBSZENE VERSUS „ RUSSISCHER ROCK“
ßigen Zugang zu Fernsehen und Radio noch Ver-
Das Fundament der Pyramide bilden Musike-
träge mit Aufnahmestudios hatten.
rInnen, die in ihrer Freizeit in Klubs und Cafés
Zu den oben Angekommenen zählen auch die
singen. Die Klubszene könnte man als einen
führenden Bands der Leningrader Richtung:
halbfreiwilligen wirtschaftlichen Underground
Aquarium, DDT und Alisa. Grebenschtschikow,
bezeichnen. Für MusikerInnen ist ein Auftritt in
der eine „goldene Sammlung“ von Aquarium auf
einem St. Petersburger Klub ein Weg zur Aner-
CDs neu auflegte, wurde zu seinem 50. Geburts-
kennung, keineswegs aber eine Einkommens-
tag per Dekret von Wladimir Putin mit einem
quelle. Einige Klubs in St. Petersburg entlohnen
Orden für „Verdienste um das Vaterland“ geehrt.
wenig bekannte Gruppen mit einigen Flaschen
Schew tschuk veranstaltete 1997/98 in St. Peters-
Bier; die bekannteren fahren zum Geldverdienen
burg zwei große Festivals, um neue Rocktalente
nach Moskau. Diejenigen Gruppen, die weit ge-
zu entdecken, organisierte das Produktions-Cen-
nug sind, um ein Album herauszubringen, produ-
ter DDT-Theater und erhielt den Titel „Volks-
zieren es nach der Do It Yourself-Methode oder
künstler von Baschkortostan“, seiner Heimat.
bei kleineren Labels. Letztere lebten allerdings
Konstantin Kintschew von Alisa predigt zwar in
bis vor kurzem vor allem vom Vertrieb raubko-
letzter Zeit ein nationalistisch eingefärbtes ortho-
pierter CDs westlicher Rockgruppen.
doxes Christentum, schaffte es aber vorher noch,
Die Wortführer der Szene sprechen immer wie-
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der von der „Rückständigkeit“ intermediärer,
kel konzentrierte sich auf unbekannte Bands, die
zwischen reinem Do-It-Yourself und dem Show-
nicht unter dem Einfluss der kanonisierten Grup-
business angesiedelter Strukturen. Zu dieser Vor-
pen seiner Generation standen. In seinem Klub
stellung gehört auch der Mythos von der Blüte des
wurde sehr unterschiedliche Musik gespielt, von
Indie-Rock im Westen: Dort soll es Indie-Labels
Rockabilly und Indie-Pop bis zu Punk und Hard-
geben, die MusikerInnen nicht mit langjährigen
core. Einige Gruppen aus dieser TaMtAm-Gene-
Verträgen fesseln, kleine Konzertsäle für Musik
ration wurden später auch im Radio gespielt und
„zwischen den Genres“, ein musikalisch bewan-
hatten kommerziellen Erfolg, etwa Tequilajazzz
dertes Publikum und in jedem Städtchen Hunder-
oder Markscheider Kunst. Der Klub existier-
te von Indie-Gruppen, die in eigenen Kleinbussen
te von 1991 bis 1996, als sich nach zahlreichen
von Konzert zu Konzert tuckern.
Polizeirazzien eine private Firma des Gebäudes
Der Gründer des ersten unabhängigen St. Pe-
bemächtigte.
tersburger Rock-Klubs TaMtAm, Sewa Gakkel,
Die später entstandenen Klubs kopierten die
ehedem Geiger bei Aquarium, orientierte sich am
Funktionsweise von TaMtAm, und auch sie er-
Beispiel US-amerikanischer Indie-Klubs, die er
eilte meist ein ähnliches Schicksal. Die Mitte der
während einer Tournee kennen lernte. Im Aus-
1990er Jahre war die Blütezeit von Klubs, die von
land habe ihn, wie er sagt, vor allem verblüfft,
Rock’n’Roll-EnthusiastInnen gegründet wurden:
dass man „einfach in einen kleinen Klub gehen
Sie beschäftigten ehrenamtliche Mitarbeite-
und echten Blues, hochinteressanten Avantgar-
rInnen, kultivierten eine häusliche Atmosphäre,
de-Jazz oder irischen Folk hören kann. Und mir
hatten einen im Kern aus Bohemiens bestehenden
wurde klar, […] dass man einfach mit der Musik
BesucherInnenkreis und gaben sich als kulturelle
leben, ständig mit ihr Umgang haben kann, dass
AufklärerInnen und PionierInnen. All dies gilt –
sie zu etwas Alltäglichem werden kann.“ Gak-
mal mehr, mal weniger – für die Klubs Wild Side
(gegründet 1993), Ten
Club, Fish Fabrique und
Art-klinika (1994), Gora
(1995), Poligon (1995)
und Moloko (1997). Als
das musikalische Angebot reichhaltiger wurde,
spezialisierten sich die
Klubs nach und nach
auf bestimmte Nischen,
die
allerdings
selten
offen mit stilistischen
Begriffsbezeichnungen
umschrieben
Als
werden.
Auswahlkriterium
funktionierte der GeGitarrenförmige Ehrenbühne auf dem GruschinFestival (2004), http://grushin.samara.ru
schmack der künstlerischen LeiterInnen der
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Klubs und ihrer ständigen BesucherInnen. So
absichtlich bedeutungslos, oder aber man singt in
kennzeichnen sich die MusikerInnen gegenseitig
ausländischen oder in Kunstsprachen. Schließlich
häufig nicht nach Stilrichtungen, sondern nach
richtet sich die stilistische Vielfalt der Petersbur-
Klubzugehörigkeit (etwa „eine Band im Stil von
ger Klub-Bands nicht nur gegen den „russischen
Moloko“).
Rock“, sondern auch gegen „westliche“ musika-
Zuweilen versuchen die Klubs auch, ein breiteres
lische Subkulturen wie Punk oder Metal, die aus
Publikum zu erreichen. Wild Side veranstaltete
Sicht der Bohemien-Szene zu sehr auf gedanken-
jährlich kostenlose Open-Air-Festivals unter dem
lose Geselligkeit ausgerichtet sind und wenig mit
Titel Rock Side, mit Strömen von Bier und Kon-
Musik zu tun haben.
zerten befreundeter Bands. Allerdings hat diese
1997 schlossen mehrere Klubs der ersten Gene-
Art der Förderung „eigener“ Gruppen, ebenso
ration; einige von ihnen wurden von kommerzi-
wie Versuche, sie auf „großen“ Rock-Festivals
ellen Firmen aus ihren Räumlichkeiten verjagt.
unterzubringen, eher Seltenheitswert. Diese Fes-
Seither führen viele der noch bestehenden Klubs
tivals greifen lieber auf das bewährte Format des
eine unsichere Existenz und ziehen oft um. In
„russischen Rock“ zurück, um mit bekannten
Auseinandersetzungen zwischen Klubs und Ge-
Bands Gewinn zu erzielen. Eine Ausnahme bildet
schäftsleuten genießen letztere die Unterstützung
vielleicht das alljährliche St. Petersburger Inter-
der Stadtverwaltung. Zum Beispiel hat das St. Pe-
nationale Sergei Kurjochin Festival (SKIF). Es
tersburger Komitee für Staatseigentum dem Klub
ist dem Andenken an den bekannten Avantgarde-
Moloko trotz zahlreicher Protestnoten aus Musi-
Künstler gewidmet, der in seinem experimentel-
kerInnenkreisen, die auch von bekannten Rock-
len Projekt Pop-Mechanik MusikerInnen der ver-
Persönlichkeiten unterschrieben wurden, den
schiedensten Stile, vom Punk über den Jazz bis
Mietvertrag nicht verlängert. Nach 1998 entstan-
zu einem Militärorchester, zusammenbrachte.
den Klubs eines neuen, kommerziell ausgerichteten Typs. Für deren künstlerische LeiterInnen
Somit entwickelte sich die St. Petersburger Klub-
zählen vor allem Unterhaltung, Professionalität
szene in Opposition zum „russischen Rock“, der
und Attraktivität für ein wohlhabenderes und
aus ihrer Sicht für musikalische Archaik und
breiteres Publikum. Dies drückt sich in einem
pathetische Texte steht und die Nische der kom-
Anstieg der Eintritts- und Getränkepreise aus,
merziellen Rockmusik fest im Griff hat. Musi-
aber auch in der Gestaltung der Innenräume:
kerInnen jüngerer Generationen, die den kano-
Bühne und Bar befinden sich in demselben Raum,
nisierten Größen des „russischen Rock“ nach-
und für das Design und Werbung in den Medien
eifern, sind den Klub-MusikerInnen ein noch
werden beträchtliche Summen ausgegeben. An
größerer Gräuel. Die St. Petersburger Klubszene
Rockabende schließen sich DJ-Nächte an.
setzt – und das ist ihr Hauptmerkmal – auf mu-
Die heutige Klubszene bietet eine unvollständige
sikalische Innovation. Fragt Schewtschuk seine
Alternative zum kommerziellen Rock. Die Un-
ZuhörerInnen auf Konzerten: „Könnt ihr den
vollständigkeit besteht darin, dass diese Szene die
Text hören?“, so können Klub-MusikerInnen als
Kommerz-Logik zum Teil in kleinem Maßstab
Antwort auf den Zuruf „Wir können den Text
reproduziert und zur Entwicklung eines Kon-
nicht hören!“ auch schon mal sagen: „Den sollt
kurrenzdenkens bei den MusikerInnen beiträgt,
ihr auch nicht hören!“ Im Extremfall wird die
auch wenn es vielleicht nicht um Geld, sondern
Stimme instrumental behandelt und der Text ist
um symbolische Anerkennung geht. Der Impera-
9
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a n alyse
tiv der Wirtschaftlichkeit zwingt viele Klubs, die
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Aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch
Bands nach Erfolg beim Publikum zu klassifizieren: Weniger gewinnbringende Gruppen spielen
ÜBER DIE AUTORIN:
an Werktagen oder im Vorprogramm, während
Anna Zaytseva (Jahrgang 1978) ist Doktoran-
die „Stars“ des Underground am Wochenende
din an der Ecole des hautes études en sciences
und im Hauptprogramm auftreten dürfen. Die-
sociales in Paris. Zu ihren Forschungsschwer-
se kommerzielle Logik gilt auch im World Wide
punkten zählen Kultur- und Kunstsoziologie,
Web. So veröffentlicht die größte Web-Seite der
Rockmusik-Szenen in Russland und Frankreich,
Petersburger Klubszene, Spbclub.ru, nicht nur
Jugendbewegungen in Europa und die Geschich-
bezahlte Ankündigungen von Musik-Events, son-
te der inoffiziellen und Underground-Kultur in
dern veranstaltet auch regelmäßig Umfragen, um
der UdSSR.
etwa die „beste Gruppe des Petersburger Sommers“ zu ermitteln.
Die MusikerInnen selbst sehen die Entwick-
LESETIPPS:
lungsperspektiven des Indie-Rock in Russland
•
Uli Hufen, Rock in der Sowjetunion. Von
pessimistisch. Man könnte ihre Position als einen
der Perestroika in die Bedeutungslosigkeit,
widersprüchlichen Balanceakt zwischen dem
in: Mainstream der Minderheiten. Pop in der
Wunsch nach Publikumserfolg und der Einsicht
Kontrollgesellschaft, hrsg. v. Tom Holert und
in dessen Unmöglichkeit beschreiben, die man
Mark Terkessidis, Berlin 1996, S. 72–85.
durch die Betonung der eigenen Unverkäuflich-
•
keit zu kompensieren sucht. Diese Ambivalenz
drückt sich in einem betont zynischen, „unseri-
Artemy Troitsky, Back in the USSR: The True
Story of Rock in Russia, London 1990.
•
Thomas Cushman, Notes from Underground:
ösen“ Duktus aus; oft bezeichnen sich die Mu-
Rock Music Counterculture in Russia. Alba-
sikerInnen selbst als „VerliererInnen“ – eine
ny: State University of New York Press, 1995
Art selbstironisches Pendant zur Rolle des „verfluchten Dichters“. Vielleicht ist diese instabile
Gratwanderung der Grund dafür, dass die We-
WEBSEITEN:
nigen, die das wachsende russländische Show-
•
www.cccp-pok.com/ (Russischer Rock auf
deutsch)
Business doch zur Kenntnis nimmt, gerne aus
dem Klub-Underground hervortreten. Die ande-
•
http://home.gwu.edu/~yoffe/rolinks.htm
ren zieht es zum Gegenpol des überzeugten und
•
http://en.wikipedia.org/wiki/Russian_rock
politisierten Do-It-Yourself (s. dazu den Artikel
•
w w w.e ve r ything2.c om /in d e x .pl?n od e_
id=410437
von Olga Aksjutina in kultura Nr. 2/2005).
ØØØ
10
MAI
ZU RÜC K
I N DI E
ZU KU N FT: DI E R E NA ISSA NCE
DE R RUSSI SC H E N
5/20 0 6
G AU N E R L I E D E R
Uli Hufen
p or t r ait
Im Herbst 2001 tauchte eine seltsame CD an
Geeint wird das Genre durch einen subversiven
russischen Musikkiosken auf. Das Cover von
Humor und eine konsequente Missachtung jeder
„Jeschtscho ras o tschorte” – „Noch einmal über
offiziellen Autorität.
den Teufel“ zeigte einen goldenen, vom Höllen-
Ein perfektes Beispiel bietet der Klassiker „Moi
feuer angeleuchteten Teufel, der drauf und dran
prijatel student” – „Mein Kumpel, der Student“
ist, einem liegenden Mann ein Getränk einzu-
von Igor Erenburg, das seit Jahrzehnten zum Re-
flößen. Im Untertitel trug die teuflische CD den
pertoire von Kostja Beljajew gehört und auf „Je-
Titel: „The Best of Soviet Restaurant Music
schtscho ras o tschorte“ auch von Graf Hortiza ge-
1975–76“. Die auf der Rückseite abgebildeten
sungen wird. Das Lied handelt von einem kleinen
Musiker wirkten allerdings zeitgemäß, und der
Ganoven, dessen Freund, der Student, Ausweise
Künstlername des schönen Mannes in der Mitte
des OBChSS fälscht, jener sowjetischen Behörde,
sagte Moskauer KäuferInnen einiges: Graf Hor-
die mit dem Kampf gegen Korruption und Dieb-
tiza. War das nicht der Bursche, der seit ein paar
stahl von Volkseigentum befasst ist. Ausgestattet
Jahren auf Radio 101 diese verrückte Musiksen-
mit diesem Ausweis begibt sich der lyrische Held
dung namens „Transsylvanien beunruhigt“ ver-
schnurstracks zu einem der Manager des Vorzei-
anstaltete?
gekaufhauses GUM. Der hat furchtbare Angst
„Jeschtscho ras o tschorte“ versammelte fünfzehn
vor einer Kontrolle, weil er seinen privilegierten
Lieder aus den 1960er und 1970er Jahren. Lieder,
Zugang zu seltenen Importwaren auf ungesetz-
die jeder kannte, ohne dass sie im Radio gespie-
liche Weise in bare Münze verwandelt und mit
lt oder auf Schallplatten gepresst worden wären.
diesem Geld eine Datscha baut. So fällt es un-
Manche verwenden für diese Lieder den Begriff
serem Helden nicht schwer, vom verschreckten
„Blatnjak“, andere sprechen von „Russki Schan-
Manager einen schicken finnischen Anzug und
son“ (Russisches Chanson). Die Grenzen sind
andere modische Kleider zu erpressen. Als er
fließend und eindeutige Definitionen schwer zu
dann in den feinen neuen Klamotten auf die Stra-
finden. Klar ist nur eins: Die Wurzeln des Genres
ße tritt, rennen die schönsten Moskauer Mädchen
reichen Jahrzehnte zurück, bis ins 19. Jahrhun-
ihm mit offenen Mündern hinterher.
dert. In den 1920er und frühen 1930er Jahren er-
Dass derart anarchistisches Liedgut und seine
lebte es eine Blütezeit, selbst Stalin war ein Fan
Schöpfer dem Staat und der versammelten Beam-
von Liedern wie „Gop-so-smykom“ („Geigen-
tenschaft suspekt sein müssen, ist klar. Daran hat
Gauner“), mit denen der Sänger Leonid Utjosow
sich auch unter Jelzin und Putin wenig geändert,
berühmt wurde. Trotzdem verschwanden Lieder
wie Sergei Schnurow erfahren musste. Schnurow
wie dieses Mitte der Dreißigerjahre aus dem Kul-
ist mit seiner Band „Leningrad“ derzeit Russ-
turleben der Sowjetunion. Seit den frühen 1960er
lands Rockstar Nr. 1. Konzerte der Gruppe in
Jahren sorgten Undergroundproduzenten wie
Moskau wurden von den Behörden abgesagt, und
Rudolf Fux in Leningrad oder Stas Jeruslanow in
auch diverse Provinzbonzen haben klar gemacht,
Odessa sowie Sänger wie Arkadi Sewerny, Kost-
dass Schnurow in ihrer Stadt unwillkommen
ja Beljajew oder Igor Erenburg für eine Renais-
ist. Estland verweigerte ihm die Einreise. Der
sance. Viele ihrer Lieder spielen im Milieu der
Grund: Schnurows elektrifizierte Blat-Chansons.
Gauner und Diebe. Dazu kommen Scherzlieder,
„Die ganze Sache begann völlig intuitiv – wir
Straßenlieder, Liebeslieder und vieles mehr.
hatten gewisse Vorstellungen vom Blatnjak, das
11
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p or t r ait
5/20 0 6
kam von Wyssotski-Liedern, die wir alle hörten.
naissance der russischen Chansons: Traditionen,
Aber wir wussten nichts von Arkadij Sewerny,
die Pflege des Erbes und seine behutsame Mo-
[dem Zigeunersänger] Aljoscha Dmitriewitsch
dernisierung. Nachdem der russländische Markt
oder den ‚Perlenbrüdern’ [einer 1974 gegründe-
seit der Perestroika über viele Jahre von amerika-
ten Blatnjak-Band]. Später kamen dann Leute mit
nischer Popkultur dominiert wurde, merkt man
Tapes und sagten: Hört euch das mal an, das ge-
in Moskau und Petersburg heute, dass das Land
fällt euch ganz sicher – und so war es auch.“
über reiche eigene Traditionen verfügt. Garik
Nach einigen Platten mit seiner Band hat Sergei
Osipow und Sergei Schnurow, aber auch Sänger
Schnurow 2003 das akustische Soloalbum „Wto-
wie Psoi Korolenko oder Alexei Kortnew haben
roi Magadanski“ („das zweite Magadaner Kon-
verstanden, dass diese Traditionen relevant sind
zert“) veröffentlicht, das den Geist der 1970er
und reiche Früchte tragen können. Die CDs der
Jahre aus allen Poren atmet. „Heute dominieren
genannten Sänger, die in der fabelhaften Serie
ja Blat-Chansons, die mit elektronischen Instru-
„Nicht-Legenden des russischen Chansons“ er-
menten eingespielt werden. Ich wollte zeigen, dass
schienen sind, beweisen das.
der wahre Blatnjak anders ist. Der wurde nämlich
von Live-Musikern in Restaurants gespielt. Ich
HÖRTIPP:
wollte zeigen, dass das immer noch möglich ist.
Im April 2006 ist das erste in Westeuropa ver-
Blatnjak mit elektronischen Instrumenten, das
öffentlichte Album von „Leningrad“ („Chleb“)
ist, als wenn man Country auf Yamahakeyboards
in Berlin bei Eastblok Music erschienen. Ser-
spielen würde. Das ist lächerlich und dumm, und
gei Schnurows „Wtoroi Magadanski“ liegt der
es entspricht nicht den Traditionen.“
Erstauflage als limitierte Bonus-CD bei.
Und genau darum geht es letztlich bei der Re-
R U S S I S C H E P O P -M U S I K
H E U T E:
K A M PF
UM
UNA BH Ä NGIGK EIT
David MacFadyen
a n alyse
Die russische populäre Musik erlebt seit den 1990er Jahren einen kontinuierlichen Wandel. Eine gründliche musikalische Ausbildung ist für eine erfolgreiche SchlagersängerInnen-Karriere nicht mehr nötig, wohl aber der Zugang zum Fernsehen. Dort dürfen jedoch nur wenige, meist aus sowjetischer
Zeit bekannte Stars auftreten. Daher nutzen immer mehr SongschreiberInnen und MusikerInnen die
Möglichkeiten des World Wide Web, um auf thematischen oder regionalen Portalen ihre Werke aus
Enthusiasmus oder gegen Geld zum Download anzubieten. Die Entwicklung und Verbreitung moderner
Technologien, z.B. download-fähiger Handys, dürfte zu einer Diversifizierung des musikalischen Angebots und einer Demokratisierung des Zugangs zu populärer Musik führen.
Die russische populäre Musik erlebt seit den
dio. Die Beziehung zwischen den Massenmedi-
1990er Jahren einen kontinuierlichen Wandel.
en in Russland und den Vorlieben der Menschen
„Popularität“ kann auf verschiedenste Weise
ist alles andere als eindeutig. Mit dem Material
definiert werden, über allgemeine Beliebtheit,
von ausschließlich TV- und Radiosendungen
Verkaufszahlen oder die Sendehäufigkeit im Ra-
ergäbe sich folgendes Bild der Pop-Musik im
12
MAI
a n alyse
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Land: Rockmusik hat als Ausdrucksform sozi-
im Eurovision-Schlagerwettbewerb, die nicht
alen Protests ihre Wirksamkeit und ihr Ansehen
zuletzt mit offensichtlichen Manipulationen im
eingebüßt; die Welt ist voller studioproduzierter
nationalen Auswahlverfahren zu tun hat. Nur die
„Pop-Projekte“, die sich kaum von denen west-
pseudo-lesbische, kluborientierte Ästhetik von
licher Boy- und Girl-Groups unterscheiden; und
Tatu sowie die üppigen Balladen der Sängerin
landesweite Fernsehsendungen unterstützen vor
Alsu haben es im In- wie auch im Ausland im TV
allem alternde SowjetsängerInnen oder dienen
in die Hauptsendezeiten geschafft und Konzert-
dazu, kaltblütig Teenager auszunehmen. Gräbt
hallen gefüllt.
man aber etwas tiefer, entdeckt man unter der
Ob ein Künstler oder eine Künstlerin eine gründ-
Oberfläche des Marktes für Nostalgie und Kau-
liche, ‚sowjetische‘ Musikausbildung hat, spielt
gummimusik eine größere Komplexität, für die
für die zahllosen Veranstaltungsagenturen, die
vor allem im World Wide Web vertretene Song-
an die Stelle der vormals zentralisierten Systeme
schreiberInnen in der Provinz stehen, vom Balti-
gerückt sind, keine Rolle mehr. Mit jedem Pro-
kum bis zum Pazifik. Die Menschen, die Musik
vinznest muss inzwischen individuell verhandelt
mögen, und die, die sie wirklich machen, sind
werden. Auch vor 1991 waren lokal zuweilen
sehr verschieden voneinander.
Schmiergelder fällig geworden; heute jedoch
Seit dem Ende der Sowjetunion kämpfen rus-
bedeutet die Durchführung einer ‚landesweiten
sische Schlager in gefräßigen Märkten ums Über-
Tournee’ eine furchterregende Anzahl separater
leben. Seinerzeit täuschten mehrere Musikgrup-
Verhandlungen. Will man die ‚grausame Geogra-
pen schlecht informierte Fernsehsender über ihre
phie’ mit Musikvideos überwinden, muss man
wahre Identität, während andere InterpretInnen
12.000–80.000 Euro pro Clip einplanen, zuzüg-
in ähnlicher Weise selbst übers Ohr gehauen
lich 16.000 für Werbung und Schmiergelder.
wurden: So kam es schon mal vor, dass mehrere
Zugleich hat MTV-Russland eine stillschweigende
Bands unter demselben Namen durch das Land
Vereinbarung mit dem Konzern Russkaja Media-
tourten und etwa den dumpfen Synthie-Pop von
gruppa und seinen einflussreichen Radiosendern
Mirage („Fata Morgana“) oder die schlaffen elek-
Russkoje radio, Radio Maximum, Hit-FM und
tronischen Melodien der (echten) Waisenkinder
Radio Monte Carlo: Wenn ein Song nicht auf
von Laskowy Mai („Zärtlicher Mai“) nach-
deren Frequenzen zu hören ist, kommt er auch
spielten. Dass die Disco-Divas von Kombinazija
nicht ins Programm von MTV, dem angenommen
und viele andere zu Playback sangen, machte es
einzigen unbestechlichen Fernsehsender. Ein rie-
nicht leichter, Geldgier von Talent zu unterschei-
siges Land birgt auch riesige Probleme.
den. Die Probleme bleiben bestehen, solange
Songschreiben nicht durch eine gültige einheit-
„A LTE STIMMEN “ IM FERNSEHEN
liche Konzeption abgesichert ist.
Sofija Rotaru und Alla Pugatschowa sind wei-
Selbst heute können Schwindelbands monatelang
terhin die beliebtesten Sängerinnen in Russland,
durch die Provinz touren und ein leichtgläubiges
obwohl sie bald ins Rentenalter kommen. Beide
Publikum hinters Licht führen; die Konzertbe-
Frauen verkörpern den Pomp-Stil der 1970er Jahre
sucher wissen einfach zu wenig über die Welt
mit großen Orchestern und haben ihre kulturelle
„da draußen“. Von einem Mangel an Songtexten,
Vormachtstellung mit beneidenswertem Erfolg
die auch im Ausland ankommen könnten, zeugt
behaupten können. Die beliebtesten männlichen
ebenfalls Russlands chronische Erfolglosigkeit
Sänger sind gegen Modeerscheinungen noch im-
13
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muner als die Damen. Die ersten Plätze besetzen
auf ihren Jubiläumskonzerten gegenseitig das
der opernhafte, superblonde Nikolai Baskow, der
Mikrofon in die Hand, damit ihr „Ruhm“ nicht
bereits zu Breshnews Zeiten zum Inventar gehö-
allmählich verblasst. Diesen wiederum machen
rende Lew Leschtschenko und die patriotischen
sich SponsorInnen zunutze, die bereit sind, die
Lieblinge des Moskauer Bürgermeisters, der Pin-
Übertragung einer solchen Veranstaltung auf den
up-Sänger mittleren Alters Oleg Gasmanow und
größten Fernsehsendern mit 120.000 Euro zu be-
der korpulente Nikolaj Rastorgujew mit seinen
zuschussen. Böse Zungen mögen behaupten, dass
pseudo-militaristischen Mitsingliedern. Diese
der ZuschauerInnenanteil dieser Konzerte gleich
Rangliste ist das Ergebnis einer Ende 2005 durch-
null sei, aber allem Anschein nach lassen sich
geführten landesweiten Umfrage – eine Moment-
Damen mittleren Alters aus der Provinz von die-
aufnahme der allgemeinen Vorlieben.
sem festen Bestandteil vieler Abendprogramme
Das Problem jedoch ist, dass nicht jedermann
bezaubern.
auch Musik kauft oder merklich zu ihrer Ent-
Alter und Geschlecht sind extrem wichtige Kri-
wicklung beiträgt. Rotarus größte Fangemeinde
terien: 72% der KonzertbesucherInnen und Mu-
ist im ländlichen Süden beheimatet; das Alter
sikkäuferInnen sind Frauen mit einem Durch-
ihrer typischen Verehrerinnen liegt zwischen 45
schnittsalter von 27 Jahren, eine Bevölkerungs-
und 59. Baskows Fans sind noch älter. Er gilt bei
gruppe, die der Musikkritiker Artemi Troitski in
31% der Rentner, aber nur bei 10% der Studenten
seinen Vorlesungen an der Moskauer Staatsuni-
als die Nummer Eins.
versität kürzlich als „Mädchen, die nicht wissen,
Darin unterscheiden sich Baskow & Co.
von den etwas hipperen InterpretInnen,
die in Moskau am beliebtesten sind: von
Walerija, Shanna Friske und Dmitri Bilan. Walerija behauptet von sich, ebenso
wie die Jazz-Sängerin Larissa Dolina, die
„Stimme Russlands“ zu sein, und tatsächlich gehen ihre klassisch trainierten Lungen mit den auf Bestellung ihres Gatten,
eines einflussreichen Produzenten, geschriebenen Melodien eine eindrucksvolle
Verbindung ein. Friske verließ eine der erfolgreichsten Girl-Groups der Jelzin-Ära
(Blestjaschtschie, „Die Glänzenden“), um
eine unbestimmt-modische bis fade Ästhetik zu formen. Bilan* ist ein künstlich
erzeugter Pin-up-Sänger für Mädchen im
Vor-Teen-Alter.
Leschtschenko, Gasmanow und ältere
BühnenkünstlerInnen wie der Komiker
Wladimir Winokur füllen im Fernsehen die Hauptsendezeit und drücken sich
Alla Pugatschowa, Gastauftritt bei der „Starfabrik“ (2004),
http://en.wikipedia.org/wiki/Image:Allapugacheva.jpg
* Dima Bilan erreichte beim Eurovision Song Contest am 20. Mai 2006 in Athen den 2. Platz mit „Never Let
You Go.“
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wie man Geld verdient oder ein Bankkonto eröff-
cher Produktion und der Zunahme an russischen
net,“ definierte.
Songs – wird oft mit ethischen Kategorien be-
Das Fernsehen erzeugt berühmte SängerInnen,
schrieben. Auf der einflussreichen Webseite
aber es spiegelt weder die aktive Anschaffung
Electrosound.ru verglich ein Autor das Vorgehen
(durch Kauf, Konzertaufnahme, Überspielen
illegaler Web-Hosts oder -Portale mit dem eines
oder Herunterladen) von Songs wider, noch zeich-
profitgierigen Schlachters: „Wenn er Kühe auf der
net es ein Bild von der Vielfalt der existierenden
Weide sieht, mag er an leckere Milch und an die
Lieder. Der Ausschluss von den Bildschirmen
wunderbare russländische Natur denken… Aber
bedeutet, dass die Arbeit in kleinen, intimen und
bei der Arbeit tötet er sie mit Elektroschocks.
lyrischen Formaten oft zu Selbstironie verleitet.
Er sucht sich knackige Kühe aus und liefert sie
Der ergraute ehemalige MTV-Moderator Wassi-
als Fleisch an seine Kunden.“ Soll heißen: Mu-
li Strelnikow erinnerte unlängst an den Text von
sik braucht die Gemeinschaft derjenigen, die sie
Russlands erstem Podcast. Nachdem er jahrelang
pflegen.
aus den Moskauer Medien verschwunden war,
Jenseits der zahllosen Seiten von und zu einzel-
kehrte seine Stimme aus der Ferne zurück: „Hal-
nen InterpretInnen geht der erste Schritt zu ei-
lo, Leute. Hier ist Wassili Strelnikow. Ich bin ge-
ner organisierten musikpflegerischen Tätigkeit
sund und munter, bin in Rente gegangen und lebe
oft über „Klubs“ oder Online-Vereine von Ama-
im Wald!“ Mittvierziger-VJs verbringen ebenso
teurInnen, die sich aus Frust über die schmerz-
viel Zeit damit, sich über die Texte ihrer täglichen
haften Einschränkungen bei der Nutzung kos-
Podcast-Talkshows lustig zu machen, wie damit,
tenloser (also langsamer) Hosts wie etwa Narod.
sie zu schreiben.
ru zusammentun. In ihrem Bemühen, die Lage
gemeinsam zu verbessern, bedienen sich die Teil-
K ANN
DAS
RUNET
DIE
POPMUSIK
RETTEN ?
nehmerInnen der zu Perestroika-Zeiten gängigen
Der bekannteste Ort, an dem Musikliebhabe-
und in vielen spätsowjetischen Songs verwende-
rInnen versuchen, aus Spaß wieder Ernst zu ma-
ten Idiomatik des teamwork: „Wir wollen unsere
chen und die Fesseln des Mammon abzustreifen,
Seite ständig verändern und mit euch zusammen
ist die Webseite Allofmp3.com, die der Internati-
interessante Ideen entwickeln, denn… UNS EINT
onale Verband der Phonographischen Wirtschaft
DIE MUSIK!“ Auf viele solcher Aufrufe folgen al-
(IFPI) für „sowohl innerhalb als auch außerhalb
lerdings nur wenige Reaktionen, selbst wenn sie
Russlands illegal“ erklärt hat. Moskauer Ge-
sich mit Namen schmücken, die Einheit suggerie-
richte haben bisher alle Versuche vereitelt, den
ren, wie Posse.ru („die Bande“). Kaum jemanden
Geschäftspraktiken dieses Portals Grenzen zu
kümmert das ernsthaft.
setzen. Allerdings ist im russischsprachigen In-
Wählerischere Seiten locken NutzerInnen mit
ternet, dem Runet, die Zahl der Webseiten, die
einer etwas anderen Freundschafts-Rhetorik.
kostenlos Raubkopien westlicher Musik anbieten,
Dazu gehört Kladowaja swjosd („Schatzkam-
drastisch gesunken; dafür wird immer mehr un-
mer der Stars“), deren hoffnungsvoller Name
abhängige, legale und weniger bekannte inlän-
die schwindelerregenden Höhen der Fabrika
dische Musik ins Netz gestellt.
swjosd („Starfabrik“) beschwört, einer landes-
Das Verhältnis zwischen diesen beiden Bewe-
weiten TV-Talentshow, die stark an Deutschland
gungen – dem abnehmenden Angebot an westli-
sucht den Superstar erinnert. Während jedoch
15
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die Starfabrik tatsächlich Stars „produziert“, ist
um Bands von außerhalb Moskau zu helfen, „ein-
die Schatzkammer leider ein Ort, an dem Musi-
flussreiche Ohren“ in Moskau zu erreichen. Der
kerInnen in der Hoffnung, entdeckt zu werden,
aufschlussreichste Wettbewerb der letzten Zeit
schmachten. Diese Seite verlangt, dass zur Veröf-
auf dieser Seite war Barchatnoje podpole („Vel-
fentlichung angebotene Songs „die Persönlichkeit
vet underground“), mit dem die aussichtsreichs-
der MusikerInnen ausdrücken, damit klar wird,
ten VertreterInnen einer raffiniert und dekadent
dass sie ‚vom Herzen kommen‘ und nicht nur aus
auftretenden Richtung unter den zeitgenössischen
kommerziellen Gründen oder persönlichem Ehr-
SongschreiberInnen entdeckt werden sollen. Die
geiz geschrieben wurden“.
heutigen Dekadenten sind oft Leute, die sich mar-
Diese Vermeidung kommerzieller Begehrlich-
ginalisiert fühlen und daher ihre malaise kulti-
keiten steht jedoch im Widerspruch zu den von
vieren.
einigen „Klub“-Seiten veranstalteten und nach
Alternative Zusammenschlüsse gründen sich auf
TV-Pop-Shows wie etwa dem Goldenen Mikro-
regionale Besonderheiten. Einige Portale, etwa
fon benannten Wettbewerben, bei denen keine
Zvukvokrug.ru („Tondrumherum“) in Baschkor-
Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass
tostan oder Art Colony (www.murawey.tver.ru)
Bands zu eigenen Gunsten abstimmen – und zwar
in Twer, bemühen sich um eine breitestmögliche
immer wieder. Selbst Amateur-Portale wie Arte-
Palette an Genres. Andere Städte und abgelegene
fakt, die antreten, uns von der geldgierbedingten
Regionen präsentieren sich viel selektiver. Song-
Vorhersehbarkeit der Pop-Musik zu befreien,
Portale in Surgut und Wladiwostok geben loka-
bieten den aussichtsreichsten Gruppen rechtliche
len MusikerInnen ein Quartier im Netz, kündigen
Beratung und fördern mit Vorliebe zukünftige
bevorstehende Events an, machen für die lokale
Fernseh- oder Radio-ModeratorInnen.
Klub-Szene Werbung und veröffentlichen Fotos
von allen Partys und Konzerten. In Samara und
D OWNLOADS
AND
P ROMOS
Bratsk sind die Web-Verzeichnisse voller Thrash-
Das größte und wichtigste Portal ist RealMusic.
oder Death-Metal; die Seite MuzZone.yuga.ru
ru, das kürzlich von der UNESCO einen Zu-
(„Musikzone des Südens“) definiert sich sogar
schuss erhielt, um seine Sammlung mit mehr
ausschließlich durch Verneinung. Gebilligt wird
als 116.000 Stücken von 27.000 InterpretInnen
weniges, dafür drischt man verbal auf „kommer-
zu ordnen. Größenmäßig auf dem zweiten Platz
ziellen Pop, Hip-Hop und chansons“ ein.
liegt Music.lib.ru, das derzeit 67.000 Songs von
Die Rockmusik gibt sich, wie schon Ende der
11.000 zu unzähligen Genres gehörenden Bands
1980er, grimmig, um sich gegen knalligen Pop
bietet, allerdings keine direkten Links auf ande-
(russ. popsa) zu behaupten, gegen die „Indush-
re Seiten veröffentlicht und nur selten Umfragen
ki Incorporated“, wie das Wolgograder Portal
oder Wettbewerbe veranstaltet. RealMusic wurde
Nibumbum (www.nibumbum.boom.ru, „Nixkön-
am 27. Mai 2001 gegründet; im Verlauf von zwei
ner“) die nächste Generation der Nullachtfünf-
Jahren gaben HörerInnen 45.000 Bewertungen
zehn-Boy-Groups vom Schlage der Ivanushki In-
und MusikerInnen auf internen Foren 15.000
ternational nennt. Kaliningrad und Wladiwostok
Kommentare ab, was half, die Sammlung umzu-
haben ideale Mittelwege zwischen Hitradio und
gestalten.
Dilettantismus gefunden; wobei sich die fernöst-
Das Portal behauptet nun, es existiere vor allem,
liche Stadt immer noch in der besonderen Auf-
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merksamkeit sonnt, die ihr nach dem Erfolg der
ländischen Markt fokussiert sind.
in London produzierten derzeitigen Rocklieb-
Unangefochtener Marktführer in diesem Bereich
linge Mumiy Troll zuteil wurde.
ist PromoDJ.ru, Nachfolger des ehemalige DJ.ru,
Eine Entwicklung weg von hedonistischem Di-
eine Webseite, die sich für westliche Besuche-
lettantentum ist vor allem bei Dance-Portalen zu
rInnen nicht gerade einladend gab. Zwar will
verzeichnen, wo DJs Remixes, Mash-Ups oder
PromoDJ will dem massiven, wahllosen „Abfi-
längere Sets als langfristige Werbung für kurz-
schen“ mit Programmen wie ReGet vorbeugen,
fristige Club-Auftritte ins Netz stellen. Über ein
bietet aber trotzdem Zugang im one click/one
solches Portal in Twer (Tverevolution.ru) kann
track-Verfahren zur derzeit größten Auswahl im
man zum Beispiel alle KünstlerInnen buchen, de-
Runet in den Stilrichtungen House, Ambient,
ren Stücke oder Mixes es beherbergt. Die daraus
Techno, Progressive und Minimal. Abgesehen
resultierende Spannung zwischen Vergänglich-
von längeren Promo-Aufnahmen und Live-Mixes
keit bzw. Neuheit und notwendigerweise per-
findet man in diesem ständig erneuerten Archiv
manenter Werbung versucht etwa die Seite Mp3.
durchgehend über 2000 Demo-Tracks.
exnet.su dadurch zu lösen, dass sie ihre Besuche-
Wer aber kann sich das alles herunterladen? Es
rInnen naiv auffordert, alle heruntergeladenen
wird geschätzt, dass vielleicht 75% der Nutze-
Stücke innerhalb von 24 Stunden zu vernichten.
rInnen von RealMusic zu Hause einen beschei-
Andere Portale wie DeLit.net verlangen eine Re-
denen Dial-Up-Zugang haben. Die Betreiber der
gistrierung und bieten nur eine begrenzte Anzahl
Seite versuchen, dieses Problem zu lösen; denn
von Downloads oder FTP-Zugang nur über Pro-
trotz all ihrer Beteuerungen, das Portal habe
vider innerhalb Russlands, wodurch sie ungewollt
nichts mit der Vermarktung ihrer MusikerInnen
wieder einmal zeigen, dass sie auf den inner-russ-
zu tun, versprechen sie auch, dass die Seite ab
DIE „G ORBUSCHKA“ – MUSIKMARKT
UND
P IRATENOASE
Die „Gorbuschka” (wörtlich „der Brotkanten“) ist ein riesiger Musik- und Elektronikmarkt im Westen Moskaus. Der Name ist vom Gorbunow-Kulturhaus abgeleitet, das ursprünglich zum Flugzeugwerk Nr. 22 gehörte und nach dessen Direktor benannt war. Hier fanden seit den 1960er Jahren LiedermacherInnen-Abende, ab Anfang der 1970er dann auch Rockkonzerte statt. Bereits Anfang der
1980er Jahre entstand im Foyer des Gebäudes spontan eine Tauschbörse für Schallplatten, die sich
in den frühen 1990ern zu einem riesigen Freiluft-Wochenmarkt für Tonträger, Videos und Software
ausweitete. Vor der Ausbreitung des Internets war die „Gorbuschka“ – und mit ihr unzählige kleinere
Ableger im ganzen Land – für viele MusikliebhaberInnen nahezu der einzige Weg, auch den ausgefallensten Hörbedarf mit Aufnahmen aus West und Ost zu decken.
Nach mehreren Anläufen wurde die „Gorbuschka“ Ende 2002 auf Anordnung der Stadtverwaltung
endgültig geschlossen. Der Grund: Bis zur Hälfte der verkauften Tonträger waren Raubkopien. Doch
bereits einige Monate später tauchte die „Gorbuschka“ in neuem Gewand auf, diesmal in den nahegelegenen Gebäuden der Fernsehfabrik „Rubin“. Die inzwischen über 30.000 Quadratmeter teilen sich
die MusikverkäuferInnen nun mit PC- und Waschmaschinenmärkten. Trotz aller Kontrollmaßnahmen gibt es in diesem Meer von Verkaufsständen immer noch unzählige Piraten – zum Leidwesen
der UrheberInnen und der Musikindustrie und zur Freude zahlungsschwacher HörerInnen.
17
MAI
a n alyse
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2006 für diese, wenn auch bescheidene, Tantie-
Handy, hingegen nur 20% der RentnerInnen.
men abwerfen wird. Das soll es dem Portal er-
Diese Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und
lauben, das Problem der Unzugänglichkeit des
des finanziellen Chaos gehören im Land, das ne-
Contents für Modem-NutzerInnen zu umgehen,
ben China weltweit die meisten Raubkopien pro-
indem es einfach Musik-CDs herausgibt. Da-
duziert, zu den Alltagssorgen der Online-Song-
durch könnten die erfolgreichsten MusikerInnen
schreiberei. Schließlich entsteht in Russland sehr
„auf den internationalen Markt“, will heißen, ins
viel mehr audiovisuelles Material, als der eigene
Fernsehen gelangen.
Markt verkraften kann, und so überflutet diese
illegale Produktion weltweit mindestens 27 Län-
MUSIK
AUF
H ANDYS
der.
Das Fernsehen hat die Karrieren von Pop-Stars
Inzwischen läuft reines Musikfernsehen in den
wie Wladimir Presnjakow, dem Falsett-Mädchen-
USA bereits schlechter, und auch auf Russlands
schwarm der frühen Neunziger, wiederbelebt. Die
„Erstem Kanal“ werden sich von Firmen ge-
BesucherInnenzahl bei seinen Konzerten ver-
sponserte Konzerte mit einer Einschaltquote von
zehnfachte sich, nachdem er aus Posledni geroj
Null nicht ewig halten können. Bleibt also nur
(„Der letzte Held“), der russischen Version des
die Hoffnung, dass landesweite verfügbare, er-
Inselduells, als Sieger hervorging. DebütantInnen
schwingliche und tragbare Medien wie Handys es
jedoch bekommt man nicht zu sehen; aber viel-
SongschreiberInnen – ob man sie nun sehen oder
leicht kann man sie sich wenigstens anhören? Al-
nur hören kann – ermöglichen, die Kommerziali-
lerdings ist Moskau die einzige Stadt, in der über
sierung immer neuer Musikportale zu umgehen
50% der Web-NutzerInnen Zugang zu schnellen
und auch alternden Damen im Süden eine andere,
Internet-Verbindungen statt Dial-Up haben, was
unabhängige Musik zu Ohren zu bringen.
das Herunterladen neuer Songs erst ermöglicht.
So romantisch sich dieses Zukunftsszenario auch
Die Nutzung von Mobiltelefonen könnte dieses
ausnehmen mag, es bleibt doch eine Frage: Was
Gefälle zwischen Zentrum und Provinz nach und
sollte einen Rotaru- oder Pugatschowa-Fan über-
nach vermindern, wenn sich der standardmäßige
haupt dazu bewegen, sich etwas anderes herun-
Zugang zu Audiodateien über Zehn-Sekunden-
terzuladen? Die Sturheit der Medien, die es vor-
Klingeltöne hinaus entwickelt. Dass in Moskau
ziehen, Pop-Musik kostenlos, in gewohnter Form
72% der Bevölkerung Handys benutzt, mag nicht
und in erster Linie visuell vorzustellen, ist mögli-
überraschen, aber Sibirien ist mit 66% auf Auf-
cherweise so tief verwurzelt, dass sich die Mehr-
holkurs, und in der Uralregion sind es immerhin
heit der Bevölkerung in ihrem Geschmack auch
51%.
dann noch von Nostalgie leiten lässt, wenn mit
Diese erfreuliche Entwicklung wird möglicher-
solchen Spektakeln kein Profit mehr zu erzielen
weise dazu beitragen, den übermäßigen Einfluss
ist. Dies ist die Logik, der die Kultur in der Putin-
ländlicher TV-ZuschauerInnen mittleren Alters
Ära gehorcht – also zumindest bis 2008.
auf die veröffentlichen Hitlisten der Pop-Musik
auszugleichen. Bei Handy-BesitzerInnen beträgt
Aus dem Englischen von Mischa Gabowitsch
die Diskrepanz zwischen Männern und Frauen
nur 7%; unter Web-NutzerInnen liegt sie mit 10%
ÜBER DEN AUTOR:
höher. Zudem besitzen 88% der jungen Leute ein
David MacFadyen (Jg. 1964) ist Professor für
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Slawische Sprachen und Literatur an der Uni-
tives and the Philosophy of the Russian Popu-
versity of California, Los Angeles; er hat zahl-
lar Song 1982–2000. Montreal; London; Itha-
reiche Bücher und Artikel zur russischen Kultur,
ca: McGill-Queen’s University Press, 2001
insbesondere zu Literatur und populärer Musik,
geschrieben.
URL:
LESETIPPS:
•
•
•
Far from Moscow. Ein zweisprachiger (engl. +
Birgit Beumers, Pop Culture Russia! Santa
russ.) Podcast über neue Musik aus Russland:
Barbara: ABC Clio, 2005
http://www.humnet.ucla.edu/humnet/slavic/
David MacFadyen, Èstrada?! Grand Narra-
faculty/macfadyen_d/podcasts.html
M ELODI EN
FÜR
M I LLION EN
Uli Hufen
Es war ein grauer Wintertag Anfang 2005, als
im Westen, vielleicht sogar besser, inklusive der
Techniker der Moskauer Plattenfirma Melodija
Kompositionen. Sehr professionell, ungewöhn-
eine seltsame Entdeckung machten. In einem ver-
lich, mit eigenem Gesicht.“ Dann kamen das Jahr
staubten Archiv-Karton fanden sie ein altes Ton-
1970 und der 100. Geburtstag des Staatsgründers
band, dessen Inhalt ganz offensichtlich nicht der
Lenin. Auf den Tourismus hatte das große Jubilä-
Beschriftung entsprach. Auf dem Karton stand
um zwar wenig Einfluss, auf das Programm des
in schönstem Sowjetisch: „Konzert der Teilneh-
Staatskonzerns Melodija schon. „Von Palanga
mer des allrussländischen Talentwettbewerbs der
nach Gursuv“ wurde nicht gepresst.
ländlichen Laienkunst. Dritte Schallplatte.“ Ge-
Als das Album im Sommer 2005 nach mehr als
meinsam mit einigen altgedienten Mitarbeitern
35 Jahren doch noch das Licht der Welt erblickte,
von Melodija fand der künstlerische Direktor von
war das Erstaunen in Russland groß. Solche Mu-
Melodija, Andrei Troschin, schnell heraus, dass
sik hatte es in der Sowjetunion gegeben? Beim
der Zufall etwas ganz Besonderes aus einem ganz
staatlichen Monopolisten Melodija?
besonderen Moment in der Melodija-Geschichte
Als Melodija 1964 gegründet wurde, bedeutete
ans Licht befördert hatte: Ein gerettetes Band des
das den Zusammenschluss aller zu diesem Zeit-
verloren geglaubten Albums „La Musique So-
punkt existierenden Aufnahmestudios, aller un-
viétique. Von Palanga nach Gursuv. L’été 1969“.
abhängigen Labels, aller Presswerke und des ge-
Sowjetische Beachmusik, die TouristInnen an die
samten Distributionsnetzwerkes. Moskauer und
Strände von Ostsee und Schwarzem Meer locken
Leningrader Labels, das Baltikum, die Ukraine,
sollte.
Weißrussland, der Transkaukasus und Mittela-
Andrei Troschin: „1969 war das letzte Jahr, in
sien kamen zusammen. Melodija war zu dieser
dem Melodija Pop- und Schlager-Aufnahmen von
Zeit das größte Label der Welt. Zum Programm
Weltformat machte. Bis einschließlich 1969 war
gehörte natürlich die klassische Musik: Interna-
die sowjetische Estrade kein Stück schlechter als
tionale Stars wie Swjatoslaw Richter, Emil Gilels
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oder Mstislaw Rostropowitsch nahmen für Melo-
der selbständig und bekam ein neues, engagiertes
dija ebenso auf wie die großen sowjetischen Or-
Management. Seit anderthalb Jahren erscheinen
chester. Daneben veröffentlichte das Label aber
nun wieder neue Melodija-CDs, vor allem unver-
auch Folkmusik aus aller Herren Länder, die Re-
öffentlichte oder lange vergessene Schätze aus
den kommunistischer Parteiführer und natürlich
den riesigen Archiven. Mahler-Sinfonien, ein-
sowjetischen Pop.
gespielt unter dem legendären Dirigenten Kirill
Als die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre ihrem
Kondraschin, Beethovensonaten mit Maria Grin-
Ende entgegen taumelte, war klar, dass mit ihr
berg oder Sinfonien des sowjetischen Komponis-
auch Melodija untergehen würde. Wie schlimm
ten Nikolai Mjaskowski, für die Melodija kürz-
es wirklich werden würde, konnten allerdings
lich in Westeuropa ausgezeichnet wurde. Dane-
selbst die größten Pessimisten nicht ahnen. An-
ben stehen, wie vor 30 Jahren auch, Perlen der
drei Troschin: „1991 begann Melodija zu zerfal-
sowjetischen Popmusik in der Serie „Die wahre
len, wie alle sowjetischen Institutionen dieser
Geschichte der vaterländischen leichten Musik“.
Größe, genau wie der Staat als Ganzes. Und diese
Ganz vorsichtig beginnt Melodija nach fast 15
Situation nutzten eine ganze Reihe böser Onkels
Jahren Pause auch wieder, neue Aufnahmen zu
aus dem Westen aus. […] Man hatte Angst, dass
machen: Jazz aus verschiedenen ehemaligen
Melodija den Weltmarkt mit Dumpingprodukten
Sowjetrepubliken und auch moderne klassische
überschwemmt, vor allem den Bereich klassische
Musik. Ganz vorsichtig deshalb, weil Aufnahmen
Musik. Darum war es gut, uns vom Markt fernzu-
teuer sind und der Kundenkreis klein. Melodija
halten und die Melodija-Archive selbst auszubeu-
im Jahre 2006, das ist zwar immer noch ein Un-
ten. 1991 war es kein Problem, diese Struktur zu
ternehmen in Staatsbesitz. Aber eine Weltfirma
zerstören, und genau das passierte. Für 12 Jahre
mit Abnehmern in 100 Ländern – das ist Melodi-
verschwand Melodija unter dem Dach von BMG
ja heute nicht mehr.
und galt als Label dieser Firma.“
In Moskau ging es derweil drunter und drüber
HÖRTIPPS
wie in einem schlechten Film. Piratenfirmen ver-
Das klassische Programm von Melodija ist im
öffentlichten Melodija-Aufnahmen, ohne eine
deutschen CD-Handel erhältlich. Sowjetische
Kopeke zu bezahlen, die Studios verfielen, und
und russische Popmusik dagegen haben hierzu-
das geradezu phantastisch korrupte Management
lande leider noch immer keinen Vertrieb. Die ein-
von Melodija verkaufte alles, was nicht niet- und
zige Chance: russische Internetgeschäfte, die in
nagelfest war, meistbietend ins Ausland. Sogar
Deutschland russische CDs, Videos und Bücher
der Katalog von Melodija wurde systematisch
verkaufen, z.B. express-kniga.de, gelikon.de und
zerstört, um die Spuren des Raubs zu verwi-
http://www.petershop.com/de/.
schen.
Über das Programm von Melodija kann man sich
Vor zwei Jahren passierte dann das kaum noch zu
im Internet unter www.melody.su informieren,
erwartende Wunder: Nach zwölf Jahren Ausver-
auf Englisch oder Russisch, dort findet sich unter
kauf und Barbarei, nach mehr als einem Jahrzehnt
http://www.melody.su/eng/shops.php auch eine
systematischer Vernichtung des musikalischen
Liste ausländischer Versandhandlungen, die ei-
Erbes eines ganzen Landes wurde Melodija wie-
nen Teil der CDs im Sortiment führen.
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