Probekapitel - Franz Steiner Verlag

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EINLEITUNG
Leibniz zwischen der Entstehung und der Krise der Modernität
Juan Antonio Nicolás (Universität Granada, Spanien)
Die Philosophie G. W. Leibniz stellt ein grundlegendes Kapitel für die Konstituierung dessen dar, was wir unter Modernität verstehen. Für die Zeit zwischen R.
Descartes bis zu I. Kant stellt Leibniz gewöhnlich einen entscheidenden Beitrag aus
der rationalistischen Perspektive dar, die später von I. Kant ausgelotet wurde, wobei
teilweise der klassische britische Empirismus, speziell in der Version von D. Hume,
von Nutzen war. Das aus diesem philosophischen Muster resultierende und in den
folgenden Jahrhunderten vorherrschende Modell der Rationalität war der technischwissenschaftliche Verstand der Aufklärung.
Jedoch würde eine Interpretation, die das Werk von Leibniz nur als einen Beitrag zu dieser historischen Entwicklungslinie der Wissenschaft und der Philosophie
auffasst, nicht der Realität des leibnizschen Denkens als Ganzes gerecht werden.
Dass Leibniz sehr bedeutende Beiträge in diesem Sinne geleistet hat, scheint nicht
bezweifelt werden zu können (z. B., die Kritik und das Überwinden des Substantialismus, die Entwicklung der Logik, etc.); allerdings gibt es andererseits Aspekte im
Werk dieses Denkers, die sich schwerlich unter diesem Gesichtpunkt einordnen
lassen, wie z. B. die Einbeziehung der philosophischen Traditionen der Kabbala
und der Alchimie, seine Verbindung zum Neuplatonismus der Renaissance, sein
Organizismus, der unter dem Einfluss der letzten Fortschritte der Biologie in einem
von der Physik dominierten Jahrhundert steht, etc. Diese letzten Bereiche des leibnizschen Denkens wurden weitgehend in ihrer Bedeutung unterschätzt; zum Einen,
weil man sie nicht kennt, denn die entsprechenden Texte wurden nicht veröffentlicht, und zum Anderen wohl auch, weil sie sich mit dem Modell der aufgeklärten
Rationalität, das sich nach Kant historisch gesehen durchsetzte, nicht vereinbaren
lassen.
Im aktuellen Kontext, wo sich genau dieses Modell der theoretisch-praktischen
Rationalität nach sukzessiv im Laufe des XX. Jahrhunderts angeführten Kritiken in
der Krise befindet, erscheint es unter kulturellen Gesichtspunkten dringend und unter philosophischen sehr vielversprechend, das leibnizsche Gedankengut zu rekonstruieren, indem bisher für sekundär gehaltene Aspekte einbezogen werden.
Dieses Vorhaben hätte zwei Arten von Vorteile: Zum Einen würde aus einer
historisch-kritischen Sichtweise einem der bedeutendsten intelektuellen Werken
der gesamten europäischen Geistesgeschichte Gerechtigkeit widerfahren, wenn die
verschiedenen Einflüsse, die bei Leibniz tatsächlich zum Tragen kommen, berücksichtigt würden, und seine Kritik am Cartesianismus und die Neuartigkeit seiner
Übersetzt von Linus Jung.
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Vorschläge die jeweils verdiente Bedeutung zugesprochen bekämen. Andererseits
nützte man von einem kritisch-systematischen Gesichtspunkt aus den Umstand,
dass Leibniz nicht nur entscheidende Beitäge zum Aufbau der Modernität geleistet
hat, sondern auch weit über das Rationalitätsmodell hinausgeht, das historisch gesehen gerade Gestalt annahm und sich schließlich durchsetzte. Bei der heutigen
Kritik und Bewertung der modernen, aufgeklärten Rationalität könnte das Denken
von Leibniz eine Quelle an Vorschlägen und Anregungen, um das Ergebnis der
modernen Vernunft, auf die wir in keinster Weise verzichten können, zu renovieren
und zu transformieren.
Dieser zweifachen Aufgabe der historischen Rekonstruktion und der Kritik der
Gegenwart stellte sich der „IV Congreso Internacional Leibniz: G. W. Leibniz entre
la génesis y la crisis de la Modernidad“, der von der „Sociedad española Leibniz“
in Granada im November 2007 abgehalten wurde.
Der vorliegende Sammelband stellt eine Auswahl der auf dem genannten Kongress
gehaltenen Vorträge vor, die von den herausragendsten Leibnizforschern aus
Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Lateinamerika, Portugal, Spanien und USA
gehalten wurden. Der Kongress wurde unterstützt vom Forschungsprojekt „Leibniz
en español“, das es sich zum Ziele gesetzt hat, die Werke von G. W. Leibniz in der
Reihe „Obras filosóficas y científicas“ auf Spanisch in 19 Bänden zu veröffentlichen.
Die Aufsätze drehen sich um historische Moment der Entstehung der Modernität (im XVII. Jhdt.). Es galt zu versuchen, die Beiträge des philosophischen Werkes
von Leibniz zu diesen Moment zu ermitteln. Dazu wurden vier thematische Bereiche vorgesehen: Leibniz und die Entstehung der Modernität, die Prinzipien der
Philosophie und der Naturwissenschaften, die Sprachphilosophie und die Erkenntnistheorie, und Ontologie und Theodizee.
In der ersten Gruppe von Beiträgen analysieren sechs Arbeiten das Eingebundensein von Leibniz in seine Zeit, d. h., in die Konstituierung dessen, was wir als
Modernität kennen. Bei dieser Einbindung von Leibniz in seine Zeit wird verschiedenen Bereichen untersucht. Einerseits, vom Standpunkt der wissenschaftlichen
Rationalität, verteidigt H. Schepers mit Leibniz, dass Raum und Zeit keine absoluten realen Begriffe (gegen Newton) sind, sondern ideelle Relationen, die mit der
Tätigkeit der Substanzen selbst entstehen. Im zweiten Stelle, zeigt J. Arana, dass,
obwohl in der Aufklärung sich eine Wissenschaftskonzeption, die über Leibniz hinweggehen möchte, durchsetzt, seine Handschrift besonders dann gegenwärtig ist,
wenn es darum geht, neue Forschungen zu betreiben oder mögliche Lösungen zu
entwerfen, d. h., sein Einfluss macht sich in fundamentaler Weise im Bereich der
heuristischen Strategien bemerkbar.
Andererseits, vom Standpunkt der praktischen Rationalität, P. Riley entgegenstellt der „allgemeine Begriff der Gerechtigkeit“ von Leibniz dem Voluntarismus
von Descartes, Calvin und Hobbes. Seinerseit, C. Roldán beschreibt die etisch-politische Situation, in der Leibniz sein Denken auf der Grundlage des Leitspruchs
„theoria cum praxi“ entwickelt. Die praktische Philosophie von Leibniz wird als ein
Modell für den aktuellen Moment präsentiert im Bezug auf die Interaktion zwi-
Einleitung
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schen wissenschaftlicher Entwicklung und ethischem Fortschritt, hinsichtlich der
Versöhnung der Pluralität in der Einheit, bezüglich der Harmonie zwischen dem
Alten und dem Neuen, im Hinblick auf die Integration der Verschiedenheit, im Bezug auf der Suche nach immerwährendem und universellem Frieden, etc. Und dies
alles auf dem Weg der kulturellen Gemeinschaft, die die „Republik der Wissenschaften“ ist.
Zuletzt, vom ontologisch und anthropologisch Standpunkt, J. de Salas hebt in
seinem Beitrag die Bedeutung des Individuums für die demokratische, politische
Organisation hervor und unterstreicht in Übereinstimmung mit Leibniz, dass jeder
menschliche individuelle Gesichtspunkt nicht mehr als eine bestimmte Sichtweise
auf die Totalität darstellt. Und endlich, J. A. Nicolás zielt auf eine vereinheitlichte
Ontologie mit zwei Achsen ab: dem Vitalismus und dem Funktionalismus.
Die zweite Gruppe von Untersuchungen, auch mit geschichtlichem Charakter,
stellt Studien zusammen, die der Analyse der Prinzipien der Philosophie und der
Naturwissenschaften gewidmet sind. Sie umfasst Beiträge über die Kausalität (T.
Matsuda) und der Satz vom zureichenden Grund (A. Lyssy, O. Feron und A.
Lalanne). Darüberhinaus weist sie auch zwei Studien mit einem größeren Blickwinkel auf. Im ersten dieser Beiträge beschäftigt sich B. Orio mit der Beziehung zwischen der komplexen Ontologie Leibniz’ und der Naturwissenschaft; und E. Passini
untersucht die Möglichkeit, das leibnizsche Denken systematisch zu rekonstruieren
und zu zeigen, was wesentliche Prinzipien solch einer Rekonstruktion wären.
Die dritte Gruppierung umfasst Untersuchungen zum Thema der Erkenntnistheorie und der Sprachphilosophie. Zwei Arbeiten ergründen die Rolle der Sprache.
Im ersten Beitrag behandelt H. Poser die Fragestellung, wie die Komplexität der
Welt zu fassen ist und wie dafür das wichtigste Instrument die Sprache ist. Jedoch
gibt es viele und sehr unterschiedliche Sprachen, so dass er die Repräsentationsfunktion der Sprache und ihre Zusammenhänge bei den formalisierten und natürlichen Sprachen analysiert. Im zweiten Aufsatz geht J. Velarde von der Sprachkonzeption Chomskys aus, die auf Descartes zurückgeht. Angesichts der Unzulänglichkeiten dieses Modells im Bezug auf die Funktion des Körpers schlägt er einen leibnizschen Rahmen vor, der sich durch den Vitalismus, Organizismus und der Verkörperlichung des Geistes charakterisiert.
Die anderen Arbeiten dieser Gruppierung umfassen verschiedene Aspekte der
Erkenntniskonzeption Leibniz’, sei es im Verhältnis zur Logik und der Quantifizierung des Prädikats (W. Lenzen), sei es im Bezug auf die Beziehung zwischen Geist
und Körper (L. Cabañas), oder auch im Hinblick auf die Rolle der Emotionen und
der Willensschwäche bei der Erkenntnis (A. Ballestra).
Im vierten Teil sind die Arbeiten zusammengestellt, die sich dem zentralen Begriff der Ontologie Leibniz’ widmen: der Monade (Ch. Schneider, A. Cardoso). Im
ersten Beitrag werden der Begriff Individuum und im zweiten die Beziehung der
Monade zum Vinculum substantiale untersucht. Zwei weitere Arbeiten sich auf verschiedenen ontologischen Aspekte beziehen: Auswahl und Herstellung des Besten
durch die Macht Gottes (A. L. González) und der Verbindung von S und P bei notwendigen und kontingenten Aussagen (M. Mendonça).
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Seinerseits L .E. Lopes dos Santos beschäftig sich mit der Gültigkeit der Satz
vom zureichenden Grund in Beziehung mit der Kontingenz, die Freiheit und den
aristotelischen Kausalitätsbegriff.
Der letzte Beitrag (P. Rateau) analysiert die Rationalität des leibnizschen Theodizeeprojekts im Hinblick auf die spätere Kritik Kants. Dabei verteidigt er die
Meinung, dass Leibniz die Theodizee nicht als Wissenschaft auffasst und es somit
in seiner Argumentation keine eigentliche Beweisführung gibt, sondern nur eine
relative Gewissheit.
Diese ganze thematische und methodologische Verschiedenheit in den Arbeiten
spiegeln die eindrucksvolle Weite und Vielseitigkeit des leibnizschen Werkes wider, das von den Naturwissenschaften bis zur Philosophie, der Religion oder der
Politik reicht.
Die leibnizsche Philosophie kann auf zwei Richtungen analysiert werden. Zum
Einen geht es um die Konsolidierung eines neuen Weges, das Denken von Leibniz
zu rekonstruieren, das sich nicht auf einen Zwischenschritt auf dem rationalistischen Pfad von Descartes hin zu Kant reduzieren lässt. Dieses neue Bild umfasst
den Einfluss der neuplatonischen, hermetischen und kabbalistischen Tradition bis
hin zu den Schriften Leibniz’ im Bereich der Medizin und Biologie; ebenso beinhaltet es den Vorschlag einer vereinheitlichten Rationalität für die Ontologie, die
Logik und Moral bis hin zur Relation von Geist und Körper.
Zum Anderen geht es um das Aussondieren der leibnizschen Beiträge im Kontext der Modernitätskrise und der Debatte mit der Postmoderne. Es fehlt nicht an
Autoren, die von einem „leibnizschen Moment in der Hermeneutik“ sprechen (J.
Grondin), oder die die Interpretation der Monadologie „als Entwurf einer Hermeneutik“ auffassen (K. Lorenz). Es ist auch nicht schwierig, die Präsens von Leibniz
in der vitalistischen Metaphysik Nietzsches oder im Werk Heideggers zu finden.
Demzufolge kann von einem leibnizschen Weg zwischen der Aufklärung und
der Hermeneutik gesprochen werden. Ein Weg, der offensichtlich nicht mit der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung, die in Europa in der Zeit der modernen
Aufklärung stattfand, übereinstimmt. Leibniz kann als eine Inspirationsquelle sowohl im Moment der Entstehung der Modernität als auch im Moment der Krise der
Aufklärung verstanden werden. Trotz seines Einflusses auf verschiedene Momente
und Autoren lässt sich Leibniz nicht mit dem Kern des aufklärerischen Denkens
identifizieren, das in der westlichen Welt in den letzten Jahrhunderten vorherrschend
war. Wir stehen also vor einem Denken, das in seinem Werdegang weder von der
aufgeklärten Modernität noch von dessen hauptsächlichen Alternative, der Hermeneutik, abhängt. Somit spannt sich der Bogen des Denkens Leibniz’ von der Zeit
vor der Aufklärung bis hin zur Post-Hermeneutik.
Bei dem im XX. Jahrhundert stattgefundenen Evaluationsprozess der Modernität gab es zwei, für unser Thema besonders relevante Kritiken, die sich gegen die
tatsächliche Entwicklung des Aufklärungsprojekts richteten. Die erste Kritik besteht darin, die Rationalität und ihr Funktionieren auf eine Wissenslogik und zuweilen sogar auf eine Wissensmethodologie reduziert zu haben. Indem der rationaldiskursiven Ebene der Vorrang eingeräumt werde, komme ein gewisses Erfah-
Einleitung
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rungsdefizit zum Ausdruck. Eine zweite Kritik besagt, dass die Vernunft in zwei
Bereiche, einen theoretischen und einen praktischen, getrennt wurde, deren Logik
voneinander relativ unabhängig sind. Diese zweite Kritik formuliert somit ein Defizit an Systematisierung. Beiden Einwänden kann man in gewisser Weise von den
leibnizschen Fragestellungen her antworten.
(a) Der Vorwurf eines Erfahrungsdefizits rührt daher, dass die moderne Vernunft der Methode den Vorzug gibt, d. h., der Wissenslogik. So gesehen, ist es die
Vernunft, die die Erfahrung konfiguriert und determiniert.
Die gleiche Kritik wurde häufig gegen Leibniz selbst vorgebracht. Jedoch kann
dies nur sinnvoll sein, wenn man eine vereinfachende Interpretation des leibnizschen Denkens akzeptiert, und zwar in dem Sinn, dass man sein Denken ausschließlich auf eine ökonomisch-rechnende und logisch-formale Vernunft reduziert. Jedoch hält diese Interpretation, auch wenn sie noch so in bestimmten Momenten
oder philosophischen Kreisen verbreitet war, einer rigorosen Analyse der Schriften
des deutschen Denkers nicht stand.
Leibniz oferiert nämlich eine komplexe Konzeption des Wissens und der Vernunft, bei der nicht nur die Methode, sondern auch der Zweck, die eigentlichen
Gegenstände jeden Wissens, die Freiheit des Erkenntnissubjekts, die verschiedenen
Anwendungsebenen, etc. zum Tragen kommen. Dadurch geht Leibniz über die
physisch-mechanische Konzeption der Wissenschaft und der Realität hinaus, indem
er sie durch das biologisch-vitalistische Modell ersetzt. Auf diese Weise integriert
er Elemente wie das Unbewusste, das Leben, die Kraft, der immerwährende Dynamismus, die Körperlichkeit, etc.; und zugleich transformiert er damit die Konzeption der Methode selbst.
Dies alles hat sein Epizentrum im Prinzip der Vernunft, dem Leibniz, weit entfernt von Vereinfachungen, zumindest einen dreifachen Wert zuschreibt: einen logisch-methodologischen Wert, einen ontologisch-realen Wert und einen ethischpraktischen Wert. Und in seiner strengsten und meist kritisierten Bedeutung des
Begründungsprinzips vereint Leibniz mindestens drei Begründungsmodelle: die
deduktive Begründung, teleologische Begründung und die Begründung der Kohärenz. All diese Verschiedenheit kann man schwerlich unter dem Etikett rechnende
Vernunft ablegen. Daher müsste man voranschreiten in Richtung einer Interpretation des Vernunftprinzips als einer Grundforderung des „vernunftgemäßen Auskunft-Gebens“ (essentielle Formel des besagten Prinzips), als die Verstehensstruktur des Realen, letzten Endes als „begreifen“. Vernunftmäßig Auskunft geben bedeutet im Falle Leibniz’, verstehbar machen, erklären, rechtfertigen, erwägen, begreifen. Demnach darf man „begreifen“ nicht im heideggerischen Sinne der „Interpretation“ oder als „Sinneröffnung“ verstehen, sondern man kann es, ohne formal
die leibnizsche Fragestellung zu verlassen, im Sinne einer „Einsicht“, das Reale
erfassen, verstehen, und dies ist gerade die in ihrem eigentlichsten Sinne menschliche Erfahrung. Es dreht sich nicht um eine Erfahrung, die notwendigerweise einer
Methodologie untergeordnet sein muss, aber es handelt sich auch nicht um die Erfahrung im natürlichen, spontanen oder naiven Sinn. Es geht um die Grunderfahrung des Verständlichkeitscharakters des Realen, die bei Leibniz die Form des „alles ist lebendig“ annimmt.
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(b) Die moderne, aufgeklärte Rationalität wurde auch wegen ihres Defizits an
Systematisierung kritisiert, das vor allem in einer Aufspaltung der Vernunft (in eine
theoretische und praktische) besteht, was eigentlich die Einheit, um die sich Kant
mit Nachdruck bemüht hatte, zerstörte. Folge davon ist, dass sich der Fortschritt der
theoretischen (wissenschaftlich-technischen) Vernunft in skandalöserweise manchmal gegen die eigenentlichen Ziele des Menschen richtet.
Was dies nun Leibniz angeht, so gehört er in eine Epoche, in der sich die verschiedenen Wissensbereiche noch nicht in bedeutender Weise voneinander unabhängig etabliert hatten, zumindest in dem Sinn, wie wir dies heute kennen. Daher
gibt es Prinzipien, die sowohl für die Metaphysik und die Logik, die Ontologie und
Theologie, die Physik und Mathematik eine Gültigkeit haben. Und dies zieht einen
Bogen zum zweiten, gegen das aufgeklärte Denken gemachten Einwand.
Leibniz offeriert einen Vorschlag einer vereinheitlichten Vernunft, in der Theorie und Praxis innerlich verbunden sind, weil es Prinzipien gibt, die den beiden
gemeinsam sind. Wieder einmal mehr dreht sich die ganze leibnizsche Konzeption
der Rationalität um das Vernunftprinzip. Was diesen Punkt betrifft, so existieren
Formulierungen dieses Prinzips, die auf besonders klare Weise seine theoretischpraktische Verbindung deutlich machen: principium perfectionis, principe de la
convenance und principe du meilleur, womit Leibniz auch den moralischen Charakter der Rationalität zum Ausdruck bringt: Vernunft, Gutheit und Perfektion sind ein
unauflösbares Trinom. Die Rationalität konstituiert die beste Möglichkeit des Menschen, sowohl ontologisch (im Hinblick auf die Konzeption der Welt) als auch
ethisch (für das menschliche Handeln).
Das ganze wissenschaftlich-rationale Werk von Leibniz hat ein praktisches
Ziel. Letztendlich geht es darum, in der Realität zu intervenieren, sowohl natürlich
als auch sozial, um sie den rational-praktischen Interessen des Menschen anzugleichen, deren Synthese wohl im Erreichen des Glücks und in der Realisierung des
„göttlichen Republik“ besteht.
Auf diese Weise konstituiert sich die Ethik, in der die Erkenntnis der Wahrheit
den Willen zu führen hat. Aus dieser notwendig faktischen und den Umständen
gemäßen Perspektive auf das menschliche Wesen ist die Politik das Wissen, das in
der Praxis versucht, das kollektive Verhalten der Individuen zu harmonisieren. Diese soll die Interessenkonflikte unter den Menschen im Hinblick auf das individuelle Glück und das Gemeinwohl lösen. Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, greift
Leibniz auf die ethisch-politische Kategorie der Gerechtigkeit zurück. Das Handlungskriterium der Gerechtigkeit, d. h., der Interessenregulierung, zeigt sich im
„principe de la place d’autry“, das ein gewisses Intersubjektivitätsprinzip im leibnizschen Denken zum Ausdruck bringt.
Dieses Prinzip der praktischen Beweisführung hat seine Begrenzung im monadischen Perspektivismus. Jede Monade unterscheidet sich von den anderen genau
dadurch, dass sie einen spezifischen und von den übrigen unterschiedenen Gesichtspunkt der Totalität repräsentiert. Daher ist es nicht möglich, den Gesichtspunkt des
Anderen voll und ganz zu übernehmen, ohne sich mit ihm zu identifizieren, und
folglich ohne die eigene Individualität zu verlieren. Dies ist jedoch unmöglich. Was
jedoch der Versuch, sich in die verschiedenen Perspektiven der an jeder Entschei-
Einleitung
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dung Beteiligten hineinzuversetzen, beiträgt, ist eine Menge an notwendigen Elementen, um die angemessenste Option, d. h., die vernünftigste, oder in einem praktischen Sinn, die gerechteste Wahl zu treffen.
Leibniz vertritt die Meinung, dass das Entstehen der besten Welt ein historischer Prozess ist, der immer weitergeht auf Grund der Endlichkeit der menschlichen Vernunft: „Niemals kommt folglich der Prozess an sein Ende“. Deshalb erfordert der Weg in Richtung der besten Welt, sich für eine bessere Welt zu engagieren.
Damit stehen wir vor einer theoretisch-praktischen oder ethischen Konzeption
der Vernunft. Sie umfasst (geeint durch die Prinzipien) die theoretischen und praktischen Bereiche des menschlichen Wissens und Handelns. Dieses Modell basiert
auf dem grundlegenden Vertrauen in die Vernunft und ihre Kapazität, wirklich einen Beitrag zur progressiven Annäherung des Menschen an sein Glück zu leisten.
Nach drei Jahrhunderten der Entwicklung des wissenschaftlich-rationalistischen
Projekts ist es genau die emanzipatorische und einigende Kapazität dieses menschlichen Vermögens, das tiefgreifend in Frage gestellt wird.
In einem Kontext, wo der Kommunitarismus ein partielles Wiederaufgreifen
der aristotelischen Ethik der Tugenden vertritt, der Neokonservatismus die Verwendung der Religionen zu einer Neulegitimierung der ökonomisch-produktiven Dimension der fortgeschrittenen, kapitalistischen Gesellschaften verteidigt, die diskursive Ethik die Einschränkung der instrumental-rechnenden Vernunft und ihrer
Verbindung mit den kommunikativen und befreienden Dimensionen der Rationalität einfordert, und die Postmoderne eine Rolle für die nicht-konzeptuellen Dimensionen der menschlichen Einsicht reklamiert, erscheint der leibnizsche Vorschlag
als sehr ansprechend. In der Epoche der Globalisierung, in der wir uns befinden und
die die Spannung zwischen dem aufgeklärten Universalismus und der Rolle des
Besonderen in Form von kulturellen Minoritäten, Randgruppen, etc. in den Vordergrund stellt, und in der Epoche, wo man die Bedeutung der konkreten Gemeinschaft
als Mechanismus der sozialen Kohäsion einfordert, offeriert Leibniz einen Vorschlag zur moralischen Rationalität, der, ohne auf den Universalismus der rationalen Prinzipien zu verzichten, diese in eine Metaphysik der Individualität integriert. Dies wäre eine Möglichkeit, in der so sehr geforderten Einheit der Vernunft
als auch in der nicht weniger dringenden Forderung nach der Anerkennung der
Minderheiten voranzukommen.
Auf diese Art und Weise wird der leibnizsche Weg der Modernität skizziert, in
Interaktion mit der Entfaltung der Aufklärung, aber dennoch von ihr unterscheiden.
Es wäre ein Vorschlag mit zwei komplementären Seiten: die Lebenserfahrung und
die systemische Einheit der Vernunft, in der sich Einheit und Globalität gegenseitig
benötigen, aber ohne miteinander zu verschmelzen. Diese Sammlung von Aufsätzen möchte einen Beitrag zur Rekonstruktion dieser Alternative leisten, um zu zeigen, dass mit Leibniz eine andere Modernität möglich gewesen wäre; und dass
heute, da eine andere Modernität notwendig ist, Leibniz eine Inspirationsquelle für
die Rekonstruktion der Rationalität und für die Orientierung des menschlichen
Handelns darstellt.
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