Kommt für die katholische Kirche jede Rettung zu spät?

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KOMMT FÜR DIE KATHOLISCHE KIRCHE JEDE RETTUNG ZU SPÄT?
Reflexionen eines Kirchenhistorikers
von
GEORG DENZLER
Vermutlich hat Sie schon der fragende Titel meines Vortrags provoziert und
auch gleich zu einer von Wunschdenken bestimmten Antwort animiert : Nein,
niemals, das kann nicht sein. Oder: Ja, warum nicht, schon lange fällig.
Bibelkundige Katholiken nehmen ihre Zuflucht schnell zu Matthei am Letzten,
das heißt, zum Schluß des Matthäus-Evangeliums. Der vom Tod auferstandene
Jesus versammelte seine elf Jünger auf einem Berg in Galiläa: „Als sie Jesus
sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber hatten Zweifel. Da trat Jesus auf
sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der
Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen
Jüngern. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. SEID
GEWISS: ICH BIN BEI EUCH ALLE TAGE BIS ZUM ENDE DER
WELT“ (Mt 28, 16-20).
Derselbe Evangelist Matthäus hat noch eine andere Garantie, wenn er im
Blick auf die Berufung des Petrus versichert: „Du bist Petros, und auf diesem
Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie
nicht überwältigen“ (Mt 16,18).
Was bedeuten demgegenüber Drohungen mit Untergang der Kirche von
Voltaire über Napoleon bis Hitler und Stalin!
Trotzdem bleiben Bedenken und Zweifel. So fragte der katholische
Soziologieprofessor KARL GABRIEL schon vor fast 20 Jahren in seinem
Buch „Christentum zwischen Tradition und Moderne“: „Was ist los mit dem in
den Kirchen zur Institution gewordenen Christentum? Sind wir seit zwanzig
Jahren Zeugen des Anfangs seiner zu Ende gehenden Geschichte?... Immer
mehr Menschen lassen sich nicht mehr durch die in den Kirchen Gestalt
gewordene Lebensmacht des Christentums bestimmen, sondern bestimmen
selbst ihr Verhältnis zu den Kirchen und deren Ansprüche an ihre
Lebensführung.“ Das ist die allgemeine Situation, zumindest in den Kirchen
Europas.
Bischof GEBHARD FÜRST von Rottenburg-Stuttgart, früher Direktor der
Katholischen Akademie des Bistums Rottenburg, gibt sich, was die Kirche in
Deutschland betrifft, alles andere als optimistisch und siegessicher. Wichtig für
die Kirche sei vor allem, sagte er beim Neujahrsempfang seines Bistums, auf
junge Christen zuzugehen. „Heute und in der kommenden Generation sind sie
die Kirche. Oder sie sind es nicht. Und dann sind wir als Kirche nicht mehr.“
Der von der evangelischen zur katholischen Kirche konvertierte Priester und
Theologe HENDRIK WILLEM VAN DE POL äußerte in seinem Buch „Die
Zukunft von Kirche und Christentum“ (Freiburg 1970) die bedenkenswerte
Ansicht: „Es könnte sogar der Fall sein, daß Kirche und Christentum in ihrer
traditionellen Form zur Gänze oder teilweise zum Verschwinden verurteilt
sind, wenn sie nicht mehr in das von der Menschheit erreichte Kulturstadium
passen und daher nicht mehr ein geeignetes Mittel zur Verbreitung des
Glaubens, sondern ein ernstes Hindernis für die Verkündigung und das
Wirksamwerden des Evangeliums und des christlichen Glaubens bedeuten.“
Deutlicher noch sagt es der brasilianische Befreiungstheologe LEONARDO
BOFF: „Warum soll es nicht möglich sein, daß nicht nur die katholische
Kirche, sondern das Christentum in Europa genau so untergeht wie das einst
blühende Christentum der Spätantike in Kleinasien oder Nordafrika. Wenn die
Kirche sich nicht ändert, wird sie verschwinden wie einst die Dinosaurier.“
Bei allen Krisen- und Untergangsreden sollten wir jedoch eine wichtige
Unterscheidung des Münchener Soziologieprofessors ULRICH BECK nicht
vergessen. „Nicht das Christentum stirbt aus“, meinte er, „sondern das
europäische Christentum. In einigen seiner Hochburgen, auch in Deutschland,
ist es mit einer rapiden Entleerung der Kirchen konfrontiert.“ Nach seiner
Meinung läuft die Säkularisierung nur „auf eine Enteuropäisierung des
Christentums hinaus. Das außereuropäische Christentum blüht auf, das
europäische verwelkt (obwohl es auch hier neue Knospen gibt).“ In der Tat,
die Dechristianisierung in europäischen Ländern vollzieht sich zeitgleich mit
dem Anwachsen des Christentums in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Frage I
IST DIE KATHOLISCHE KIRCHE SELBST SCHULD AN IHRER
GEGENWÄRTIGEN MISERE?
Bibelwissenschaftler stimmen heute darin überein, daß Jesus keine Kirche
gegründet hat und deshalb auch keine genaue Kirchenverfassung vorliegen
kann, auf die die unter seinem Namen entstandenen Kirchen bis zum heutigen
Tag verpflichtet wären. Jeschua oder Jehowa, der heilend und predigend durch
Israel ziehende Prophet aus Nazareth, sah seine primäre Aufgabe darin, das
Volk Israel, dem er selbst angehörte, zum Glauben und Gehorsam gegenüber
Gott, seinem Vater, zu bekehren. Daß es schon bald im Lauf der Ablösung von
Israel zum Entstehen einer Kirche aus Juden und Heiden kam, war eine Folge
der Ablehnung der Jesuspredigt durch die Führer des Volkes Israel.
Auch wenn Jesus „nicht irgendeine für alle Zeiten gültig festgelegte
Verfassungsform oder Amtsinstitution gestiftet hat“, wie es der Bamberger
Exeget PAUL HOFFMANN formulierte, so verkündete er doch eine Lehre,
die Botschaft vom Reich Gottes, die für sein Programm konstitutiv bleibt.
Wenn nun die im Sinn Jesu entstandene Institution Kirche untergehen sollte,
bedeutet dies nicht gleichzeitig, daß auch die Jesus-Botschaft untergeht. Das
heißt letztlich, daß wir auch ohne Kirche Anhänger Jesu sind, solange nur sein
Evangelium unser Denken und Leben bestimmt.
JOHANNES XXIII. sprach bei der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils im
Oktober 1962 von „Zeichen der Zeit“, die es zu erkennen gelte. Inmitten von
viel Finsternis erblickte der greise Papst Anzeichen der Hoffnung. Er hielt
nichts von „Unheilspropheten“, „die überall das Unheil voraussagen, als ob die
Welt vor dem Untergang stünde.“ Und noch weniger hielt er von
Prophezeiungen, die ein baldiges Ende der Kirche vorhersagten.
Wenn wir heute, ein halbes Jahrhundert später, nach „Zeichen der Zeit“
Ausschau halten, vernehmen wir auf den ersten Blick wenig Zeichen der
Hoffnung, sondern eher Vorboten einer langsam schwindenden Kirche. Es ist
einfach nicht zu übersehen, daß die Kirche mit ihrer Lehre nur noch wenig
Gehör findet und das Christentum eines langsamen, aber sicheren Todes
dahinzusterben scheint.
Zur Beruhigung mag es dienen, daß die Kirche zu keiner Zeit, auch nicht im
viel gepriesenen christlichen Mittelalter, ihre Idealform erreicht hat. Der
französische Religionssoziologe GABRIEL LE BRAS bezweifelte sogar, ob
jemals eine totale Christianisierung bestanden habe. Angesichts der Defizite
und Sündhaftigkeit der Kirche erging darum zu allen Zeiten der Ruf nach
Reform: Ecclesia semper reformanda.
Die einst prominente, heute fast ganz vergessene Schriftstellerin IDA
FRIEDERIKE GÖRRES nahm gegen Ende des Pontifikats von Papst Pius XII.
(+ 1958) in einer Sendereihe des SÜDWESTRUNDFUNKS Stellung zum
Thema Kritik an der Kirche: „Man braucht nur auf den Knopf zu drücken, ich
glaube, jeder von uns kann im Schlaf die ganze betrübliche Litanei
herunterrasseln: Misere von Predigt und Religionsunterricht, Verwilderung
oder Erstarrung der Liturgie, Index und römischer Zentralismus, bischöfliche
Bürokratie, Schäden der Priesterbildung, der Klostererziehung, politischer
Konformismus, Moraltheologie unter besonderem Hinblick auf Atombomben
und Sexualfragen, lateinische Kultsprache, Priesterskandale, Manager- und
Tagungsrummel in den Organisationen, Thomismus, Rationalismus,
Marianismus, Wallfahrtsgeschäft und …“
URSACHEN FÜR DIE HEUTIGE KIRCHENKRISE
(1) Bei der Suche nach Ursachen für die gegenwärtige Misere müssen ir zuerst
einmal das äußere Erscheinungsbild der Kirche auf den Prüfstand stellen. Mit
Recht nehmen hier viele Mitglieder und Beobachter der Kirche Ärgernis. Dies
empfanden auch schon Teilnehmer des 2. Vatikanischen Konzils.
ELIAS ZOGHBY, melchitischer Pariarchalvikar von Antiochien, sprach am
21. Oktober 1964 in der Konzilsaula von St. Peter offen aus: „Die heutige
Welt erkennt nur eine einzige Autorität an, die des Dienstes. Vermeiden wir
deshalb auch Redensarten wie ‚Kirchenfürst’ und ‚Bischöfliches Palais’, die an
Ehrenerweise und Herrschaft erinnern. Hören wir auf, den ersten Stellvertreter
des gekreuzigten Jesus als den ‚glorreich Regierenden’ zu bezeichnen.“
Der Bischof von Rennes in Frankreich, PAUL GOUYON, richtete während der
1. Konzilsperiode seine Kritik auf die Formen des Gottesdienstes: „Was man
den Abfall der Massen nennt, ist zum großen Teil nur die Folge der
Unverständlichkeit der liturgischen Riten und eines pomphaften Äußeren des
Gottesdienstes, das gewiß seine historischen Grundlagen hat, aber den
Geschmack unserer Zeit nicht mehr entspricht. Heutzutage kennen zahllose
Menschen die Kirche nur noch aus dem Kino, dem Fernsehen und den
Illustrierten, das heißt vom Apparat ihrer Zeremonien, ihrer Prachtentfaltung,
ihres Aufwands… Prächtige Formen sind ein Widerspruch gegen Christus,
während ein schlichter Gottesdienst Zeugnis für das Evangelium ablegt und die
Türen zur Einheit der Christen aufschließt. Möchten wir Bischöfe uns daran
erinnern, daß wir nicht Fürsten, sondern Hirten, nicht Herren, sondern Diener
sind. Dies ist die richtige Stunde, um alles zu vereinfachen, was vereinfacht
werden kann, denn alle Welt stimmt heute darin überein, daß im Leben des
Priesters und Bischofs Einfachheit, ja Armut herrschen soll… weisen wir doch
alle das als Mißbrauch zurück, was die Eitelkeit fördert und darum dem Wesen
der Liturgie als der Verkündigung der Offenbarung Gottes zuwiderläuft.“
Kurz vor Konzilsende im Dezember 1965 fanden sich in der DomitillaKatakombe zu Rom 40 Bischöfe zusammen – die meisten aus Südamerika und einigten sich auf eine Reihe von „Selbstverpflichtungen“. Darin hieß es
unter anderem: „Als Bischöfe, die sich bewusst geworden sind, wie viel ihnen
noch fehlt, um ein dem Evangelium entsprechendes Leben in Armut zu führen,
nehmen wir ….. folgende Verpflichtung auf uns: Wir werden uns bemühen, so
zu leben, wie die Menschen um uns her üblicherweise leben, im Hinblick auf
Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt. - Wir
verzichten ein für alle Mal darauf, als Reiche zu erscheinen wie auch wirklich
reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (teure Stoffe, auffallende
Farben, übertriebene Amtskleidungen) und bei unseren Amtsinsignien
(kostbare perlenbesetzte Mitras, Hirtenstäbe und Bischofssitze usw.) die nicht
aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen,
sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen. - Wir
werden weder Immobilien oder Mobiliar besitzen noch mit eigenem Namen
über Bankkonten verfügen, und alles, was an Besitz notwendig sein sollte, auf
den Namen der Diözese bzw. der sozialen und caritativen Werke
überschreiben. - Wir lehnen es ab, mündlich oder schriftlich mit Titeln oder
Bezeichnungen angesprochen zu werden, in denen gesellschaftliche Bedeutung
oder gar Macht zum Ausdruck gebracht wird (Eminenz, Exzellenz,
Monsignore …). Stattdessen wollen wir als „Padre“ angesprochen werden, eine
Bezeichung, die dem Evangelium entspricht. Wir werden in unserem Verhalten
und in unseren gesellschaftlichen Beziehungen jeden Eindruck vermeiden, der
den Anschein erwecken könnte, wir würden Reiche und Mächtige privilegiert,
vorrangig oder bevorzugt behandeln (z.B. bei Gottesdiensten und bei
gesellschaftlichen Zusammenkünften, als Gäste oder Gastgeber). - In pastoraler
Liebe verpflichten wir uns, das Leben mit unseren Geschwistern in Christus zu
teilen, mit allen Priestern, Ordensleuten und Laien, damit unser Amt ein
wirklicher Dienst wird.“
Diesen 40 Initiatoren schlossen sich ungefähr 500 weitere Bischöfe an. Was
ist daraus geworden? Wieder zu Hause, setzten die meisten Oberhirten ihren
gewohnten Stil fort. Gewiss fehlte es zu keiner Zeit, auch heute nicht, an
Prälaten, die von jenem Domitilla-Geist erfüllt sind. Ich denke z.B. an die
Bischöfe Kräutler, Helder Camara, Oscar Romero, Kardinal Martini , Bischof
Kamphaus und die Befreiungstheologen Ernesto Cardinal und Leonardo Boff.
Im Vatikan freilich merkt man nichts von diesem Geist, auch nicht beim
jetzigen Papst Benedikt XVI., obwohl er früher als Theologieprofessor frei von
Eitelkeiten und irgendwelchen Allüren gewesen ist.
(2) Weitaus schädlicher erweist sich das Festhalten an veralteten Strukturen.
Um Reformen vorzunehmen, bedarf es zuerst der Einsicht, dass Veränderungen
notwendig sind, und dann des Mutes, um neue Schritte zu wagen. Es hilft
nichts, überholte Strukturen schön zu polieren, um sie als neu erscheinen zu
lassen. Kirchliche Autoritäten müssen bereit sein, auf überholte Formen des
christlichen Lebens und unverständlich gewordene Formeln der christlichen
Lehre zu verzichten und den Aufbruch zu neuen, unbekannten Ufern zu wagen.
(3) Vor allem die traditionelle Ehe- und Sexualmoral der Kirche trägt einen
Großteil Schuld an der wachsenden Entfremdung und Entfernung zwischen der
Institution Kirche und der jungen und mittleren Generation. Es soll hier
genügen, auf den Sühnetod Jesu, auf das Verständnis der Sakramente,
inbesondere des Ehesakraments, auf die Behandlung gescheiterter Ehen, auf
das Verbot künstlicher Empfängnismittel und auf undifferenzierte Urteile in
puncto Homosexualität hinzuweisen.
(4) Im Brennpunkt heutiger Auseinandersetzungen steht wieder einmal das
Zölibatsgesetz für Priester. Die vom 2. Laterankonzil im Jahr 1139
beschlossene Verpflichtung aller Priester zu Ehelosigkeit ist umstritten, seit sie
in Geltung ist. Als Bischof Altmann von Passau den Priestern seiner Diözese
bei einer Synode im 11. Jahrhundert die Enthaltsamkeitsforderung Papst
Gregors VII. verkündete, hätten ihn aufgebrachte Kleriker tot geschlagen,
wenn nicht weltliche Große den Bischof beschützt hätten. Den Teilnehmern
des 2. Vatikanischen Konzils war eine Diskussion dieses Themas verboten.
Papst Paul V. behielt sich eine offizielle Stellungnahme vor, die zwei Jahre
nach Konzilsende mit der Enzyklika „Sacri caelibatus“ (1967) erfolgte. Der
steigende Mangel an Priestern verschlimmert die Situation der Seelsorge in den
einzelnen Pfarrgemeinden von Jahr zu Jahr. Und die Bischöfe wissen
angesichts ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem Papst keinen anderen Rat als
Aufforderung zum Gebet um Priesterberufe, als ob Gott selbst für die Notlage
verantwortlich sei.
Unlängst meldeten sich acht prominente CDU-Politiker und Mitglieder des
Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Wort und forderten die Bischöfe
auf, angesichts „der Not vieler priesterloser Gemeinden, in denen die
sonntägliche Messfeier nicht mehr möglich ist“, in Rom mit Nachdruck für die
Zulassung sog. viri probati zur Priesterweihe einzutreten. Doch Papst und
Kurie verhalten sich so, als ob es bei dieser Verpflichtung um das heiligste
Gesetz der Kirche gehe. Es besteht doch theologisch keinerlei Zweifel, daß die
Ehelosigkeit vom Evangelium her nur als frei gewählte Berufung (Charisma)
zu verstehen ist und und keiner bestimmten Personengruppe als ein allgemein
verbindliches Gesetz auferlegt werden kann. Fanatische Verteidiger diese
Verpflichtung aber tun so, als handle es sich dabei sogar um eom Dogma. Der
erst jüngst kreierte Kardinal WALER BRANDMÜLLER, früher Ordinarius für
Kirchengeschichte an der Universität Augsburg, verstieg sich in seiner
Reaktion auf den Vorstoß der acht CDU-Politikern bzw. Mitgliedern des
Zentralkomitees zu der Aussage, mit ihrem Vorhaben und Ansinnen würden sie
Jesus Christus, den Sohn Gottes, selbst beleidigen, und mit ihm all jene
Priester, die als Jünger nichts anderes täten, als sich die Lebensweise des
Meisters zu eigen zu machen. Und der Münchener Pastoraltheologe ANDREAS
WOLLBOLD behauptete gegen biblische und kirchenhistorische Zeugnisse,
der Enthaltsamkeits-Zölibat gehe auf die Praxis und Weisung des Herrn Jesus
und seiner Apostel zurück. Wenn die Auseinandersetzung auf einen derart
theologischem Tiefpunkt angelangt ist, kann man nicht mehr von historischer
Wissenschaft, sondern nur von ideologischer Verfälschung der Geschichte im
Namen Jesu sprechen.
JOSEPH RATZINGER hat fünf Jahre nach dem Konzil als
Theologieprofessor in Regensburg mit nüchternem Blick in die nächste
Zukunft der Kirche konstatiert: „Aus der Krise von heute wird auch dieses Mal
eine Kirche von morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein
werden … Sie wird viele der Bauten nicht mehr erfüllen können, viele ihrer
Privilegien in der Gesellschaft verlieren…. Sie wird auch gewiss neue Formen
des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern
weihen. In vielen kleineren Gemeinden wird die normale Seelsorge auf diese
Weise erfüllt werden.“ Inzwischen ist aus dem Theologieprofessor und
langjährigen Präfekten der Glaubenskongregation in Rom Papst Benedikt XVI.
geworden, der heute quasi als Monarch der Kirche verwirklichen könnte, was
ihm damals prophetisch vor Augen gestanden ist. Doch es geschieht nichts.
(5) Die Wurzeln der gegenwärtigen Krise der Kirche liegen aber viel tiefer.
Worum es heute geht ist eine Krise des religiösen Bewußtseins, eine Krise des
christlichen Glaubens. Auch und gerade der religiöse Mensch von heute
begegnet mit Argwohn und Mißtrauen einem objektiven, autoritären System
von Tabus, Pflichten und Glaubensartikel. Die Distanz zwischen den Formen
unseres Gottesglaubens und den Weisen, in denen wir unsere menschliche
Existenz erfahren, ist riesengroß geworden. Die Kirchenlehrer – damit meine
ich alle, die in irgendeiner Weise mit der Verkündigung des christlichen
Glaubens zu tun haben – haben es nicht verstanden, mit dem Fortschritt der
Wissenschaft, auch und vor allem der theologischen Wissenschaft, Schritt zu
halten. Der wissenschaftlich orientierte Mensch von heute läßt sich das, was er
für wahr halten soll, nicht mehr ohne weiteres und ungeprüft von
Glaubensinstanzen vorschreiben. Er will zuerst wissen, ob und aus welchem
Grund die vorgelegten Lehren des Glaubens tatsächlich auf Offenbarung
beruhen. Damit, daß man die Etikette „Heiliger Geist“ aufklebt, ist es nicht
getan.
Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild zu Beginn
der Neuzeit wurde zu einer Anfrage, ja, zu einem ersten Angriff auf die
Autorität der Bibel. Unvergessen ist bis heute, daß der Astronom Galileo
Galilei seinen astronomischen Theorien im Namen der Bibel abschwören
mußte und mit Hausarrest bestraft wurde.
Von der Wissenschaft her fragt man, ob die eucharistischen Wandlungsworte
„Das ist mein Fleisch“ und „Das ist mein Blut“ noch ontologisch (seinshaft) zu
verstehen seien oder ob nicht ein symbolisches Verständnis möglich sei.
Übrigens, ein Streit, der schon im 9. Jahrhundert seinen Anfang genommen
hat.
Zweifelhaft erscheint die Unsterblichkeit der Seele. Wenn man von einer
Untrennbarkeit von Seele und Leib ausgeht, hört dann nicht auch die Seele zu
existieren auf, wenn der Leib mit dem Tod endet? Oder wenn der Mensch als
Ganzes, mit Leib und Seele, stirbt, muß man dann die Auferstehung am
Jüngsten Tag als eine Neuschöpfung des Menschen verstehen?
Die wichtigsten Herausforderungen gehen von Vertretern der Bibelwissenschaft
aus. Für sie gilt als sicher, daß die Evangelien keine pure Geschichtsschreibung
darstellen, sondern den Glauben der ersten Christengemeinde widerspiegeln.
Und was ist, wenn Grabes- und Auferstehungsberichten der Bibel jeder
historische Charakter abgesprochen würde? Stünde dann nicht das Wesen des
christlichen Glaubens auf dem Spiel?
(6) Das kirchliche Lehramt hält unter Ignorierung neuer Erkenntnisse der
Wissenschaft, auch der theologischen, vornehmlich der Bibelwissenschaft, aber
auch auf dem weiten Feld der Kirchengeschichte, an vielen überholten
Meinungen und Lehren unentwegt fest.
Der Bamberger Neutestamentler PAUL HOFFMANN beklagt in seinem
lesenswerten Taschenbuch „Das Erbe Jesu und die Macht in der Kirche.
Rückbesinnung auf das Neue Testament“, wie schon der berühmte Tübinger
und später Münchener Kirchenhistoriker JOHANN ADAM MÖHLER (1838)
im 19. Jahrhundert, die Geringschätzung der Heiligen Schrift durch das
kirchliche Lehramt . Es bestehe immer die Gefahr, argumentiert Hoffmann,
„daß nicht mehr der Text die Norm für die Wahrheit der Auslegung ist,
sondern der lehramtliche Ausleger darüber befindet, was Wahrheit des Textes,
gegebenenfalls auch, was historisch wahr zu sein hat.“
Frage II
IST DIE MODERNE GESELLSCHAFT SCHULD AN DER
GEGENWÄRTIGEN MISERE DER KIRCHE?
„Nicht der Mensch ist böse, sondern die Gesellschaft ist schlecht“, befand
JESAN-JACQUES ROUSSEAU in seinem „contract sociale“ (1762) schon vor
250 Jahren. Doch die Gesellschaft setzt sich zu allen Zeiten aus vielen
Einzelmenschen zusammen, und die können gut oder böse sein.
Von dem Politiker GREGOR GYSI, einem bekennenden Atheisten aus DDRZeiten, stammt das überraschende Bekenntnis: „Auch als Nichtgläubiger
fürchte ich eine gottlose Gesellschaft.“ Der bekannte Schauspieler und TVModerator JOACHIM FUCHSBERGER bekannte, auf den Unfall-Tod seines
Sohnes angesprochen, in einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen
Zeitung: „Es wäre schön, wenn man jetzt an einen Gott glauben könnte. Aber
ich kann es nicht. Ich beneide alle Menschen, die ihren Trost in einem starken
Glauben suchen und finden.“
Eine eigenartige Situation: Auf der einen Seite schmerzliche Glaubenslosigkeit
und Sehnsucht nach Glauben an Gott und auf der anderen kalter Atheismus.
Das Hauptproblem unserer Gesellschaft ist ohne Zweifel die Gottesfrage. Gibt
es den, den wir Gott nennen, und wer ist er? Und wenn doch ein persönlicher
Gott ins Blickfeld gerät, dann erhebt sich sogleich die Frage, ob dieses
transzendente Wesen zur individuellen und gesellschaftlichen
Kontingenzbewältigung beitragen kann. Das Kriterium der Brauchbarkeit, des
Nutzens spielt die Hauptrolle: Hilft dieser große Unbekannte bei meiner Angstund Lebensbewältigung? Also: Welchen Nutzen bringt es, wenn ich glaube?
Wieviel Profit wirft Glauben für mein irdisches Leben ab? Die andere Frage,
ob es noch ein Leben nach diesem Leben gibt, liegt meilenweit entfernt.
Der Frankfurter Großstadtseelsorger ALFONS KIRCHGÄSSNER, ein
hervorragender theologischer Schriftsteller, beschrieb schon vor einem halben
Jahrhundert aus kirchlicher Perspektive den gesellschaftlichen Wandel
folglendermaßen: „Wir Städter leben schon seit Generationen in dieser
Schizophrenie und bemühen uns angestrengt, eine Harmonie zu finden
zwischen unserm Alltag und dem ‚Tag des Herrn’, wie einmal der Name des
Sonntags hieß. Das heißt, viele von uns haben es aufgegeben, nach einer
Verbindung der beiden Welten zu suchen: sie haben entweder die Tradition des
Kirchgangs und der Sakramente über Bord geworfen – oder sie üben noch, was
ihre Väter übten, aber ohne recht zu begreifen warum, ohne einen
Zusammenhang zu erkennen zwischen der Welt ihrer Arbeit und der Welt
gregorianischer Melodien und prunkvoller Zeremonien, zwischen der Sprache
der Geschäftsleute, der Politiker, der Techniker und der Sprache der Priester,
der Gesangbücher, der Bibel. Unsere Kirchen stehen zwar noch imposant an
den Plätzen und Straßen, aber gut drei Viertel der Bevölkerung gehen nicht
mehr hinein, und in manchen Gegenden sind es längst keine zehn Prozent
mehr. Die Feiertage sind wohl noch im Kalender verzeichnet, aber es sind
Tage zum Ausruhen und Ausfliegen, nicht mehr Tage des Gebets und der
öffentlichen Gottesverehrung. Mag das Christentum in der Gesellschaft noch
ein gewichtiger Faktor sein, der christliche Kult ist eine Sache von kleinen
Gruppen geworden, eine Wunderblüte hinter der Mauer.“ Eine
Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1962, das Jahr, in dem in Rom das 2.
Vatikanische Konzils begann.
Ich bin dennoch der Meinung, daß unsere Gesellschaft ist nicht gänzlich
unchristlich ist, sondern in einer spezifischen Weise nachchristlich; denn soviel
ist gewiss: Das mittelalterliche Christentum mit seiner religions- und
kulturgeschichtlich einmaligen Verflechtung von Gesellschaft und Religion
gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Die religiös legitimierte, durch
eiserne „Kirchendisziplin“ zusammengehaltene und alle Lebensbereiche
bestimmende Lebensführung ist passé. Wer früher außerhalb der Kirche stand,
befand sich außerhalb der Gesellschaft. Und wer nicht alle Glaubenslehren
akzeptierte, galt als Ketzer, der Gefahr lief, aus dem Leben geschafft zu
werden. Heute haben wir eine neue Sozialgestalt des Christentums vor uns.
Bürgergemeinde und Kirchengemeinde decken sich nicht mehr, sie klaffen weit
auseinander. Zu einem totalen Bruch aber sei es doch nicht gekommen,
behauptet der Religionswissenschaftler KARL GABRIEL. Das Bürgertum
entwickelte eine neue Sozialform von Religion, die weder die christliche
Tradition gänzlich hinter sich ließ noch alle Verbindungen zum kirchlichen
Christentum abbrach. Religion wurde mehr und mehr zu Religiosität und damit
zur Privatsache. Allerdings zu einer recht komischen, weshalb der
amerikanische Kolumnist IRV KUPCINET fragen konnte: „Was ist von einer
Gesellschaft zu halten, für die Gott tot ist, Elvis aber lebt?“
Worin liegt der Hauptgrund für diese grundlegende Veränderung der sozialen
Verhältnisse? Der Erfurter Kultur- und Sozialwissenschaftler Prof. HANS
JOAS gab bei einem Vortrag in der Katholischen Akademie München diese
Erklärung: „Wo wirtschaftliches Wachstum stattfindet und wissenschaftlicher
und technischer Fortschritt eine große Rolle spielen, verliert Religion, und
zwar alle Religion, fortlaufend an Bedeutung.“ Dies geschehe, meinte er, „mit
einer Art eingebauter eherner Notwendigkeit“, und zwar auf Dauer und derart
radikal, daß es zu einem „vollständigen Verschwinden des Christentums von
dieser Erde“ kommen könne.
Das soziologische Umfeld, in dem die Institution Kirche und ihre Mitglieder
leben und handeln müssen, stellt ein vielseitiges Geflecht aus Meinungen und
Lebensformen dar: in theoretischer Sicht eine Informations- und
Wissensgesellschaft ohne große Leitlinien für die Zukunft und im praktischen
Leben eine kurzweilige Erlebnisgesellschaft nach dem Motto funny, healthy
und sexy. Wie soll auf solchem Boden der Samen des Evangeliums aufgehen
und Frucht bringen?
Und doch bräuchte unsere Gesellschaft nichts notwendiger als die Kunde vom
liebenden und rettenden Gott. „Ich bin gekommen“, sagt Jesus, „damit sie das
Leben haben, damit sie es in Fülle haben.“ Doch von Seiten der Kirche waren
Jahrhunderte lang andere Töne zu vernehmen. Da war mehr die Rede vom
strafenden, rächenden Gott. Wenn wir heute von einem menschenfreundlichen
Gott Kunde geben, dann müßte dem aber auch das Kirchenbild entsprechen.
Doch gerade hier erleben die Menschen immer noch allzu häufig ein
Kontrastbild. Von dem Volksschriftsteller PETER ROSEGGER stammt der
Spruch: „Auf Erden gibt es die kämpfende Kirche, im Fegfeuer die leidende
Kirche, im Himmel die triumphierden Kirche.“ Daran knüpfte er die bange
Frage: „Wo aber ist die liebende Kirche?“
Frage III
GIBT ES EINEN AUSWEG AUS DER GEGENWÄRTIGEN KRISE DER
KIRCHE?
Eine Richtung, die man die konservative oder auch fundamentalistische nennen
könnte, will die nach ihrer Überzeugung nur scheinbar unaufhaltsame
Entwicklung stoppen, indem sie die traditionellen Positionen der Kirche bis
zur letzten Patrone verteidigt. So geschah es übrigens schon an der Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert im sog. Modernismus-Streit, der die römischkatholische Kirche tief erschütterte und das Papsttum zu rigorosen Maßnahmen
veranlasste. Der sog. Antimodernismus-Kampf unter Papst Pius X., der allen
Geistlichen den inzwischen abgeschafften Antimodernismus-Eid abverlangte,
trug, gestützt auf Mittel der Verurteilung und des Zwangs, noch einmal den
Sieg davon. Der fortan von der Obrigkeit gesteuerte Kurs dauerte im Grunde
bis zu dem von Papst Johannes XXIII. einberufenen 2. Vatikanischen Konzil
(1962-1965). Jetzt erst nahm eine Mehrheit der zum Konzil in Rom
versammelten Bischöfe und Äbte die Herausforderung durch die neue,
moderne Zeit ernst, während eine Minderheit konservativer Konzilsväter
weiterhin auf Tradition setzte. Deshalb kam es auch zu manchen
kompromisshaften Konzilsdokumenten, die gerade in unseren Tagen heftige
Kontroversen über das richtige Verständnis einzelner Dokumente auslösen.
Ein besonders sprechendes Beispiel dafür bieten die
gegenwärtigenVerhandlungen zwischen dem Vatikan und der
ultrakonservativen Priesterbruderschaft Pius X., die kein gutes Ende verheißen.
Letztlich geht es um den prinzipiellen Konflikt zwischen traditioneller Kirche
(inclusive konservativer Theologie) und moderner Gesellschaft.
Die andere Richtung, die sich progressiv oder fortschrittlich nennt, wird nicht
müde, immer wieder dieselben Reformen zu fordern: Ende des
Zölibatsgesetzes, Ordination für Frauen, Zulassung geschiedener und
wiederverheirateter Eheleute zur Kommunion, Billigung der künstlichen
Empfängnisverhütung, differenzierte Beurteilung der Homosexualität u.s.w. So
auch jüngst wieder mehrere Hundert Dozenten und Professoren der Theologie
mit dem Memorandum „Kirche 2011“.
Der Tübinger Theologe HANS KÜNG bietet in seinem demnächst
erscheinenden Buch mit dem Titel „Ist die Kirche noch zu retten?“ eine
ökumenische Therapeutik an. Darin zählt er eine Reihe ganz verschiedener
Rettungsmaßnahmen auf:
nicht ein selbstfabriziertes Kirchenrecht, sondern den in der Heiligen Schrift
bezeugten Jesus Christus selber
bei der Wahl eines neuen Bischofs wieder Klerus und Laien einschalten
Priestern und Bischöfen die Ehe erlauben
Frauen zu allen kirchlichen Ämtern zulassen
katholischen und evangelischen Christen Mahlgemeinschaft gewähren
das Kirchenrecht nicht nur verbessern, sondern von Grund auf erneuern
die Inquisition nicht reformieren, sondern abschaffen
alle Formen von Repression beseitigen
Bemühen des Papst um Gemeinschaft mit der Kirche
die römische Kurie nicht zerstören, aber nach dem Evangelium gestalten
statt Günstlingswirtschaft mehr kompetentes Fachpersonal
Glasnost und Perestroika für die Kirchenfinanzen
fromme Phrasen, falsche Ausreden und tendenziöses Verschweigen durch eine
Sprache der Wahrhaftigkeit ersetzen
Wenn ich nur einen dringenden Wunsch anfügen darf:
Die Kongregation für Selig- und Heiligspechung ganz abschaffen
Der Jesuitenpater EBERHARD VON GEMMINGEN, bis vor kurzem noch
Leiter der deutschsprachigen Sektion von Radio Vatikan offerierte bei einem
Statement in der Katholischen Akademie in Bayern einen Reformkatalog mit 8
Punkten:
1. Das Hauptproblem in Mitteleuropa ist nicht der Mangel an Priestern,
sondern unser Unvermögen, den Glauben an die nächste Generation
weiterzugeben.
2. Konflikt über viri probati müsste im Heiligen Geist ausgetragen
werden
und nicht mit Schlagworten.
3. Die Denkweisen und Mentalitäten der Katholiken in den einzelnen
Ortskirchen sind außerordentlich verschieden, und das erschwert den
inneren Zusammenhalt der Weltkirche sehr.
4. Der Vatikan braucht Strukturreform, die Weltkirche braucht
Dezentralisierung.
5. Die deutschen Bischöfe brauchen bessere interne Kommunikation.
6. Papst Benedikt hat es als Nachfolger von Papst Johannes Paul II.
besonders schwer.
7. Zwei Themen müssten im Lauf der nächsten Jahre international auf
hoher Ebene und mit großer Kompetenz diskutiert werden: Methode
des
Konklaves und Methode eines Konzils.
8. Sexueller Missbauch muss aufgearbeitet und für die Zukunft nach
Möglichkeit verhindert werden.
Es hilft gewiß nicht weiter, wenn man den Fragen nach Vertiefung des
christlichen Glaubens und nach vielfältigen praktischen Reformen der Kirche
mit dem Slogan „Streben nach Heiligkeit“ begegnet. So unlängst Bischof
KÜNG von St. Pölten. Und ähnlich der Kölner Kardinal Meisner und der
Bamberger Erzbischof, der mit Bedauern feststellt: Was der Kirche heute fehlt,
sind Heilige, und dazu ermuntert: Wir alle sollen Heilige werden. Solche
abgegriffenen Parolen nützen nichts.
Und selbst wenn alle gut gemeinten Reformen erfüllt würden, wäre die Kirche
nicht aus der Krise. Das A und O ist und bleibt die Kernbotschaft Jesu vom
Reich Gottes auf Erden. Die Kirche müßte imstande sein zu zeigen, daß es für
das Christsein entscheidend auf eine echte Verbundenheit mit Jesus Christus
nicht als historische Person, sondern lebendem Herrn ankommt. Voraussetzung
dafür ist, dass die Kirche ihr Zeugnis von Gott und seinem
Offenbarungshandeln so authentisch vorträgt, daß der heutige Mensch es
versteht und aufnimmt. Das bedeutet gleichzeitig, daß sie alle aus vergangenen
Jahrhunderten stammenden und inzwischen zum Ballast gewordenen Formen
und Formeln aufgibt. Und besonders wichtig: Dass sie sich um Aussagen
bemüht, die der Mentalität, dem Wissen und der Erfahrung des heutigen
Menschen entsprechen.
Der genannte Professor JOAS ging bei seinem Vortrag in der Katholischen
Akademie München auch auf die Herausforderung für die Verkündigung des
Glaubens und für die Bildungsarbeit in unserer Zeit näher ein. Als erstes
nannte er eine radikale Neuartikulation der christlichen Botschaft, weil der
traditionelle Jargon der Kirche heute keine Chance mehr habe verstanden und
ernst genommen zu werden. Natürlich sei es eine schwierige Kunst, das
wesentliche Erbe Jesu dem heutigen Menschen sprachlich nahezubringen.
Worte wie Seele, Sünde, Buße, Hölle, Sühnetod Jesu, Erlösung, Heiligkeit,
Himmelreich, ewiges Leben besitzen keine Aussagekraft mehr, ganz zu
schweigen von Festtagsbezeichnungen wie Himmelfahrt, Unbefleckte
Empfängnis und DreiKönige. Papst Johannes XXIII. appellierte in seiner
Eröffnungsrede des Konzils im Jahr 1962 zum aggiornamento, d.h. darauf zu
achten, was die Stunde geschlagen hat. Auf die christliche Botschaft
angewandt, meinte der Papst: „Etwas anderes ist das Depositum fidei oder die
Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und wieder etwas
anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden, freilich im gleichen
Sinn und der derselben Bedeutung.“
Die mit der Neuartikulation verbundene Problematik hat der Ottobrunner
Pfarrer CHRISTOPH NOBS vor Tagen in einem Leserbrief an die SZ
(10.2.2011) treffend zum Ausdruck gebracht. Er spricht von einem
„kompletten theologischen Umbau, Teil-Abriss und Neubau“, der in breiten
Bevölkerungskreisen vor sich gehe und vor allem konservative Gläubige bis ins
Mark hinein erschüttere, weil sie „mit nicht mehr haltbaren Glaubens- und
Kirchenverständnissen, mit mythologischen Welt- und Gottesbildern, die seit
der aufgeklärten Moderne längst überholt sind, mit Liedern und liturgischen
Modulen, die vernunftbegabten Zeitgenossen nicht mehr vermittelbar sind“,
leben (müssen) . Und dann konstatiert der klarsichtige Pfarrer prinzipiell:
„Man tut so, als ob man nicht wüsste, dass ein neues Gottesbild für unser
heutiges Weltverständnis erforderlich ist, als göttlich-mystische
Tiefendimension in jedem Menschen, auch ohne Kirche, Priester und
Pflichtzölibat. Die gesamte Glaubensinterpretation des Christentums befindet
sich in einem Paradigmenwechsel.“ Und zum Schluß zieht er die kritische
Konsequenz: „Ein wirklich zeitgenössischer Glaube respektiert, dass Menschen
heute selbstbestimmt ihren Glaubensweg erfahren. Dabei entdecken sie neue
Gottes- und Kirchenbilder, während die Kirchenregierung krampfhaft ‚am
Alten’ festhalten will. Sie wird damit scheitern.“
Es ist kein Geheimnis, daß die christliche Verkündigung, vom Elternhaus über
Unterricht in der Schule bis zu den Predigten iin der Kirche und der
Berichterstattung in den Medien, auf dem Nullpunkt angekommen ist.
Beängstigender noch als eine weltfremde Ausdrucksweise ist das geringe
Engagement, das vielen Sonntagspredigern anzumerken ist. Wichtiger als die
Quantität der Priester ist deren Qualität. Und in diesem Zusammenhang wäre
auch die Ausbildung der Religionslehrer zu hinterfragen.
Tausendmal wichtiger aber als die zeitgemäße Verkündigung ist die
Verwirklichung der Botschaft, die den christlichen Glauben ausmacht. Für
alle, die den Namen Christen tragen, is es unerlässlich, daß sie im alltäglichen
Leben Zeugnis geben von ihrem letzten Vertrauen auf Gott und Jesus Christus
und von ihrer Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.
MITSCHKE-COLANDE, einst Mitarbeiter der Unternehmensberatung
McKinsey, zuletzt Berater der Deutschen Bischofskonferenz und einzelne
Bistümer, weiß um die schwere Krise, in der sich die Kirche - alle Kirchen –
befinden. Er ist der Meinung: „Die Kirche steckt in der schwersten Krise der
Nachkriegszeit…. Die Kirche habe sich immer verändert, sie muss sich auch
jetzt verändern, wenn sie nicht jeden gesellschaftlichen Einfluß verlieren will.“
Als Ausweg aus der gegenwärtigen Krise gibt es für zwei Möglichkeiten:
(1) Die Kirche beharrt auf ihren Jahrhunderte alten Traditionen, sieht das
Schrumpfen ihrer Mitgliederzahl als unausweichlich an, richtet sich auf eine
kleine Herde ein und zieht sich zu ihrem eigenen Schutz in die Wagenburg
zurück. Oder
(2) die Kirche überprüft ihre Lehraussagen, gibt vom Evangelium her neue
Antworten auf Fragen unserer Zeit und geht mit missionarischem Engagement
in die Offensive.
Nur wenn die Kirchenautoritäten sich für die zweite Möglichkeit
entschließen, meint Mitschke-Colande, können sie mit Zukunft rechnen.
Beginnen müßte alles mit einer ehrlichen, ausgangsoffenen Bestandsanalyse
und einer Null-Fehler-Toleranz, was bedeutet, die Heiligkeit der Kirche nicht
nur predigen, sondern im Alltag unter Beweis stellen. Mit einem besonderen
Appell wendet Mitschke-Colande sich hier an die Bischöfe, Mut und
Führungsstärke zu zeigen und einem breiten Dialog über dringende
Reformfragen nicht auszuweichen.
Alle Reform sollte damit beginnen, daß die Kirchenbediensteten, um sie einmal
so zu nennen, in ihrem äußeren Auftreten dem anspruchlosen Jesus von
Nazareth gleichen, auf jeden Pomp und Prunk verzichten und in ihrem Reden
wieder glaubwürdig erscheinen. Viele Menschen, auch Katholiken, fühlen sich
von dem Glamour bei gottesdienstlichen Feiern und kirchlichen
Veranstaltungen abgestoßen.
Und zweitens, was die Lehre und Verkündigung betrifft, sollte man alle
Lehrbücher der Dogmatik, der Moraltheologie und des Kirchenrechts
wegwerfen und allein die Bibel des Neuen Testaments als prinzipielle
Lebensorientierung sprechen lassen. Die Botschaft, die Jesus Christus mit der
Lehre vom Reich Gottes in die Welt gebracht hat und durch die Kirche
weitergeben will, läßt sich auf einen Fingernagel niederschreiben. Einem
jungen Mann, der fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen,
antwortete Jesus lapidar: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit deinem
ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit all deinen Gedanken und all
deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst. Es gibt kein größeres Gebot als diese beiden.“ Dieses Hauptgebot
konkretisierte Jesus in der Bergpredigt (Mt 5) mit acht Seligpreisungen. Wir
sollten sie wieder einmal hören, um sie befolgen zu können:
„Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit; denn sie werden satt
werden.
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
Selig, die m der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;denn ihnen gehört
das
Himmelreich.
Alle Menschen guten Willens, allen voran aber wir, die wir uns Christen
nennen, werden am Ende am Hauptgebot und an den Seligpreisungen gemessen
werden. Es verwundert nicht, , wenn GÜNTER GRASS, ein politischer
Unruhestifter seit eh und je, zuerst an die Politiker denkt, die das C im Namen
ihrer Partei stehen haben. Bei einer Rede im Dresdner Staatsschauspiel 1997
ging er mit den den C-Parteien energisch ins Gericht, indem er konstatierte:
„Im welcher Schublade ist die Bergpredigt von jenen Parteien abgelegt
worden, die sich unverdrossen auf den Sozialrevolutionär Jesus Christus
berufen?“ Wenn das Wort „gotteslästerlich“ noch einen Sinn mache, treffe es
„auf den gegenwärtig regierenden Heuchlerverein zu.“ Das war 1997. Und ist
es heute viel anders? Erst kürzlich kündigten ein evangelischer und ein
katholischer Pfarrer in Schweinfurt ihre Mitgliedschaft in der CSU wegen
deren Sozialpolitik, die sich in den Bestimmungen zu Hartz IV konkret
darstelle.
Frage IV
WER IST EIN CHRIST?
JOSEPH RATZINGER beantwortete 1970 als Theologieprofessor diese Frage
in seinem Buch „Glaube und Zukunft“ auf eine Weise, wie sie auch einer
seiner schärfsten Rivalen, der Tübinger Dogmatiker Hans Küng, in seinem
neuen Buch „Was ich glaube“ fast ebenso zum Ausdruck gebracht hat.
Ratzinger schrieb damals: „Ein Mensch bleibt solange Christ … solange er das
fundamentale Ja des Vertrauens zu geben versucht, selbst wenn er viele
Einzelheiten nicht einzuordnen vermag. Es wird Augenblicke im Leben geben,
wo in vielerlei Dunkel der Glaube sich zusammenzieht auf das einfache Ja: Ich
glaube dir, Jesus von Nazareth; ich traue darauf, daß in dir sich jener göttliche
Sinn gezeigt hat, von dem her ich getrost und gelassen, geduldig und mutig
mein Leben bestehen kann. Solange diese Mitte gesetzt ist, steht der Mensch im
Glauben, auch wenn ihm noch so viele von seinen Einzelaussagen für den
Augenblick unvollziehbar sind.“ Ist das nicht eine tröstliche Auskunft für uns
alle, die sich bemühen, nicht bloß Christen zu heißen, sondern es auch im
Leben zu sein?
Der große Theologe KARL RAHNER sah vor 30 Jahren die Problematik
tiefer. Die Zukunft der Kirche unserer europäischen Völker lasse sich nur
schwer oder gar nicht prognostizieren. Zum Schluß eines Vortrag vertrat er die
Meinung: „Wenn die europäischen Völker, wenn wir die Fackel des Glaubens,
der Hoffnung und der Liebe fallen ließen, dann würden andere Völker sie
weitertragen durch die Geschichte bis zu ihrem Ende. Die Zukunft der Kirche
ist Gott und so das ewige Leben für uns.“
An der Wand vor dem Grab ROMANO GUARDINIS in einer Seitenkapelle
von St. Ludwig in München stehen die Worte, die das Lebensprogramm des
großen Religionsphilosophen und Priesters prägnant zum Ausdruck bringen:
„Im Glauben an Jesus Christus und seine Kirche. Im Vertrauen auf sein
gnädiges Gericht.“ Solange wir, Sie und ich, ebenso glauben, lebt die Kirche
noch. Ob aber auch unsere Kinder noch Christen sein werden, steht in den
Sternen.
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