KOMMT FÜR DIE KATHOLISCHE KIRCHE JEDE RETTUNG ZU SPÄT? Reflexionen eines Kirchenhistorikers von GEORG DENZLER Vermutlich hat Sie schon der fragende Titel meines Vortrags provoziert und auch gleich zu einer von Wunschdenken bestimmten Antwort animiert : Nein, niemals, das kann nicht sein. Oder: Ja, warum nicht, schon lange fällig. Bibelkundige Katholiken nehmen ihre Zuflucht schnell zu Matthei am Letzten, das heißt, zum Schluß des Matthäus-Evangeliums. Der vom Tod auferstandene Jesus versammelte seine elf Jünger auf einem Berg in Galiläa: „Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber hatten Zweifel. Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. SEID GEWISS: ICH BIN BEI EUCH ALLE TAGE BIS ZUM ENDE DER WELT“ (Mt 28, 16-20). Derselbe Evangelist Matthäus hat noch eine andere Garantie, wenn er im Blick auf die Berufung des Petrus versichert: „Du bist Petros, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18). Was bedeuten demgegenüber Drohungen mit Untergang der Kirche von Voltaire über Napoleon bis Hitler und Stalin! Trotzdem bleiben Bedenken und Zweifel. So fragte der katholische Soziologieprofessor KARL GABRIEL schon vor fast 20 Jahren in seinem Buch „Christentum zwischen Tradition und Moderne“: „Was ist los mit dem in den Kirchen zur Institution gewordenen Christentum? Sind wir seit zwanzig Jahren Zeugen des Anfangs seiner zu Ende gehenden Geschichte?... Immer mehr Menschen lassen sich nicht mehr durch die in den Kirchen Gestalt gewordene Lebensmacht des Christentums bestimmen, sondern bestimmen selbst ihr Verhältnis zu den Kirchen und deren Ansprüche an ihre Lebensführung.“ Das ist die allgemeine Situation, zumindest in den Kirchen Europas. Bischof GEBHARD FÜRST von Rottenburg-Stuttgart, früher Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Rottenburg, gibt sich, was die Kirche in Deutschland betrifft, alles andere als optimistisch und siegessicher. Wichtig für die Kirche sei vor allem, sagte er beim Neujahrsempfang seines Bistums, auf junge Christen zuzugehen. „Heute und in der kommenden Generation sind sie die Kirche. Oder sie sind es nicht. Und dann sind wir als Kirche nicht mehr.“ Der von der evangelischen zur katholischen Kirche konvertierte Priester und Theologe HENDRIK WILLEM VAN DE POL äußerte in seinem Buch „Die Zukunft von Kirche und Christentum“ (Freiburg 1970) die bedenkenswerte Ansicht: „Es könnte sogar der Fall sein, daß Kirche und Christentum in ihrer traditionellen Form zur Gänze oder teilweise zum Verschwinden verurteilt sind, wenn sie nicht mehr in das von der Menschheit erreichte Kulturstadium passen und daher nicht mehr ein geeignetes Mittel zur Verbreitung des Glaubens, sondern ein ernstes Hindernis für die Verkündigung und das Wirksamwerden des Evangeliums und des christlichen Glaubens bedeuten.“ Deutlicher noch sagt es der brasilianische Befreiungstheologe LEONARDO BOFF: „Warum soll es nicht möglich sein, daß nicht nur die katholische Kirche, sondern das Christentum in Europa genau so untergeht wie das einst blühende Christentum der Spätantike in Kleinasien oder Nordafrika. Wenn die Kirche sich nicht ändert, wird sie verschwinden wie einst die Dinosaurier.“ Bei allen Krisen- und Untergangsreden sollten wir jedoch eine wichtige Unterscheidung des Münchener Soziologieprofessors ULRICH BECK nicht vergessen. „Nicht das Christentum stirbt aus“, meinte er, „sondern das europäische Christentum. In einigen seiner Hochburgen, auch in Deutschland, ist es mit einer rapiden Entleerung der Kirchen konfrontiert.“ Nach seiner Meinung läuft die Säkularisierung nur „auf eine Enteuropäisierung des Christentums hinaus. Das außereuropäische Christentum blüht auf, das europäische verwelkt (obwohl es auch hier neue Knospen gibt).“ In der Tat, die Dechristianisierung in europäischen Ländern vollzieht sich zeitgleich mit dem Anwachsen des Christentums in Afrika, Asien und Lateinamerika. Frage I IST DIE KATHOLISCHE KIRCHE SELBST SCHULD AN IHRER GEGENWÄRTIGEN MISERE? Bibelwissenschaftler stimmen heute darin überein, daß Jesus keine Kirche gegründet hat und deshalb auch keine genaue Kirchenverfassung vorliegen kann, auf die die unter seinem Namen entstandenen Kirchen bis zum heutigen Tag verpflichtet wären. Jeschua oder Jehowa, der heilend und predigend durch Israel ziehende Prophet aus Nazareth, sah seine primäre Aufgabe darin, das Volk Israel, dem er selbst angehörte, zum Glauben und Gehorsam gegenüber Gott, seinem Vater, zu bekehren. Daß es schon bald im Lauf der Ablösung von Israel zum Entstehen einer Kirche aus Juden und Heiden kam, war eine Folge der Ablehnung der Jesuspredigt durch die Führer des Volkes Israel. Auch wenn Jesus „nicht irgendeine für alle Zeiten gültig festgelegte Verfassungsform oder Amtsinstitution gestiftet hat“, wie es der Bamberger Exeget PAUL HOFFMANN formulierte, so verkündete er doch eine Lehre, die Botschaft vom Reich Gottes, die für sein Programm konstitutiv bleibt. Wenn nun die im Sinn Jesu entstandene Institution Kirche untergehen sollte, bedeutet dies nicht gleichzeitig, daß auch die Jesus-Botschaft untergeht. Das heißt letztlich, daß wir auch ohne Kirche Anhänger Jesu sind, solange nur sein Evangelium unser Denken und Leben bestimmt. JOHANNES XXIII. sprach bei der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils im Oktober 1962 von „Zeichen der Zeit“, die es zu erkennen gelte. Inmitten von viel Finsternis erblickte der greise Papst Anzeichen der Hoffnung. Er hielt nichts von „Unheilspropheten“, „die überall das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde.“ Und noch weniger hielt er von Prophezeiungen, die ein baldiges Ende der Kirche vorhersagten. Wenn wir heute, ein halbes Jahrhundert später, nach „Zeichen der Zeit“ Ausschau halten, vernehmen wir auf den ersten Blick wenig Zeichen der Hoffnung, sondern eher Vorboten einer langsam schwindenden Kirche. Es ist einfach nicht zu übersehen, daß die Kirche mit ihrer Lehre nur noch wenig Gehör findet und das Christentum eines langsamen, aber sicheren Todes dahinzusterben scheint. Zur Beruhigung mag es dienen, daß die Kirche zu keiner Zeit, auch nicht im viel gepriesenen christlichen Mittelalter, ihre Idealform erreicht hat. Der französische Religionssoziologe GABRIEL LE BRAS bezweifelte sogar, ob jemals eine totale Christianisierung bestanden habe. Angesichts der Defizite und Sündhaftigkeit der Kirche erging darum zu allen Zeiten der Ruf nach Reform: Ecclesia semper reformanda. Die einst prominente, heute fast ganz vergessene Schriftstellerin IDA FRIEDERIKE GÖRRES nahm gegen Ende des Pontifikats von Papst Pius XII. (+ 1958) in einer Sendereihe des SÜDWESTRUNDFUNKS Stellung zum Thema Kritik an der Kirche: „Man braucht nur auf den Knopf zu drücken, ich glaube, jeder von uns kann im Schlaf die ganze betrübliche Litanei herunterrasseln: Misere von Predigt und Religionsunterricht, Verwilderung oder Erstarrung der Liturgie, Index und römischer Zentralismus, bischöfliche Bürokratie, Schäden der Priesterbildung, der Klostererziehung, politischer Konformismus, Moraltheologie unter besonderem Hinblick auf Atombomben und Sexualfragen, lateinische Kultsprache, Priesterskandale, Manager- und Tagungsrummel in den Organisationen, Thomismus, Rationalismus, Marianismus, Wallfahrtsgeschäft und …“ URSACHEN FÜR DIE HEUTIGE KIRCHENKRISE (1) Bei der Suche nach Ursachen für die gegenwärtige Misere müssen ir zuerst einmal das äußere Erscheinungsbild der Kirche auf den Prüfstand stellen. Mit Recht nehmen hier viele Mitglieder und Beobachter der Kirche Ärgernis. Dies empfanden auch schon Teilnehmer des 2. Vatikanischen Konzils. ELIAS ZOGHBY, melchitischer Pariarchalvikar von Antiochien, sprach am 21. Oktober 1964 in der Konzilsaula von St. Peter offen aus: „Die heutige Welt erkennt nur eine einzige Autorität an, die des Dienstes. Vermeiden wir deshalb auch Redensarten wie ‚Kirchenfürst’ und ‚Bischöfliches Palais’, die an Ehrenerweise und Herrschaft erinnern. Hören wir auf, den ersten Stellvertreter des gekreuzigten Jesus als den ‚glorreich Regierenden’ zu bezeichnen.“ Der Bischof von Rennes in Frankreich, PAUL GOUYON, richtete während der 1. Konzilsperiode seine Kritik auf die Formen des Gottesdienstes: „Was man den Abfall der Massen nennt, ist zum großen Teil nur die Folge der Unverständlichkeit der liturgischen Riten und eines pomphaften Äußeren des Gottesdienstes, das gewiß seine historischen Grundlagen hat, aber den Geschmack unserer Zeit nicht mehr entspricht. Heutzutage kennen zahllose Menschen die Kirche nur noch aus dem Kino, dem Fernsehen und den Illustrierten, das heißt vom Apparat ihrer Zeremonien, ihrer Prachtentfaltung, ihres Aufwands… Prächtige Formen sind ein Widerspruch gegen Christus, während ein schlichter Gottesdienst Zeugnis für das Evangelium ablegt und die Türen zur Einheit der Christen aufschließt. Möchten wir Bischöfe uns daran erinnern, daß wir nicht Fürsten, sondern Hirten, nicht Herren, sondern Diener sind. Dies ist die richtige Stunde, um alles zu vereinfachen, was vereinfacht werden kann, denn alle Welt stimmt heute darin überein, daß im Leben des Priesters und Bischofs Einfachheit, ja Armut herrschen soll… weisen wir doch alle das als Mißbrauch zurück, was die Eitelkeit fördert und darum dem Wesen der Liturgie als der Verkündigung der Offenbarung Gottes zuwiderläuft.“ Kurz vor Konzilsende im Dezember 1965 fanden sich in der DomitillaKatakombe zu Rom 40 Bischöfe zusammen – die meisten aus Südamerika und einigten sich auf eine Reihe von „Selbstverpflichtungen“. Darin hieß es unter anderem: „Als Bischöfe, die sich bewusst geworden sind, wie viel ihnen noch fehlt, um ein dem Evangelium entsprechendes Leben in Armut zu führen, nehmen wir ….. folgende Verpflichtung auf uns: Wir werden uns bemühen, so zu leben, wie die Menschen um uns her üblicherweise leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt. - Wir verzichten ein für alle Mal darauf, als Reiche zu erscheinen wie auch wirklich reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (teure Stoffe, auffallende Farben, übertriebene Amtskleidungen) und bei unseren Amtsinsignien (kostbare perlenbesetzte Mitras, Hirtenstäbe und Bischofssitze usw.) die nicht aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen, sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen. - Wir werden weder Immobilien oder Mobiliar besitzen noch mit eigenem Namen über Bankkonten verfügen, und alles, was an Besitz notwendig sein sollte, auf den Namen der Diözese bzw. der sozialen und caritativen Werke überschreiben. - Wir lehnen es ab, mündlich oder schriftlich mit Titeln oder Bezeichnungen angesprochen zu werden, in denen gesellschaftliche Bedeutung oder gar Macht zum Ausdruck gebracht wird (Eminenz, Exzellenz, Monsignore …). Stattdessen wollen wir als „Padre“ angesprochen werden, eine Bezeichung, die dem Evangelium entspricht. Wir werden in unserem Verhalten und in unseren gesellschaftlichen Beziehungen jeden Eindruck vermeiden, der den Anschein erwecken könnte, wir würden Reiche und Mächtige privilegiert, vorrangig oder bevorzugt behandeln (z.B. bei Gottesdiensten und bei gesellschaftlichen Zusammenkünften, als Gäste oder Gastgeber). - In pastoraler Liebe verpflichten wir uns, das Leben mit unseren Geschwistern in Christus zu teilen, mit allen Priestern, Ordensleuten und Laien, damit unser Amt ein wirklicher Dienst wird.“ Diesen 40 Initiatoren schlossen sich ungefähr 500 weitere Bischöfe an. Was ist daraus geworden? Wieder zu Hause, setzten die meisten Oberhirten ihren gewohnten Stil fort. Gewiss fehlte es zu keiner Zeit, auch heute nicht, an Prälaten, die von jenem Domitilla-Geist erfüllt sind. Ich denke z.B. an die Bischöfe Kräutler, Helder Camara, Oscar Romero, Kardinal Martini , Bischof Kamphaus und die Befreiungstheologen Ernesto Cardinal und Leonardo Boff. Im Vatikan freilich merkt man nichts von diesem Geist, auch nicht beim jetzigen Papst Benedikt XVI., obwohl er früher als Theologieprofessor frei von Eitelkeiten und irgendwelchen Allüren gewesen ist. (2) Weitaus schädlicher erweist sich das Festhalten an veralteten Strukturen. Um Reformen vorzunehmen, bedarf es zuerst der Einsicht, dass Veränderungen notwendig sind, und dann des Mutes, um neue Schritte zu wagen. Es hilft nichts, überholte Strukturen schön zu polieren, um sie als neu erscheinen zu lassen. Kirchliche Autoritäten müssen bereit sein, auf überholte Formen des christlichen Lebens und unverständlich gewordene Formeln der christlichen Lehre zu verzichten und den Aufbruch zu neuen, unbekannten Ufern zu wagen. (3) Vor allem die traditionelle Ehe- und Sexualmoral der Kirche trägt einen Großteil Schuld an der wachsenden Entfremdung und Entfernung zwischen der Institution Kirche und der jungen und mittleren Generation. Es soll hier genügen, auf den Sühnetod Jesu, auf das Verständnis der Sakramente, inbesondere des Ehesakraments, auf die Behandlung gescheiterter Ehen, auf das Verbot künstlicher Empfängnismittel und auf undifferenzierte Urteile in puncto Homosexualität hinzuweisen. (4) Im Brennpunkt heutiger Auseinandersetzungen steht wieder einmal das Zölibatsgesetz für Priester. Die vom 2. Laterankonzil im Jahr 1139 beschlossene Verpflichtung aller Priester zu Ehelosigkeit ist umstritten, seit sie in Geltung ist. Als Bischof Altmann von Passau den Priestern seiner Diözese bei einer Synode im 11. Jahrhundert die Enthaltsamkeitsforderung Papst Gregors VII. verkündete, hätten ihn aufgebrachte Kleriker tot geschlagen, wenn nicht weltliche Große den Bischof beschützt hätten. Den Teilnehmern des 2. Vatikanischen Konzils war eine Diskussion dieses Themas verboten. Papst Paul V. behielt sich eine offizielle Stellungnahme vor, die zwei Jahre nach Konzilsende mit der Enzyklika „Sacri caelibatus“ (1967) erfolgte. Der steigende Mangel an Priestern verschlimmert die Situation der Seelsorge in den einzelnen Pfarrgemeinden von Jahr zu Jahr. Und die Bischöfe wissen angesichts ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem Papst keinen anderen Rat als Aufforderung zum Gebet um Priesterberufe, als ob Gott selbst für die Notlage verantwortlich sei. Unlängst meldeten sich acht prominente CDU-Politiker und Mitglieder des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Wort und forderten die Bischöfe auf, angesichts „der Not vieler priesterloser Gemeinden, in denen die sonntägliche Messfeier nicht mehr möglich ist“, in Rom mit Nachdruck für die Zulassung sog. viri probati zur Priesterweihe einzutreten. Doch Papst und Kurie verhalten sich so, als ob es bei dieser Verpflichtung um das heiligste Gesetz der Kirche gehe. Es besteht doch theologisch keinerlei Zweifel, daß die Ehelosigkeit vom Evangelium her nur als frei gewählte Berufung (Charisma) zu verstehen ist und und keiner bestimmten Personengruppe als ein allgemein verbindliches Gesetz auferlegt werden kann. Fanatische Verteidiger diese Verpflichtung aber tun so, als handle es sich dabei sogar um eom Dogma. Der erst jüngst kreierte Kardinal WALER BRANDMÜLLER, früher Ordinarius für Kirchengeschichte an der Universität Augsburg, verstieg sich in seiner Reaktion auf den Vorstoß der acht CDU-Politikern bzw. Mitgliedern des Zentralkomitees zu der Aussage, mit ihrem Vorhaben und Ansinnen würden sie Jesus Christus, den Sohn Gottes, selbst beleidigen, und mit ihm all jene Priester, die als Jünger nichts anderes täten, als sich die Lebensweise des Meisters zu eigen zu machen. Und der Münchener Pastoraltheologe ANDREAS WOLLBOLD behauptete gegen biblische und kirchenhistorische Zeugnisse, der Enthaltsamkeits-Zölibat gehe auf die Praxis und Weisung des Herrn Jesus und seiner Apostel zurück. Wenn die Auseinandersetzung auf einen derart theologischem Tiefpunkt angelangt ist, kann man nicht mehr von historischer Wissenschaft, sondern nur von ideologischer Verfälschung der Geschichte im Namen Jesu sprechen. JOSEPH RATZINGER hat fünf Jahre nach dem Konzil als Theologieprofessor in Regensburg mit nüchternem Blick in die nächste Zukunft der Kirche konstatiert: „Aus der Krise von heute wird auch dieses Mal eine Kirche von morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden … Sie wird viele der Bauten nicht mehr erfüllen können, viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren…. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen. In vielen kleineren Gemeinden wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden.“ Inzwischen ist aus dem Theologieprofessor und langjährigen Präfekten der Glaubenskongregation in Rom Papst Benedikt XVI. geworden, der heute quasi als Monarch der Kirche verwirklichen könnte, was ihm damals prophetisch vor Augen gestanden ist. Doch es geschieht nichts. (5) Die Wurzeln der gegenwärtigen Krise der Kirche liegen aber viel tiefer. Worum es heute geht ist eine Krise des religiösen Bewußtseins, eine Krise des christlichen Glaubens. Auch und gerade der religiöse Mensch von heute begegnet mit Argwohn und Mißtrauen einem objektiven, autoritären System von Tabus, Pflichten und Glaubensartikel. Die Distanz zwischen den Formen unseres Gottesglaubens und den Weisen, in denen wir unsere menschliche Existenz erfahren, ist riesengroß geworden. Die Kirchenlehrer – damit meine ich alle, die in irgendeiner Weise mit der Verkündigung des christlichen Glaubens zu tun haben – haben es nicht verstanden, mit dem Fortschritt der Wissenschaft, auch und vor allem der theologischen Wissenschaft, Schritt zu halten. Der wissenschaftlich orientierte Mensch von heute läßt sich das, was er für wahr halten soll, nicht mehr ohne weiteres und ungeprüft von Glaubensinstanzen vorschreiben. Er will zuerst wissen, ob und aus welchem Grund die vorgelegten Lehren des Glaubens tatsächlich auf Offenbarung beruhen. Damit, daß man die Etikette „Heiliger Geist“ aufklebt, ist es nicht getan. Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild zu Beginn der Neuzeit wurde zu einer Anfrage, ja, zu einem ersten Angriff auf die Autorität der Bibel. Unvergessen ist bis heute, daß der Astronom Galileo Galilei seinen astronomischen Theorien im Namen der Bibel abschwören mußte und mit Hausarrest bestraft wurde. Von der Wissenschaft her fragt man, ob die eucharistischen Wandlungsworte „Das ist mein Fleisch“ und „Das ist mein Blut“ noch ontologisch (seinshaft) zu verstehen seien oder ob nicht ein symbolisches Verständnis möglich sei. Übrigens, ein Streit, der schon im 9. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat. Zweifelhaft erscheint die Unsterblichkeit der Seele. Wenn man von einer Untrennbarkeit von Seele und Leib ausgeht, hört dann nicht auch die Seele zu existieren auf, wenn der Leib mit dem Tod endet? Oder wenn der Mensch als Ganzes, mit Leib und Seele, stirbt, muß man dann die Auferstehung am Jüngsten Tag als eine Neuschöpfung des Menschen verstehen? Die wichtigsten Herausforderungen gehen von Vertretern der Bibelwissenschaft aus. Für sie gilt als sicher, daß die Evangelien keine pure Geschichtsschreibung darstellen, sondern den Glauben der ersten Christengemeinde widerspiegeln. Und was ist, wenn Grabes- und Auferstehungsberichten der Bibel jeder historische Charakter abgesprochen würde? Stünde dann nicht das Wesen des christlichen Glaubens auf dem Spiel? (6) Das kirchliche Lehramt hält unter Ignorierung neuer Erkenntnisse der Wissenschaft, auch der theologischen, vornehmlich der Bibelwissenschaft, aber auch auf dem weiten Feld der Kirchengeschichte, an vielen überholten Meinungen und Lehren unentwegt fest. Der Bamberger Neutestamentler PAUL HOFFMANN beklagt in seinem lesenswerten Taschenbuch „Das Erbe Jesu und die Macht in der Kirche. Rückbesinnung auf das Neue Testament“, wie schon der berühmte Tübinger und später Münchener Kirchenhistoriker JOHANN ADAM MÖHLER (1838) im 19. Jahrhundert, die Geringschätzung der Heiligen Schrift durch das kirchliche Lehramt . Es bestehe immer die Gefahr, argumentiert Hoffmann, „daß nicht mehr der Text die Norm für die Wahrheit der Auslegung ist, sondern der lehramtliche Ausleger darüber befindet, was Wahrheit des Textes, gegebenenfalls auch, was historisch wahr zu sein hat.“ Frage II IST DIE MODERNE GESELLSCHAFT SCHULD AN DER GEGENWÄRTIGEN MISERE DER KIRCHE? „Nicht der Mensch ist böse, sondern die Gesellschaft ist schlecht“, befand JESAN-JACQUES ROUSSEAU in seinem „contract sociale“ (1762) schon vor 250 Jahren. Doch die Gesellschaft setzt sich zu allen Zeiten aus vielen Einzelmenschen zusammen, und die können gut oder böse sein. Von dem Politiker GREGOR GYSI, einem bekennenden Atheisten aus DDRZeiten, stammt das überraschende Bekenntnis: „Auch als Nichtgläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft.“ Der bekannte Schauspieler und TVModerator JOACHIM FUCHSBERGER bekannte, auf den Unfall-Tod seines Sohnes angesprochen, in einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung: „Es wäre schön, wenn man jetzt an einen Gott glauben könnte. Aber ich kann es nicht. Ich beneide alle Menschen, die ihren Trost in einem starken Glauben suchen und finden.“ Eine eigenartige Situation: Auf der einen Seite schmerzliche Glaubenslosigkeit und Sehnsucht nach Glauben an Gott und auf der anderen kalter Atheismus. Das Hauptproblem unserer Gesellschaft ist ohne Zweifel die Gottesfrage. Gibt es den, den wir Gott nennen, und wer ist er? Und wenn doch ein persönlicher Gott ins Blickfeld gerät, dann erhebt sich sogleich die Frage, ob dieses transzendente Wesen zur individuellen und gesellschaftlichen Kontingenzbewältigung beitragen kann. Das Kriterium der Brauchbarkeit, des Nutzens spielt die Hauptrolle: Hilft dieser große Unbekannte bei meiner Angstund Lebensbewältigung? Also: Welchen Nutzen bringt es, wenn ich glaube? Wieviel Profit wirft Glauben für mein irdisches Leben ab? Die andere Frage, ob es noch ein Leben nach diesem Leben gibt, liegt meilenweit entfernt. Der Frankfurter Großstadtseelsorger ALFONS KIRCHGÄSSNER, ein hervorragender theologischer Schriftsteller, beschrieb schon vor einem halben Jahrhundert aus kirchlicher Perspektive den gesellschaftlichen Wandel folglendermaßen: „Wir Städter leben schon seit Generationen in dieser Schizophrenie und bemühen uns angestrengt, eine Harmonie zu finden zwischen unserm Alltag und dem ‚Tag des Herrn’, wie einmal der Name des Sonntags hieß. Das heißt, viele von uns haben es aufgegeben, nach einer Verbindung der beiden Welten zu suchen: sie haben entweder die Tradition des Kirchgangs und der Sakramente über Bord geworfen – oder sie üben noch, was ihre Väter übten, aber ohne recht zu begreifen warum, ohne einen Zusammenhang zu erkennen zwischen der Welt ihrer Arbeit und der Welt gregorianischer Melodien und prunkvoller Zeremonien, zwischen der Sprache der Geschäftsleute, der Politiker, der Techniker und der Sprache der Priester, der Gesangbücher, der Bibel. Unsere Kirchen stehen zwar noch imposant an den Plätzen und Straßen, aber gut drei Viertel der Bevölkerung gehen nicht mehr hinein, und in manchen Gegenden sind es längst keine zehn Prozent mehr. Die Feiertage sind wohl noch im Kalender verzeichnet, aber es sind Tage zum Ausruhen und Ausfliegen, nicht mehr Tage des Gebets und der öffentlichen Gottesverehrung. Mag das Christentum in der Gesellschaft noch ein gewichtiger Faktor sein, der christliche Kult ist eine Sache von kleinen Gruppen geworden, eine Wunderblüte hinter der Mauer.“ Eine Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1962, das Jahr, in dem in Rom das 2. Vatikanische Konzils begann. Ich bin dennoch der Meinung, daß unsere Gesellschaft ist nicht gänzlich unchristlich ist, sondern in einer spezifischen Weise nachchristlich; denn soviel ist gewiss: Das mittelalterliche Christentum mit seiner religions- und kulturgeschichtlich einmaligen Verflechtung von Gesellschaft und Religion gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Die religiös legitimierte, durch eiserne „Kirchendisziplin“ zusammengehaltene und alle Lebensbereiche bestimmende Lebensführung ist passé. Wer früher außerhalb der Kirche stand, befand sich außerhalb der Gesellschaft. Und wer nicht alle Glaubenslehren akzeptierte, galt als Ketzer, der Gefahr lief, aus dem Leben geschafft zu werden. Heute haben wir eine neue Sozialgestalt des Christentums vor uns. Bürgergemeinde und Kirchengemeinde decken sich nicht mehr, sie klaffen weit auseinander. Zu einem totalen Bruch aber sei es doch nicht gekommen, behauptet der Religionswissenschaftler KARL GABRIEL. Das Bürgertum entwickelte eine neue Sozialform von Religion, die weder die christliche Tradition gänzlich hinter sich ließ noch alle Verbindungen zum kirchlichen Christentum abbrach. Religion wurde mehr und mehr zu Religiosität und damit zur Privatsache. Allerdings zu einer recht komischen, weshalb der amerikanische Kolumnist IRV KUPCINET fragen konnte: „Was ist von einer Gesellschaft zu halten, für die Gott tot ist, Elvis aber lebt?“ Worin liegt der Hauptgrund für diese grundlegende Veränderung der sozialen Verhältnisse? Der Erfurter Kultur- und Sozialwissenschaftler Prof. HANS JOAS gab bei einem Vortrag in der Katholischen Akademie München diese Erklärung: „Wo wirtschaftliches Wachstum stattfindet und wissenschaftlicher und technischer Fortschritt eine große Rolle spielen, verliert Religion, und zwar alle Religion, fortlaufend an Bedeutung.“ Dies geschehe, meinte er, „mit einer Art eingebauter eherner Notwendigkeit“, und zwar auf Dauer und derart radikal, daß es zu einem „vollständigen Verschwinden des Christentums von dieser Erde“ kommen könne. Das soziologische Umfeld, in dem die Institution Kirche und ihre Mitglieder leben und handeln müssen, stellt ein vielseitiges Geflecht aus Meinungen und Lebensformen dar: in theoretischer Sicht eine Informations- und Wissensgesellschaft ohne große Leitlinien für die Zukunft und im praktischen Leben eine kurzweilige Erlebnisgesellschaft nach dem Motto funny, healthy und sexy. Wie soll auf solchem Boden der Samen des Evangeliums aufgehen und Frucht bringen? Und doch bräuchte unsere Gesellschaft nichts notwendiger als die Kunde vom liebenden und rettenden Gott. „Ich bin gekommen“, sagt Jesus, „damit sie das Leben haben, damit sie es in Fülle haben.“ Doch von Seiten der Kirche waren Jahrhunderte lang andere Töne zu vernehmen. Da war mehr die Rede vom strafenden, rächenden Gott. Wenn wir heute von einem menschenfreundlichen Gott Kunde geben, dann müßte dem aber auch das Kirchenbild entsprechen. Doch gerade hier erleben die Menschen immer noch allzu häufig ein Kontrastbild. Von dem Volksschriftsteller PETER ROSEGGER stammt der Spruch: „Auf Erden gibt es die kämpfende Kirche, im Fegfeuer die leidende Kirche, im Himmel die triumphierden Kirche.“ Daran knüpfte er die bange Frage: „Wo aber ist die liebende Kirche?“ Frage III GIBT ES EINEN AUSWEG AUS DER GEGENWÄRTIGEN KRISE DER KIRCHE? Eine Richtung, die man die konservative oder auch fundamentalistische nennen könnte, will die nach ihrer Überzeugung nur scheinbar unaufhaltsame Entwicklung stoppen, indem sie die traditionellen Positionen der Kirche bis zur letzten Patrone verteidigt. So geschah es übrigens schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im sog. Modernismus-Streit, der die römischkatholische Kirche tief erschütterte und das Papsttum zu rigorosen Maßnahmen veranlasste. Der sog. Antimodernismus-Kampf unter Papst Pius X., der allen Geistlichen den inzwischen abgeschafften Antimodernismus-Eid abverlangte, trug, gestützt auf Mittel der Verurteilung und des Zwangs, noch einmal den Sieg davon. Der fortan von der Obrigkeit gesteuerte Kurs dauerte im Grunde bis zu dem von Papst Johannes XXIII. einberufenen 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965). Jetzt erst nahm eine Mehrheit der zum Konzil in Rom versammelten Bischöfe und Äbte die Herausforderung durch die neue, moderne Zeit ernst, während eine Minderheit konservativer Konzilsväter weiterhin auf Tradition setzte. Deshalb kam es auch zu manchen kompromisshaften Konzilsdokumenten, die gerade in unseren Tagen heftige Kontroversen über das richtige Verständnis einzelner Dokumente auslösen. Ein besonders sprechendes Beispiel dafür bieten die gegenwärtigenVerhandlungen zwischen dem Vatikan und der ultrakonservativen Priesterbruderschaft Pius X., die kein gutes Ende verheißen. Letztlich geht es um den prinzipiellen Konflikt zwischen traditioneller Kirche (inclusive konservativer Theologie) und moderner Gesellschaft. Die andere Richtung, die sich progressiv oder fortschrittlich nennt, wird nicht müde, immer wieder dieselben Reformen zu fordern: Ende des Zölibatsgesetzes, Ordination für Frauen, Zulassung geschiedener und wiederverheirateter Eheleute zur Kommunion, Billigung der künstlichen Empfängnisverhütung, differenzierte Beurteilung der Homosexualität u.s.w. So auch jüngst wieder mehrere Hundert Dozenten und Professoren der Theologie mit dem Memorandum „Kirche 2011“. Der Tübinger Theologe HANS KÜNG bietet in seinem demnächst erscheinenden Buch mit dem Titel „Ist die Kirche noch zu retten?“ eine ökumenische Therapeutik an. Darin zählt er eine Reihe ganz verschiedener Rettungsmaßnahmen auf: nicht ein selbstfabriziertes Kirchenrecht, sondern den in der Heiligen Schrift bezeugten Jesus Christus selber bei der Wahl eines neuen Bischofs wieder Klerus und Laien einschalten Priestern und Bischöfen die Ehe erlauben Frauen zu allen kirchlichen Ämtern zulassen katholischen und evangelischen Christen Mahlgemeinschaft gewähren das Kirchenrecht nicht nur verbessern, sondern von Grund auf erneuern die Inquisition nicht reformieren, sondern abschaffen alle Formen von Repression beseitigen Bemühen des Papst um Gemeinschaft mit der Kirche die römische Kurie nicht zerstören, aber nach dem Evangelium gestalten statt Günstlingswirtschaft mehr kompetentes Fachpersonal Glasnost und Perestroika für die Kirchenfinanzen fromme Phrasen, falsche Ausreden und tendenziöses Verschweigen durch eine Sprache der Wahrhaftigkeit ersetzen Wenn ich nur einen dringenden Wunsch anfügen darf: Die Kongregation für Selig- und Heiligspechung ganz abschaffen Der Jesuitenpater EBERHARD VON GEMMINGEN, bis vor kurzem noch Leiter der deutschsprachigen Sektion von Radio Vatikan offerierte bei einem Statement in der Katholischen Akademie in Bayern einen Reformkatalog mit 8 Punkten: 1. Das Hauptproblem in Mitteleuropa ist nicht der Mangel an Priestern, sondern unser Unvermögen, den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben. 2. Konflikt über viri probati müsste im Heiligen Geist ausgetragen werden und nicht mit Schlagworten. 3. Die Denkweisen und Mentalitäten der Katholiken in den einzelnen Ortskirchen sind außerordentlich verschieden, und das erschwert den inneren Zusammenhalt der Weltkirche sehr. 4. Der Vatikan braucht Strukturreform, die Weltkirche braucht Dezentralisierung. 5. Die deutschen Bischöfe brauchen bessere interne Kommunikation. 6. Papst Benedikt hat es als Nachfolger von Papst Johannes Paul II. besonders schwer. 7. Zwei Themen müssten im Lauf der nächsten Jahre international auf hoher Ebene und mit großer Kompetenz diskutiert werden: Methode des Konklaves und Methode eines Konzils. 8. Sexueller Missbauch muss aufgearbeitet und für die Zukunft nach Möglichkeit verhindert werden. Es hilft gewiß nicht weiter, wenn man den Fragen nach Vertiefung des christlichen Glaubens und nach vielfältigen praktischen Reformen der Kirche mit dem Slogan „Streben nach Heiligkeit“ begegnet. So unlängst Bischof KÜNG von St. Pölten. Und ähnlich der Kölner Kardinal Meisner und der Bamberger Erzbischof, der mit Bedauern feststellt: Was der Kirche heute fehlt, sind Heilige, und dazu ermuntert: Wir alle sollen Heilige werden. Solche abgegriffenen Parolen nützen nichts. Und selbst wenn alle gut gemeinten Reformen erfüllt würden, wäre die Kirche nicht aus der Krise. Das A und O ist und bleibt die Kernbotschaft Jesu vom Reich Gottes auf Erden. Die Kirche müßte imstande sein zu zeigen, daß es für das Christsein entscheidend auf eine echte Verbundenheit mit Jesus Christus nicht als historische Person, sondern lebendem Herrn ankommt. Voraussetzung dafür ist, dass die Kirche ihr Zeugnis von Gott und seinem Offenbarungshandeln so authentisch vorträgt, daß der heutige Mensch es versteht und aufnimmt. Das bedeutet gleichzeitig, daß sie alle aus vergangenen Jahrhunderten stammenden und inzwischen zum Ballast gewordenen Formen und Formeln aufgibt. Und besonders wichtig: Dass sie sich um Aussagen bemüht, die der Mentalität, dem Wissen und der Erfahrung des heutigen Menschen entsprechen. Der genannte Professor JOAS ging bei seinem Vortrag in der Katholischen Akademie München auch auf die Herausforderung für die Verkündigung des Glaubens und für die Bildungsarbeit in unserer Zeit näher ein. Als erstes nannte er eine radikale Neuartikulation der christlichen Botschaft, weil der traditionelle Jargon der Kirche heute keine Chance mehr habe verstanden und ernst genommen zu werden. Natürlich sei es eine schwierige Kunst, das wesentliche Erbe Jesu dem heutigen Menschen sprachlich nahezubringen. Worte wie Seele, Sünde, Buße, Hölle, Sühnetod Jesu, Erlösung, Heiligkeit, Himmelreich, ewiges Leben besitzen keine Aussagekraft mehr, ganz zu schweigen von Festtagsbezeichnungen wie Himmelfahrt, Unbefleckte Empfängnis und DreiKönige. Papst Johannes XXIII. appellierte in seiner Eröffnungsrede des Konzils im Jahr 1962 zum aggiornamento, d.h. darauf zu achten, was die Stunde geschlagen hat. Auf die christliche Botschaft angewandt, meinte der Papst: „Etwas anderes ist das Depositum fidei oder die Wahrheiten, die in der zu verehrenden Lehre enthalten sind, und wieder etwas anderes ist die Art und Weise, wie sie verkündet werden, freilich im gleichen Sinn und der derselben Bedeutung.“ Die mit der Neuartikulation verbundene Problematik hat der Ottobrunner Pfarrer CHRISTOPH NOBS vor Tagen in einem Leserbrief an die SZ (10.2.2011) treffend zum Ausdruck gebracht. Er spricht von einem „kompletten theologischen Umbau, Teil-Abriss und Neubau“, der in breiten Bevölkerungskreisen vor sich gehe und vor allem konservative Gläubige bis ins Mark hinein erschüttere, weil sie „mit nicht mehr haltbaren Glaubens- und Kirchenverständnissen, mit mythologischen Welt- und Gottesbildern, die seit der aufgeklärten Moderne längst überholt sind, mit Liedern und liturgischen Modulen, die vernunftbegabten Zeitgenossen nicht mehr vermittelbar sind“, leben (müssen) . Und dann konstatiert der klarsichtige Pfarrer prinzipiell: „Man tut so, als ob man nicht wüsste, dass ein neues Gottesbild für unser heutiges Weltverständnis erforderlich ist, als göttlich-mystische Tiefendimension in jedem Menschen, auch ohne Kirche, Priester und Pflichtzölibat. Die gesamte Glaubensinterpretation des Christentums befindet sich in einem Paradigmenwechsel.“ Und zum Schluß zieht er die kritische Konsequenz: „Ein wirklich zeitgenössischer Glaube respektiert, dass Menschen heute selbstbestimmt ihren Glaubensweg erfahren. Dabei entdecken sie neue Gottes- und Kirchenbilder, während die Kirchenregierung krampfhaft ‚am Alten’ festhalten will. Sie wird damit scheitern.“ Es ist kein Geheimnis, daß die christliche Verkündigung, vom Elternhaus über Unterricht in der Schule bis zu den Predigten iin der Kirche und der Berichterstattung in den Medien, auf dem Nullpunkt angekommen ist. Beängstigender noch als eine weltfremde Ausdrucksweise ist das geringe Engagement, das vielen Sonntagspredigern anzumerken ist. Wichtiger als die Quantität der Priester ist deren Qualität. Und in diesem Zusammenhang wäre auch die Ausbildung der Religionslehrer zu hinterfragen. Tausendmal wichtiger aber als die zeitgemäße Verkündigung ist die Verwirklichung der Botschaft, die den christlichen Glauben ausmacht. Für alle, die den Namen Christen tragen, is es unerlässlich, daß sie im alltäglichen Leben Zeugnis geben von ihrem letzten Vertrauen auf Gott und Jesus Christus und von ihrer Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. MITSCHKE-COLANDE, einst Mitarbeiter der Unternehmensberatung McKinsey, zuletzt Berater der Deutschen Bischofskonferenz und einzelne Bistümer, weiß um die schwere Krise, in der sich die Kirche - alle Kirchen – befinden. Er ist der Meinung: „Die Kirche steckt in der schwersten Krise der Nachkriegszeit…. Die Kirche habe sich immer verändert, sie muss sich auch jetzt verändern, wenn sie nicht jeden gesellschaftlichen Einfluß verlieren will.“ Als Ausweg aus der gegenwärtigen Krise gibt es für zwei Möglichkeiten: (1) Die Kirche beharrt auf ihren Jahrhunderte alten Traditionen, sieht das Schrumpfen ihrer Mitgliederzahl als unausweichlich an, richtet sich auf eine kleine Herde ein und zieht sich zu ihrem eigenen Schutz in die Wagenburg zurück. Oder (2) die Kirche überprüft ihre Lehraussagen, gibt vom Evangelium her neue Antworten auf Fragen unserer Zeit und geht mit missionarischem Engagement in die Offensive. Nur wenn die Kirchenautoritäten sich für die zweite Möglichkeit entschließen, meint Mitschke-Colande, können sie mit Zukunft rechnen. Beginnen müßte alles mit einer ehrlichen, ausgangsoffenen Bestandsanalyse und einer Null-Fehler-Toleranz, was bedeutet, die Heiligkeit der Kirche nicht nur predigen, sondern im Alltag unter Beweis stellen. Mit einem besonderen Appell wendet Mitschke-Colande sich hier an die Bischöfe, Mut und Führungsstärke zu zeigen und einem breiten Dialog über dringende Reformfragen nicht auszuweichen. Alle Reform sollte damit beginnen, daß die Kirchenbediensteten, um sie einmal so zu nennen, in ihrem äußeren Auftreten dem anspruchlosen Jesus von Nazareth gleichen, auf jeden Pomp und Prunk verzichten und in ihrem Reden wieder glaubwürdig erscheinen. Viele Menschen, auch Katholiken, fühlen sich von dem Glamour bei gottesdienstlichen Feiern und kirchlichen Veranstaltungen abgestoßen. Und zweitens, was die Lehre und Verkündigung betrifft, sollte man alle Lehrbücher der Dogmatik, der Moraltheologie und des Kirchenrechts wegwerfen und allein die Bibel des Neuen Testaments als prinzipielle Lebensorientierung sprechen lassen. Die Botschaft, die Jesus Christus mit der Lehre vom Reich Gottes in die Welt gebracht hat und durch die Kirche weitergeben will, läßt sich auf einen Fingernagel niederschreiben. Einem jungen Mann, der fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, antwortete Jesus lapidar: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es gibt kein größeres Gebot als diese beiden.“ Dieses Hauptgebot konkretisierte Jesus in der Bergpredigt (Mt 5) mit acht Seligpreisungen. Wir sollten sie wieder einmal hören, um sie befolgen zu können: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die m der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;denn ihnen gehört das Himmelreich. Alle Menschen guten Willens, allen voran aber wir, die wir uns Christen nennen, werden am Ende am Hauptgebot und an den Seligpreisungen gemessen werden. Es verwundert nicht, , wenn GÜNTER GRASS, ein politischer Unruhestifter seit eh und je, zuerst an die Politiker denkt, die das C im Namen ihrer Partei stehen haben. Bei einer Rede im Dresdner Staatsschauspiel 1997 ging er mit den den C-Parteien energisch ins Gericht, indem er konstatierte: „Im welcher Schublade ist die Bergpredigt von jenen Parteien abgelegt worden, die sich unverdrossen auf den Sozialrevolutionär Jesus Christus berufen?“ Wenn das Wort „gotteslästerlich“ noch einen Sinn mache, treffe es „auf den gegenwärtig regierenden Heuchlerverein zu.“ Das war 1997. Und ist es heute viel anders? Erst kürzlich kündigten ein evangelischer und ein katholischer Pfarrer in Schweinfurt ihre Mitgliedschaft in der CSU wegen deren Sozialpolitik, die sich in den Bestimmungen zu Hartz IV konkret darstelle. Frage IV WER IST EIN CHRIST? JOSEPH RATZINGER beantwortete 1970 als Theologieprofessor diese Frage in seinem Buch „Glaube und Zukunft“ auf eine Weise, wie sie auch einer seiner schärfsten Rivalen, der Tübinger Dogmatiker Hans Küng, in seinem neuen Buch „Was ich glaube“ fast ebenso zum Ausdruck gebracht hat. Ratzinger schrieb damals: „Ein Mensch bleibt solange Christ … solange er das fundamentale Ja des Vertrauens zu geben versucht, selbst wenn er viele Einzelheiten nicht einzuordnen vermag. Es wird Augenblicke im Leben geben, wo in vielerlei Dunkel der Glaube sich zusammenzieht auf das einfache Ja: Ich glaube dir, Jesus von Nazareth; ich traue darauf, daß in dir sich jener göttliche Sinn gezeigt hat, von dem her ich getrost und gelassen, geduldig und mutig mein Leben bestehen kann. Solange diese Mitte gesetzt ist, steht der Mensch im Glauben, auch wenn ihm noch so viele von seinen Einzelaussagen für den Augenblick unvollziehbar sind.“ Ist das nicht eine tröstliche Auskunft für uns alle, die sich bemühen, nicht bloß Christen zu heißen, sondern es auch im Leben zu sein? Der große Theologe KARL RAHNER sah vor 30 Jahren die Problematik tiefer. Die Zukunft der Kirche unserer europäischen Völker lasse sich nur schwer oder gar nicht prognostizieren. Zum Schluß eines Vortrag vertrat er die Meinung: „Wenn die europäischen Völker, wenn wir die Fackel des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe fallen ließen, dann würden andere Völker sie weitertragen durch die Geschichte bis zu ihrem Ende. Die Zukunft der Kirche ist Gott und so das ewige Leben für uns.“ An der Wand vor dem Grab ROMANO GUARDINIS in einer Seitenkapelle von St. Ludwig in München stehen die Worte, die das Lebensprogramm des großen Religionsphilosophen und Priesters prägnant zum Ausdruck bringen: „Im Glauben an Jesus Christus und seine Kirche. Im Vertrauen auf sein gnädiges Gericht.“ Solange wir, Sie und ich, ebenso glauben, lebt die Kirche noch. Ob aber auch unsere Kinder noch Christen sein werden, steht in den Sternen.