Ganzer Artikel als pdf - Forum für einen fortschrittlichen Islam

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Modell Tatarstan
Ein aufgeklärter Islam
In Kasan, der Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan (südöstlich von Moskau) leben die
beiden stärksten Religionen, Islam und orthodoxes Christentum, seit Jahrhunderten friedlich zusammen. Hier vollbrachte der Islam etwas, was in Europa gern als Forderung erhoben wird:
eine Reformation.
Von Kai Ehlers
A
ufklärung im Islam? In Russland?
Aufgeklärter Islam, meinen seine Kritiker, sei
ein Widerspruch in sich, solange der Koran als
Gottes unmittelbares Wort verstanden werde,
dem sich alles soziale und politische Leben
unterzuordnen habe. Von Russland sei ohnehin nicht gerade Aufklärung zu erwarten.
Einer der schärfsten Kritiker des Islam, der
erklärte Atheist Ibn Warraq, ruft gar zum „kalten Krieg” gegen die „totalitäre Ideologie” des
Islam auf. Die alles entscheidende Frage heiße
heute: Islamisierung der Welt oder Verweltlichung des Islam. In Ibn Warraqs Gefolge, wenn
auch von ihm vermutlich nicht in dieser Weise
beabsichtigt, tummeln sich Demagogen jeglicher Couleur, die Islam, Islamismus, Terrorismus, Nazismus, Bolschewismus und Stalinismus in einem Atemzug nennen, ohne Luft zum
Denken zu holen.
Dies alles ist nur vor dem Hintergrund zu
verstehen, dass selbst radikalste muslimische
Reformtheologen wie der türkische Said Nursi,
ein Zeitgenosse Atatürks, der noch heute als
Wortführer eines aufgeklärten Islam gilt, ihrem
Denken die unbestreitbare Priorität des Korans
zugrundelegen. Nursi kleidete seine Vision,
dass ein aufgeklärter Glaube in Europa und
Amerika die Oberhand gewinnen werde, in die
Worte: „Genauso wie die Osmanen mit Europa schwanger waren und einen europäischen
Staat gebaren, so werden Europa und Amerika
eines Tages den Islam zur Welt bringen.” Dies
sagte er, obwohl er sich aktiv gegen die Politisierung des Korans wandte, obwohl er der
Vernunft und der aus ihr hervorgehenden modernen Zivilisation einen hohen Stellenwert
einräumte.
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Islam – das heißt auch bei Nursi Unterwerfung unter den Koran als das nach wie vor gültige, unumstößliche und letzte Wort Gottes.
Dem hat die Philosophie wie auch die Politik zu
dienen. Alle heutige Erkenntnis und aller Fortschritt, wie neu sie auch scheinen, so Nursi,
seien im Koran bereits angelegt. Und wie seinerzeit für Mohammed ist auch für Nursi der
Koran die Mahnung zur Umkehr, die Aufforderung, abzulassen von der heute verbreiteten
Verehrung des „Goldenen Kalbes” und sich
stattdessen dem Willen Gottes zu unterwerfen,
für das letzte Gericht vorzubereiten.
Und wie einst für Mohammed sind auch für
Nursi heute Religion und Staat durch den
Koran (Gottes Wort), den Hadith (das Leben
Mohammeds) und die Scharia (die daraus entwickelten Regeln und Gesetze) untrennbar
miteinander verbunden.
D
ieses Verständnis des Islam trifft
heute auf eine christlich-abendländisch dominierte „westliche Zivilisation”, die in der Folge
des Christuswortes „Gebt Gott, was Gottes und
dem Kaiser, was des Kaisers ist” Welt und Gott,
Wirtschaft und Ethik, Wissen und Glauben so
weit voneinander getrennt hat, dass sie im
Begriff ist, sich im plattesten Ökonomismus zu
verlieren, in dem Konsum zur Ersatzreligion
wird.
So entstehen in der aktuellen Begegnung von
Islam und globalisierter Welt, obwohl Muslime
durchaus an deren technischen Errungenschaften teilnehmen, Züge eines historischen Déjàvu, in dem sich der religiöse Anspruch des Islam
auf Erneuerung von Gottes Wort auf der einen
Themen
In Kasan gibt es heute einen
Islam, der sich als aufgeklärtes, als
säkularisiertes Modell versteht, welches zeige, so seine Vertreter, wie der
Islam fruchtbar mit der heutigen globalisierten
Welt leben könne. Forscht man nach dem
Wesen dieser Koexistenz, wie ich es in den Jahren der Perestroika und dann wieder gezielt in
den Jahren 2001 und 2002 in mehreren Reisen
nach Kasan tat, dann trifft man auf den in
Westeuropa bisher weithin unbekannten Begriff des „Dschadidismus” für die Art des Islam
in dieser Gegend. Der Begriff leitet sich aus dem
tatarischen Wort „jadid” her, was so viel heißt
wie neu; den Gegensatz dazu bildet „kad”, althergebracht. Strömungen, die einem traditionellen Islam das Wort reden, werden in Tatarstan dementsprechend unter dem Begriff „Kadismus” zusammengefasst.
Bei Kasans regierenden Tataren, allen voran
dem ehemaligen Präsidenten Schamijew, aber
ebenso seinem Nachfolger Rustam Minnichanow, genießt der Dschadidismus den Rang einer Staatsideologie – ohne eine sein zu sollen.
Dr. Raphael Chakimow, seinerzeit einer der
engsten Berater Schamijews, mit dem ich mehrere ausführliche Begegnungen haben konnte,
spricht von einem aufgeklärten, einem reformierten, einem europäisch orientierten Islam.
Die persönliche Beziehung zu Allah stehe vor
den kollektiven Ritualen: „Im 18. Jahrhundert”, so Dr. Chakimow, „gab es hier eine
Reformation des Islam.” Er meint damit die
Reformen seitens Katharina II., die deswegen in
der tatarischen Bevölkerung bis heute zärtlich
„Baba”, Großmütterchen, genannt werde.
Kasan: Eine Kirche, gebaut für alle Religionen
dic.academic.ru
und die „gottlose westliche Welt” auf der anderen Seite gegenseitig zu lähmen drohen, von
Schlimmerem nicht zu sprechen – wenn nicht
differenziert wird, wenn nicht der gegenseitigen Durchdringung, nicht der bewussten und
aktiven Wechselwirkung und daraus hervorgehenden möglichen Verwandlungen beider
Seiten Raum gegeben wird.
Bei diesem Stand der Dinge ist der Blick nach
Russland entgegen dem ersten Anschein sogar
äußerst interessant: Russland war schon immer
– neben Spanien – eine der größten Pufferzonen zwischen Islam und christlich-abendländischer Welt. Rund zwanzig Millionen Menschen der Russischen Föderation – von etwa
140 Millionen seiner Bevölkerung – sind auch
heute Muslime. Dazu kommen die unmittelbaren Nachbarn Russlands im Süden: Türkei,
Aserbeidschan, Irak, Iran, Pakistan, Afghanistan, die zentralasiatischen Staaten bis zu den
muslimischen Uiguren in China und schließlich noch die Millionen kaukasischen und zentralasiatischen Gastarbeiter, die in der russischen Föderation Arbeit suchen. Das ergibt
eine zwar vielfältige, widersprüchliche, aber in
hohem Maße durch den Islam geprägte russische Befindlichkeit, bis hin zu fundamentalistischen Anschlägen in der Moskauer Metro.
Aus all dem wird deutlich: Auch heute ist
Russland ein Puffer zwischen Islam und christlich geprägter Welt, der christlich-abendländischen ebenso wie der christlich-orthodoxen. In
Russland selbst gilt das in besonderem Maß für
Kasan, die Hauptstadt der Republik
Tatarstan an der mittleren Wolga,
wo der Islam seit Hunderten von
Jahren als Produkt einer langen Auseinandersetzung zwischen dem
christlich-orthodoxen Zarentum
und den muslimischen Nachfolgern
des großen Mongolensturms, den
Tataren, ein nicht wegzudenkener
Bestandteil der russischen Kultur
und Gesellschaft ist.
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Man könne den Dschadidismus natürlich
nicht direkt mit dem Lutheranismus vergleichen, schränkt Dr. Chakimow ein. Eine Reformation verkörpere sich in ihm aber zweifellos.
„Unsere Wissenschaftler”, so Dr. Chakimow,
„stellten damals – also nach Katharina – die
Frage, warum der Osten gegenüber dem Westen zurückgeblieben sei. Die Antwort war, dass
er gewissen Traditionen der Autorität gefolgt
sei, auf Arabisch ,taklid’; das eben hat den Islam
geschwächt. Der ursprüngliche Islam ist dagegen auf kritisches Denken gerichtet. Jeder sollte
nachdenken, jeder sollte selbst abwägen. Aber
dann kam die Tradition auf, Autoritäten zu folgen, und der Islam wurde zu einer unumstößlichen Vorschrift.
Unsere Reformatoren sagten dann, man müsse sich an das kritische Denken wenden. Um
den Koran zu lesen, muss der Mensch gebildet
sein. Daraus folgt als Erstes, dass jeder Muslim
eine gute Bildung haben muss. Also muss man
neue Schulen bauen, nach europäischem Standard. Das war die erste Etappe. Das Zweite war,
dass im tatarischen Islam, im Dschadidismus,
die Religion eine persönliche Angelegenheit ist.
Da ist Allah – und da bist du; zwischen euch ist
kein Advokat. Da ist kein Mullah und kein
Imam: Du alleine sprichst mit Allah. Du sagst
Guten Tag, er antwortet. Hier hat die Òbschtschina, die Gemeinde, nichts zu sagen.
Also, der tatarische Islam ist eine persönliche
Angelegenheit. Die Moschee ist natürlich ein
Ort, wo man beten kann, aber vor allem ist sie
ein Zentrum der Bildung. Ansonsten gehst du
in die Moschee, wann und wo du willst. Niemand kann mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe – fünfmal zu Boden oder nicht fünfmal? Soll ich meinen Kopf beugen oder nicht?
Das ist meine Sache. Das unterscheidet die
Tataren stark von anderen muslemischen Völkern. Das war so schon vor der sowjetischen
Zeit. „Al Jadid” ist die Bezeichnung für diese
Reform: Andere Beziehung zu Frauen; Frauen
sind den Männern in allem gleich; tolerante
Beziehung zu anderen Religionen. Hauptsache, du bist gläubig und tust gute Dinge. Allah
ist für alle gut. In einem allerdings unterscheidet sich der Dschadidismus vom Protestantismus: Durch den Protestantismus hat sich auch
im Glauben selbst viel geändert, der Dschadi32
dismus kehrt nur einfach zum Koran zurück. Er
wendet sich von der Prophetenvermittlung ab,
der Autoritätsgläubigkeit. Für den Dschadidismus ist die einzige Autorität der Koran selbst.”
Besonders zu beachten an dieser Aussage Dr.
Chakimows – neben allem anderen höchst
Interessanten – ist natürlich der letzte Satz, dass
der Dschadidismus, wie er sagt, „nur einfach
zum Koran zurückkehre”. Örtliche muslimische Geistliche sowie muslimische Gelehrte,
mit denen ich ebenfalls sprechen konnte,
stimmten dieser Darstellung des Dschadidismus zu. Sie betonten allerdings, darin um Differenzierung gegenüber Dr. Chakimow bemüht, dass der Dschadidismus wohl „mehr der
politische Ausdruck des Islam als die Religion
selber” sei und es im Kern natürlich, wenn von
Islam die Rede sei, um den Korans gehe.
Gleichzeitig sahen sie sich jedoch gezwungen,
sich gegen Bewegungen abzugrenzen, in denen
zur „Reinheit” des Islam, zur Bildung eines islamischen Gottesstaates auf Grundlage des
Koran, des Hadith und der Scharia aufgerufen
wird, wie sie im Kaukasus, also in Tschetschenien, in Dagestan oder auch in Zentralasien zu
beobachten sind, versprengt auch in Tatarstan
selbst.
Damit – so könnte es scheinen – stehen wir
auch hier wieder vor demselben Problem wie
überall. Auch in Russland besteht der Islam
aus den drei Teilen: dem Koran als Gottes unmittelbarem Wort, als letzter unumstößlicher
Verkündigung, den Hadith als Sammlung der
Berichte über das Leben Mohammeds, die Vorbildcharakter haben, und der Scharia, dem aus
beidem folgenden gottgewollten Rechtssystem.
Umso größeres Gewicht bekommt
die Tatsache, dass mir in Kasan noch ein viertes
Element des Islam genannt wurde, welches, so
erklärte man mir, üblicherweise vergessen
werde, obwohl es eine riesige Bedeutung für die
differenzierte Verbreitung des Islam im Lauf
der Geschichte habe, besonders auch für die
Herausbildung des „Kasaner Modells”. Das
Element heißt „Urf adak”; das sei eine Einrichtung zu „abweichenden Rechten”, die sich aus
der besonderen ethnischen, geschichtlichen
und kulturellen Lage der jeweiligen Völker
Themen
ergebe. Hieraus habe sich – bei Anerkennung
des Korans, des Hadith und der Scharia – in der
russischen Geschichte die besondere Form des
tatarischen Islam entwickelt, der heute von
Kasan aus über Russland und auch in andere
muslimische Länder ausstrahle.
Kasan, das muss hier noch einmal nachgetragen werden, ist nicht irgendein Ort in Russland. Es ist der historische Knotenpunkt zwischen Asien und Europa, der sich zwischen asiatischer Invasion und europäischen Völkern,
zwischen Christentum und Islam, Russen und
Mongolen im Zentrum Russlands herausgebildet hat. In diesem Selbstverständnis nennt die
Stadt sich heute die heimliche islamische, die
„Dritte Hauptstadt Russlands” neben Moskau
und St. Petersburg.
In Kasan hat der Islam eine lange
Geschichte der Anpassung und Individualisierung hinter sich, die ihn prädestiniert für eine
Koexistenz mit anderen Religionen, insonderheit mit dem orthodoxen Christentum. Die
Tataren sind neben den slawischen Russen heute die größte Bevölkerungsgruppe Russlands.
Die Republik Tatarstan selbst hat ihren Namen
von der Tatsache, dass die tatarischstämmige
und die slawischstämmige Bevölkerung Russlands dort in einem Verhältnis von ungefähr
60:40 zusammenleben. (In der Angabe enthalten sind noch versprengte Anteile anderer aus
Asien kommender Einwanderer). Die Tataren
als wichtigste nichtslawische Bevölkerungsgruppe sind Nachkommen jener turkmongolischen Eroberer, die Mitte des 13. Jahrhunderts
aus Asien nach West- und Südeuropa vordrangen. Ein Teil von ihnen gründete das Khanat
Kasan an der Wolga. Nach der Eroberung
Kasans durch Iwan IV. 1552 wurden die Tataren Teil des russischen Reiches und Kasan zum
Ausgangspunkt der russischen Ostkolonisation.
Iwan IV. wollte den Islam auslöschen, nachdem er Kasan hatte erobern lassen. Zweihundert Jahre danach legalisierte Katharina II. den
Islam, nachdem der Pugatschowsche Aufstand
von 1773/5 ihr hatte deutlich werden lassen,
dass ein weiterhin unterdrückter Islam eine zerstörerische Unruhequelle im Herzen Russlands
sein würde. Der Aufstand war ja nicht nur ein
Aufbegehren der Bauern, sondern auch der
nichtslawischen Völker des Reiches gegen das
Moskauer Zentrum. Katharina versuchte, der
Unruhe „die Zähne zu ziehen”, indem sie den
Islam als Bildungselement in den russischen,
christlich-orthodoxen Staat eingliederte. Auf
diese Weise verschaffte sie sich zugleich freie
Hand für die von ihr betriebene Expansionspolitik gegenüber den muslimischen Völkern des
Kaukasus und gegenüber der Türkei.
Das Ergebnis war die Herausbildung des auf
Koexistenz und westliche Werte orientierten
Dschadidismus in Kasan, der von dort aus auf
die übrigen nichtslawischen Wolgavölker und
die im Lande verstreuten Tataren ausstrahlte.
Im Kaukasus dagegen schmiedete ein militanter Islam die Völker im Kriegsbündnis gegen
Russland zusammen.
Die Oktober-Revolution von 1917 führte
dann für alle Muslime Russlands gleichermaßen zu vorübergehender größerer Freiheit. In
der Sowjetzeit war der Islam generell illegalisiert wie jede andere Religion.
Für den tatarischen Islam erzwangen diese
wechselnden Bedingungen schon in der
Zarenzeit eine individuelle Religionsausübung
und ließen damit die Voraussetzungen für die
Säkularisierung entstehen, wie Dr. Chakimow
sie beschreibt. Der staatlich verordnete Atheismus der Sowjetzeit gab dem noch einen gewaltigen weiteren Schub, welcher der Wirkung
der französischen Revolution auf den christlichen Westen in nichts nachstand, ja diese gewissermaßen duplizierte. Die gemeinsam erfahrene Repression ließ zudem eine Solidarität
der Gläubigen gegen den Staat entstehen –
gleich welcher Religionszugehörigkeit und
welcher Konfession.
Heute stehen nicht nur die Tataren, sondern
alle Menschen des neuen Russland vor der
Frage, wie eine nachsowjetische Ethik aussehen
kann, wenn sie nicht einfach den aus dem Westen kommenden Konsumismus als Ersatzreligion annehmen wollen. Das gibt der von Ibn
Warraq aufgeworfenen Frage „Verweltlichung
des Islam oder Islamisierung der Welt” eine
Dynamik, die über die Restitution einer einzigen Religion, Konfession, Kirche oder Sekte
ins offene Feld einer zeitgemäßen allgemeinen
Ethik hinausführt.
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Die Menschen, die sich heute als
Muslime zum Kasaner Modell bekennen, sind
daher weitgehend immun gegen die von Warraq befürchteten neuerlichen „totalitären”
Indoktrinationen. Sie suchen den individuellen
Weg zum Glauben. Gezeichnet durch die Krise
des Sozialismus, zugleich skeptisch gegenüber
den einströmenden Kapitalismus-Tendenzen,
suchen sie über ihre ethische Neuorientierung
hinaus auch nach neuen gesellschaftlichen Perspektiven.
Kasans „Dschadidisten” verstehen sich als Impulsgeber für einen eurasischen, konkret auch
russischen Föderalismus, Vorbild Europa. In
dieser Haltung zu Religion und Gesellschaft
stehen sie auch in aktiver Auseinandersetzung
mit islamistischen Strömungen des Islam in
Russland – in Tatarstan selbst, in Tschetschenien, im Kaukasus, außerdem in Zentralasien.
Aktiv unterscheidet Kasans politische und geistliche Führung, mit welchen ausländischen Strömungen des Islam sie Kontakt hält, sich etwa
beim Bau von Moscheen unterstützen lässt –
mit Ägypten ja, mit Arabien, dem Heimatland
des radikalen Wahabismus dagegen nicht.
Dies geschieht auch in organisierter wissenschaftlicher Arbeit, welche die heute mögliche
Beziehung von Religion und Staat in Auseinandersetzung mit der Krise des Sozialismus
wie auch des nach Russland einströmenden Kapitalismus, also der drohenden Dominanz der
Ökonomie über die Kultur und auch fundamentalistischen Wiederbelebungsversuchen got-
tesstaatlicher Vorstellungen im Islam wie auch
in anderen Religionen bewusst herausarbeitet.
Aus dem Zusammentreffen all dieser unterschiedlichen Entwicklungslinien ergibt sich
eine sehr besondere Situation, die alle Voraussetzungen dafür mitbringt, dass hier ein Tor für
eine Entwicklung zu finden ist, die über die
Konfrontation von Welt oder Islam in eine
Zukunft hinausführt, in der die Würde des
Menschen nicht von der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Gruppe, auch keiner religiösen,
abhängt, sondern als sein unverbrüchliches Lebensrecht anerkannt wird.
Heute leben die Menschen Kasans – und
darüber hinaus Tatarstans – in einer offenen
Mischkultur von Islam, Christentum und
anderen Religionen sowie religiös nicht gebundenen Menschen. Jede dritte Ehe in Tatarstan
ist eine Mischehe. Kasan versteht sich als offene,
auf Toleranz zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen orientierte Stadt, insbesondere
zwischen Christen und Muslimen; das dokumentiert sich in dem Doppelbild von Dom und
Moschee, die sich im Zentrum des Kasaner
Kremls einträchtig gegenüberstehen – wie
Zwillingstürme, die an jene des World Trade
Centers denken lassen, nur mit gänzlich anderer Botschaft. Das Doppelbild von Dom und
Moschee ziert nahezu jede Postkarte der Stadt.
Eine Garantie für den Durchbruch eines neuen
Geistes ist Kasans Modell des Zusammenlebens
selbstverständlich trotzdem nicht. Es zeigt aber
einen Weg, der gegangen werden kann.
Kasanbilder, Wikimedia
Der Kreml von Kasan mit Kathedrale und Moschee
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