FOKUS Christoph Jacke über heranwachsende Mediennutzer JUGEND UND S chenkt man den aktuell vor allem in den Massenmedien so sichtbaren, oftmals apokalyptischen Diskursen Glauben, in denen es um das Verrohen junger Menschen durch falsche oder gar keine Erziehung, den Verlust jeglicher Werte, die Entgrenzung der Jugend und das Aufweichen jeglicher Grenzen geht, so könnte man Überlegungen zu Jugendkultur und Popmusik gleich zu Beginn in einem einzigen negativen „Anything Goes“ verstummen lassen. Nun hat aber der berühmte Philosoph Paul Feyerabend seine postmoderne Lesart der sich eröffnenden Möglichkeiten und neuen Zusammensetzungen unserer Welten keinesfalls willkürlich oder beliebig gemeint. Nein, alles ist möglich, solange es funktioniert. Genauso verkommt weder die Jugend noch verschwimmen nun alle Grenzen oder spielt Musik keine Rolle mehr – hier zumeist eben populäre Musik als massenwirksame, kommerzielle Musik, eben Pop, mit allen ihren Nischen und Seitenarmen für junge Heranwachsende in unserer Mediengesellschaft. Diskurse, die in dieser Hinsicht das Verdrängen des einen durch das andere (z. B. in Freizeitaktivitäten, im Mediengebrauch) behaupten, sollten zumindest ganz genau und an konkreten Beispielen betrachtet und überprüft werden. Ebenso reagieren etwa extreme und extremistische jugendliche Popmusikkulturen selbst längst wieder auf dieses vielfältige Angebot an Möglichkeiten, in dem sie sich auf Fundamentalismen zurückziehen, ganz, wie sie es aus erwachsenen Tendenzen zu Ende der nuller Jahre kennen. 8 MUSIK ORUM Ein Indikator und auch Beleg etwa für die in jedem Fall weiterhin vorhandenen vielfältigen Zusammenhänge aus Jugend- und Popmusikkulturen sind nicht zuletzt die großen empirischen Studien (z. B. Shell Jugendstudien, JIM-Studien, Daten zur Mediensituation in Deutschland/Media Perspektiven). Auch die zunehmende wissenschaftliche Reflexion dieser Zusammenhänge zeugt von umtriebiger Beschäftigung (z. B. Arbeitskreis Studium Populärer Musik, AG Populärkultur und Medien der Gesellschaft für Medienwissenschaft, Berliner Archiv der Jugendkulturen, Jugend Kultur Archiv der Frankfurter Kunstpädagogin Birgit Richard). Und schließlich konnte man zuletzt immer wieder große Ausstellungen zu Popmusik und Jugendkultur beobachten wie etwa „Coolhunters“ (ZKM Karlsruhe, 2006), „InterCool 3.0“ (Dortmunder U, 2010/2011), „A Star Is Born“ (Folkwang Museum Essen, 2010), „Celebrity Culture“ (KIT/ZKM Karlsruhe 2010/2011) oder das Rock’n’Popmuseum in Gronau mit seinen ständigen Ausstellungen (siehe hierzu auch Bildhinweise auf der rechten Seite). zwischen Konformismus, Kontroverse und Kompromiss (Popmusik)Kultur Popmusik und Jugendkultur sind in Schulen und an Universitäten auf verschiedene Art und Weise angekommen und Thema geworden, da wir begreifen wollen, was uns ständig und seit mindestens 50 Jahren immer erfolgreicher und umfassender umgibt; ganz gleich, ob wir das nun zunächst involviert begeistert oder auch distanziert kritisch begleitend tun. Aus populärer Musik und ihren medienkulturellen Kontexten können wir einiges über uns und unsere Gesellschaft lernen.1 Alle diese Selbstvergewisserungen unserer Gesellschaft wollen die Bedeutung der zumeist jugendlichen Bild- und Klangwelten analysieren und präsentieren. Schauen wir also noch einmal in gegebener Kürze und Konzentration auf die drei hier zentralen Begriffe und dahinter stehenden Konzepte und Phänomene. worden, was viele junge Erwachsene an den ihnen offenstehenden Möglichkeiten verzweifeln lässt. Auf der anderen Seite bleibt es ein menschliches Grundbedürfnis, seine Person und Persönlichkeit in ihrem Kern möglichst stabil auszubilden. Sowohl für den permanenten Wandel als auch die Verfestigung eines Kerns werden kulturelle Praktiken und Techniken benutzt, und zwar von Jugendlichen besonders intensiv, als Wahlpflichtveranstaltung mit spielerischem Ernst: Sport, Mode, Games, Politik, Clubs, Genussmittel, Sexualität, Selbstpräsentationen und vor allem Popmusik, die alle diese Ebenen integrieren kann oder in diese diffundiert, weil sie so anschlussfähig ist. ! Jugend Kultürlich gibt es weiterhin Jugendliche und ebenso kultürlich haben diese sich im ständigen Abgleich an ihren Unterschieden zu anderen Bevölkerungsteilen und -schichten abzuarbeiten. Nur über dieses vielfältige Wechselspiel aus Konformismen, Kontroversen und Kompromissen bilden sich individuelle und kollektive Identitäten bei jungen Menschen (aber auch bei den ihnen Gegenüberstehenden) aus. Diese Identitäten sind zwar in unseren Medienwelten auf der einen Seite immer beweglicher und komplexer ge- Bildquellen dieser Doppelseite: • Webdesign der Internetpräsentation www.inter-cool.de zur gleichnamigen Ausstellung 2010 in Dortmund mit Bild- und Medienwelten junger Menschen. Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt des Goethe-Instituts Frankfurt, des Hartware MedienKunstVerein Dortmund und des Kulturbüros der Stadt Dortmund. • Grafik von Kommunikationsdesign-Studenten am Campus Essen (Katrin Peter, Andreas Ruck), gezeigt 2006 im Rahmen eines Workshops zur Ausstellung „coolhunters – Jugendkulturen zwischen Medien und Markt“ im Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. MUSIK ORUM 9 FOKUS Nun hat sich das Konzept Jugend mittlerweile ausgedehnt, da man mit immer weniger gesellschaftlichen Zwängen normiert und daher teilweise erst sehr spät das wird, was Gesellschaft dann als „erwachsen“ definiert.2 Gleichzeitig haben junge Heranwachsende bestimmte ehemals ihnen vorbehaltene Felder längst nicht mehr nur für sich. Der mit Drogen, Revolution und Rolling Stones aufgewachsene Vater oder Großvater eignet sich bekanntlich schwer zur Abgrenzung, es sei denn, man tituliert ihn als Spießer und eignet sich genau die Praktiken an, von denen sich der Großvater absetzen wollte. So kommen dann etwa neue Moden wie das Interesse an Schlager und Volksmusik oder die „classics on a twist“ zustande, die ursprünglich konservative Vorhaben wie Schrebergarten, Sonntagsgarderobe und Tanztee ausgraben, wieder als cool umschreiben und derzeit boomen, mal oberflächlich ironisch gebrochen, mal durchaus seriös und mit Haltung gemeint. Gleichzeitig ist Jugend heutzutage immer auch eine medialisierte Jugend, mittlerweile kann man die Generationen bereits schon wieder kaum noch an ihren Medientechnologien definieren, wie eine Zeit lang geschehen, da diese immer rascher entwickelt und etabliert werden. Festzuhalten bleibt, dass die neuen Medienwelten nicht nur zu neuen Freizeitpraktiken führen, sondern selbst mittlerweile als Bestandteile der Identitätskonstruktionen und Ein-/Abgrenzungen fungieren.3 10 MUSIK ORUM Popmusik Ob nun in Ausprägung von Jazz, Punk, Dubstep, schlichten Coverversionen, aufwendigen Mash-Ups, als Film-Soundtrack oder Musik zu und Setting von Computer-Spielen wie Guitar Hero: Popmusik bleibt vor allem in ihrer Rezeption, Nutzung und Weiterverarbeitung in Form von z. B. Blog-Einträgen, Fanzines oder sogar eigenen Songs/ Tracks bzw. Programmen ein ganz zentraler Bestandteil von jugendlichen Mainstream- und Sub-Kulturen: „Popmusik ist ein kultureller Rahmen, um Erfahrungen zu organisieren, Sinn zu artikulieren, Bedürfnisse zu entfalten, ein Erfahrungs- und Handlungszusammenhang, der einen entscheidenden Faktor bei der Herausbildung von Identität und Subjektivität Heranwachsender darstellt.“4 Popmusik ist, noch umfassender formuliert, ein Lebensstil und Kommunikationsprozess, innerhalb dessen sich insbesondere Jugendliche spielerisch und höchst aktiv auf den Bereichen Produktion, Distribution, Rezeption/Nutzung und Weiterverarbeitung zunächst bewegen, mitunter aber auch qualifizieren und professionalisieren. Dabei werden – anknüpfend an neue Technologien dieser Ebenen – neue Umgangsweisen kreiert, die wiederum neue Felder konstituieren. Man denke nur an den Schallplattenspieler als Popmusikinstrument im HipHop oder die computerisierten Möglichkeiten neuer Musiksoftware und auch deren Dekonstruktion/Überarbeitung in elektronischen Popmusikstilen wie Glitch, Minimal oder Drum’n’Bass. Vor allem Computer- und Internettechnologien sorgen für neue Mitmach- und also Demo- kratisierungstendenzen im Produzieren und Diskutieren von Popmusik, während die großen Zeiten des Popmusikfernsehens als Vollprogramm, wie wir es bei MTV oder VIVA kannten, gezählt sind. Deswegen verschwindet aber Popmusik keineswegs aus den Medien, sie sucht sich und ihren Rezipienten nur neue Wege und Mittel der Aufbereitung. Kultur Will man nun Jugendliche und ihre Nutzungen und Aneignungen von Popmusik verstehen, so sollte man die ihnen vorausgesetzten Kulturen begreifen. Kulturen grundieren und rahmen die jugendlichen Individuen, Gruppen und Kollektive, sie sind gewissermaßen die Interpretationsfolie der Wirklichkeitsmodelle und werden im ständigen Abgleich zwischen kognitiv autonomen Akteuren und sozialen Orientierungen an anderen angewendet.5 An dieser Definition zeigt sich die Schwierigkeit des gegenseitigen Verstehens und auch der wissenschaftlichen Beobachtung solcher „fremder“ Kulturen: Für unterschiedliche Kulturbeobachtungen gelten eben auch unterschiedliche Beobachtungskulturen. Diese laufen in der Regel unhinterfragt und unsichtbar ab, weswegen sie prinzipiell so reibungslos funktionieren, schwer fassbar sind und man sich oftmals über Einheimische Zugänge und Informationen verschafft. Nur mit einem gehörigen Maß an gegenseitiger Toleranz kann man versuchen, die kulturellen Ähnlichkeiten, Unterschiede und dialektischen Dynamiken auf einer letztlich sehr wohl gemeinsamen Grundlage (Kultur) Schwierige Abgrenzung bei immer weniger gesellschaftlichen Zwängen: Junge Heranwachsende haben ehemals ihnen vorbehaltene Felder längst nicht mehr nur für sich. Grafik: Workshop zur Ausstellung „coolhunters“ / Janine Bell, Andreas Ruck (siehe Bildhinweis auf S. 9) 1 zu erfassen. Und da Kulturen so flexibel und wenig griffig wirken, wenn sie auch durch Medialisierungen immer beobachtbarer werden, bemüht man sich auch zunehmend um deren Sammlung und Archivierung. So lassen sich u. a. die Archivierungen und Musealisierungen von popmusikalischen Jugendkulturen und jugendkulturellen Popmusiken erklären. Hier zeigt sich die herausragende Bedeutung dieser Beschäftigungen: Denn wenn man Popmusikkulturen „nur“ sich selbst überlässt, werden sie zwar für die in den Szenen bzw. Kulturen Handelnden weitergereicht, drohen aber für eine analytische, systematische und reflektiert-kritische Aufarbeitung jenseits von Trendforschung und Marktdiagnostik verloren zu gehen, auch in den Tiefen des Cyberspace. Dort wird zwar selten eine (popmusikalische) Tatsache wie eine Band-Homepage vergessen, oftmals aber der zu ihr gehörige Zugang oder die Datenpflege. Nichts ist so alt wie die unbearbeitete Homepage von gestern. Fazit Es lässt sich also klar erkennen, dass es weiterhin Jugend geben wird, so sehr sich auch der Begriff und das Konzept immer wieder verändern können. Gleiches gilt ebenso für Kultur und Popmusik. Die jungen Heranwachsenden werden in einer Mediengesellschaft sozialisiert und ständig mit immer wieder neuen und verfeinerten Medientechnologien konfrontiert, lernen diese meist quasiautomatisch anwendend zu verstehen. Anhand dieser Technologien aber eben auch außerhalb (Live-Business, Hausmusik etc.) findet auch weiterhin eine latente Auseinan- dersetzung mit Popmusik als einem der zentralen Felder von Populärkultur statt.6 Und kann die gesamte Kultur Pop im Sinne eines Lebensstils eben nicht mehr zentral gegen andere Kulturen vor allem der Älteren und Eltern eingesetzt werden, dann bilden sich offensichtlich Verzweigungen, Verbünde mit anderen Kulturen (z. B. Games) oder auch Spezialisierungen auf bestimmte, für die anderen Generationen kaum noch nachvollziehbare Techniken und Technologien heraus. Dass diese Handlungen und Bedürfnisse freilich ganz genau seitens der Unterhaltungsindustrien beobachtet und gegebenenfalls von ihnen kommerzialisiert und lanciert werden, ist zwar eine Binsenweisheit. Diese sollte aber nicht vergessen werden, wenn man sich mit neuesten Entwicklungen seitens der Jugendlichen auseinandersetzt. Plattformen wie das bald schon wieder veraltete „Myspace“ oder aktuell „Facebook“ und „Twitter“ sind schließlich nicht aus gutem Willen entstanden oder auf- und ausgebaut worden, um jungen Menschen (so auch Popmusikern) ein Sprachrohr zu sein, sondern aus handfesten finanziellen Interessen.7 Genau an diesem Punkt wird die Forderung an die Politik fällig und klar, zukünftig die sich mit diesen Themenfeldern beschäftigenden Ausbildungs- und Reflexionsstätten noch wesentlich besser auszustatten, um es nicht bei jugendlicher Selbstqualifikation und elterlichem Missverstehen zu belassen. Damit wir die Welten der nachfolgenden Generationen verstehen, ihnen aber auch eine ausgereifte Behutsamkeit im Umgang mit neuen Phänomenen, Technologien, Musiken und Medien mit auf den Weg geben können. vgl. dazu ausführlich Christoph Jacke: Einführung Populäre Musik und Medien, Münster u. a. 2009. 2 vgl. grundlegend und historisch: Jon Savage: Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875-1945), Frankfurt/New York 2008 sowie Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Eine Erweiterung des Konzepts Jugend kommt den Jugendindustrien freilich entgegen, erst nach und nach beginnen diese auch für den Popmusik- und Unterhaltungsbereich die älteren und alten Käuferschichten zu entdecken. 3 vgl. Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht, Nina Metz: Flickernde Jugend – Rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt/New York 2010. 4 Peter Wicke: Vom Umgang mit Popmusik, Berlin 1993, S. 15. 5 vgl. grundlegend Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt/M. 1996 sowie zum Transfer auf Jugend-, Popmusik- und Subkulturen: Christop Jacke, Christoph: Medien(sub)kultur. Geschichten – Diskurse – Entwürfe, Bielefeld 2004. 6 vgl. Simon Frith: „Live Music Matters“, in: Scottish Music Review, Nr. 1/2007, S. 1-17; URL: www.scottishmusicreview.org/index.php/SMR/article/ view/9/8 (Stand: 12.12.2010). 7 vgl. die kritische, aktuelle Studie des Informatikers und Musikers Jaron Lanier: Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht, Frankfurt/M. 2010. Einführende Literatur Baacke, Dieter (Hg.): Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998 Grimm, Fred: Wir wollen eine andere Welt. Jugend in Deutschland 1900-2010. Eine private Geschichte aus Tagebüchern, Briefen, Dokumenten, Berlin 2010 Neumann-Braun, Klaus; Richard, Birgit (Hg.): Coolhunters. Jugendkulturen zwischen Medien und Markt, Frankfurt/M. 2005 Richard, Birgit; Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): inter-cool 3.0. Jugend Bild Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung, München und Paderborn 2010 Zacharias, Wolfgang: Kulturell-ästhetische Medienbildung 2.0. Sinne, Künste, Cyber, München 2010 Der Autor Dr. Christoph Jacke ist seit 2008 Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Studiengang „Populäre Musik und Medien“ im Fach Musik an der Universität Paderborn und Sprecher der „AG Populärkultur und Medien“ in der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Jüngste Veröffentlichung: Einführung in Populäre Musik und Medien (LIT, 2009). Weitere Informationen: U www.christophjacke.de, www.uni-paderborn.de/musik MUSIK ORUM 11