Schneider / Schneider

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Schneider / Schneider
Freitag, 9.30 Uhr
Pressezentrum
Sperrfrist:
03.05.2013; 9.30 Uhr
Projekt:
Bibelarbeiten
Veranstaltung:
Dialogbibelarbeit
Referent/in:
Anne Schneider, Lehrerin i. R., Düsseldorf
Dr. h.c. Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender Ev. Kirche in
Deutschland (EKD), Berlin
Ort:
Halle A2, Bühne, Messegelände
Programm Seite:
208
Dokument: VBAB_010_1981
„Verzicht als Gewinn erfahren“
„Es kommt eine zeit
da werden wir viel zu lachen haben
und gott wenig zu weinen
die engel spielen klarinette
und die frösche quaken die halbe nacht
Und weil wir nicht wissen
wann sie beginnt
helfen wir jetzt schon
allen engeln und fröschen
beim lobe gottes“
(aus dorothee sölle, zeitansage, loben ohne lügen)
I. Begrüßung und Vorstellung (9.30 Uhr)
I.1. Begrüßung und Vorstellung durch Manfred Schwarz
I.2. Dorothee Sölle inspiriert unser theologisches Denken und Reden (Anne)
„Die Wahrheit ist konkret“, mit diesem 1967 – also zu Beginn unseres Theologiestudiums –
erschienen Buch begann unsere Beziehung zu Dorothee Sölle. „Die Wahrheit ist konkret“ –
der Titel des Sammelbandes von zehn ihrer Radiovorträge wurde gleichsam zu einem
Mantra für unser theologisches Denken und Reden, aber auch für unser Leben, Lieben und
Arbeiten.
In diesen ersten bewegten Jahren unseres Studiums, in denen so viele gesellschaftliche und
persönliche Veränderungen uns forderten und zugleich beflügelten, begeisterte uns
Dorothee Sölles Verständnis von Theologie:
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-2Die Theologie spricht nicht in ewig gleichen richtigen Sätzen von Glauben, sondern ändert
sich im Laufe der Geschichte, „weil sie nicht von ihm (Gott) als einem Himmelswesen
handelt, sondern vom Menschen, den Gott ansieht.“ … „Theologie treiben, …, heißt: von
Gott sagen, was er an uns tut. Was tut Gott an uns, wenn wir die Legende von der Speisung
der 5000 hören? Er verspricht sich uns angesichts einer hungernden Welt. Er lässt diese
Welt nicht, wie sie ist …“. (Sölle, Die Wahrheit ist konkret, Warum ändert sich Theologie,
S.25ff.)
Unsere Beziehung zu Dorothee Sölle entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte durch ihre
Bücher, Vorträge und Bibelarbeiten zu einer geistigen und geistlichen einseitigen
Freundschaft. Dorothee Sölle kam und ist uns nahe in ihren Texten – unsere persönlichen
Begegnungen waren selten und dann auch recht unpersönlich. Ihre Texte aber haben uns
gelehrt, bei unserem Theologie-Treiben Herz und Kopf sowie Frömmigkeit und
Weltverantwortung beieinander zu halten. Dafür sind wir ihr bis heute dankbar.
Viele ihrer Texte inspirieren bis heute unser theologisches Denken und Reden – und
nebenbei bemerkt: viele ihrer Gedichte auch unser ganz persönliches Liebesleben … Wir
freuen uns, dass unsere Bibelarbeit Teil des Liturgischen Dorothee-Sölle-Tages ist. Texte
von Dorothee werden unsere Texte ergänzen und bereichern.
II. Liturgischer Beginn (9.35 Uhr)
II.1. Gebet „Renovabis faciem terrae“ (Nikolaus)
Wir beten mit Worten von Dorothee Sölle:
„Gott deine geistin erneuert das gesicht der erde
erneuere auch unser herz
und gib uns den geist der klarheit und des mutes
denn das gesetz des geistes
der uns lebendig macht in christus
hat uns befreit von dem gesetz der resignation
…
Lehre uns
die kraft der kleinen leute zu spüren
und keine angst mehr zu haben
wenn wir widersprechen und widerhandeln
dem luxus auf kosten aller anderen geschöpfe
…
Gott deine geistin erneuert das gesicht der erde
erneuere auch unser herz
und lass uns wieder miteinander leben
lehr uns zu teilen statt zu resignieren
das wasser und die luft
die energie und die vorräte
zeig uns dass die erde dir gehört
und darum schön ist.“
(Sölle, loben ohne lügen, gedichte, S. 17)
Amen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-3II.2. gemeinsames Lied mit HABAKUK & BLECH PUR
„Atme in uns, Gottes Geist“
Pilgerheft zum „Liturgischen Tag Dorothee Sölle“, S. 14, Nr. 1
III. Bibelarbeit Teil 1 (ca. 9.42–10.00 Uhr)
„Du sollst dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen
Bruder …“
III.1. der Text 5. Mose 15,1–11 mit kommentierendem Kontext
Nikolaus:
Anne:
Der Bibelarbeitstext: 5. Mose 15,1–11 nach
der Übersetzung Martin Luthers (1984)
Kommentierender Kontext
1 Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr
halten.
Immer wieder neu sollen wir bereit sein, auf
eigene berechtigte Ansprüche zu verzichten.
Wenn wir so viel besitzen, dass wir anderen
davon abgeben können, dann sollen wir es
nicht unter allen Umständen zurückfordern.
Immer wieder neu sollen wir bereit sein, um
Gottes und der Menschen willen auf
Rückforderungen zu verzichten, damit
unsere Schuldner und Schuldnerinnen die
Chance auf einen neuen Anfang gewinnen.
2 So aber soll`s zugehen mit dem Erlassjahr:
Wenn einer seinem Nächsten etwas geborgt
hat, der soll`s ihm erlassen und soll`s nicht
eintreiben von seinem Nächsten oder von
seinem Bruder; denn man hat ein Erlassjahr
ausgerufen dem HERRN.
3 Von einem Ausländer darfst du es
eintreiben; aber dem, der dein Bruder ist,
sollst du es erlassen.
Bedenkt:
Jesus Christus hat uns gelehrt, dass alle
Menschen Kinder Gottes und damit unsere
Schwestern und unsere Brüder sind – über
alle nationalen, konfessionellen und
weltanschaulichen Grenzen hinweg.
4 Es sollte überhaupt kein Armer unter euch
sein; denn der HERR wird dich segnen in
dem Lande, das dir der HERR, dein Gott,
zum Erbe geben wird,
Es sollten überhaupt keine Armen unter uns
leben, weil Gott uns und diese Erde mit
seinem Segen begleiten will.
Gott hat die ganze Erde in die Verantwortung
von uns Menschen gegeben.
Wenn wir doch nur dem Wort Gottes
vertrauten und alle seine lebensfreundlichen
Gebote hielten, die uns jeden Tag neu
Orientierung und Wegweisung für unser
Denken, Entscheiden und Handeln geben.
5 wenn du nur der Stimme des HERRN,
deines Gottes, gehorchst und alle diese
Gebote hältst, die ich dir heute gebiete, dass
du danach tust!
6 Denn der HERR, dein Gott, wird dich
segnen, wie er dir zugesagt hat.
Dann wirst du vielen Völkern leihen, doch du
wirst von niemand borgen; du wirst über viele
Völker herrschen, doch über dich wird
Durch Jesus Christus ist auch uns, die wir
nicht zum Gottesvolk Israel gehören,
zugesagt:
Gott will uns segnen.
Im Vertrauen und Gehorsam gegenüber
Gottes Wort und Weisung können auch wir
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-4niemand herrschen.
zu wegweisenden Zeichen werden für alle
Völker.
Und sollte nicht das unser Traum von einem
gesegneten Leben sein: Gottes Wort macht
uns frei von aller äußeren und inneren
Tyrannei – auch von der unserer eigenen
Macht- und Herrschaftsgelüste?!
7 Wenn einer deiner Brüder arm ist in
irgendeiner Stadt in deinem Lande, das der
HERR, dein Gott, dir geben wird, so sollst du
dein Herz nicht verhärten und deine Hand
nicht zuhalten gegenüber deinem armen
Bruder,
Bedenkt:
Die ganze Erde ist Gottes Land.
In allen Ländern dieser Erde fordert die
Armut von Schwestern und Brüdern unsere
Bereitschaft zum Teilen.
Wir sollen und können auch gegenüber
unseren fernen Nächsten unser Herzen nicht
verhärten und unsere Hände nicht zuhalten.
8 sondern sollst sie ihm auftun und ihm
leihen, soviel er Mangel hat.
9 Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein
arglistiger Gedanke aufsteige, dass du
sprichst: Es naht das siebte Jahr, das
Erlassjahr -, und dass du deinen armen
Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm
nichts gibst: sonst wird er wider dich zu dem
HERRN rufen und bei dir wird Sünde sein.
10 Sondern du sollst ihm geben und dein
Herz soll sich`s nicht verdrießen lassen, dass
Du ihm gibst; denn dafür wird dich der
HERR, dein Gott, segnen in allen deinen
Werken und in allem, was du unternimmst.
11 Es werden allezeit Arme sein im Lande;
darum gebiete ich dir und sage, dass du
deine Hand auftust deinem Bruder, der
bedrängt und arm ist in deinem Lande.
Wir sollten uns davor hüten, Gottes
menschenfreundliche Weisungen mit einem
formalen Buchstabengehorsam gleichsam
„austricksen“ zu wollen.
Gottes Segen wird uns begleiten, wenn MitLeidenschaft und Groß-Herzigkeit unser
Verhalten gegenüber den Armen bestimmen.
Wir schneiden uns selbst von Gottes Segen
ab, wenn wir selbstsüchtig nach Wegen
suchen, um den inneren Sinn von Gottes
Geboten zu umgehen.
Bedenkt:
Die ganze Erde ist unserer Verantwortung
anvertraut. Um der Armen und um unserer
eigenen Seligkeit willen will uns Gottes Wort
uns lehren, Verzicht als Gewinn zu erfahren.
III.2. exegetische Anmerkungen und Gedanken zum Text (Nikolaus)
Ich habe aus dem von dir formulierten Kontext zwei Anfragen an den Text unserer
Bibelarbeit herausgehört:
1.
Widerspricht es nicht unserem von Christus geprägten Glauben, wenn das
lebensfreundliche Erlassjahr hier den „Fremden“ in Israel verwehrt wird?
Und etwas „systematischer“ gefragt:
2.
Wie sollen wir als Christinnen und Christen angemessen damit umgehen, dass Gottes
Weisungen und Gottes Segen hier so exklusiv auf das Volk Israel bezogen werden?
In den folgenden exegetischen Anmerkungen und Gedanken zu unserem Bibelarbeitstext
will ich auch auf diese Fragen eingehen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-5Der Text für die Bibelarbeit, Dtn 15,1–11, gehört kanonisch in den Kontext von mehreren
anderen Bestimmungen, die das sogenannte „Sabbatjahr“ regeln. Im Kern geht es bei allen
Regelungen rund um das Sabbatjahr um die Warnung:
„Holt nicht das Letzte aus allem raus!“ (J. Ebach, Dtn 15, 1–11. Unveröffentlichter Vortrag bei
der Jahrestagung der „AG Juden & Christen“ des DEKT, Arnoldsheim 2013)
Im Sabbatjahr sollen die Felder nicht bestellt werden, so dass sich die Armen von den
natürlichen Erträgen des Landes ernähren können: „Sechs Jahre sollst du dein Land besäen
und seine Früchte einsammeln. Aber im siebenten Jahr sollst du es ruhen und liegen lassen,
dass die Armen unter deinem Volk davon essen.“, – so heißt es etwa in Ex 23,10f. (vgl. auch
Lev 25,1ff.).
Mit der priesterlichen Gesetzgebung zum Sabbatjahr verbindet sich in unserem Bibeltext nun
die deuteronomische Gesetzgebung zum Erlassjahr, hebräisch „shmitta“ in einem
weiterführenden und damit erweiternden Sinn. Trotz des aus Ex 23,10f. übernommenen
landwirtschaftlichen Begriffes für „Brache“ (shmitta), geht es beim Erlassjahr nicht mehr um
Ackerbrache, sondern um Schuldenerlass.
Die Schuldknechtschaft soll beendet und den Schuldnern ein Neuanfang ermöglicht werden.
Das Erlassjahr wird – ebenso wie das priesterliche Sabbatjahr – für das ganze Volk in einem
festen Rhythmus von 6-Jahren Rückforderung und 1-Jahr Verzicht festgeschrieben.
Die Regelungen zur Verzichtspraxis und zum Zinsverbot weiten den Gedanken der
wirtschaftlichen Solidarität innerhalb der Familie auf das ganze Volk Israel aus – nun mit den
Worten des Alttestamentlers Walter Groß gesprochen: „… und zwar im Sinn grundlegender
Gleichberechtigungsforderungen bezüglich materieller Basis, d.h. Landbesitz, und
persönlicher Freiheit und im Sinn brüderlicher gewinnloser Hilfestellung (Zinsverbot)“i.
Zwei Aspekte aus dem Bibeltext Dtn 15,1–11 will ich stark machen:
1. Realpolitik und Utopie befruchten sich gegenseitig in einem Dialog
In Dtn 15,1–11 stehen zwei unterschiedliche Perspektiven nebeneinander, die durchaus in
Spannung zu einander stehen:ii Die Stimme in V. 1-3 hat nicht die Abschaffung, sondern in
realpolitischer Absicht die Linderung von Armut zum Ziel. Dieser Stimme fällt mit den Versen
4 bis 6 eine zweite, utopische Stimme ins Wort:
„Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein!“ (V. 4)
Erst die Verse 7 bis 11 kehren wieder zur Perspektive der realen Sozialpolitik zurück,
gebündelt in der klarsichtigen Feststellung von Vers 11:
„Es werden allezeit Arme sein im Lande.“
Realpolitik muss sich nach dem Einspruch in V. 4-6 allerdings an der Utopie messen lassen.
Die Möglichkeiten der Realpolitik und der Utopie müssen zusammenkommen, damit Gottes
Segen auch für die Armen konkret erfahrbar werden kann. Die Utopie nämlich gibt der realen
Sozialpolitik ihr Ziel und die nötige Kraft. Die Utopie verhindert, dass soziale Hilfe als gnädig
gewährte Brosamen verstanden und erste Opfer einer Sparpolitik werden. Dadurch wird
auch die Würde der Armen geschützt.
V. 10 macht allerdings deutlich, dass die Sozialpolitik nicht selber schon mit Gottes Segen
verwechselt werden darf. Menschliche Sozialpolitik soll aber der Richtung nach dem Segen
Gottes entsprechen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-62. Das Volk Israel ist Solidargemeinschaft und Schutzraum nicht nur für Einheimische
Der Schutz von Fremden, die als „gerim“ bezeichnet werden, ist zentral für die
alttestamentliche Gesetzgebung: „Es gibt nur wenige biblische Themen, die so breit belegt
sind und ein so großes theologisches Gewicht haben wie die Fremden und ihr Schutz“iii, sagt
Frank Crüsemann. Als „ger“ gilt dabei ein Fremder, der in eine dauerhafte Beziehung zum
Volk Israel getreten ist und der somit letztlich in alle Gesetzgebungen der Tora – sowohl in
die Schutzmaßnahmen als auch in die Verpflichtungen – einbezogen ist.
Von den „gerim“, also den „Schutzbürgern“, ist der Status des „ben nekhar“ bzw. des „nokhri“
zu unterscheiden.iv In vielen Übersetzungen werden beide Begriffe, „ger“ und „nokhri“,
missverständlicher Weise mit demselben Wort „Fremder“ wiedergegeben, allein weil beide
ihrer Herkunft nach Nichtisraeliten sind. Im Unterschied zum „ger“ bleibt der „nokhri“ aber
außerhalb des israelitischen Rechtssystems. Die Gebote der Tora verpflichten ihn zu nichts,
gestehen ihm aber auch nicht denselben Schutz zu, wie dem Israeliten bzw. dem „ger“.
Bei Krediten, die ein Israelit an einen nokhri vergibt, handelt es sich nicht um Nothilfen, so
dass bei diesen Krediten auch das Zinsverbot nicht greift (vgl. Dtn 23,21: „Von dem Fremden
[nokhri] darfst du Zinsen nehmen, aber nicht von deinem Bruder.“). Vielmehr kann man
davon ausgehen, dass es bei der Vergabe solcher „trans-boarder Kredite“ beiden Beteiligten
darum geht, wirtschaftliche Gewinne zu erzielen. Die soziale Absicherung des nokhri, der
sich an einem solchen Handelsgeschäft beteiligt, ist dabei gar nicht im Blick. Seine soziale
Absicherung ist auch nicht in derselben Art und Weise notwendig, wie die des Schutzbürgers
oder des Bruders, der sich im Rahmen eines Notkredites etwas geliehen hat.v Der nokhri ist
nämlich durch das Rechtssystem seines eigenen Volkes geschützt und bedarf daher des
Rechtsschutzes durch die Tora Israels nicht.
Das „Staunen der Völker“ als hermeneutischer Schlüssel zu einem angemessenen
Umgang von Christinnen und Christen mit der Tora
Auch Jesus fordert im Lukasevangelium die Reichen auf, Kredite an Arme zu vergeben,
selbst wenn das Erlassjahr kurz bevorstand: „Tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu
bekommen hofft. So wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein.“
(Lk 6,35; vgl. Dtn 15,9)
Als Nichtjuden und Nichtjüdinnen stehen wir zunächst vor der Frage, ob und wenn ja auf
welche Weise uns das Gebot aus Dtn 15,1–11 konkret etwas angeht.
JHWHs Gebot in der Tora hat, auch in Dtn 15,1–11, zunächst - ich zitiere „… unauflöslich
Israel als menschlichen Partner. Weder ist eine Entfernung Israels aus der Tora möglich,
noch kann die Christenheit sich an die Stelle Israels setzen. Das damit gegebenen Dilemma
kann seine Lösung nur in einer christlichen Torarezeption finden, die sich auf die nicht für die
Kirche, sondern für Israel formulierte Tora einlässt, also die Einheit von Gott, Tora und Israel
zu der Grundlage macht, von der alle konkrete Auslegung ausgeht.“vi –, so hat Frank
Crüsemann es uns ins Gedächtnis geschrieben.
Crüsemann bezeichnet dabei das „Staunen der Völker“ als unseren hermeneutischen
Schlüssel zur Tora Israels.vii
In Dtn 4,6ff. heißt es entsprechend: „So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr
als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass, wenn sie alle diese Gebote hören,
sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!
Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem ein Gott so nahe ist wie uns der HERR, unser Gott,
sooft wir ihn anrufen? Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und
Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?“
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-7So, in diesem Staunen, kann die Tora Israels auch für uns Nichtjuden zum Maßstab der
Ethik werden, ohne dass wir den biblischen Text dabei in unangemessener Art und Weise
zum Allgemeingut machen.
So, in diesem Staunen, dürfen und können auch wir als Christinnen und Christen in den
vielen überlieferten „du-sollst-Worten“ der Tora Gottes Wort und Willen für uns erkennen.
Jesus Christus hat allen Menschen den Weg geöffnet, Gottes Segen im Hören und Tun
seiner menschenfreundlichen Gebote zu erfahren.
III.3. Wir danken Gott für seine vielen „du sollst“ (Anne)
Gut, ich habe jetzt gelernt, dass es in den Texten der Tora zwei Kategorien von „Fremden“
gibt, die in ganz unterschiedlicher Weise in die Weisungen und in den Segen Gottes mit
einbezogen werden. Doch damit ist für mich meine grundsätzliche Anfrage an viele biblische
Texte nicht so abschließend beantwortet, dass sie mich nicht doch immer wieder neu
umzutreiben vermag. Für mich ist die Frage nach den Grenzen von Gottes Segen und
Gottes Gnade letztlich genauso offen wie etwa die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Ich
meine, der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch hat einmal sinngemäß gesagt:
‚Es gibt Fragen, die sind existentiell so wichtig, dass man sie nicht mit eindeutigen und
abschließenden Antworten kaputt machen sollte …‘.
Ich merke immer wieder, dass ich innere Widerstände gegen theologische Antworten
entwickle, die Gottes Segen und Gottes Gnade auf bestimmte Menschengruppen
beschränken wollen – sei es auf das Volk Israel oder sei es auf die getauften
Christenmenschen. Ich will diesen Aspekt im zweiten Teil unserer Bibelarbeit noch einmal
aufnehmen.
Mir widerstrebt es jedoch auch, einem pauschalen Gottes-Segen und einer „billigen“ Gnade
das Wort zu reden. Ich halte es für unaufgebbar, dass wir den Gehorsam gegenüber Gottes
Weisungen und die Gewissheit, unter Gottes Segen zu leben, nicht auseinander dividieren.
So wie der Text unserer Bibelarbeit diesen Zusammenhang betont.
Mit Worten von Dorothee Sölle danke ich deshalb Gott für seine vielen „du sollst“:
„Wir kennen deinen willen gott
leben in seiner fülle hast du allen versprochen
nicht nur den weißen nicht nur den reichen
nicht nur denen die kaffee trinken
auch denen die ihn pflanzen und ernten
Wir danken dir für deine vielen du sollst
mit ihnen fragst du uns nach unseren geschwistern
den bäumen und den tieren
dem wasser und der luft
nach unserer zeit fragst du
und nach dem was uns wichtig ist
Eines tages gott werden wir alle deine du sollst
verwandeln in ein großes ja ich will
ja wir werden die fremden nicht mehr hassen
und die mauern der trennung einreißen
und die gewalt wird nicht mehr wohnen bei uns
wir werden sie nicht füttern und hätscheln
nicht bezahlen und nicht für allmächtig halten
dein wille wird geschehen
auch in unserem land“
(Sölle, loben ohne lügen, gedichte, S.13)
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-8IV. Zwischenmusik mit HABAKUK & BLECH PUR (ca. 10.00 Uhr)
Lied (Refrain mit der Gemeinde):
"Receive the power"
Pilgerheft für den Liturgischen Tag, Nr. 18, S.25
V. Bibelarbeit Teil 2 (ca. 10.05 – 10.25 Uhr)
Selig sind, die Verzicht als Gewinn erfahren, denn sie erleben schon auf der Erde das
Glück, Gott nahe zu sein!
V.1. Glück ist die Gewissheit, gebraucht zu werden (Nikolaus)
In Worten von Dorothee Sölle erkennen wir es als ein Glück, gebraucht zu werden und
unsere Liebesfähigkeit für andere einzusetzen:
„Glück ist die Gewissheit, gebraucht zu werden,
ein Bedürfnis für andere da zu sein, nicht nur Bedürfnisse zu haben.
Wenn wir ersetzbar sind und nicht gebraucht werden, so sind wir tot.
Gott braucht deine wachsende Liebesfähigkeit für sein Reich.
Du sollst Liebe nicht von Gerechtigkeit trennen
Und die sexuelle Beziehung nicht vom politischen Handeln isolieren.
Du sollst gegen den Tod, der in Ausbeutung, Hunger und Krieg herrscht,
kämpfen mit der Leidenschaft deiner ungeteilten Liebe zum Leben.“
(Sölle, Den Rhythmus des Lebens spüren, Bibel und Sexualität, S.75)
V.2. Kein Mensch ist eine Insel (Anne)
„Glück ist die Gewissheit, gebraucht zu werden“ –, diese Erkenntnis Dorothee Sölles ist auch
meine Erfahrung und meine Überzeugung. Mein Bedürfnis für andere da zu sein, erfüllt mein
Leben mit Sinn. Und die gleichzeitige Gewissheit, dass Gott und anderen Menschen meine
Bedürfnisse nicht gleichgültig sind, erfüllt mein Leben mit Glück. Beides lässt meine
Liebesfähigkeit wachsen und damit auch meine Bereitschaft, um anderer Menschen willen
auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse und Ansprüche zu verzichten.
„Kein Mensch ist eine Insel“ –, dieses Zitat aus einer Meditation des Dichters und Predigers
John Donne wurde in den vergangenen vier Jahrhunderten gleichsam zu einem geflügelten
Wort und hat mit ganz unterschiedlichen Akzentsetzungen auch Eingang gefunden in
Romane und Filme der letzten Jahrzehnte:
Bei Ernest Hemingway etwa, der seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ dieses Zitat von
John Donne voranstellte. Mit seiner Geschichte eines amerikanischen Kämpfers der
Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg plädierte er für die grundsätzliche
Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für die weltweite Gemeinschaft.
Oder in dem bewegenden Film „About a boy“, in dem einige selbstbezogene und einsam
nebeneinander her lebende Menschen zu der Erkenntnis kommen: Menschen mögen sich
zwar immer wieder als eine einsame Insel erleben. Aber wenn sie sich zu Inselgruppen
zusammentun und ihre Selbstbezogenheit von einander aufbrechen lassen, dann gewinnen
sie Kräfte, gegen Depressionen, Selbstbetrügereien und gegen ihre Gefühle von
Sinnlosigkeit an zu leben.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
-9„Niemand ist eine Insel ganz für sich; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des
Festlands. Wenn ein Erdklumpen ins Meer gespült wird, wird Europa weniger … Jedes
Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin ein Teil der Menschheit …“-, mit diesen Bildern
beschrieb John Donne in seiner Meditation (in: The Works of John Donne, vol. III, London
1839, S. 574f.) die grundsätzliche Verbundenheit aller Menschen, die er in „Gottes Hand“
begründet sah.
Er nahm damit die biblische Vorstellung auf, die Paulus im 12. Kapitel des Korintherbriefes
entfaltet. Paulus beschreibt in seinem Brief die Verbundenheit aller Christinnen und Christen
gleichsam als verschiedene Glieder eines Leibes (vgl. 1. Korinther 12,12ff.) mit der
Konsequenz: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied
geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“(1. Korinther 12,26)
John Donne hat diese mit-fühlende Verbundenheit der Christenmenschen untereinander auf
alle Menschen ausgeweitet. Weil eben alle Menschen – unabhängig von ihrer Nationalität
und Religion – Gottes geliebte Geschöpfe sind! Jeder Mensch braucht für ein nachhaltiges
Lebensglück bei all seinen individuellen Inselgefühlen immer auch tragfähige Bindungen an
ein „Festland“. Bindungen an Menschen, die ihm liebend und fürsorgend verbunden sind.
Und – das ist meine Erfahrung und Überzeugung – auch die Bindung an Gott, der alles
Leben und alle Menschen trägt.
„Ein feste Burg ist unser Gott“ hat Martin Luther uns singen gelehrt. „Eine lebensnotwendige
Festlands-Bindung ist unser Gott“ möchte ich mir und uns allen ins Gedächtnis rufen, wenn
wir es uns in selbstbezogenen Inselgefühlen genug sein lassen wollen. In dieser „FestlandsBindung“ geht es uns Menschen in Deutschland durchaus etwas an, wenn spanische
Jugendliche arbeitslos sind. In dieser „Festlands-Bindung“ leiden Christinnen mit, wenn
indische Frauen vergewaltigt werden. In dieser „Festlands-Bindung“ ruft uns die Armut der
Menschen in Afrika zu einer „Ethik des Genug“ in Deutschland.
Deshalb will ich es immer wieder neu lernen, um anderer Menschen willen auf eigene und
vermeintlich berechtigte Ansprüche zu verzichten. Deshalb will ich es immer wieder neu
lernen, einen Verzicht zum Wohl anderer als Gewinn zu erfahren, und gerade auch darin das
Glück erleben, Gott nahe zu sein!
V.3. Verzicht als Gewinn erleben – Wie es gehen kann (Nikolaus)
„Kein Mensch ist eine Insel“ –, dieser Satz ist auch für mich gleichsam eine Lebensmaxime.
Auch ich brauche für mein Lebensglück eine tragfähige „Festlandsbindung“ an Gott und an
andere Menschen. Für mich verweist dieser Satz aber zugleich auf den notwendigen
Zusammenhang von persönlichem Lebensstil und sozial-politischen Strukturen, wenn es um
die Fragen nach Gerechtigkeit und einer menschenfreundlichen Gesellschaft geht.
„Kein Mensch ist eine Insel“ -, das heißt für mich deshalb auch: Eine Kirche, der es um das
Wohl der Menschen geht, muss sich auch in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik
einmischen.
Es besteht, so sagte Karl Barth, weder eine „Gleichung“, noch eine „einfache und absolute
Ungleichheit“ zwischen dem Staat und dem Reich Gottes. Die Christengemeinde will
vielmehr, „dass die Gestalt und die Wirklichkeit des Staates inmitten der Vergänglichkeit
dieser Welt auf das Reich Gottes hin und nicht von ihm weg weise. Sie will, dass die
menschliche Politik die göttliche nicht kreuze, sondern dass sie ihr in ihrer ganzen
Entfernung von jener parallel gehe.“viii Christinnen und Christen in der Politik sollen sich also
von den Utopien – eigentlich soll es keine Arme unter euch geben – ausrichten und von der
biblischen Sozialpolitik – leihe den in Not Geratenen gerne ohne Gewinnabsicht - bei der
konkreten Gestaltung ihrer Politik anregen lassen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
- 10 In diesem Sinne ist das Verzichtsjahr, das die Tora für Israel fordert, eine notwendige
Provokation und Herausforderung auch für unser Wirtschaften, das in einer globalisierten
Welt immer brutaler die grenzenlose Ausbeutung der Armen betreibt. Gerade die
herrschende Logik der Finanzwirtschaft geht den genau umgekehrten Weg: je größer die Not
und deshalb schlechter die „Bonität“, desto höher die Zinsen.
Die mit dem herrschenden Verständnis unseres Wirtschaftens verbundene Notwendigkeit
steten Wachstums zum Erhalt des Wohlstandes und der Stabilität der Gesellschaften
verändert die innere Haltung vieler Menschen. Denn es gibt eine Wechselbeziehung
zwischen unseren persönlichen Lebenseinstellungen und den äußeren gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unseres Lebens. Der äußere, wirtschaftliche
Zwang zum Wachsen und die Vorstellung, dass das möglichst größte Wachstum das beste
Ziel wirtschaftlichen Handelns sei, führen bei vielen reichen Menschen zu maßlosen
Ansprüchen auf Einkommen und Besitz. Fähigkeit zur Konkurrenz wird zum Erziehungsziel,
Solidarität bleibt auf die Familie beschränkt. Luxus wird zur Normalität des Lebens, Gier eine
respektable Lebenshaltung. Gleichzeitig werden arme Menschen zu maßloser Armut
gezwungen. Verhungern der fernen anderen wird zu einem zumindest hinnehmbaren wenn
nicht sogar zu akzeptierenden Lebensschicksal.
Während Dtn 15,1–11 einen Verzicht zum Schutz der verarmten Schuldner vorsieht, erleben
wir heute in der Bankenkrise oft das genaue Gegenteil: Die Rettungsschirme sichern die
Banken, statt die in Armut gedrängten Menschen.
Und ein Projekt wie der „Basic Income Grant“ in Namibia hingegen, das genau wie das
Erlassjahr die Durchbrechung der Armutsspirale zum Ziel hat, wird vom Internationalen
Währungsfonds (IWF) abgelehnt. Er rät von seiner Einführung ab, da man Geld nicht ohne
Gegenleistung geben könne.
Die Idee des Basic Income Grant ist folgende: jedem Mitglied einer Gesellschaft wird ein
Basiseinkommen gesichert. Eine Kommission der namibischen Regierung erhielt den
Auftrag, das Steuersystem des Landes zu untersuchen, weil Namibia die größte Schere
zwischen arm und reich aller Länder aufweist. Sie schlug die Einführung eines „Basic Income
Grant“ als Teil des Steuersystems vor. Das führte zu einer intensiven öffentlichen
Diskussion. Um den theoretischen Debatten etwas entgegenzusetzen, machte sich eine
gesellschaftliche Koalition unter Leitung der Evangelisch Lutherischen Kirche in Namibia
daran, in einem 2-jährigen Versuch mit knapp 1000 Menschen zu belegen, dass das Prinzip
funktioniert. Die Ergebnisse des wissenschaftlich ausgewerteten Projektes in einem
verwahrlosten Wellblech-Camp in Namibia zeigten, dass sich tragfähige Sozialstrukturen
herausbildeten und Menschen weit überwiegend verantwortlich mit dem Geld umgingen: sie
investierten in kleine Gewerbe, zahlten Schulgeld für ihre Kinder und konnten sich den
Besuch der Krankenstation leisten. Die Folgen waren: die Kriminalitätsrate sank dramatisch,
ebenso die Mangelernährung der Kinder. Das allgemeine Gesundheitsniveau verbesserte
sich und Schulabbrecher gab es nicht mehr. So geht es also, wenn Utopie Realpolitik
inspiriert.
Leider muss gesagt werden: Das war nur kurze Zeit und vorübergehend möglich. Es gelang
nicht, dieses System steuerfinanziert, also durch eine Umverteilung des BIP um ca. 3%,
flächendeckend in Namibia einzuführen. Die Regierung traute sich nicht. Der IWF gab die
Richtung vor: kein Geld ohne Leistung.
Gegen die vorherrschende Meinung unserer Ökonomie halten wir fest: Die Bibel bezeugt uns
die ganz besondere Liebe und Parteinahme Gottes für unterdrückte, benachteiligte und
leidende Menschen. Diese Parteinahme Gottes verpflichtet uns als Christinnen und Christen
dazu, in der Beurteilung von gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
- 11 vorrangig die Perspektive der Armen einzunehmen. Und das führt zu der Absage an ein
Wirtschaftssystem, das vor allem dem Profit und der Anhäufung von Reichtum für einige
wenige dient.
Das biblische Erlassjahr erinnert uns daran, dass das Wirtschaften reguliert werden muss,
um Ungerechtigkeiten wenn auch nicht vollständig zu vermeiden, so doch zumindest auf ein
gewisses Maß einzudämmen.
Das Wort Gottes ermutigt uns zu einer Abkehr von alten Paradigmen, die gegenwärtig die
ungerechten Verhältnisse noch stabilisieren und fördern – wie etwa das Paradigma:
Wohlstand durch Wachstum. Das Wort Gottes ermutigt uns zu einem umfassenden
Umdenken und zu einer neuen „Ethik des Genug“. Sie bietet Instrumente einer allen
Menschen wohltuenden Realpolitik an.
Ihr Ziel ist die Ausrichtung an dem Willen Gottes, dass alle Menschen genug zum Leben
haben. Die „Ethik des Genug“ soll zu einer befreienden Vision für die Armen und für die
Reichen werde. Sie setzt bei der Lebenshaltung bei uns reichen Menschen an: Damit Arme
genug bekommen können, sollen wir Reichen es uns genug sein lassen.
Um unserer Seligkeit willen darf unser Leben nicht darin bestehen, uns im Streben nach
immer mehr Besitz und Vermögen aufzureiben. Das ist auch eine Befreiung wohlhabender
Menschen aus der Diktatur des Paradigmas grenzenlosen Wachstums. Sie führt zu einer
neuen Lebensqualität wohlhabender Menschen. Sie befreit vom Leistungszwang hin zu Zeit
und Geduld mit sich selbst, Zeit für die Familie und die Pflege von Freundschaften, um die
Wohltat der Nähe von Menschen zu genießen. Sie ermutigt auch zur Übernahme
gesellschaftlicher Verantwortung. So kann ein erfülltes Leben jenseits vom Rausch der Gier
und des Luxus aussehen.
Wir, die wir genug haben, sollen und können Schulden erlassen, sollen und können auf
Gewinn-Ansprüche verzichten, sollen und können unseren Wohlstand teilen. Wir müssen
nicht das Letzte aus allem, auch nicht aus uns selbst, herausholen. Eine „Ethik des Genug“
ist für uns Wohlhabende nicht vorrangig Verzichtsethik. Vielmehr bedeutet sie einen Gewinn
an Lebensqualität, weil sie dazu ruft und ermutigt, uns von Verschwendung und rein
materieller Lebens-Orientierung zu befreien. Die „Ethik des Genug“ will uns Wohlhabenden
die Erfahrung ermöglichen:
Selig sind wir, wenn wir Verzicht als Gewinn erfahren, denn wir werden schon auf
Erden das Glück erleben, Gott nahe zu sein!
V.4. Noch nicht und schon jetzt (Anne)
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal Deinen ersten exegetischen Gedanken zu dem Text
unserer Bibelarbeit aufnehmen. Du hast da ausgeführt:
Realpolitik und Utopie müssen zusammenkommen und zusammenbleiben, damit Gottes
Segen konkret erfahrbar werden kann. Wir sollten zwar unsere menschliche Sozialpolitik
nicht mit Gottes Segen verwechseln. Aber unsere Sozialpolitik sollte der Richtung nach dem
Segen Gottes entsprechen.
Das hat mir sehr gefallen.
Unser Leben hat mich gelehrt, dass es für mich gar nicht möglich ist, Gottvertrauen und
Lebenszuversicht zu bewahren, wenn ich nicht die biblischen Visionen mit meinen ganz
realen Erfahrungen zusammenbinde. Wenn nicht die Zukunftsvisionen von dem neuen
Himmel und der neuen Erde Gottes nicht schon „hier und jetzt“ mein irdisches Leben
entgrenzten und weiteten. Dem Volk Israel wird in unserem Bibeltext eine Weltsicht
geschenkt, die Realpolitik mit der Utopie einer umfassenden Gerechtigkeit Gottes verbindet.
Ich denke, so müssen auch heute wir Christinnen und Christen mit einer realistischen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
- 12 Weltsicht leben, lieben und arbeiten, die offen ist für Gottes Wirken und für Gottes Zukunft.
Nur dann können wir angesichts von Armut, Unrecht, Leid und Sterben der Abstumpfung,
dem Zynismus und der Resignation widerstehen. Nur dann können wir schon hier und schon
jetzt Gott loben, ohne zu lügen. Nur dann können wir „trotz-alle-dem“ schon hier auf der Erde
das Glück erfahren, Gott nahe zu sein.
Mit Worten von Dorothee Sölle halten wir das „noch nicht“ und das „schon jetzt“ des
Gottesreiches zusammen:
„Es kommt eine zeit
da werden wir viel zu lachen haben
und gott wenig zu weinen
die engel spielen klarinette
und die frösche quaken die halbe nacht
Und weil wir nicht wissen
wann sie beginnt
helfen wir jetzt schon
allen engeln und fröschen
beim lobe gottes“
(aus dorothee sölle, zeitansage, loben ohne lügen)
VI. Liturgischer Schluss (ca. 10.25 – 10.30 Uhr)
VI.1. Gemeinsames Lied
Kanon: Wo die Liebe wohnt (Habakuk & Gemeinde)
Pilgerzeitung "Liturgischer Tag D.S.", Nr. 17, S. 24
VI. 2. Gebet (Anne)
Wir beten mit Worten Dorothee Sölles:
„Nicht du sollst meine probleme lösen
sondern ich deine gott der asylanten
nicht du sollst die hungrigen satt machen
sondern ich soll deine kinder behüten
vor dem terror der banken und militärs
nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Höre nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen des lebens“
Amen
(Sölle, loben ohne lügen, gedichte, ich dein baum, S.12)
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
- 13 VI.3. Atem Gottes hauch mich an und Segen (Nikolaus)
„Atem gottes hauch mich an
füll du mich wieder mit leben
dass ich was du liebst lieben kann
und rette was du gegeben
Atem gottes weh mich an
bis mein herz dir offen
bis ich was du willst wollen kann
im handeln und im hoffen
Atem gottes blas mich an
bis ich ganz dein werde
bis dein feuer in mir brennt
auf der dunklen erde
Atem des lebens atme in mir
lehr mich die luft zu teilen
wie das wasser wie das brot
komm die erde zu heilen“
(Sölle, loben ohne lügen, gedichte, breathe on me breath of god nach Edwin Hatch 1889,
S.26)
Segen
VII. Lieder zum Ausklang (10.30)
"Breathe on me, breath of God"
(BLECH PUR & Gemeinde)
Pilgerzeitung "Liturgischer Tag D.S.", Nr. 2, S. 15
"I have a dream"
HABAKUK, BLECH PUR & Gemeinde
Pilgerzeitung "Liturgischer Tag D.S.", Nr. 8, S. 19
i
Groß, Walther, Die alttestamentlichen Gesetze zu Brache-, Sabbat-, Erlaß- und Jubeljahr und das
Zinsverbot, in Theologische Quartalschrift 180 (2000), S. 15.
ii
Vgl. EBACH, Erlaßjahr.
iii
CRÜSEMANN, FRANK, Das Gottesvolk als Schutzraum für Fremde und Flüchtlinge. Zum biblischen
Asyl- und Fremdenrecht und seinen religionsgeschichtlichen Hintergründen, in: ders. (Hg.), Massstab,
Tora. Israels Weisung und christliche Ethik, Gütersloh 2003, S. 224–243, 236.
iv
Vgl. HAARMANN, VOLKER, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott
Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT, Bd. 91), Zürich 2008, 43ff.
v
Vgl. KESSLER, Erlassjahr.
vi
CRÜSEMANN, FRANK, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes,
München 1992, 425.
vii
CRÜSEMANN, FRANK, "So gerecht wie die ganze Tora" (Dtn 4,8). Die biblische Grundlage christlicher
Ethik, in: ders. (Hg.), Maßstab Tora. Israels Weisung und christliche Ethik, Gütersloh 2003,S.20/37,26.
viii
BARTH, KARL, Christengemeinde und Bürgergemeinde [1946], in: Eberhard Jüngel (Hg.), Karl Barth.
4
Sammlung (= Theologische Studien, Bd. 104), Zürich 1989 , S. 49–82, 67.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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