bbs 2/2017 Beate Kowalski Michaela Christine Hastetter Die Johannespassion von Arvo Pärt Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2015 189 S., € 14,95 ISBN 978-3-460-08603-6 Bernhard Klinger (2017) Die Neutestamentlerin Beate Kowalski und die Pastoraltheologin Michaela Christine Hastetter setzen sich aus biblisch-theologischer Perspektive mit der Passio (vollständiger Titel: Passio Domini nostri Iesu Christi secundum Joannem) des Komponisten Arvo Pärt auseinander. Beide versuchen, die theologisch-spirituelle Qualität dieses Werkes und auch seines Komponisten, dem mit Recht Welt-Geltung zugeschrieben werden kann, zu erheben. Beate Kowalski erläutert im ersten Teil [13-59] des grundsätzlich gut zu lesenden Buches die bibeltheologischen und exegetischen Grundlinien der Passionserzählung nach dem Johannes-Evangelium. Sie versteht es, in einer ansprechenden Art und Weise auch einer theologisch nicht vorgebildeten Leserschaft die Grundstruktur und die Quintessenz der johanneischen Passion darzulegen. Insbesondere die Interpretation der einzelnen Erzählfiguren (z.B. Jesus, Simon Petrus, Pilatus) bzw. der vorkommenden Gruppen (z.B. die Kohorte Hohepriester, die römischen Soldaten) der Passion nach Johannes sowie die Charakteristika seiner Erzählstrategie sind sehr detailliert und gut nachvollziehbar [41-59]. Nota bene: Auch für Leserinnen und Leser, die sich nicht mit Arvo Pärts Passio beschäftigen möchten, sondern die sie sich einzig und allein auf die JohannesPassion beschränken, etwa mit Blick auf den Lektorendienst in der Karwoche bzw. am Karfreitag, sind Kowalskis bibeltheologische Ausführungen von großem Wert! Im zweiten Schritt [61-89] stellt Beate Kowalski den Komponisten Arvo Pärt vor – sowohl seine Person als auch Charakteristika seines Kompositionsstils, insbesondere des Tintinnabuli-Stils, der auch für die Passio von Bedeutung ist. 1 © www.biblische-buecherschau.de 2017 Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart In diesem musiktheoretischen zweiten Teil fischt Beate Kowalski in fremden Gewässern. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings ist man an manchen Stellen versucht, mit Apg 8,30 zu fragen: „Verstehst du auch, was du hörst?“ Der Rezensent weiß, dass dies kein unbedingt schmeichelhaftes Urteil ist, aber manche Charakterisierungen von Arvo Pärts Kompositionstechnik mögen in musikalischer Hinsicht zwar richtig sein, hängen aber im Zusammenhang dieses grundsätzlich wertvollen Buches doch etwas in der Luft, so z.B. die Formulierung „Komplementarität von zwei Stimmen, die zu einer einzigen Sache werden (1+1=1).“ [65] Oder „Überwindung der Zeitbarriere“ [65]. Die Feststellungen sind sachlich richtig, doch bleibt der Eindruck, dass sie noch nicht ganz durchdrungen worden sind. Ähnliches gilt auch für die Erläuterungen zur Melodiestimme [66-68] in der Abgrenzung zur Tintinnabuli-Stimme [68f]: Hier wären Notenbeispiele bzw. Auszüge aus der Partitur eine wirklich Hilfe gewesen, um das Geschriebene im Notentext gewissermaßen zu erden. Freilich wird bei den musiktheoretischen Ausführungen auf die entsprechenden Taktzahlen verwiesen, doch den wenigsten Leserinnern und Lesern des Buches bzw. Hörerinnen und Hörern von Arvo Pärts Passio liegt eine Partitur vor. Beispielhaft sei auf S. 76 verwiesen, wo ein Ausschnitt aus der Partitur schmerzlich vermisst wird, wenn Beate Kowalski schreibt: „Die Wertschätzung des biblischen Textes lässt sich auch an der Partitur erkennen, in der Pärt die entsprechenden Bibelverse eingetragen hat.“ [76] Noch mehr aber, wenn sie auf den Zusammenhang von Instrumentierung und Vokalstimmen schreibt: „Der Schlußteil, in dem es um den Tod Jesu geht, bleibt unbegleitet. Nur in TZ 170 kommen die vier Instrumente jeweils zwischen den Phrasen zum Einsatz, so dass in der Partitur zweimal die Form eines Kreuzes entsteht.“ [83-84]. Insofern fällt dieser zweite Teil gegenüber dem ersten, rein exegetischen, leider deutlich ab und wird dem Anspruch, einen hermeneutischen Schlüssel am biblischen Text entlang zu entfalten, nur bedingt gerecht. Den dritten Teil [91-126] schließlich übernimmt Michael Christine Hastetter, in dem sie unter der Überschrift „Mit Tönen gezeichnetes Gebet“ einen theologischspirituellen Blick auf Pärts Passio richtet und Pärts spirituelle Verwurzelung in der orthodoxen Gebetslehre des Archimandriten Sophrony nachzeichnet. Dieser Abschnitt lässt deutlich werden, dass Arvo Pärts Passio „klingende Liturgie [ist], die den Hörer zum Mitvollzug des Geheimnisses von Tod (= Katabasis) und Auferstehung (= Anabasis) Jesu Christi, wahrer Mensch und wahrer Gott, einlädt und sich für dieses Glaubensmysterium im Hören so zu öffnen, dass das Hören selbst zu einem Akt des Gebets wird, deren [sic!] Mitte ist.“ [102] Abgesehen davon, dass das Relativpronomen sich vielleicht auf die klingende Liturgie bezieht, jedoch davon sehr weit entfernt steht, gelingt es Michaela Hastetter, diese Grundannahme zu bestätigen und die Dimension des Katabatischen wie auch des Anabatischen sowohl mit Zitaten aus der Gebetslehre des Sophrony als auch mit Notenbeispielen und Partiturausschnitten zu verdeutlichen. 2 © www.biblische-buecherschau.de 2017 Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart Darin zeigt sich eine Verschränkung von Produktionsästhetik als auch Rezeptionsästhetik: Denn zum einen ist es Tatsache, dass Arvo Pärt als Komponist, als „Produzent“, in seiner Spiritualität von Sophrony beeinflusst ist; zum anderen wird die Musik mit einem theologischen Vorverständnis wahrgenommen, der musikalischen Text, der Notentext, gewissermaßen theologisch rezipiert. Dies lassen Formulierung deutlich werden wie etwa: „Darin dürfte auch der tiefere Sinn dessen liegen, dass Pärts Passio auch im Hör-Erleben Leidensmusik ist. Mit der nahezu monotonen Struktur und Reduktion auf minimale Ausdrucksmittel, dem weithingehenden Verzicht auf Tonwartwechsel über die Grundtöne a und e hinaus fordert die sich auf etwa 75 Minuten erstreckende Passio aufgrund ihrer Dauer und Monotonie dem Hörer ein echtes Mitleiden ab, dem er sich nur schwerlich entziehen kann.“ [100f.] Dieser Hinweis auf das Hör-Empfinden, also die Rezeption, sei keineswegs in Abrede gestellt! Im Gegenteil! Der Rezensent fragt sich davon ausgehend allerdings, weshalb bei musikalischen Werken und Noten-Texten keine Auslegung ohne Rezeptionsästhetik möglich ist, während sie mitunter bei biblischen Texten häufig genug einer dezidierten Rechtfertigung bedarf. Das im Buch abgedruckte Libretto der Passio, das sowohl den Text der Vulgata als auch den der Einheitsübersetzung umfasst und auch die Taktzahlen der Partitur und die Stellenangaben aus dem Johannes-Evangelium enthält, rundet als vierter Teil [128-165] den exegetisch, musiktheoretischen und spirituellen Durchgang durch dieses großartige Werk zeitgenössischer geistlicher Musik ab. Insbesondere die angegebenen Taktzahlen können helfen, die musiktheoretischen oder theologischen Ausführungen im wahrsten Sinn des Wortes im Nach-Klang, bei Hören einer Einspielung, nachzuvollziehen. Literaturhinweise zum Johannes-Evangelium wie auch zu Arvo Pärt und seiner Musik sowie die auszugshafte Diskographie geben wertvolle Hinweise für eine vertiefende Auseinandersetzung. Der Rezensent kann sich bestens vorstellen, dass das vorliegende Buch in der pastoralen Praxis Verwendung findet, etwa in der Hinführung auf die Karwoche und die Passionszeit. Allerdings bedarf es dazu intensiver Vorbereitung, um entsprechende und notwendige Hörbeispiele nach Möglichkeit eigens herauszuarbeiten. Letztlich könnte eine entsprechende Veranstaltung sehr gut dem Drei-Schritt von Beate Kowalski und Michaela Hastetter folgen – und hinzielen auf ein gemeinsames Hören der gesamten Passio. So würde sich ergeben, was Michaela Hastetter so formuliert – Archimandrit Sophrony zitierend: „Pärts Passio wäre von daher eine Einladung an den Hörer […] »Christus in den Garten Gethsemane und nach Golgotha zu folgen, um zusammen mit Ihm, durch Seine Kraft, die Tragödie der Welt als eine eigene zu leben, um außerhalb von Zeit 3 © www.biblische-buecherschau.de 2017 Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart und Raum im Geist mit mitleidvoller Liebe unser ganzes Menschengeschlecht zu umarmen«“ [102f]. Zuletzt sei Michael Theobald und Wolfgang Bretschneider, den Herausgebern der Reihe bibel & musik, gedankt, dass auf diese Weise sowohl von musikalischer als auch theologischer Seite große Werke der geistlichen Musik erschlossen werden. Zitierweise: Bernhard Klinger. Rezension zu: Beate Kowalski. Die Johannespassion von Arvo Pärt. Stuttgart 2015 in: bbs 2.2017 http://www.biblische-buecherschau.de/2017/Kowalski_Johannespassion.pdf 4 © www.biblische-buecherschau.de 2017 Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart