26.11.2009 - Karl Jaros: Das Neue Testament war vor 70 n. Chr. fertiggestellt Seit 1980 vertrete ich, dass alle Schriften des Neuen Testamentes vor der Zerstörung Jerusalems 70 nach Christus fertiggestellt waren. Unter deutschen Theologen ernte ich damit meist nur Kopfschütteln, da diese Sicht nur eine Folge meines konservativen Schriftverständnisses sein könne. Selbst meinem verstorbenen Freund, dem Papyrologen Prof. Carsten Peter Thiede, wurde vorgeworfen, diese Sicht sei eben nur in seinem konservativen Umgang mit dem NT begründet, obwohl er ein viel 'offeneres? Schriftverständnis hatte als ich und viel mehr Argumente im Detail zusammenstellte oder auch neue hinzufügte. Doch handelt es sich hier wirklich um eine Frage des Schriftverständnisses? Hält fromme Theologen ihre positive Sicht der Bibel davon ab, Gegenargumente ernst zu nehmen? Falsch, denn auch im evangelikalen Spektrum ist diese Sicht nicht Mehrheitsmeinung. Wenigstens das letzte Buch des NT, die Offenbarung, wird fast immer auf das Ende des 1. Jahrhunderts verlegt, auch wenn es manche Argumente für die Frühdatierung der Offenbarung gibt, wie ich in meinem Artikel "Gründe für die Frühdatierung der Offenbarung vor 70 n. Chr." zu zeigen versuche (der Artikel kann hier heruntergeladen werden). Das zeigt aber deutlich, dass es zu billig ist, diese Frage einfach auf 'bibeltreu? vs. 'liberal? zu reduzieren, und dass es eher der begrenzte Horizont der deutschen Theologie ist, der die Debatte darüber von vorne herein verhindert. Schon 1976 hatte der britische Bischof und Situationsethiker John A. T. Robinson in seiner neutestamentlichen Einleitung "Redating the New Testament" die These detailliert vertreten und begründet, dass alle neutestamentlichen Schriften vor 70 n. Chr. fertiggestellt worden seien. Erst ein Jahrzehnt später erschien eine deutsche Übersetzung "Wann entstand das Neue Testament?" in einem katholischen und einem evangelikalen Verlag (Paderborn: Verlag Bonifatius-Druckerei und Wuppertal: R. Brockhaus-Verlag, 1986). Dass Robinson nicht 'bibeltreu? argumentiert, zeigt etwa sein Umgang mit der Frage, ob Jesus die Zerstörung Jerusalems prophezeit habe. Für Robinson gibt es keine Prophetie. Aber alles, was Jesus angekündigt habe, sei in der zeitgenössischen jüdischen Literatur bereits bekannt gewesen oder leite sich aus dem Alten Testament ab. Und gerade die kleinen Differenzen zwischen Jesu Ankündigung und den späteren tatsächlichen Ereignissen beweise, dass die Worte Jesu älter seien. Man hat Robinson in der deutschen Theologie einfach ignoriert, ebenso alle späteren Vertreter seiner Sicht. Jetzt hat wieder ein nichtevangelikaler, katholischer Theologe die These, dass alle neutestamentlichen Schriften vor 70 n. Chr. verfasst wurden, in einer eigenen Einleitung in Seite 1 von 2 das Neue Testament vorgetragen. Im renommierten österreichischen Böhlau-Verlag und in der Reihe UTB schreibt der Wiener Professor Karl Jaros über "Das Neue Testament und seine Autoren: Eine Einführung". Doch ihn wird vermutlich dasselbe Schicksal wie Robinson und andere ereilen. Irgendeine Begründung wird sich schon dafür finden, etwa, dass er eben ein zwar nicht evangelikales, aber doch recht konservatives Schriftverständnis habe oder dass er sich als Alttestamentler und Altorientalist ja gar nicht kompetent zum Neuen Testament äußern könne. Ich träume von dem Tag, wo sich historisch-kritische deutsche Theologen historisch-kritisch damit auseinandersetzen, wie es zum Dogma der späten Abfassung des Neuen Testamentes kam und kritisch Argumente und Autoren pro und contra unbefangen abwägen und nicht bestimmte Thesen und Autoren von vorne herein ausblenden. ShareTweet Seite 2 von 2