Alber (48650) / p. 1 / 22.9.2014 Juliane Schiffers Passivität denken ALBER THESEN A Alber (48650) / p. 2 / 22.9.2014 Ziel des Buches ist es, Passivität als wesentliches Moment jeder menschlichen Aktivität zu denken. Dies geschieht systematisch in zwei Perspektiven, nämlich erstens bezogen auf bestimmte, für die menschliche Seinsweise grundlegende Erfahrungen von Passivität und zweitens, indem Passivität begrifflich aus der Opposition zu Aktivität gelöst wird. Die systematischen Schritte der Argumentation werden historisch anhand von drei Autoren aus drei Epochen erarbeitet: Zuerst wird mit Aristoteles gezeigt, dass das, was geistige Akte ermöglicht und realisierbar macht, wesentlich passive Dimensionen hat. Im zweiten Schritt wird mit Gottfried Wilhelm Leibniz geklärt, wie bestimmte Erfahrungen von Passivität es erlauben, auf diese ermöglichende Konstitution geistiger Akte zu reflektieren. Schließlich wird drittens mit Heidegger eine Verschränkung beider Passivitätsmomente, der Ermöglichung und der Erfahrung, verständlich gemacht. Die Autorin: Juliane Schiffers, geboren 1977, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Alber (48650) / p. 3 / 22.9.2014 Juliane Schiffers Passivität denken Aristoteles – Leibniz – Heidegger Verlag Karl Alber Freiburg / München Alber (48650) / p. 4 / 22.9.2014 Alber-Reihe Thesen Band 57 Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48650-4 Alber (48650) / p. 5 / 22.9.2014 Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung . . . . . 9 II Potenzen des Passiven – Aristoteles Dank . . 39 39 3 4 5 . . . . . . . . . . Einleitung: Passivität und Geist bei Aristoteles . . . . . . Der nous pathêtikos: Eine (konzeptuelle) Leerstelle in der Theorie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Passivität und Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . Passive Potentialität(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . Passive Potentialität und materiale Affektivität des Geistes . . . . 53 65 92 118 III Die Passivität des Subjekts – Leibniz . . 141 141 . 148 . . 158 176 . 201 1 2 1 2 3 4 5 . . . . . . . . . . Einleitung: Leibniz als Passivitätstheoretiker? . . . . . . Die Selbstgenügsamkeit der Monade: Spontaneitätstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . Antrieb und Widerstandskraft: Die Dynamik der Substanz und ihrer Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Unmerkliche Perzeptionen: Die Passivität des Subjekts . . Kontingenz des Grundes und passive Potentialität des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Selbstreflexivität via passiva – Heidegger . . . . . . . . . 223 1 Einleitung: Heideggers passive Potenz – Erfahrung und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Passivität des Daseins: Geworfenheit und Unabgeschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Passivität denken 223 234 A 5 Alber (48650) / p. 6 / 22.9.2014 Inhaltsverzeichnis 3 4 Ermöglichende Erfahrungen: Angst, Tod, Langeweile . . . Passivität als Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Passivität denken – Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Literaturverzeichnis 6 ALBER THESEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 301 345 Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 7 / 22.9.2014 Dank Dieses Buch ist während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin entstanden. Einen besseren Arbeitskontext, nettere und klügere Kolleg*innen sowie interessiertere und stärkere Student*innen hätte ich mir nicht wünschen können. Für viele Gespräche, Zweifel, Muße und einvernehmliches Schweigen gilt mein Dank zuerst Alice Lagaay und den anderen Verities Svenja Flaßpöhler, Anja Kathrin Hild, Millay Hyatt und Veronika Reichl. Ohne sie wäre die Erfahrung des Schreibens halb so produktiv, halb so herausfordernd und halb so schön gewesen. Für Anregungen, Unterstützung und Gegenwind seit meinen ersten Gedanken über die Relevanz der Passivität im Jahr 2006 danke ich außerdem Emmanuel Alloa, Kathrin Busch, Mark A. Halawa, Gunnar Hindrichs, Caroline Huss, Werner Kogge, Silke Leonhard, David Lauer, Michael Lorber, Simone Mahrenholz, Catherine Newmark, Markus Rautzenberg, Mirjam Schaub, Melanie Sehgal, Hania Siebenpfeiffer, Philipp Stoellger, Wiebke-Marie Stock, Ralf Weinen, Philipp Wüschner, Christopher Zarnow, Rüdiger Zill und dem Kolloquium von Sybille Krämer. Auch die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen des SFB 447 »Kulturen des Performativen« ist in die Arbeit an diesem Buch eingeflossen. Wichtiges Feedback zu meiner Perspektive insbesondere auf Heideggers Passivitätskonzeption(en) haben die diskussionsfreudigen Teilnehmer*innen der Tagung »Ungründe. Perspektiven prekärer Fundierung« (Berlin 2013) gegeben; abgesehen von den bereits Genannten gilt mein Dank hier Fabian Goppelsröder, Gertrud Koch, Ryosuke Ohashi, Martin Urmann, Dirk Westerkamp, Andreas Wolfsteiner und Mark A. Wrathall. Meinen Student*innen, insbesondere denen des Passivitätsseminars, des Liebeswie des Todesseminars, des Heideggerseminars und der beiden LeibnizSeminare, danke ich für höchst spannende Diskussionen. Sybille Krämer danke ich für die immer auch kritische Begleitung Passivität denken A 7 Alber (48650) / p. 8 / 22.9.2014 Dank meiner Arbeit an diesem Buch, vor allem aber für das große Vertrauen, das sie mir als ihrer Mitarbeiterin schenkte – und für den Mut zur eigenen These, den sie vorlebt. Wilhelm Schmidt-Biggemann gilt mein großer Dank für die Bereitschaft, die Arbeit als Zweitgutachter zu betreuen und insbesondere zu Aristoteles wichtige Anregungen gegeben zu haben. Hilge Landweer, David Lauer und Jan Slaby danke ich dafür, dass sie als Kommissionsmitglieder die Verteidigung der Arbeit aktiv mitgestaltet haben – ein Akt, der mir großen Spaß gemacht hat. Bei der Fertigstellung des Buches war mir Shirin Weigelt behilflich – sie hat mich vor allerlei Fehlern bewahrt. Dem Verlag Karl Alber und insbesonders Lukas Trabert danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe Alber Thesen. Schließlich und vor allem danke ich meiner Familie: meiner Mutter Gertrud Schiffers, ohne deren vielfältige Unterstützung und deren Vertrauen weder mein Studium noch die Promotion so möglich gewesen wären, und meiner Schwester Maria-Anna Schiffers, ohne deren unschätzbare Hilfe mit Jonathan mir in den letzten zwei Jahren viel Zeit zum Schreiben und Überarbeiten gefehlt hätte. Jonathan danke ich dafür, dass es ihn gibt. Georg Bertram danke ich für anregende Gespräche über Heidegger und wichtige Unterstützung bei den letzten Korrekturgängen, vor allem aber für seine Liebe. Gewidmet ist dieses Buch meinem Vater Norbert Schiffers, ohne den ich den Weg in die Philosophie vielleicht nicht gefunden hätte. 8 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 9 / 22.9.2014 I Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Das Erstaunen ist pathos. Wir übersetzen pathos gewöhnlich durch Passion, Leidenschaft, Gefühlswallung. Aber pathos hängt zusammen mit paschein, leiden, erdulden, ertragen, austragen, sich tragen lassen von, sich be-stimmen lassen durch. […] Im Erstaunen halten wir an uns. Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, daß es ist und so und nicht anders ist. Martin Heidegger 1 Was heißt es, Passivität zu denken? Es heißt, bestimmte Erfahrungen von Passivität für die Seinsweise des Menschen ernst zu nehmen. Das können Erfahrungen eines körperlichen Leidens oder generell Erfahrungen von Widerfahrnissen sein. Es können Erfahrungen der Widerständigkeit eines Gegenstandes oder der Unzugänglichkeit eines Textes sein, Erfahrungen, die uns unsere Grenzen zeigen und uns zugleich zum Denken zwingen. Es können auch Grenzerfahrungen sein, die das eigene Sein insgesamt betreffen, wie etwa Erfahrungen der Angewiesenheit auf andere oder die Angst, dass das, was man tut und sein will, sich als sinnlos erweisen könnte. All diese Erfahrungen haben, das wird hier schon deutlich, einen gleichsam deiktischen Charakter, sie verweisen auf die menschliche Existenzweise als solche. Auch das pathos, mit dem Martin Heidegger den Einsatz und bleibenden Antrieb des Denkens (mit Bezug auf die griechische Philosophie) beschreibt, ist eine Erfahrung, die wesentlich zur Seinsweise des Menschen gehört: Nicht der setzende Akt, sondern das Erstaunen ist schon für Platon der Beginn des Philosophierens als Kontemplation. Für Aristoteles ist das philosophische Denken motiviert durch eine anhaltende Verwunderung angesichts der für ein endliches Wesen letztlich unerklärlich bleibenden, wandelbaren Welt. Dieses Staunen löst sich im Prozess des Philosophierens nicht auf, sondern wird passioniert, leidenschaftlich verfolgt. Den1 Was ist das – die Philosophie? (1956), Stuttgart 112003, 25 f. Passivität denken A 9 Alber (48650) / p. 10 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung ken, sofern es mit solchem Staunen beginnt und einhergeht, involviert eine Passivität gegenüber einem Gegebenen oder Gewordenen, das gleichermaßen erlitten ist wie empfangen wird und von dem ein Gedanke sich affizieren, tragen und bestimmen lässt. Dieser passivische Beginn des Philosophierens verweist, folgt man Aristoteles, auf die Ermöglichung geistiger Akte überhaupt, auf eine Potentialität, die jeder spezifisch menschlichen Aktivität voraus liegt und ihr zugleich inhärent ist. Auch in Gottfried Wilhelm Leibniz’ optimistisch mit einem zureichenden Grund beantworteten Frage, warum eher etwas und nicht vielmehr nichts existiert, klingt das Staunen über die Faktizität des Seins noch an. Diese Faktizität steht unter anderen Zugangsbedingungen als andere Tatsachen: Die ontologische Umgebung unserer Zugangsbedingungen zur Welt in den Blick zu nehmen ist selbst bereits vom Zugang abhängig, weshalb es so etwas wie eine Letztbegründung nicht geben kann. Leibniz argumentiert deshalb einerseits mit logischen Prinzipien wie dem des Widerspruchs, andererseits mit einer infinitesimalen Annäherung, mit Grenzbegriffen wie der »besten aller möglichen Welten« und einer bloß passivisch erfahrenen Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit, um seine Frage zu beantworten – und um letztlich doch noch das Prinzip des Grundes vertreten zu können. Dass geistige Aktivität wesentlich Passivität impliziert, gilt schließlich auch und vor allem für Heidegger, der in Bezug auf das pathische Staunen allerdings nicht mehr (Aristotelisch) die objektiv unendliche Vielfalt der Einzeldinge oder (Leibnizianisch) ihren letztlich harmonischen Zusammenhang, sondern das bloße Dass der Existenz und die passivische Art und Weise, wie diese Faktizität überhaupt erfahrbar wird, betont – und zudem erläutern will, wie eine solche Erfahrung Denken, Reflexivität und Handeln allererst ermöglicht. Wie das Denken, das solchermaßen von Passivität geprägt ist – ein Denken, das sich nicht nur als Staunen vollzieht, sondern das sich in bestimmten Erfahrungen von Passivität auch selbst reflektiert – in den Blick genommen werden kann, ist meine Ausgangsfrage: Was also heißt es, Passivität zu denken? Und inwiefern ist Passivität umgekehrt für das Verständnis der menschlichen Seinsweise und ihrer Reflexivität wesentlich? Diese Fragen betreffen nicht nur das Denken in einem eng verstandenen Sinn mentaler Vollzüge, sondern sie beziehen alle menschliche Aktivitäten mit ein – sei es Wahrnehmen, Erfahren, Fühlen oder Handeln. All diese Aktivitäten haben ihre Spezifik darin, dass sie von einer Reflexion auf ihre Ermöglichung begleitet sein können – 10 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 11 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung sie sind in diesem Sinne allgemein als geistige Aktivitäten zu verstehen. Passivität denken, das heißt also zunächst, die Erfahrung von Passivität für das Verständnis dieser Aktivitäten mit ihrer spezifischen Reflexivität ernst zu nehmen. Dafür aber ist es nötig, Passivität aus einer bloßen Opposition zu Aktivität zu lösen: Erfahrungen von Passivität, wie ich sie oben andeutungsweise beschrieben habe, sind nicht nur als Grenzen der eigenen Aktivität zu verstehen und ihr dichotomisch gegenüberzustellen. Es gilt vielmehr, sie für die Erläuterung menschlicher Aktivität und für deren Spezifik fruchtbar zu machen. Das aber heißt, die Frage zu stellen, was diese Aktivität ermöglicht – und wie auf sie reflektiert werden kann. Menschliche Aktivität, so die These, die ich im Folgenden entfalten will, ist nicht nur kontingenterweise verbunden mit Erfahrungen der Passivität, sondern sie ist in ihrer Konstitution wesentlich darauf angewiesen: Momente von Passivität sind wesentlich für geistige Aktivität, weil erstens sowohl die Ermöglichung geistiger Akte Passivität impliziert, als auch zweitens passivische Erfahrungen es erst erlauben, auf diese Ermöglichung zu reflektieren. Ermöglichung und Erfahrung können so drittens letztlich in ein Verhältnis gesetzt werden, das für geistige Akte konstitutiv ist. Systematisch leistet die Ausarbeitung einer solchen Verhältnisbestimmung von passivischer Ermöglichung und Erfahrung von Passivität einen Beitrag zur Metaphysik des Geistes. Geist verstehe ich dabei als Oberbegriff für spezifisch menschliche Aktivitäten wie Wahrnehmen, Fühlen, Erfahren, Denken und Handeln, deren Spezifik eben darin besteht, dass sie von einer Reflexion auf ihre Ermöglichung begleitet sein können. Ein so verstandener, weiter Begriff des Geistes erlaubt es mir, den Begriff der Passivität in grundlegender Weise ins Spiel zu bringen: Ich halte es entsprechend für falsch, etwa Wahrnehmungen und Emotionen als passiv, Denkakte und Reflexionen als aktiv zu erläutern. Vielmehr sind, so meine These, Aktivität und Passivität in allen unseren geistigen Akten verbunden. Der metaphysische Charakter meines Ansatzes ist in der Annahme begründet, dass geistige Akte generell auf Ermöglichungsmomente angewiesen sind, Ermöglichungsmomente, die in den Tätigkeiten selbst nicht verfügbar sind. Sie sind nicht empirisch gegeben, die Ermöglichungsmomente geistiger Aktivität sind selbst nicht empirisch konstituiert. Sie werden aber, so werde ich argumentieren, dadurch fassbar, dass bestimmten Erfahrungen von Passivität und ihren begrifflichen Artikulationen und Begründungen nachgegangen wird. Die Erläuterung dieser These steht also unter der Passivität denken A 11 Alber (48650) / p. 12 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Annahme, dass Passivität sich als unverzichtbares Moment nicht nur von Rezeptivität oder Affektivität, sondern insbesondere auch des Denkens und Erkennens in Antike, Neuzeit und Moderne herausarbeiten lässt; und dass dadurch zugleich eine Entwicklung in der Konzeption geistiger Akte beschreibbar wird, die mit Aristoteles, Leibniz und Heidegger als Hauptbezugsautoren erläutert werden kann. Metaphysisch formuliert könnte man sagen: Passivität ist ein wesentliches Moment des Denkens des Denkens endlicher Wesen, das im Unterschied zum Denken des Denkens eines unendlichen Wesens niemals reine Aktivität sein kann. Inwiefern jenes Denken – wie jede geistige Aktivität – aufs engste mit Erfahrungen von Passivität verknüpft ist, wie es etwa schon das philosophische Staunen anzeigt, und inwiefern diese Erfahrungen von Passivität zugleich ermöglichenden Charakter für die spezifisch durch Reflexivität geprägte menschliche Aktivität haben, gilt es zu klären. Die Relevanz der Frage nach Passivität als wesentliches Moment geistiger Aktivität lässt sich an einer ebenso problematischen wie fruchtbaren Erfahrung aufzeigen, die man im Versuch machen kann, Passivitätsmomente, wie ich sie oben beschrieben habe, zu konzeptionalisieren. Es handelt sich um eine Erfahrung, mit der die Frage nach dem, was uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis passiv sein lässt oder was bloß passivisch erfahrbar ist, selbst beinahe an ihre explanatorischen Grenzen getrieben wird. Denn in der Analyse der Kontexte, in denen Passivität sich historisch wie systematisch zur Geltung bringt, stellt sich der Gegenstand dieser Untersuchung oftmals als ein solcher heraus, der sich gerade nicht als positiv Seiendes phänomenal zeigt oder als ontologische Entität festgehalten und analysiert werden kann. Diese Erfahrung des Entzugs wird dann nur mehr konzeptualisierbar, indem (wenn auch je konzeptuell notwendige) Reflexionsbegriffe gebildet werden, die auf etwas verweisen, das dem frontalen Zugriff einer Bestimmung zunächst entgleitet – und das eben die Ermöglichung des eigenen Selbstseins, seiner Akte und seiner Reflexivität betrifft. Es handelt sich bei diesem Sich-Entziehenden allerdings, das möchte ich zeigen, nicht schlicht um ein (transzendentes) Positives, das sich nur als einem bestimmten (epistemologischen) Zugriff unverfügbar erweist – auch wenn eben diese These zumindest Aristoteles und Leibniz noch zu Reontologisierungen in Form von Prinzipien verleitet, die dann als Begründungsinstanzen für die erfahrbare Wirklichkeit fungieren. Vielmehr geht es schon in der Geschichte der Metaphysik (und nicht erst 12 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 13 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung metaphysikkritisch) je um ein spezifisches Verhältnis von Erfahrung und Ermöglichung, das unabdingbar für die Konzeptualisierung des Werdens und der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit (Aristoteles), der Subjektivität und Individualität (Leibniz) und schließlich des Selbstverhältnisses und seiner affektiv-pathischen Reflexivität (Heidegger) wird. Die Herausforderung ist also, nicht nur den Entzug festzustellen oder die Erfahrung zu beschreiben, die darin steckt, sondern dieses Verhältnis als einen ermöglichenden Un-Grund geistiger Akte zu begreifen, der sich nicht schlicht jedem Zugriff entzieht, sondern im Gegenteil gerade in und durch Erfahrungen von Passivität allererst wirksam wird – und dadurch auch konzeptualisierbar. Auch ein (vermeintlich nachmetaphysisches) Denken, das sich der Verobjektivierung enthält, muss sich dieser Herausforderung stellen, will es nicht jede Suche nach Begründungsfiguren von vornherein unterbinden. Die These dieser Studie ist, dass dies gerade mit einer Untersuchung des Begriffs der Passivität gelingen kann, weil sich damit eine spezifische Verknüpfung von Ermöglichung und Erfahrung herausarbeiten lässt, die eben eine solche Verhältnisbestimmung erlaubt, ohne rein negativitätstheoretisch argumentieren zu müssen. Es geht also um ein positives Verständnis von Passivität als einer Erfahrung, die auf die Ermöglichung geistiger Akte verweist oder sie erläutern kann – und dies, wenn auch je anders akzentuiert, bei allen drei Bezugsautoren. Dass ich für die Bearbeitung dieser systematischen These Aristoteles, Leibniz und Heidegger gewählt habe, hat mehrere Gründe: Passivität wird bei diesen drei Autoren zwar je in enger Korrelation mit Aktivität gefasst, aber nicht nur als Wirkung von Aktivität gedacht. Ebenso wenig sind die passiven Momente geistiger Aktivität auf Wahrnehmung, Erfahrung und Rezeptivität beschränkt (wie etwa bei Kant), sie werden weder empiristisch rekonstruiert (Locke) noch idealistisch in einer Zwei-Welten-Theorie (platonischer oder cartesianischer Prägung) als dasjenige konzipiert, was passiv als die andere Seite der Wirklichkeit Ideen bloß aufnimmt oder aber dem Geist als körperliche Substanz entgegengestellt wird. 2 Alle drei Ansätze verfahren letztlich nicht-dualis2 Freilich lassen sich auch in Platons und Descartes’ Denken Momente herausarbeiten, die dem mit diesen Namen generalisierend verbundenen Dualismus entgegenstehen. Zumindest die Frage nach einer Konzeptualisierung von Passivität müsste in beiden Ansätzen aber entweder mit einer Figur des Dritten (wie bei Platon etwa der Figur des Eros als epistemologisch vermittelndem Prinzip, das die Einsicht in das eigene Nichtwissen und so den erkennenden Aufstieg ermöglicht, vgl. Platon: Symposion. Das Gastmahl, Passivität denken A 13 Alber (48650) / p. 14 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung tisch, um geistige Aktivität zu erläutern. Sie bieten in unterschiedlicher Weise Reibungsflächen für die Frage nach einer geistimmanenten Passivität und damit das Potential, über Passivität anders als nur empiristisch oder wahrnehmungstheoretisch (etwa als Rezeption) und anders als nur einem Äußeren, Anderen geschuldet nachzudenken. Alle drei Autoren verbinden dabei die (metaphysische) Frage nach einer möglichen (Letzt-)Begründung mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ebenso wie auf Anschließbarkeit an die Erfahrungsdimensionen menschlichen Lebens. Sie räumen dabei in je unterschiedlicher Weise der Erfahrung der Grenze der menschlichen Erkenntnis(-fähigkeit) – als einer genuin philosophischen Erfahrung von Passivität, die zugleich metaphilosophische Implikationen wie spürbare Qualitäten hat – einen eigenen Platz ein, der auf ihre Theoriebildung zurückwirkt. Zugleich stehen die Positionen von Aristoteles, Leibniz und Heidegger paradigmatisch für Perspektivverschiebungen in der Konzeption des Geistes, die historisch und systematisch anhand der Thematisierung von Passivität herausgearbeitet werden können. Hintergrund meiner Frage nach Passivität als Wesensmoment geistiger Aktivität ist deshalb nicht nur eine Neuakzentuierung und Rehabilitierung einer meist pejorativ verwendeten Kategorie, die gegenüber der Thematisierung von Aktivität in der Geschichte von Metaphysik und Erkenntnistheorie stets inferior erscheint. Ich will im Folgenden mit einem exemplarischen Blick auf neuere kulturwissenschaftliche und kulturphilosophische Ansätze deutlich machen, dass eine solche Rehabilitierung aktuell durchaus ansteht. Danach aber will ich in Auseinandersetzung mit phänomenologischen Positionen exemplarisch zeigen, dass es um eine bloße Rehabilitierung nicht gehen kann, da sich mit ihr auch problematische Dualismen fortschreiben können. Wenn dies geschehen ist, kann ich den Aufbau des Buches erläutern. Werke in acht Bänden, Griech./Dt., hrsg. v. Gunther Eigler, Bd. III, bearbeitet v. Dietrich Kurz, Darmstadt 52005, 209–393) oder mit der je anderen Seite einer intelligiblen Wirklichkeit (bei Platon die erfahrbare Welt als Ort der Aufnahme der Ideen, bei Descartes die res extensa) beantwortet werden. Auch Kants Philosophie stellt Ansatzpunkte für eine Theorie der Passivität bereit, einerseits in der Theorie der Rezeptivität, andererseits auch mit dem im Verborgenen arbeitenden Schematismus der Einbildungskraft (vgl. KrV B176-B187) – im Empirismus dagegen bleibt Passivität beschränkt auf empirisch erfahrbare Qualitäten, eine Interpretation der Passivitätserfahrung, die m. E. zu kurz greift. 14 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 15 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Zur Verortung der These in kulturphilosophischen Debatten und in der Phänomenologie Die Kulturphilosophie rehabilitiert seit einigen Jahren die Frage nach Passivität, insbesondere vor ethisch-politischem Hintergrund: Gegen konstruktivistische Ansätze wird Passivität hier als das Andere der Aktivität verhandelt, das ihrem Zugriff zwar entgleite, darum aber nicht wirkungslos bleibe. Ein radikaler Konstruktivismus, so die Kritik, nimmt nur die Erzeugung von Erkenntnissen, Verhaltensweisen oder Aufmerksamkeit in den Blick; anthropologisch erscheint der Mensch hier als homo faber. Je dezidierter er sich aber als machtvoll handelndes Subjekt begreift, desto deutlicher zeigen sich auch die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit. In diesem Sinne kritisiert z. B. Felicitas Englisch die Systemtheorie luhmannscher Prägung aus phänomenologischer Perspektive. Sie spricht von einem »konstruktivistischen Hyperaktivismus, der nichts mehr vernimmt, weil ihm nichts mehr ›gegeben‹ ist« und konstatiert: »Ich würde es eher als eine subtile Form theoretischer Fehlleistung ansehen, daß diese Theorie alle Momente der Rezeptivität, Passivität und Hingabe, also des Vernehmens, das nach Heidegger inniger zu jedem Denken gehört als der Zugriff, ausgeblendet hielt.« 3 Die Widerständigkeit des Faktischen wird im Konstruktivismus als nur scheinbares Hemmnis diskreditiert und ethisch auf eine (individuelle) Willensschwäche oder Trägheit zurückgeführt. Passiv zu sein beschreibt hier also einen defizitären Umgang mit Realität, Passivität ist als das Andere des Tuns mit Unglück, Krankheit und Tod assoziiert. Diese Engführung von Passivität auf negativ erfahrenes Erleiden in der Geschichte von Metaphysik und Theologie problematisierend, skizziert Philipp Stoellger eine »Geschichte des Verschwindens« von »Pathos« und »Passivität« in der Neuzeit über die Stationen eines Dualismus von Aktivität und Passivität bei Descartes, eines Monismus der Aktivität bei Leibniz und schließlich – trotz der Zweistämmigkeit der Erkenntnis – eines Vorranges der Spontaneität vor der Rezeptivität in der Transzendentalphilosophie Kants, was anthropologische wie ethische Konsequenzen zei- 3 Felicitas Englisch: »Strukturprobleme der Systemtheorie – Philosophische Reflexionen zu Niklas Luhmann«, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Jenseits der Utopie: Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt/M. 1991, 169–235, hier 223. Passivität denken A 15 Alber (48650) / p. 16 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung tigt. 4 Stoellger etabliert dagegen historisch und systematisch einen Begriff von Passivität als Drittes neben »Ethos« und »Logos« – wobei der von ihm entwickelte »Pathos«-Begriff dann zwar zunehmend zum Fundament von Ethik und systematischer Theologie wird, aber systematisch noch als das Andere der Aktivität gefasst bleibt. Auch noch in der Debatte um Performativität liegen die Schwerpunkte auf der Aktivität des Subjekts – das handelt, indem es spricht 5 – und auf der Produktivität der Sprache als symbolisches System, welches das Subjekt allererst hervorbringt. Was in der Sprechakttheorie unterschwellig vorausgesetzt bleibt, ist die Idee, dass ein sprechendes Subjekt idealiter immer wissen könne, was es sprechend tut und damit Macht über seine Sprechvollzüge habe. 6 Dass ein Subjekt in Kommunikationssituationen dem Handeln eines anderen auch ausgeliefert sein kann oder dass es durch die Ansprache seitens eines anderen allererst in Sprache eingeführt und schließlich zu einem selbst sprechenden Subjekt wird, bleibt in dieser Perspektive meist vernachlässigt. 7 Die Möglichkeit, nicht zu handeln, scheint zunächst innerhalb der Perspektive der Performativität ausgeschlossen zu sein, sofern auch das Nicht-Sprechen als Akt der Kommunikation zu verstehen ist – im Sinne von Paul Watzlawicks Formel, dass man nicht nicht kommunizieren könne, da jedes Schweigen die Ordnung bereits anerkenne, die es beschweigt. 8 Wenn dem Nicht-Sprechen, dem Nicht-Antworten oder dem Schweigen im Denken der Performativität eine eigene Qualität zugesprochen wird, dann entweder im Sinne der Produktivität des Nicht-Handelns, Philipp Stoellger: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata, Tübingen 2010, vgl. etwa die Einleitung, 1–27, hier 3. 5 Vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, hrsg. v. James Opie Urmson u. Marina Sbisa, Cambridge/MA 21975. 6 Vgl. Sybille Krämer: »Sprache und Sprechen oder: Wie sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen einem Schema und seinem Gebrauch? Ein Überblick«, in: Sybille Krämer/ Ekkehard König (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/M. 2002, 97–125. 7 Vgl. zur Produktivität des Angerufen-Werdens allerdings wegweisend (und systematisch im Anschluss an die Philosophie Hegels) die Schriften von Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998; Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/M. 2001. 8 Vgl. Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 2000. 4 16 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 17 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung das damit selbst handlungsrelevant wird, 9 oder gerade gegen jede Handlungsrelevanz als Verweis auf ein »Unsagbares«, das sich der Diskursivierung entziehe: Das Sprechen oder die Antwort bleiben aus, weil es scheinbar etwas gibt, das nicht artikuliert werden kann. 10 Mit Michel de Certeau gesprochen ist es aber ein je spezifischer Diskurs selbst, der etwas als unsagbar von sich abtrennt, um sich im Gegenzug als Bedeutung und Sinn generierend erweisen zu können – und damit seine Macht, Subjekte zu konstituieren und seinen Regeln zu unterwerfen, ungebrochen zu gewährleisten. 11 Denn das diskursiv Ausgeschlossene ist darauf angewiesen, versprachlicht zu werden, um (erneut oder überhaupt) bedeuten zu können. 12 Das Unsagbare ist also eine Kategorie, mit der die Grenzen der Produktivität der Sprache gerade nicht aufgezeigt werden können. Die Problematik der Handlungsmacht der Sprache und des Sprechens öffnet sich hier von einer sprachphilosophischen oder hermeneutischen Frage auf eine politische Frage hin: De Certeau vermutet, dass die Möglichkeit, der übergriffigen »Liebe des Zensors« 13 – also der machtvollen Aktivität des Diskurses, die auch noch die Körper strukturiert und disziplinierte, einem Subjekt zugehörige Körper allererst hervorbringt – zu entgehen, allein auf Seiten des Schmerz- oder Lustschreis zu suchen ist, d. h. im Leiden und in der Leidenschaft. Angesichts der Problematik, der handelnden Macht der Sprache nicht entkommen zu können, sieht Gilles Deleuze die Herausforderung für die Philosophie darin, »leere Zwischenräume der NichtVgl. zu einer solchen kulturwissenschaftlichen Rehabilitierung von Passivität insbesondere die neueren Ansätze in der Performativitätstheorie, wie sie zu finden sind in: Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien 2008; Dies. (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010. In sprachphilosophischer Hinsicht und an Jacques Derridas auch ethisch-politisch motivierte Frage »Wie nicht sprechen?« angelehnt vgl. Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.): Nicht(s) Sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008. 10 Vgl. zur Analyse und Kritik einer solchen engführenden Konnotation des Schweigens als ein selbst beredter Akt der Kommunikation Alice Lagaay: Towards a Philosophy of Voice. Reflections on the Sound – and Silence – of Human Language, Dissertation FU Berlin 2007. 11 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1988. 12 Vgl. zur Kritik an der Idee eines Außersprachlichen, in welcher der Dualismus von Sprache und semiosis-besetztem Körper reproduziert und Sinngebung nur als subjektiver Prozess dargestellt werde, auch Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/M. 1978. 13 De Certeau, Kunst des Handelns, 269. 9 Passivität denken A 17 Alber (48650) / p. 18 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Kommunikation zu schaffen, störende Unter-brechungen, um der Kontrolle zu entgehen.« 14 Passivität spielt in diesen exemplarisch genannten Ansätzen zwar bereits eine tragende Rolle, bleibt aber noch mit negativ konnotiertem Schmerz, Ohnmacht und einem Erleiden verbunden, das auf etwas außerhalb des Diskurses verweist – und ihn gerade deshalb in seiner Aktivität und Produktivität gar nicht irritieren kann. Handlungstheoretisch als Unterlassung und Unvermögen traditionell gegenüber der Tat und der Fähigkeit abgewertet 15 und kulturhistorisch einem weiblichen Prinzip zugeordnet, das auf ein aktives, männliches angewiesen bleibt 16, bildet Passivität auch hier noch die andere Seite der Aktivität – ihr Negatives. Diese Beobachtungen werfen die Frage auf, ob es systematisch überhaupt notwendig oder auch nur sinnvoll ist, ein passiv-materiales (weibliches) Prinzip gegen ein allein produktives aktiv-formales (männliches) Prinzip auszuspielen – und sich damit selbst in die Falle einer Kausalitätsvorstellung zu begeben, welche Produktivität nur als etwas denken kann, was sich sein Gegenteil einverleibt, es ausschließt oder einschließt und damit unwirksam macht. Mit der Frage nach einer Passivität, die im Herzen geistiger Aktivität siedelt, möchte ich deshalb nicht zuletzt der in aktuellen performativitätstheoretischen und auch phänomenologischen Ansätzen virulenten, der negativen Theologie entsprungenen Idee entgegentreten, dass es jenseits unseres Denkens, Sprechens und Handelns eine nur negativ zu fassende Dimension des »Unsagbaren« oder »Unsignifizierbaren« gebe, eine Dimension, die maximal unverfügbar sei oder nur in einer Logik des Entzugs gedacht werden könne. Denn diese Logik setzt das, was sich da entzieht, selbst als Negatives absolut und macht es so (als Entität) wieder objektivierbar. Damit koppelt sie gerade die Wirksamkeit eines vielleicht nur passiv 14 Gilles Deleuze: »Kontrolle und Werden«, in: Unterhandlungen. 1972–1990, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt/M. 1993, 243–253, hier 252. 15 Eine Ausnahme in handlungstheoretischer Sicht bildet Armin Berger: Unterlassungen. Eine philosophische Untersuchung, Paderborn 2004, der den Versuch unternimmt, die Unterlassung als eine Form des Handelns neutral zu analysieren. 16 Vgl. zur Kritik dieser soziokulturellen, oft politisch, oft religiös motivierten Gleichsetzung insbesondere des materialen Prinzips mit dem Prinzip der Weiblichkeit – beide dann mit einer negativ-pejorativ besetzten Vorstellung von Passivität konnotiert –, die kein Alleinstellungsmerkmal des christlichen Abendlandes, sondern seit Aristoteles ein fast ubiqitärer Topos ist, Luce Irigaray: Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt/M. 1991. 18 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 19 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Erfahrbaren von unseren bewussten geistigen Akten ab, statt sie dafür fruchtbar zu machen – oder sich wirklich von der Erfahrung der Unverfügbarkeit irritieren zu lassen. Wie das, was sich so entzieht, sich überhaupt zeigen und erfahrbar werden kann und welche Konsequenzen diese Erfahrung für das Verstehen von geistigen Akten hat, ist rein negativitätstheoretisch nicht zu klären. Giorgio Agamben, in dessen Philosophie das Konzept einer sowohl ermöglichenden als auch politischwiderständigen Passivität eine herausgehobene Rolle spielt, formuliert einen ähnlichen Einwand bezogen auf Theorien, die mit dem Begriff des Unsagbaren die Grenzen der Sprache artikulieren wollen: Das Unsagbare und das Ungebundene sind nämlich Kategorien, die einzig der menschlichen Sprache angehören. Weit davon entfernt, eine Grenze der Sprache zu zeichnen, drücken sie als deren Voraussetzung ihre unbesiegbare Macht aus. Demnach ist das Unsagbare genau dasjenige, was die Sprache voraussetzen muss, um bedeuten zu können. 17 Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M. 2004, 8. In Agambens Philosophie lässt sich der Begriff der Passivität als ein zentrales Konzept herausarbeiten, mit dem die Wirklichkeit und die Aktivität des Denkens, Handelns und Sprechens von einer Potentialitätsdimension aus gedacht werden, die gerade in ihrer fundamentalen Passivität einen auch ethisch ambivalenten Charakter hat, insofern sie Potenz zum Guten wie zum Schlechten ist (vgl. Giorgio Agamben: »Über negative Potentialität«, übers. v. Emmanuel Alloa, in: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.): Nicht(s) Sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, 285–298). Passivität wird hier aus der Entgegensetzung zu Aktivität gelöst und zugleich als widerständiges Prinzip einer Unterlassung konzipiert, die nicht schlicht Negation einer Tätigkeit ist, sondern jede Tätigkeit in ihrem Vollzug irritiert (vgl. etwa Giorgio Agamben: »Bartleby oder die Kontingenz«, in: Ders.: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, übers. v. Maria Zinfert, Berlin 1998, 7–75.). Agambens Philosophie stellt einen wichtigen Bezugspunkt meiner Überlegungen dar. Dass seine Philosophie nicht im Zentrum steht, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass er sich selbst vielfach, aber oft implizit auf die philosophische Tradition, neben Walter Benjamin vor allem auf die Theologie des Mittelalters und u. a. auch auf Aristoteles, Leibniz und Heidegger stützt, um seine Theorie zu entwickeln. Ich komme im Verlauf meiner Analysen deshalb dann auf Agambens Thesen und Erläuterungen zu sprechen, wenn es für das Verständnis hilfreich ist. Vgl. zur These, dass Passivität als zentrales Konzept in Agambens Philosophie herausgestellt werden kann: Alice Lagaay/Juliane Schiffers: »Enthaltung als Chance? Ein Gespräch über radikale Passivität bei Giorgio Agamben«, in: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.): Nicht(s) Sagen: Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, 265–283; ferner Alice Lagaay/Juliane Schiffers: »Das Stattfinden der Sprache in der deiktischen Struktur des Pronomens. Zur Figur der Stimme bei Giorgio Agamben«, in: Horst Wenzel/Ludwig Jäger (Hg.): Deixis und Evidenz, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008, 217–239. 17 Passivität denken A 19 Alber (48650) / p. 20 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Es geht mir demgegenüber um eine Metaphysik, die weder als positive Reaktivierung von Letztbegründungen, noch als Negativitäts- und Entzugstheorie zu fassen ist, sondern als eine Metaphysik derjenigen Erfahrungen von Passivität, mit denen die Ermöglichungsmomente des Denkens und jeder spezifisch menschlichen, in diesem weiten Sinne geistigen Aktivität, fassbar werden können. Das Verhältnis von Passivität und Potentialität ist dabei, so werde ich im Verlauf der Argumentation zeigen, zentral. Wie sich mein Ansatz von einer im engeren Sinne phänomenologischen Fragestellung unterscheidet, werde ich im Folgenden exemplarisch anhand von Edmund Husserls eigenem Ansatz sowie anhand zweier für die aktuelle Diskussion paradigmatischer Ansätze in der Phänomenologie (Dieter Mersch und Bernhard Waldenfels) zeigen. Hans Blumenberg diagnostiziert in Husserls Philosophie der Intentionalität des Bewusstseins eine Antinomie, die interessant ist für den Umgang mit der bereits angedeuteten empirischen Unverfügbarkeit dessen, was geistige Akte ermöglicht: Husserl schreibt, dass jede Eigenschaft eines Dinges, das im Horizont unseres Bewusstseins auftaucht, »uns in Unendlichkeiten der Erfahrung hineinzieht, daß jede noch so weitgespannte Erfahrungsmöglichkeit noch nähere und neue Dingbestimmungen offenhält; und so in infinitum.« 18 Husserl reagiert auf diese Staunen machende Kluft zwischen dem Versuch der Bestimmung und der Unmöglichkeit, mit solcher Bestimmung je zu einem Ende zu kommen, indem er in der Erforschung der Pluralität von Evidenzen die »unendliche Aufgabe« der Philosophie entdeckt, eine freudig angenommene »wahre Unendlichkeit deskriptiver Arbeit.« 19 Diese Bezogenheit auf Welt und zugleich auf das eigene Selbst bedeutet für Husserl »intentionale Unendlichkeiten«, nämlich »eine Unendlichkeit des Lebens und Strebens auf Vernunft hin«. 20 Was mit diesem aktivistischen »Pathos der Unendlichkeit« allerdings verdeckt wird, ist eben der Widerspruch zwischen dem Versuch, methodisch festen Boden unEdmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Husserliana III/1, hrsg. v. Karl Schuhmann), Den Haag 1976, 4; zitiert nach Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 7–54, hier 40. 19 Edmund Husserl: Erste Philosophie. Erster Teil. Kritische Ideengeschichte (Husserliana VII, hrsg. v. Rudolf Boehm), Den Haag 1956, 110. 20 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992, 275. 18 20 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 21 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung ter die Füße zu bekommen, und dem notwendigen Scheitern dieses Vorhabens in der unendlichen Analyse; ein Widerspruch, der die Phänomenologie als »eine äußerste Zuspitzung dieses einem endlichen Dasein aufgebürdeten unendlichen Anspruches« erscheinen lässt, wie Blumenberg kritisch formuliert. 21 Die phänomenologische Forderung nach Evidenz und die Radikalität des Begründungsanspruches haben eine als notwendig erscheinende Rückkehr des Denkens an einen absoluten Anfang zur Folge – aber dieses Denken des Grundes behält seinen eigenen Grund als blinden Fleck. Das Problem der Intentionalität des Bewusstseins ist also, dass es sich selbst den Horizont abstecken muss, in dem die Phänomene ihm erscheinen können und in dem es dann seine eigene »unendliche Arbeit« aufnehmen kann. Damit kann das Bewusstsein aber weder der »Unendlichkeit des Alls« noch dem Reichtum des Phänomens, noch der Endlichkeit der eigenen Perspektivität gerecht werden, was sich dann privativ als »Sinnverlust« artikuliert (dieses Problem hat Husserl selbst gesehen, ohne es lösen zu können). Blumenberg kritisiert an Husserls methodischem Optimismus, der sich in der »Unendlichkeit auszuführender Arbeit« am Gegenstand ausdrückt, eine »Formalisierung« und »Funktionalisierung«, die »das Geleistete zur Voraussetzung des noch zu Leistenden« mache 22 – man könnte das auch eine das philosophische, grundlegend pathische Staunen gerade untergrabende Ökonomisierung des Denkens nennen. Denn damit verfällt das Denken einem methodischen Ideal »unreflektierter Wiederholbarkeit«, das dem »Erkenntnisideal der Philosophie« – dem staunenden Forschen, das sich bestimmen lässt von seinen Gegenständen 23 – gerade entgegengesetzt ist: »Der Sinnverlust, von dem Husserl gesprochen hat, ist in Wahrheit ein in der Konsequenz des theoretischen Anspruches selbst auferlegter Sinnverzicht.« 24 Dem Letztbegründungsanspruch, der sich also nicht nur im metaphysischen Denken der ersten Prinzipien und letzten Gründe, sondern – wenn auch modifiziert und mit einer Einklammerung alltäglichen Bewusstseins, der Epoché, verbunden – noch in Husserls phänomenologischer Reduktion niederschlägt, hält Blumenberg Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung«, 41. Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung«, 41 f. 23 Vgl. zur Idee eines »Sich-Bestimmen-Lassens«, das der geistigen Aktivität inhärent ist, auch Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002. 24 Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung«, 42. 21 22 Passivität denken A 21 Alber (48650) / p. 22 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung das »Prinzip des unzureichenden Grundes […,] nicht zu verwechseln mit einem Postulat des Verzichts auf Gründe« 25, entgegen: Dieses Prinzip fasst ein Nicht-alles-Sagen-Können, das als Kern philosophischen Denkens nicht das sagbare Wesen sieht, sondern gerade die Grenze der Verfügung (zumindest wenn mit Verfügbarkeit begriffliche Festschreibungen gemeint sind, denen Blumenberg seine Metaphorologie 26 entgegenstellt). Es verdeutlicht, dass das, was das Denken fundierend oder ermöglichend bedingt (sei dieses Denken bezogen auf das »All des Seienden« oder darin zugleich auch immer auf sich selbst) gerade nicht als letzter positiver Grund zu fassen ist – auch nicht in unendlicher Annäherung. 27 Diese Selbstbegrenzung des philosophischen Anspruchs teilt Blumenberg nicht nur mit Heidegger, sondern etwa auch mit Wittgenstein, der uns über das, worüber nicht gesprochen werden kann, zu schweigen heißt, und der den harten Fels, an dem sich der Spaten jedes noch so tief bohrenden Letztbegründungsanspruchs zurückbiegt, als Faktizität anzuerkennen, nicht aber weiter zu hinterfragen fordert. 28 Dennoch: reicht es aus, der Schwierigkeit einer positiven Fundierung mit der Feststellung der Begrenztheit der Fähigkeiten von Erkenntnis und Sprache Hans Blumenberg: »Anthropologische Annäherung an die Rhetorik«, in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, 104–136, hier 124 f. 26 Vgl. etwa Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 1960; Ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2007. 27 Nicht unterschlagen sei allerdings, dass Husserl mit seinen Analysen zur passiven Synthesis einen wichtigen Beitrag zur Korrektur des (ontologischen) Vorrangs von Spontaneität in Bezug auf Erkenntnis geleistet hat – mit weitreichenden anthropologischen Konsequenzen. Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926 (Husserliana XI, hrsg. v. Margot Fleischer), Den Haag 1966. Die »Synthesis passiver Erfahrung«, die als ein Ungrund im Sinne einer »Vorstufe« für das intentionale Bewusstsein gelten kann, meint eine Passivität, deren Aufklärung oder positive Fassung eben dieses Bewusstsein selbst an seine Grenzen bringt. Rolf Kühn analysiert Husserls Begriff der Passivität im Hinblick auf diese »nicht-intentionale Passivität«, die »älter als jedes Tun und Denken ist« und ergänzt seine Studie mit einem Anhang zur »Radikalisierte[n] Passivität in der neueren Phänomenologie«, zu der er Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida und Michel Henry zählt. Vgl. Rolf Kühn: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg i. Br./München 1998. Auch hier bleibt Passivität aber noch dem Bewusstsein und seiner Aktivität entgegen gesetzt. 28 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M. 1976, 115. 25 22 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 23 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung zu begegnen? In Blumenbergs Prinzip des unzureichenden Grundes und seiner Metaphorologie schwingt zumindest die Hoffnung mit, innerhalb der philosophischen Sprache andere Wörter finden zu können für das, was dem Begriff zu entgehen scheint. Andere phänomenologische Ansätze, wie etwa der Dieter Merschs, nehmen an diesem Punkt die Ästhetik zu Hilfe: Es geht nicht nur um die Differenz von Sagbarem und Unsagbarem, sondern um etwas, das sich nur zeigen kann. Diese Idee, ein Anderes des Diskursiven finden zu können, teilt auch Bernhard Waldenfels, wenn er sein Konzept von Alterität mit einem Begriff von Responsitivität verschränkt, der eben der Lücke zwischen Ich und Anderem gerecht werden soll, ohne den Widerfahrnischarakter, der das Selbstsein trägt, zu vereinnahmen. Diese beiden Ansätze einer Dichotomisierung von Sagen und Zeigen auf der einen, und einer Vorrangstellung von Alterität vor dem Selbstsein auf der anderen Seite können paradigmatisch für die aktuelle phänomenologische Diskussion um Passivität gelten; deshalb werde ich im Folgenden näher auf sie eingehen, um meinen Einsatzpunkt zu schärfen. Denn m. E. werden die dort im Zentrum stehenden Begriffe der Alterität und der Unverfügbarkeit eines sich Nur-Zeigenden nicht verständlich ohne ein starkes Konzept einer Passivität im Eigenen, wie ich es entwickeln möchte. Mersch begegnet der Schwierigkeit einer positiven Fassung der ermöglichenden Fundamente des Denkens und Handelns negativitätstheoretisch: Er diagnostiziert zunächst den herrschenden semiotischen und hermeneutischen Ansätzen in der Ästhetik eine problematische »Totalisierung von Signifikation« 29 und ein »Verschwinden von Materialität« 30, mit denen unweigerlich eine »Ereignisvergessenheit« 31 einhergehe. Merschs Hauptkritik an diesen Ansätzen (die letztlich als Kritik an dem die Philosophie und Kulturwissenschaften des 20. JahrEbd. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2002, 42. 31 Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, 392. Eine kritische Lektüre von Merschs Ansatz für die Ästhetik und zugleich einen auch für meine Überlegungen zur Passivität des Denkens interessanten Versuch, die Semiotik insbesondere Charles S. Peirces gegen die dort geäußerte Kritik der »Ereignisvergessenheit« zu verteidigen und zu rehabilitieren liefert Mark A. Halawa: »Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose. Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C. S. Peirce«, in: Ars Semiotica 32 (2009), 10–22, bes. 12 f. 29 30 Passivität denken A 23 Alber (48650) / p. 24 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung hunderts dominierenden linguistic turn zu verstehen ist), ist, dass sie die Tatsache ignorieren, dass das Fundament jeder Bezugnahme auf etwas sich hermeneutisch wie ästhetisch entziehe – und eben nicht in Sprache oder Zeichen aufgehe. Stattdessen gehe es darum, ein Negatives zu fassen, nämlich eine »Nichtsignifizierbarkeit« oder ein »Unlesbares«, das nicht ausgesagt werden könne, sondern »sich zeige«, das jeder sinnstiftenden Differenzierung vorhergehe. 32 Dies sei eben in Begriffen von »Materialität«, »Präsenz« und »Ereignis« zu fassen, mit denen es gelte, sich »am Rande des Sagbaren« 33 aufzuhalten, um von den Grenzen des Sagbaren aus aufzeigen zu können, was jede Sinnstiftung erst ermöglicht. Für die Frage nach einer Verhältnisbestimmung zu diesem sich »den Bedingungen und Möglichkeiten des Sagbaren [und den] Ordnung(en) des Diskurses« Entziehenden ist Merschs negativitätstheoretischer Ansatz insofern interessant, als er das Primat nicht auf das »Was (quid)« des in Frage stehenden (ästhetischen) Geschehens, sondern auf das »Dass (quod)« legt, also auf die Faktizität des Ereignisses, die jeder Objektbestimmung von etwas als etwas vorhergehe. 34 Mark A. Halawa fasst diesen Aspekt so zusammen: »Wir spüren, dass (quod) ›geschieht‹, noch ehe wir uns darüber bewusst werden, dass etwas geschieht, geschweige denn was (quid) geschieht.« 35 Dieser performative Zug macht so das Moment eines bloß pathisch erfahrbaren Unverfügbaren, mit Halawa gesprochen des »Widerständigen« 36, zur irreduziblen Grundlage jeder bestimmenden Tätigkeit (nicht nur in der Ästhetik). Dieser Tätigkeit wird mit Merschs Ansatz also zwar ein anderes Fundament gegeben als ein selbst positiv in Sprache Auflösbares es darstellte. Das Verhältnis zwischen einem solchermaßen negativ sich nur zeigenden, aber unsagbar bleibenden Ereignis zu den in Frage stehenden Prozessen der (ästhetischen) Erfahrung bleibt allerdings noch ungeklärt. Ist das negationslogisch Gefasste, mit dem der Materialität und der Präsenz, dem Unvorhersehbaren, aber zugleich Konkreten und Singulären wieder zu ihren Rechten verholfen werden soll, selbst nur als nicht weiter beschreibbares, bloß ereignishaftes Geschehen qualifizier- 32 33 34 35 36 24 Mersch, Was sich zeigt, 19. Ebd., 9. Halawa, »Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose«, 13. Ebd. Ebd. ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 25 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung bar? Bleibt es der Sprache und der Bedeutung äußerlich – und wenn nicht, wie wird es konkret erfahrbar und wie für die Bestimmung wirksam? Mein bereits erwähnter Einwand gegen negationslogische Ansätze trifft deshalb auch Merschs Ansatz. Wie aber mit dem Problem der Unverfügbarkeit des eigenen Grundes, das als metaphysisches Problem in der Phänomenologie ebenso virulent bleibt, wie es sich in der Hermeneutik artikuliert, umgehen? Ich hoffe, diesem Problem näherzukommen, indem ich den Fokus auf die Erfahrung lege, in der sich eine solche Unverfügbarkeit artikuliert – und indem ich diese Erfahrung, die immer eine der Passivität ist, letztlich sogar als konstitutiv für geistige Akte, als Ermöglichung der praktischen Vollzüge des Denkens und Handeln verstehe. Das hier anvisierte Konzept einer immanenten Passivität, die jeder Bezugnahme inhäriert, kann dann noch für einen weiteren genuin phänomenologischen Kontext aufschlussreich sein, nämlich für die These von der Vorrangigkeit von Alienität vor Aseität bzw. abgeschwächter, des Anderen vor dem Selbst. Neben Emmanuel Lévinas – der sicherlich die radikalste Philosophie der Alterität entwickelt hat und in diesem Zuge auch den Begriff der Passivität von einem stets unverfügbar bleibenden Anderen aus denkt und Passivität damit als eine metaphysisch und metaethisch entfaltete Grundkategorie ins Zentrum seiner auf Verantwortung basierenden Ethik stellt 37 – kann Bernhard Waldenfels’ Ansatz als paradigVgl. etwa Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hrsg. u. eingeleitet v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br./München 1998, 323: »Die Passivität, die diesseits der Alternative Passivität – Aktivität und passiver als alle Trägheit ist, findet ihre Beschreibung in den ethischen Termini der Anklage, Verfolgung, Verantwortung für die Anderen.« Vgl. auch Ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. v. Frank Meithing, München/Wien 1995. Vgl. zur Figur einer radikalen Passivität in der Ethik Emmanuel Lévinas’, der Ästhetik Maurice Blanchots und Giorgio Agambens politischem Begriff von Gemeinschaft auch Thomas Carl Wall: Radical Passivity. Levinas, Blanchot, and Agamben, Albany/NY 1999. Wall sieht bei allen drei Autoren eine »Logik der Passivität« am Werk, die in der Moderne ihren Ursprung bereits in Kants Analyse des transzendentalen Schematismus habe. In anderer Hinsicht, aber ebenfalls noch innerhalb phänomenologischer Überlegungen, wird Passivität bei Michel Henry radikalisiert: Der Passivitätsbegriff wird hier zu einer ontologischen Bestimmung des zur Rückbezogenheit auf sich selbst verurteilten Bewusstseins, das unhintergehbar sein eigenes Sein »affektiv« erleide. Das Leben selbst wird hier als reine Selbstaffektion und reines Pathos gefasst (vgl. Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, München 1992, 72 f.). Paul Ricœur betrachtet Passivität dagegen stärker im Horizont einer »Dialektik 37 Passivität denken A 25 Alber (48650) / p. 26 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung matisch für aktuelle phänomenologische Positionen gelten, die auf die Schwierigkeit einer Bestimmung des Grundes der Phänomene und einer Begründung von Subjektivität reagieren. 38 Waldenfels argumentiert hier mit den Konzepten »Pathos und Response« 39: Der Intentionalität mit ihrer »sinngerichteten Bewegung«, »ihren Ziel- und Regelstrukturen« setzt Waldenfels die Aufmerksamkeit auf das entgegen, »was uns widerfährt, was uns affiziert, was uns anspricht«. 40 In jeder neuen Erfahrung steckten »akute […] Formen des Widerfahrnisses oder des Pathos«, die das »Wovon des Getroffenseins« anzeigten, das »der ontologischen Frage nach dem Was und der teleologischen Frage nach dem Wozu voraus« gehe. 41 Die »Antwort« auf dieses pathische, wenn auch nicht nur als subjektiv zu verstehende Ereignis, als »eine Weise, darauf einzugehen, [sich] darauf einzulassen«, um es überhaupt als »Transformation«, d. h. als Erfahrung annehmen zu können, bedürfe einer »responsiven Reduktion, die über die intentionale Reduktion, also über die landläufige phänomenologische Reduktion hinausgeht«. 42 Mit dieser Form der (im Verhältnis zum pathischen Moment der Erfahrung zeitlich verzögerten) Antwort »kommt eine eigentümliche Form der Passivität ins Spiel […], die aber nicht radikal genug gefasst ist, sovon Selbstheit und Andersheit« und gelangt zu einer Auslegung von Alienität, die nicht nur in Bezug auf den Anderen, sondern auch in Bezug auf die Selbstkonstitution passive Momente impliziert (vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, übers. v. Jean Greisch, München 1996). Auch hier wird allerdings noch mit der Figur eines Anderen oder Fremden argumentiert, um die Passivität im Eigenen zu artikulieren. 38 Passivität wird phänomenologisch also im Verhältnis zu Alterität und Alienität und als Fundament jeder Bezugnahme verstanden – und insofern zwar auf Unverfügbarkeit zurückgeführt, aber nicht negativ bewertet. Die Beschäftigung der neueren Phänomenologie mit der Thematik der Passivität ist teilweise bereits aufgearbeitet, namentlich bei Anne Montavont, Dan Zahavi, Jean-Luc Marion, Ulrich Kaiser und Anthony J. Steinbock, vgl. dazu die Rezension von Pascal Delhom/Christina Schües: »Passivität und Generativität nach Husserl«, in: Philosophische Rundschau 49/2 (2002), 116–143. Ebenfalls aus phänomenologischer Perspektive erhält der Begriff des Pathos aktuell einen neuen Stellenwert in den Kulturwissenschaften, vgl. Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.): »Pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007; sowie Kathrin Busch: P – »Passivität«, hrsg. v. Valérie Knoll u Hannes Loichinger, Hamburg/ Lüneburg 2012 (= Jan-Frederik Bandel/Nora Sdun (Hg.): Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden, Bd. 6). 39 Bernhard Waldenfels: »Bewährungsproben der Phänomenologie«, in: Philosophische Rundschau 57 (2010), 154–178, hier 171. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 26 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 27 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung lange man sie – gut aristotelisch – als geminderte Form der Aktivität begreift« 43. Waldenfels argumentiert hier mit der Aufspaltung des »leiblichen Selbst« in der Erfahrung in ein Doppel aus »Patient« und »Respondent« 44: Beide Komponenten bilden zusammen erst das Subjekt der Erfahrung, das aber im Vollzug der Erfahrung selbst »außer sich« gerate und »sich selbst vorausgehe«. 45 Diese Passivität, die sich hier in und an einem Selbst, das ein Anderer wird, bzw. als eine Fremdheit im Eigenen artikuliert, setzt damit aber bereits ein Selbst, ein Subjekt der Erfahrung, voraus: »Ein Ereignis, das nicht von Anfang an jemandem widerfährt, verwandelt sich wohl oder übel in ein beobachtbares Event.« 46 Waldenfels betont zwar die heikle Balance zwischen Selbst- und Fremdaffektion: Weder ein Ich noch ein Anderer gehen der Erfahrung voraus – »extreme Pendelschläge gehen an der Sache vorbei.« Angemessener sei deshalb eine »indirekte Beschreibung, die mit Differenzkonzepten wie Abweichung oder Überschuß operiert«. 47 Waldenfels kritisiert so mit seinem Ansatz »Zwischen Pathos und Response« 48 eine Verabsolutierung von Alterität vor Selbstheit (wie sie paradigmatisch Lévinas vertritt) bzw. die Verabsolutierung des »Ereignisses der Andersheit« vor Rezeption, Interpretation und Sinn (letzteres wirft er als zu einseitig etwa Mersch vor). Doch auch, wenn Waldenfels’ »Phänomenologie des Fremden« die Erfahrung eben eines solchen Fremden im Eigenen und die transformatorische Kraft dieser »Heterogenese« 49 vor solchen Einseitigkeiten zu schützen vermag, stellt sich die Frage, wie das passive Getroffensein mit einem bereits aktiv antwortenden Sich-Verhalten zum pathischen Ereignis in der Erfahrung zu vermitteln ist. Hier fehlt m. E. das Scharnier einer Passivität, die bereits vor der Heterogenese, also der Transformation via Alterität, im Eigenen positiv wirksam ist und die so die Bedingung der Möglichkeit bereitstellt, dass auf ein solEbd., 172. Es lässt sich bei Aristoteles selbst ein radikaler Begriff von Passivität herausarbeiten, der nicht auf Aktivität reduzibel ist, wie ich im Verlauf meiner Analysen zeigen werde. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., 173. 47 Ebd., 174. 48 So der Titel des II. Kapitels des 2006 erschienenen Buches von Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006, 34–55, in dem dieser Ansatz ausführlicher entwickelt wird. 49 Ebd., 38. 43 Passivität denken A 27 Alber (48650) / p. 28 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung ches Fremdes (und sei es das Fremde im Eigenen) überhaupt geantwortet werden kann – bzw. und noch davor, dass ein Geschehen überhaupt in dieser Weise pathisch wirksam werden kann. Wie also ist das zu denken, was auf ein solches Ereignis antworten kann, mit dem ein Ereignis überhaupt als Widerfahrnis gedeutet werden kann? Bedarf es dafür nicht nur einer Passivität, die durch das Ereignis in »Jemandem«, der also bereits konstituiertes Selbst ist, hervorgerufen wird – sondern einer Passivität, die der Passivität gegenüber einem Anderen oder Fremden von vornherein korrespondiert und die Alteritätserfahrung so allererst ermöglicht? Waldenfels scheint eine solche Passivität selbst im Blick zu haben, wenn er eine »Urpassivität, die der Affektion entspringt« annimmt und diese mit Husserls passiven Synthesen parallelisiert, die entgegen »landläufiger« Interpretationen »nicht nur eine Voroder Unterstufe zur aktiven Sinnbildung« seien. 50 Aber er bezeichnet auch diese »Urpassivität« noch als ein »Ichfremdes« 51, dem ein Widerfahrnis voraus gehen müsse. Das Ich ist in dieser Konzeption also die Instanz, die sich durch Einwirkung eines Anderen transformiert – und auch wenn dieses Andere letztlich doch im Ich selbst zu verorten ist, bleibt es dessen Definition zunächst äußerlich, fremd. Das Subjekt erscheint hier als ein Zweites, bereits Unterworfenes – dem leiblichen Selbst, das sich in »Pathos« und »Response« konstituiert, nachgeordnet. Das Subjekt hat also sein Anderes zwar zur Bedingung und kommt durch sein leibliches, anderes Selbst mit seiner Intentionalität an seine Grenzen – aber es ist davon doch unterschieden. Nur so kann Waldenfels auch von »Einbrüchen des Pathischen« 52 sprechen, die ein Subjekt passiv erleidet und die auch noch seine intentionalen Akte als Antworten auf dieses Erleiden erscheinen lassen. Die Passivität betrifft dann erst dasjenige Ich, das mit Bewusstsein, Intentionalität, Denken einhergeht, und sie wirkt erst und ausschließlich über das leibliche Ich. Meine These lässt sich demgegenüber jetzt wie folgt präzisieren: Das Widerfahrnis, das zu früh kommt, also vor der ein Subjekt allererst konstituierenden Erfahrung, und die Response, die zu spät kommt – insofern sie das konstituierte Subjekt, das antworten kann, voraussetzt –, bedürfen, wenn sie so als zwei zu unterscheidende Teile des Ebd., 47 f. Als solche Vorstufe bezeichnet Husserl die passiven Synthesen allerdings selbst, weshalb ich diese Stelle oben zitiert habe. 51 Ebd., 48. 52 Ebd., 51. 50 28 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 29 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Selbst konzipiert werden, mindestens einer vermittelnden Instanz. Auf diese Schwierigkeit weist Waldenfels selbst hin, wenn er die Kluft, die allererst die Erfahrung des Anderen (des pathisch affizierbaren leiblichen Selbst) zu einer Transformation des (antwortenden) Selbst macht, als zeitliche Diastase 53 konzipiert, die damit notwendiger Teil seiner Theorie wird. Diese Instanz aber könnte dann gerade nicht mehr von einem Anderen her verständlich gemacht werden, sondern müsste das Wesen des Selbst nicht nur in seiner Leiblichkeit, sondern eben auch und gerade in seinen geistigen Akten betreffen. Trennt man diese beiden Bereiche des Selbst also auf, wie Waldenfels es letztlich tut, muss eine solche Vermittlung erneut vorausgesetzt oder nachträglich gestiftet werden – als Entität, die dann wieder das Problem des Grundes aufwirft. Waldenfels’ Argumentationsgang folgt mit einer solchen Aufspaltung des Ich demjenigen von Maurice Merleau-Ponty, der bezogen auf Wahrnehmung und Denken eine ähnliche Zweiteilung zwischen einer leiblich-körperlichen Passivität und einer intentional-geistigen Aktivität annimmt. Merleau-Ponty beschreibt das Sehen als etwas, das nach einem Gesetz funktioniert, das es sich nicht selbst gegeben hat, und begründet das mit einer selbst nicht weiter begründbaren Passivität im Kern des Sehens selbst: »[E]s gibt in seinem Inneren ein Geheimnis der Passivität.« 54 Dies scheint für Merleau-Ponty gerade die Gewähr zu sein, dass das Sehen nicht mit dem Denken (das dann kognitivistisch verstanden wird) zu identifizieren ist; Leiblichkeit und Denken fallen also auch hier zunächst auseinander bzw. bedürfen einer Vermittlung. Ich denke dagegen, dass es nicht um die Vermittlung zweier in ihrer Funktion für die Selbstkonstitution zu differenzierender Teile oder Komponenten geistiger Aktivität (einer körperlich-leiblichen und einer eher intentional-mentalen Seite des Selbst, die einander je ein Fremdes oder Anderes sind) gehen kann. Das Ich, das einer solchermaßen transformatorischen oder gar konstitutiven Erfahrung unterliegt, muss vielmehr selbst in seinem Kern die Ermöglichungsbedingung dafür bereithalten. Die Instanz, die das leistet, muss also selbst die Eigenschaft haben, gerade keine Instanz mit bestimmten Eigenschaften zu sein – vielmehr ist sie zunächst eine Leerstelle, die, so meine These, eben nicht mit retrospektiv positivierten Begriffen wie Alterität oder Ebd., 48–52. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, hrsg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003, 297. 53 54 Passivität denken A 29 Alber (48650) / p. 30 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung Negativität als Gegenpol zum Eigenen oder Verfügbaren bestimmt, sondern als ein Verhältnis und in Begriffen von Potentialität und Passivität, von Erfahrung und Ermöglichung, zu erläutern ist. Dass diese Leerstelle sich nun aber nicht nur in phänomenologischen und postmetaphysischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts aufspüren lässt oder diese ergänzend konzeptualisiert werden kann, sondern sich gerade anhand der Frage nach dem Wesen geistiger Akte schon in der Geschichte der Metaphysik herausarbeiten lässt, ist mein Ansatzpunkt. Sich dieser Herausforderung zu stellen heißt dann auch, sich mit den systematischen Schwierigkeiten einer solchen Konzeption, die sich nicht durchweg auf positiv Gegebenes stützen kann, zu konfrontieren; es heißt, sich auf die Spur eines Wie sich die Faktizität artikulierbar macht zu begeben, auch den Grenzen der historischen Erläuterungen geistiger Aktivität nachzugehen und das, was in den Konzeptionen auf den ersten Blick unartikuliert oder implizit blieben muss, aufzuspüren. Es geht mir mit der Neuakzentuierung von Passivität also nicht vorrangig um eine Rehabilitierung von Leiblichkeit 55 oder Körperlichkeit 56, auch wenn die Passivität der Materie konzeptuell zumindest mit Aristoteles eine wichtige Rolle spielen wird. 57 Ebenso wenig geht es mir um einen Vorrang der Rezeptivität vor der Spontaneität, oder des Ereignisses vor seiner sprachlichen Fassung, sondern eher um die Erfahrung, mit welcher die Produktivität geistiger Akte einsetzt oder ermöglicht wird und aus der sie sich speisen. Es geht also um ein Denken der Passivität diesseits von Dualismen – und inwiefern dafür zwar materielle, affektiv-körperliche und rezeptive Momente relevant sind; zugleich aber gerade mit diesen pathischen Momenten Dimensionen von PotenEinen aktuellen Überblick über die Geschichte des Begriffs der Leiblichkeit, seine Reichweite in der Phänomenologie nach Husserl, aber auch seine Grenzen bietet das Handbuch Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, hrsg. v. Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny u. Tobias N. Klass, Tübingen 2012. 56 Eine radikale Neufassung der intrinsischen Bezogenheit des Denkens auf Körperlichkeit vor dem Hintergrund abendländisch-christlicher Tradition liefert Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin 2003. Nancy befreit den Körper aus der begrifflichen Opposition von Leib und Seele, Innen und Außen – ich versuche analog dazu, das Denken bzw. geistige Akte im Allgemeinen aus dem Dualismus von Körper und Geist zu lösen, also die Frage nach einer immanenten Transzendenz von der anderen Seite her anzugehen, um den Dualismus zu überwinden. 57 Vgl. zur Geschichte des Materiebegriffs die kommentierte Anthologie von Sigrid G. Köhler/Hania Siebenpfeiffer/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte, Frankfurt/M. 2013. 55 30 ALBER THESEN Juliane Schiffers Alber (48650) / p. 31 / 22.9.2014 Was heißt es, Passivität zu denken? – Einleitung tialität verknüpft sind, die den Akt des Denkens und jede mit Reflexivität verbundene Handlung fundieren. Diese Momente sind in den konkreten Akten selbst nicht verfügbar, es sind Momente, die im passiven Modus einer immanenten Transzendenz, wenn man so will, wirksam sind. Es gibt aber, so die Hypothese, Erfahrungen von Passivität, die auf diese Momente aufmerksam machen können. Gerade mit der Frage nach dem Wesen geistiger Akte, welche immer schon den Fragenden selbst in seiner Reflexivität betrifft, tritt dann eine Passivität im Eigenen hervor, die nicht durch ein Anderes seiner selbst initiiert ist und die auch nicht das Andere des Selbst ist. Systematisch und historisch: Passivität denken mit Aristoteles, Leibniz und Heidegger Die systematische Entfaltung meiner These bedarf, wie bereits angedeutet, dreier Schritte: In einem ersten Schritt muss ich zeigen, dass die Ermöglichungsdimension, also das, was geistige Aktivität konstituiert und realisierbar macht, wesentlich passive Momente hat. Das kann mit Aristoteles geschehen. Denn bei Aristoteles findet sich eine ontologische Begründung von Passivitätserfahrungen: In mehreren Hinsichten ist Passivität hier unabdingbar für das, was Welt ist und wie der Geist sich darin verorten lässt. Passivität ist als Erleidensmöglichkeit wesentliche Bedingung für Werden und Vergehen in kinetischer Hinsicht, hier der Aktivität einer Einwirkung noch kausal entgegengesetzt. In metaphysischer Perspektive wird Passivität dann der Dimension der Möglichkeit zugeordnet, ohne die eine Aktualisierung nicht denkbar ist; vermögenstheoretisch wird Passivität wahrnehmungs- und affekttheoretisch relevant, ist aber auch für eine schlüssige Fassung des nous, des Geistes, der leidende und wirkende, ermöglichende und verwirklichende Momente hat, als eine Passivität sui generis konstitutiv. Im zweiten Schritt muss ich klären, wie bestimmte Erfahrungen von Passivität es erlauben, auf diese Konstitution zu reflektieren. Das tue ich mit Leibniz, denn mit Leibniz kann Passivität als Verhältnisbestimmung zu den unverfügbaren Fundamenten des bewussten Denkens subjektphilosophisch und epistemologisch ausbuchstabiert werden. Ontologisch wird Passivität hier also zwar auf eine verminderte Form der Aktivität der Substanz zurückgeführt: es geht neuzeitlich nicht mehr um einen objektiven Zustand von Passivität, welcher der Passivität denken A 31