GESUNDHEIT GESUNDHEIT HEILSAME Rituale Eine indische Lehre macht Furore – AYURVEDA. Mit medizinischen Therapien, gesunder Ernährung und Yoga hilft sie, Körper, Seele und Geist gesund zu erhalten. Und lindert chronische Beschwerden. Text Michelle Willi E ine Frau liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, Öl fliesst in einem gleichmässigen Strahl aus einem Gefäss über dem Kopf auf ihre Stirn und rinnt über den Scheitel. Der Stirnguss ist eine der bekanntesten Behandlungen des Ayurveda und wird als Symbolbild verwendet, wann immer von Ayurveda die Rede ist. Und das kommt häufiger vor denn je: Kaum ein Behandlungscenter, das nicht mit AyurvedaKuren wirbt, Hotels preisen Wochenendbehandlungen an, und Reiseveranstalter organisieren Pauschalreisen nach Indien, inklusive Ayurveda-Behandlung. Doch was ist Ayurveda eigentlich? Ein Wellnesstrend oder wirkungsvolle Medizin? «Wir Inder sind überzeugt, dass Ayurveda die älteste Heilkunde der Welt ist», sagt Manu Manikantan. «Der Wellnessaspekt kam erst im Westen dazu.» Manu Manikantan, 36, stammt aus Kerala in Südindien, wo er am staatlichen Ayurveda College studiert hat. Heute ist er im «Ayurveda Health Center» in Zürich tätig. Ayurveda ist eine traditionelle indische Heilkunst. Vor ➳ Ayurvedischer Stirnguss: Das warme Öl wirkt beruhigend und hilft etwa bei chronischen Kopfschmerzen. 80 Schweizer Familie 42/2015 Fotos: Jump Fotoagentur Schweizer Familie 42/2015 81 GESUNDHEIT GESUNDHEIT Traditionelle indische Heilkunst: Ayurveda wurde bereits vor 5000 Jahren angewendet. Massieren mit Ölen: Ein wichtiger Bestandteil einer AyurvedaTherapie. rund 3500 Jahren wurde die Wissenschaft in den alten Schriften, den sogenannten Veden, zum ersten Mal festgehalten. «Die Praxis geht aber weiter zurück», sagt Simone Hunziker, Gründungspräsidentin der Indo-Swiss Ayurveda Foundation, ISA. «Ayurveda wurde schon vor 5000 Jahren angewendet.» Simone Hunziker, 52, hat Medizin studiert und widmet sich seit über 15 Jahren dem Ayurveda. Ayurveda bedeutet in der altindischen Sprache Sanskrit «Wissen vom Leben»: «Ayus» bezeichnet das Leben, «Veda» das Wissen. «Ayurveda versteht sich als Medizin- und Wissenssystem, das dem Menschen zu guter Gesundheit verhilft und dadurch ermöglicht, sich zu verwirklichen», erklärt Simone Hunziker. «Die Prävention hat im Ayurveda die grössere Rolle als die Kurativmedizin, auch wenn letztere ebenso effizient ist.» Der menschliche Organismus wird in der Lehre als unzertrennliche Einheit von Körper, Seele und Geist verstanden. «Wir betrachten kein Organ, nicht einmal eine Zelle einzeln», sagt Manu Manikantan. «Denn der Körper ist ein Netzwerk, und alles ist miteinander verkabelt.» Bioenergetische Prinzipien Der Organismus setzt sich nach ayurvedischem Verständnis aus den Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther zusammen. Deren Kombination ergibt die drei Doshas, drei bioenergetische Prinzipien. Jeder Mensch vereint alle Doshas in sich, meist sind aber eines oder zwei vorherrschend und bestimmen dadurch den Konstitutionstyp (siehe Box Seite 84). Diese Veranlagung wird einem von Geburt an mitgegeben und äussert sich in individuellen Stärken, Schwächen, Be- «Wir betrachten kein Organ einzeln. Der Körper ist ein Netzwerk, alles ist miteinander verkabelt.» Manu Manikantan, Ayurveda-Experte 82 Schweizer Familie 42/2015 dürfnissen, Potenzialen und Neigungen. In einem gesunden Organismus befinden sich die Doshas im Gleichgewicht, und man ist gesund. Doch durch unpassende Ernährungs- und Verhaltensweisen, durch starke Emotionen und negative Erlebnisse kann die Balance gestört werden. Unwohlsein, Beschwerden und Krankheit sind die Folge. «Beim Ayurveda konzentriert man sich darum nicht auf die Symptome, sondern auf die Ursachen», sagt Simone Hunziker. «Wir versuchen, die Doshas wieder auszugleichen.» Ayurveda ist in den heiligen Schriften des Hinduismus verwurzelt. Man muss aber nicht religiös sein, um von einer Behandlung zu profitieren: «Man kann Ayurveda einfach als medizinisches System betrachten», sagt Manu Manikantan. Allerdings sei – wie bei allen medizinischen Behandlungen – die Bereitschaft nötig, sich darauf einzulassen. «Sonst nützt alles nichts.» Bei ihm suchen vor allem Frauen ab 35 Jahren Hilfe: «Frauen beugen eher vor, während die Männer oft erst kommen, wenn sie ein Problem haben», sagt er. Die meisten Patientinnen kommen, weil sie ihren Lebensstil opti- mieren wollen oder weil sie ausgelaugt sind, unter Schlaflosigkeit leiden, Verdauungsprobleme oder Angstzustände haben. Auch Übergewicht, rheumatische Beschwerden und Probleme während der Menopause sind Gründe für die Konsultation. Eine Ayurveda-Therapie beruht, vereinfacht gesagt, auf drei Säulen: den täglichen Ritualen, der Ernährung und der eigentlichen Behandlung. Am Anfang erfolgt eine umfassende Analyse, bei der unter anderem der Konstitutionstyp bestimmt wird. Dazu werden äussere Merkmale wie Haut und Haare, Zunge, aber auch Charakterzüge und allfällige Beschwerden betrachtet. Ausserdem kommen Puls- und Zungendiagnose zum Einsatz. Dadurch können Störungen in den Doshas festgestellt werden. Dann erstellt der Ayurveda-Spezialist einen Plan. Eine umfassende, medizinische Behandlung beginnt oft mit einer Reinigung, etwa mit einem Einlauf oder gar medizinischem Erbrechen. Diese Praktik wird vor allem in Indien angewendet, sie macht klar, wie wenig Ayurveda ursprünglich mit Wohlfühlmassagen bei Kerzenlicht zu tun hatte, wie dies heute bei vielen Pauschalangeboten der Fall ist. Aber auch im Westen ist der Reinigungsprozess wichtig. Jemand, der nach ayurvedischen Prinzipien lebt, beginnt seinen Tag, indem er ein Glas heisses Wasser trinkt, den Mund mit Sesamöl spült und sich kurz mit Öl massiert. «Das reinigt den Körper, bringt ihn in Schwung und sorgt für einen kraftvollen Start in den Tag», sagt Manu Manikantan. Oft folgen dann Yoga und Meditationsübungen. «Durch die Kombination von Ayurveda, Yoga und Meditation erreicht man den besten Effekt», sagt der AYURVEDISCHE ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN 1. Nur bei Hunger essen. 2. Die Hauptmahlzeit wird mittags gegessen, dann, wenn die Verdauung am stärksten funktioniert. 3. Es sollte nie in unruhiger Gemütsverfassung gegessen werden, etwa wenn man wütend ist. Auch nicht im Stehen oder in Eile. 4. Man sollte sich nicht völlig satt essen, ein Viertel des Magens sollte leer bleiben, um der Verdauung Platz zu geben. 5. Frische, der eigenen Konstitution, der Jahreszeit und der Umgebung Fotos: Plainpicture, AKG, Stock Food angepasste Lebensmittel sollten bevorzugt genossen werden. 6. Wasser (abgekocht, nicht kalt) und Kräutertee trinken. Aber nur wenn man durstig ist. 7. Es sollten keine natürlichen Bedürfnisse (Stuhlgang, urinieren, Winde, aufstossen, gähnen, weinen) unterdrückt werden. Zentraler Pfeiler in der AyurvedaLehre: Ausgewogene Ernährung. indischstämmige Ayurvedaspezialist. Wer Yoga ohne Ayurveda praktiziert, «macht nur Gymnastik». Ayurvedische Ernährung hingegen könne helfen, die innere Ruhe beim Yoga zu finden. Und Yoga und Meditation können wiederum dazu beitragen, die Doshas in Balance zu bringen. Gesundes Essen Ein zentraler Bestandteil der Ayurvedatherapie ist die Ernährung. Die Lebensmittel werden in drei Kategorien unterteilt: Sattva, Rajas und Tamas. Sattvische Lebensmittel sind leicht zu verdauen, bekömmlich und versorgen den Körper mit den notwendigen Nährstoffen. Dazu gehören unter anderem süsses Obst, gekochtes Gemüse, Salat, Reis, Hafer, Dinkel, Mandeln, Cashewnüsse und Gewürze wie Fenchelsamen, Anis, Petersilie und Basilikum. Rajasige Lebensmittel machen Körper und Geist eher unruhig, nervös und hyperaktiv. Saures Obst, Nachtschattengewächse wie Tomaten und Kartoffeln, scharfe Gerichte, weisser Zucker und Alkohol zählen dazu. Tamasige Lebensmittel machen nach ayurvedischer Lehre den Körper träge, sie entziehen dem Menschen Energie, machen gleichgültig und schwächen die Abwehrkräfte. Dazu zählen Zwiebeln, Knoblauch, Fleisch, unreife oder faule Nahrungsmittel, Tiefkühlkost, Alkohol und Weissmehlprodukte. Auch übermässiges Essen kann tamasig wirken. Diese drei Kategorien können grobe Richtlinien sein, wie eine gesundheitsfördernde Ernährung aussehen kann. Zu bevorzugen sind sattvische Lebensmittel, die das Wohlbefinden fördern. Es spielt aber nicht nur eine Rolle, was man isst, sondern auch in welcher Kombination. Verzehrt man etwa häufig Joghurt zusammen mit Früchten, können Hautausschläge die Folge sein. Aber auch hier gilt: «Jeder Mensch ist einzigartig und muss individuell betrachtet werden», sagt die Medizinerin Simone Hunziker. ➳ Schweizer Familie 42/2015 83 GESUNDHEIT Das gilt auch bei den Behandlungen, die eine Ayurveda-Therapie neben den täglichen Ritualen und der Ernährungsumstellung komplettieren. Eine davon ist der eingangs erwähnte Stirnguss. Das warme Öl hat eine beruhigende und ausgleichende Wirkung und wird bei chronischen Kopfschmerzen, Erschöpfung, Schlafstörungen und bei Augen- und Ohrenerkrankungen eingesetzt. Auch Massagen mit Ölen oder Pulver, Schwitzkuren und Behandlungen mit heissen Kräutersäcklein gehören zu einer Ayurveda-Therapie. Ausserdem verschreiben die AyurvedaSpezialisten Kräutermedizin, in Form von Pillen, Pulver, Tee und Tinkturen. Wer sein Leben auf diesen drei Säulen – Rituale, Ernährung und Behandlung – aufbaut, kann seine Energien in Fluss bringen und Krankheiten vorbeugen und heilen. Umstrittene Wirksamkeit Als Heilmittel für Beschwerden jedweder Art soll Ayurveda aber nicht verstanden werden: «Es ist eine Komplementärmedizin», sagt Manu Manikantan. «Nie würde ich meinen Patienten raten, eine schulmedizinische Behandlung abzubrechen.» Gerade bei schweren Erkrankungen wie Krebs gibt Ayurveda keine Heilsversprechen. «Aber zumindest kann es die Lebensqualität verbessern.» Ob Ayurveda wirkt, ist im Westen umstritten. Das Bundesamt für Gesundheit Geballte Ladung Wohlbefinden: Säckli, gefüllt mit Kräutern, helfen, die Lebensenergie in Fluss zu bringen. etwa beschäftigt sich bis heute nicht mit der Gesundheitslehre. Und wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von Ayurveda sind rar. Das liegt mitunter daran, dass viele Studien nach strengen wissenschaftlichen Forschungskriterien nicht genügend aussagekräftig sind. Allerdings konnte eine der führenden indischen Ayurveda-Institutionen, die Arya Vaidya Pharmacy in Coimbatore, in Zusammenarbeit mit amerikanischen Rheumaspezialisten belegen, dass Ayurveda bei Rheumatoider Arthritis gleich gute Resultate erzielte wie eines der am häufigsten eingesetzten Medikamente. Ohne Nebenwirkungen. Eine japanische Studie konnte ausserdem beweisen, dass der Stirnguss bei DIE DREI DOSHAS UND IHRE MERKMALE In der Lehre des Ayurveda unterscheidet drei Doshas, meist herrschen jedoch ein man drei bioenergetische Prinzipien, oder zwei Doshas vor und bestimmen genannt Doshas. Jeder Mensch hat alle den Konstitutionstyp. VATA Eher schlank, zartgliedrig, schwach ausgeprägte Muskeln; trockene Haut; Neigung zur Verstopfung; unruhiger Geist, aktiv, neugierig, ängstlich; spricht schnell und chaotisch; leidet oft unter Schlaflosigkeit. 84 Schweizer Familie 42/2015 PITTA Durchschnittlicher Körperbau; wohlgeformte Muskulatur; weiche, ölige, warme Haut; intelligenter, manchmal aggressiver Geist; gut strukturiert; Neigung zur Eifersucht; klare Sprache, starke Transpiration, leidet oft unter Hautleiden und Kreislaufproblemen. KAPHA Kräftiger Körperbau; stark ausgeprägte Muskeln, ölige, kühle, glatte Haut; ruhiger Geist; manchmal egoistisch und habgierig; langsame Sprache, bewegt sich langsam; Neigung zu Diabetes, Übergewicht. Angststörungen hilft. «Auch meine Erfahrung zeigt, dass Ayurveda bei chronischen und psychosomatischen Krankheiten gute Resultate erzielt», sagt Simone Hunziker. Die Nachfrage nach Ayurveda-Anwendungen steigt, und die Zahl der Praktizierenden nimmt stetig zu: Mittlerweile gibt es in der Schweiz rund 60 Ayurveda-Ärzte, 250 Ayurveda-Therapeuten und mehrere hundert Praktizierende, die im Wellnessbereich tätig sind. Seit diesem Jahr ist es möglich, in der Schweiz ein eidgenössisch anerkanntes Diplom als Naturheilpraktiker mit der Fachrichtung AyurvedaMedizin und als Komplementärtherapeut in Ayurveda-Therapie zu erlangen. «Die Anerkennung dieser Berufsbilder fördert die Zunahme von Praktizierenden zusätzlich», sagt Simone Hunziker. «Es ist aber wichtig, dass dieser Prozess langsam erfolgt und die Qualitätsstandards hochgehalten werden.» Aufgepasst mit Pillen aus dem Netz Doch genau bei der Qualität scheint es manchmal zu hapern: Ende August wurde in Deutschland ein Fall publik, bei dem eine deutsche Touristin nach einer Ayurveda-Behandlung in Sri Lanka beinahe gestorben wäre. Der Grund dafür waren mit Schwermetallen belastete Medikamente, die die Frau schluckte. Manu Manikantan arbeitet nur mit Heilmitteln, die überprüft und in der Schweiz zugelassen wurden. «Denn es kann sein, dass schlecht hergestellte Medizin tatsächlich mit Schwermetallen verunreinigt sind.» Darum rät er, niemals ayurvedische Medizin aus dem Internet zu bestellen. Und Vorsicht ist auch bei Behandlungen im Ausland angezeigt: «Seit ein paar Jahren ist ein grosser AyurvedaTourismus-Boom im Gange», sagt Simone Hunziker. «Es lohnt sich, die Angebote genau zu überprüfen.» Das bedeutet, abzuklären, ob die Behandelnden eine profunde Ausbildung haben. Und woher sie ihre Medikamente beziehen: «Man kann im Hotel oder Behandlungscenter jederzeit fragen, ob die Medikamente im Labor überprüft wurden und ob man die Bestätigung sehen kann», erklärt Manu Manikantan. «Das sollte so selbstverständlich sein, wie wenn man nach ● W-LAN fragt.» Fotos: Mauritius Images