Vom Maulen und Murren – 4 Mose 11,1-35 Wie soll man sich dieses Pfingstwunder vorstellen, dieses Herabkommen von Gottes Geist auf die Menschen? Zungenreden - ein Reden in anderen Sprachen: was heisst das anderes als ein Reden jenseits der üblichen Worte? Ein Reden für das es noch gar keine Regeln gibt, keine Grammatik, keine Vokabeln, die man lernen könnte. Ein Reden, das von Herz zu Herz geht wie wenn Liebende miteinander reden und dafür keine Worte brauchen. Das Wunder dieses Redens: dass es ein Verstehen gibt jenseits der Worte. Man sieht sich in die Augen und da ist kein Funken Misstrauen, nur Nähe und Einverständnis. Und diese Nähe und dieses Einverständnis geschieht nicht zwischen zwei Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen. Sondern es ist für alle spürbar. Für 12, für 100, für 1000 Menschen. Können sich tausend Menschen nahe sein, ohne dass das alles nicht doch wieder nur das übliche Massenereignis wird? So etwas kennt man ja auch: Fussballweltmeisterschaft, und dann diese neue Erscheinung von Massenveranstatungen: man verabredet sich übers Facebook oder über eine andere Internetseite und alle trinken miteinander, tanzen oder stürmen einen McDonald. Von überallher kommen sie aus ihren virtuellen Realitäten wie aus Löchern gekrochen und treffen sich an einem realen Ort, in einer französischen Kleinstadt oder in Zürich oder gar in Winterthur. Sie tauchen für ein paar Stunden unter in der anonymen Masse, in der Menschen sich offenbar gerne einmal verlieren. Wo die Grenzen verwischt werden und uns die Bürde unserer Individualität abgenommen wird. In einer wogenden Masse darf sich ein Mensch wenigstens für kurze Zeit einmal so spüren, wie er sich im Alltag nie spürt: eingetaucht in die Menge, verschmolzen mit vielen anderen, die man nicht kennt und nicht kennen muss. Ist das Pfingstwunder von Jerusalem vielleicht auch so etwas gewesen wie ein Boutellion? Immerhin haben manche von denen, die vorübergingen, die Ekstase der Jünger mit den Worten kommentiert: Die sind ja betrunken. Und Petrus begann seine Pfingstrede, indem er sagte: „Nein, wir sind nicht betrunken. Es ist ja erst 9.00 Uhr morgens.“ Nein, Pfingsten war wohl etwas anderes als diese merkwürdigen Erscheinungen, von denen wir befremdet in der Zeitung lesen. Aber Pfingsten war vielleicht so ähnlich. Denn wo immer der Mensch Teil einer entrückten, jubelnden Masse werden möchte, da packt ihn die Sehnsucht nach dem anderen, dem nicht Alltäglichen. Gott zu loben ist etwas nicht Alltägliches. Deshalb hat man den Sonntag eingeführt. Aber auch die, die längst nicht mehr in 1 eine Kirche gehen, wünschen sich manchmal mehr als das, was sie täglich erleben. Im Alltag sind sie mühselig und beladen und möchten darum für einmal wenigstens all das Belastende vergessen. Möchten Mühen und Lasten abschütteln. Wir Menschen wären nicht Gottes Ebenbilder, wenn in uns nicht eine Sehnsucht wäre, die über alles Irdische hinausgreift. Die Sehnsucht nach dem Himmel – so habe ich es letzte Woche genannt. Und Himmelfahrt liegt nicht von Ungefähr nur wenige Tage vor Pfingsten. Himmelfahrt und Pfingsten – der Himmel und Gottes Geist – beides sind ziemlich luftige Tage, luftige Bilder – und sie weisen auf etwas, was jenseits von allem liegt und einmal geschehen wird. Die ersten Menschen, die in Jesus die selig machende Wahrheit erkannt haben, hatten die Propheten gelesen. Joel, einer der so genannten kleinen Propheten, der hatte geschrieben, was in den letzten Tagen geschehen würde. „Es kommt die Zeit“, sagt Gott, „da werde ich meinen Geist ausgiessen über alle Menschen. Eure Männer und Frauen werden dann zu Propheten; Alte und Junge haben Träume und Visionen. Sogar über die Knechte und Mägde werde ich zu jener Zeit meinen Geist ausgiessen.“ Das würde in den letzten Tagen geschehen: das heisst, wenn die Menschheitsgeschichte zu Ende geht. An der Schwelle einer neuen, ganz anderen Zeit. Dann würde Gott seinen Geist über die Menschen ausgiessen. Für die Jünger in Jerusalem war es damals, zu Pfingsten vor 2000 Jahren so weit: Die Prophezeiung des Joel war eingetroffen. Jetzt konnte die Geschichte der Menschheit zu Ende gehen. Die letzte Wahrheit war ausgesprochen. Jesus Christus war die letzte Wahrheit, die erste und die letzte Wahrheit. Ihn zu bekennen, dass hiesse, Gott zu kennen, so wie es der Prophet Joel geschrieben hatte: „Alle, die sich zu mir bekennen und meinen Namen anrufen, werden gerettet.“ Und Rettung würde nötig sein in diesen letzten Tagen. Denn die neue Zeit würde nicht kommen ohne Gericht, ohne Flammen und Rauchwolken, ohne dass sich die Sonne verfinsterte und der Mond in Blut getaucht wäre. Das Geistwunder der letzten Tage, mit dem die neue Zeit anheben sollte – wäre der Auftakt einer Katastrophe und erst nach der Katastrophe und durch sie hindurch würde der Himmel auf Erden, die neue Zeit, anbrechen. Und nun sind 2000 Jahre Geschichte dahin. Das Geistwunder ist in die Jahre gekommen. Es hat viele Katastrophen gegeben, aber keine, die die Menschheitsgeschichte beendet hätte. Es hat Flammen und Rauchwolken gegeben, aber keinen Gott, der sich der Menschheit als Richter gezeigt hätte. Und so lässt der Himmel immer noch auf sich warten. Aus der Jerusalemer Urgemeinde ist eine Kirche geworden, eine Religion, die zwar ihren Stifter nicht 2 vergessen kann. Aber niemand redet mehr in Zungen. Die Worte, die Bekenntnisse sind alt geworden. Man merkt ihnen die Jahrhunderte an, und nur selten springt der Funke der Begeisterung über. Und auch die Einigkeit der ersten Jahre, diese Nähe, dieses wunderbare Einverständnis unter Menschen, die sich fremd waren – auch die hat aufgehört. Wir wissen längst: Das Pfingstereignis von damals hat nicht das Ende der Geschichte eingeläutet. Es ist weitergegangen, und es wird wohl auch jetzt noch eine Weile weitergehen. Und wenn wir einmal in unserem Leben Gottes Geist so übermächtig erfahren, dass sich die üblichen Worte erübrigen und nur noch Jubel im Herzen ist, auch dann wird es wohl irgendwann wieder ganz normal weitergehen. Mögen die Flammen des Geistes noch so sehr in uns hochschlagen, früher oder später sind wir doch wieder irdisch-abgekühlt, mit einer Hoffnung, die nüchtern bis wohltemperiert ist. Auf der Erde sind wir, nicht im Himmel. In Erwartung von Gottes Geist, doch besitzen tun wir ihn nicht. Und weil das so ist, lege ich Ihnen heute eine andere Pfingstgeschichte ans Herz. Nämlich die aus dem 4. Buch Mose. Sie ist für Menschen geschrieben, die noch nicht angekommen sind. Für Menschen, die auf dem Weg sind und dabei nicht immer Einigkeit erfahren. Für solche, die sich die Nähe zueinander und die Nähe zu Gott manchmal unter Schmerzen wünschen. Denn sie merken, es gibt da auch Misstöne und Durstrecken. Es ist eine Geschichte für Menschen, die darunter leiden, dass Christinnen und Christen nicht nur jubeln und Gott loben, sondern untereinander auch viel murren und maulen. Ihnen also eine Pfingstgeschichte für Wüstenwanderer. Denn das sind wir. Wüstenwanderer zwischen Himmel und Erde. So also geht die Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind durchaus möglich. Denn so spielt das Leben. 40 Jahre lang sind die Israeliten durch die Wüste gewandert - geführt von einem einzigen Mann, Mose, und seinem Gott. Die Wüstenwanderung war kein Maibummel. Immer wieder brannte es irgendwo. Immer wieder musste ein Feuer gelöscht werden. Darum bestand eine von Moses wichtigsten Aufgaben darin, Krisen zu managen. Die grossen Visionen vom gelobten Land würden warten müssen. Denn erst einmal ging es darum, in geduldiger Kleinarbeit Tag für Tag die Herde zusammenzuhalten. Es ging darum, Schwelbrände aufzuspüren und kleine Feuer zu löschen. Denn Menschen sind Herdentiere. Jeder einzelne ein anspruchsvoller Individualist und alle zusammen eine unberechenbare Naturgewalt. 3 Und so führte Mose die Israeliten durch diese Wüste: Durch diese karge Landschaft mit ihrer kilometerweiten Einsamkeit. Man war weit weg von den Herren und Sklavenhaltern, die hatte man in Ägypten zurückgelassen. Aber die neu gewonnene Freiheit war nicht Freiheit, in der jeder tun und lassen konnte, was er wollte. Geht ja auch gar nicht, wenn das Überleben in dieser Wüste davon abhing, beieinander zubleiben und einen gemeinsamen Weg zu finden. So war die neu gewonnene Freiheit gleich wieder begrenzt. Man musste Rücksicht nehmen auf die vielen anderen, die mittrabten. Und man musste die Führungsposition eines Menschen anerkennen, den man sich nicht ausgesucht hatte. Gott hatte den Israeliten diesen Mose sehr undemokratisch vor die Nase gesetzt. Und überhaupt – diesen Gott kannten die meisten nur vom Hörensagen von so merkwürdigen Erscheinungen sah wie Feuerschein und Wolke. Und dann dieses Manna, dieses Wüstenbrot, das aussah wie Koriandersamen. Es fand sich jeden Morgen wie Raureif auf der Wiese und es wurde schlecht, wenn man es aufbewahrte. Es machte alle satt, aber satt sein ist nicht alles, und irgendwann erinnerte man sich an die Früchte des Kulturlandes, das man zurückgelassen hatte. Es war eben doch nicht alles schlecht, damals in Ägypten. Kinder, Erwachsene, Alte – die ganze Familie, die ganze Sippe, das ganze Volk ass tagaus, tagein Manna – sie hatten aller immer denselben süsslichen Geschmack im Mund. Und in der Nacht träumten sie von Gurken und Melonen, von würzigen Zwiebeln und der charakteristischen Schärfe des Knoblauchs – und mitten drin ein Stück Lammfleisch, ein gebratener Fisch, ein Pouletschenkel. Und wenn sie morgens aufwachten, den Geschmack vergangener Festmahle noch fast auf der Zunge – dann war da doch wieder nur Manna. Gut, man war versorgt. Aber man hatte Fragen. Wozu das alles? War das Leben jetzt besser? So stelle ich mir vor, werden einzelne Leute am Rande des Lagers gefragt haben. Und ihre Fragen sind nicht unbemerkt geblieben hinter ihren Zeltwänden. Diese Fragen haben die Runde gemacht, haben hier und da ein kleines Feuer entzündet und das ganze Experiment „Wüstenwanderung“ in Frage gestellt. Am Anfang war ein Murren. Murren, so heisst das biblische Wort, ein schönes, lautmalerisches Wort: Eine Tür knarrt, ein Volk murrt. Gemurmel läuft durch die Reihen. Einzelne Worte lassen sich nicht unterscheiden. Man hört nur ein Geräusch, das zuerst ganz leise ist – so als wollten die Stimmen zunächst unter sich bleiben. Und erst, wenn sie merken, dass sie nicht allein sind, bilden sie eine Koalition, murmeln und murren und maulen miteinander. Und das Geräusch schwillt an. Wird so aggressiv wie das Summen eines 4 Bienenschwarms, der zum Angriff übergeht. Und wehe dem, der solchem Murren und Maulen als einzelner gegenübersteht! Als Mose dieses Murren hörte, wurde es ihm zu viel. Vielleicht weil er den Einwand der Israeliten nun wirklich nicht verstand: was ist schon Essen und Trinken im Vergleich zu höheren Werten wie Freiheit und Menschenwürde? Was ist schon dieser Ruf nach Abwechslung und billiger Unterhaltung des Gaumens gegenüber dem Wunder, in der Wüste überleben zu können – weil Gott mitgeht? Vielleicht hatte Mose dieses Murren auch schon zu oft gehört. Vielleicht hatte er schon zu viele Krisen managen und zu viele Feuer löschen müssen. Jedenfalls verdross es ihn. Und er beschwerte sich sozusagen auf dem Dienstweg nach oben. „Was habe ich mit diesem Volk zu tun?“ rief Mose zu Gott. „Ich habe mich nicht um den Auftrag gerissen, all diese Leute durch die Wüste zu führen. Du hast sie mir in die Arme gelegt, wie man einer Amme ein Kind in die Arme legt. Aber ich war nicht schwanger mit ihnen und habe sie auch nicht geboren. Was habe ich für eine Verpflichtung diesen Menschen gegenüber? Was gehen sie mich an? Ich will nicht mehr!“ Jetzt ist die Krise wirklich da. Jetzt braucht es Gott selbst als Krisenmanger. Und was macht Gott? Er sagt zu Mose: Ich nehme von den Geist, den ich dir gegeben habe, und gebe diesen Geist an 70 Personen weiter. Mit anderen Worten, Gott sagt: „Nimm dein Charisma nicht zu persönlich. Dein Charisma, Menschen durch Wüsten zu führen, ist nicht dein persönlicher Privatbesitz. Deine Begabung, Menschen zu führen, ist übertragbar! Teile diese Begabung! Teile deine Verantwortung, teile deine Macht und teile deine Last mit anderen Menschen, und schon geht es der ganzen Herde besser. Du wirst sehen. Du musst überhaupt nicht ständig einsam in der Schusslinie der Kritik stehen. Andere werden dir helfen, das Murren und Maulen der Menschen mit zu tragen.“ Das ist übrigens der Grund, warum die methodistische Kirche BLFs hat. Oder überhaupt den Gedanken wertschätzt, dass Laien und Pfarrpersonen miteinander Gemeinde leiten. Item. Dann hat Gott noch etwas getan. Er hat den Israeliten das ersehnte Fleisch tatsächlich gebracht. Aber Achtung! Gott erfüllte ihnen ihren Herzenswunsch, und zugleich verdross es ihn. Deshalb gab er ihnen so lange so viel Fleisch, bis es ihnen zuletzt zum Halse heraushing. Auch Gott fiel es offenbar schwer, das Murren und Maulen der Menschen nicht persönlich zu nehmen. Sogar Gott litt darunter, dass sie Zwiebeln und Knoblauch mehr ersehnten, als Freiheit und Menschenwürde. Sogar Gott hatte daran zu knabbern, dass er es seinem Volk nie 5 ganz recht machen konnte. Und das finde ich ungeheuer tröstlich. Denn es zeigt mir: Murren und Maulen mögen zwar dazu gehören, aber man darf auch darunter leiden. Man darf sich darüber ärgern. Und gehört trotzdem noch zusammen. Oder wie ein besonders weiser Zeitgenosse, der Lehrer und Schriftsteller Peter Bichsel es ausdrückt: „Meine Heimat ist da, wo mein Ärger ist.“ Wenn Ihr euch einmal über mich ärgert oder ich mich über euch, dann sollte uns rechtzeitig dieser Satz einfallen: „Meine Heimat ist da, wo mein Ärger ist.“ Der springende Punkt ist für mich, dass Menschen eben dies alles drauf haben, und dass Gottes Geist all diese Facetten nicht unterdrückt, sondern sichtbar macht: Da gibt es die, die führen und leiten. Und wenn sie es gut machen, stehen sie immer wieder an jenem kritischen Punkt, wo sie am liebsten alles hinwerfen würden. Und wenn sie es dann noch ein Stück besser machen, dann lassen sie sich helfen und teilen ihre Aufgaben mit anderen. Und da gibt es die, die sich lieber führen lassen. Manchmal sind sie ganz still und laufen mit. Manchmal träumen sie heimlich alten Zeiten hinterher und vergessen ganz, dass früher eben doch nicht alles nur gut gewesen ist. Und manchmal lassen sie sich mitreissen, wenn hier und da ein Murren und ein Maulen laut wird. Das muss wohl so sein. Alle Einmütigkeit, alle Einstimmigkeit ist nur sehr kurze Zeit möglich. Es sei denn, wir sind wirklich schon jenseits der grossen Katastrophe am Ende der Menschheitsgeschichte. Bis dahin sind wir immer wieder auch einfach bloss Menschen. Ich denke, Menschen, die nicht mehr murren und maulen, müssen entweder tot sein oder sie sind schon im Himmel. Dazwischen, auf dieser Erde, ist Wüstenzeit. Aber eines sollte unser Trost sein: Gott und Israel waren einander nie so nahe, wie damals, als sie zusammen durch die Wüste gingen. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft … 6