zuerst erschienen in: NeuevZeitschrift für Musik 6/2011 © Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany stimmen im raum MARK POLSCHERS «THE POMEGRANATE TREE» IM NEUBAU DES STAATLICHEN MUSEUMS ÄGYPTISCHER KUNST IN MÜNCHEN VON SIBYLLE KAYSER Den Begriff «Klanginstallation» mag Mark Polscher für seine Arbeit The Pomegranate Tree nicht verwenden, denn, so der Komponist; «sie basiert auf einer Linearität, einer gewissen Gerichtetheit, die den Besucher von Raum zu Raum führt». Polscher bevorzugt die Bezeichnung «installierte Komposition» für die Musik, Klänge, Stimmen und Geräusche, die am 14. Oktober diesen Jahres erstmals aus 64 Lautsprechern, verteilt auf 13 Räume des Staatlichen Museums Ägyptischer Kunst in München, ertönten. in weiteres Charakteristikum, das The Pomegranate Tree zu einer Komposition macht, ist die definierte Dauer: nach 63 Minuten ist Schluss. The Pomegranate Tree ist eine Auftragskomposition für den Neubau des Museums, der noch immer leer steht. Die Einweihung ist erst für das Jahr 2013 geplant. Weshalb die Uraufführung bereits jetzt stattfand, erklärt Carsten Gerhard, Pressereferent des Ägyptischen Museums in München: «Wir wollten dieses Haus schon jetzt bespielen, um es im Herzen der Bevölkerung als Kunstort zu veran- E 48 kern. Vor einigen Jahren hat das Museum eine Ausstellung zu altägyptischer Literatur präsentiert mit dem Titel ‹Stimmen vom Nil›, und wir dachten, es wäre doch toll, wenn wir diese Stimmen in die leeren Räume bringen könnten, noch bevor die Exponate diese Räumlichkeiten erobern. Daraufhin wurde ein Komponist gesucht, der sich für diese Idee begeistern ließ.» Der Komponist Mark Polscher ließ sich begeistern. Eineinhalb Jahre lang beschäftigte er sich mit der ägyptischen Kultur, studierte altägyptische Texte, ließ sich die Ex- ponate des Museums erklären wie auch die inhaltliche Konzeption der 13 Ausstellungsräume des Neubaus, einem Werk des Kölner Architekten Peter Böhm. «Ich war regelmäßig auf der Baustelle», so Polscher, «um ein Verhältnis zu den Räumen zu bekommen und auch zu dem Material; hier ist Beton vorherrschend, es kommt noch Glas dazu, wenn die Vitrinen eingebaut werden.» Die unterschiedlichen Ausmaße der Ausstellungsflächen, die verschiedenen Deckenhöhen sowie die Tatsache, dass nicht alle Bereiche der Sammlung auf einer Ebene an- n KLANGKUNST gelegt sind, brachten Polscher auf die Idee, das Spiel mit den Räumen zum integralen Bestandteil seines Stücks zu machen: «Die Lautsprecherkomposition ist 64-kanalig, es ist also aus jedem Lautsprecher etwas anderes zu hören. Das musikalische Material setzt sich so zusammen, dass es nicht nur über Richtungen wahrgenommen wird, wie das in der elektronischen Musik seit langem gemacht wird – rechts, links, oben, unten –, sondern auch über Distanzen. Das heißt, viele akustische Ereignisse kommen aus ganz anderen Räumen und haben eine unterschiedliche Tiefe, sie bewegen sich auch von fern nach nah auf einen zu, je nachdem wie sich der Besucher bewegt. Das liegt daran, dass die Räume zwar als Gestalt geschlossen wirken, es aber offene Durchgänge gibt und dadurch Klänge und Geräusche aus den anderen Räumen zu hören sind.» ÜBERDIMENSIONALES HÖRSPIEL Polschers Komposition weist zwei inhaltlich-ästhetische Schichten auf: Die erste Schicht ist – quasi als Fundament – das ganze Stück über präsent und kann in jedem Raum wahrgenommen werden. Diese sehr transparent gehaltene, den Besucher in eine konzentrierte Grundstimmung versetzende Klangbasis wurde vom Komponisten in sieben Abschnitte unterteilt, jeder mit einer Dauer von neun Minuten. Sieben mal neun Minuten ergibt 63 Minuten, also die Gesamtdauer des Stücks. Über dieser allgemeinen Klangebene implementierte Polscher 13 individuelle akustische Ereignisse, von denen jedes Ereignis auf jeweils einen der 13 Ausstellungsräume und die darin (in Zukunft) gezeigten Ausstellungsobjekte zugeschnitten ist. «Auf der so genannten zweiten Ebene meines Kompositionsschemas sind dann die altägyptischen Texte mit in die Komposition eingeflossen», erklärt Polscher. «Ich suchte mir aus einem großen Fundus Texte aus, die ich mit Schauspielern aufgenommen und dann bearbeitet, editiert, zu kleinen szenischen Dramen geschnitten habe, die jeweils in den einzelnen Räumen gespielt werden. Sowohl die Exponate wie auch die textlichen Quellen habe ich hauptsächlich dahingehend untersucht, welche Bedeutung sie für uns Menschen heute haben können. Es überrascht nicht, dass eine so hochstehende Kultur wie die altägyptische auch die grundlegenden existenziellen Fragen des Menschen erörtert hat: Liebe, Tod, Krieg, Frieden. In Raum 3 zum Beispiel habe ich Ausschnitte vom ersten Friedensvertrag der Welt verwendet, dem Vertrag von Kadesch, der auch als Skulptur vor dem UNO-Gebäude in New York steht.» In dieser Konzeption übernehmen die Stimmen die Aufgabe, den Museumsbesucher von Raum zu Raum zu führen. Sie tauchen aus den feinen Geräuschen und Klanggebilden auf, meist als ein Flüstern, wie Stimmen aus dem Jenseits und erzählen Jahrtausende alte Geschichten. Das Ganze wirkt wie ein überdimensionales Hörspiel, konzipiert für ein 2400 Quadratmeter großes, unterirdisches Museum, dessen mächtiges Eingangstor an den zugleich imposanten wie auch verbotenen Zugang zu einem Pharaonengrab denken lässt. KLANGKONTRAST: HOLZ GEGEN BETON Obwohl es sich bei The Pomegranate Tree um eine elektronische Komposition für Lautsprecher handelt, betont Polscher seine traditionelle Arbeitsweise: «Ich komponiere mit Bleistift und Papier. Es sind sehr viele Skizzen entstanden, weil ich die zugrunde liegende Form im Überblick haben muss. Ich muss mich da auskennen wie in einem dunklen Haus, in dem ich mich ohne Licht bewege. Es handelt sich hier um eine grafische Partitur, wenngleich ich melodieartige Gebilde und rhythmische Stellen in der traditionellen Form notierte. Die Aufnahmen erfolgen natürlich digital mit dem Computer im Studio, wie zum Beispiel die Stimmen der Schauspieler, die für mich die Texte eingelesen haben. Die Musik und die Geräusche basieren bis auf wenige Ausnahmen auf konkreten Geräuschen, also Samples, die ich selbst modifiziert und bearbeitet habe. Als Klangquellen konzentrierte ich mich – im Kontrast zum Beton dieser Räume – auf Materialien der Natur, also auf Holz und Eisen. Daraus sind dann verschiedene Klangfarben entstanden.» Nach der fertigen Ausarbeitung der Partitur wurde das 64-kanalige Stück gemischt, also an die akustischen Bedingungen des Museums angepasst. Im Klartext heißt das: Für jeden der 64 Lautsprecher musste für jeden Moment die tatsächliche Lautstärke, die wahrnehmbare Zusammensetzung der Klänge und Geräusche sowie der gesprochenen Texte eingestellt werden. Dafür verbrachte Polscher drei Wochen im Museum, vorwiegend nachts, wenn es auf der Großbaustelle ruhig war: «Diese Räume sind schon anders. Das Museum bleibt eine höchst sensible Angelegenheit. Man braucht eine ge- wisse Zeit, um sich auf die Räume einzulassen, und es ist ein großer Unterschied, ob es draußen hell oder dunkel ist, ob viele Leute im Museum sind oder nur ein paar.» VORLÄUFIGE FASSUNG Dem Komponisten ist durchaus bewusst, dass es sich bei der hier uraufgeführten Fassung noch nicht um die endgültige Erscheinungsform handeln kann: «Es wird sicherlich eine Nachmischung geben, wenn die Objekte und die Vitrinen eingerichtet sind.» Die Uraufführung, bei der sich die Organisatoren über reges Interesses freuen konnten, offenbarte hier tatsächlich Nachbesserungsbedarf: Die harten Betonböden, -decken und -wände verstärken alle Nebengeräusche in einer für diese schemenhaftflüchtige Musik fatalen Weise. Wenn das Klappern von Stöckelschuhen oder ein herzhaftes Schnäuzen die Lautsprecher übertönen, dann führt das beim Besucher zu Verunsicherung oder gar Frustration, weil er der Komposition nicht mehr folgen kann. Natürlich bleibt abzuwarten, ob und wie sich die akustischen Verhältnisse verändern, wenn die Ausstellungsstücke in ihre Vitrinen und Schaukästen eingezogen sind. Die Frage nach einer möglichen Konkurrenzsituation der Musik zu den später ausgestellten Objekten oder etwaigen Erläuterungstexten stellten sich nach eigenen Angaben weder der Komponist noch die Auftraggeber. «Schließlich,» so Carsten Gerhard, «wird die Komposition immer nur in einer Konzertsituation aufgeführt, also zu angekündigten Zeiten. Es geht um einen sinnlichen Zugang zu den Exponaten.» Sollte die Überarbeitung im schließlich bezogenen Hause gelingen, dürfte sich München tatsächlich einer völlig neuen Art der Kunstvermittlung rühmen, die auf beeindruckend undidaktische Weise zu einer Auseinandersetzung mit den Inhalten der Ausstellung einlädt. Musik als Katalysator, Seelenschau im Bauch der Erde. n n INFO Kontakt n Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, Museum Hofgarten 1 (in der Residenz) www.aegyptisches-museum-muenchen.de Aufführungen n Weitere Aufführungen von The Pomegranate Tree sind im Rahmen der eigentlichen Museums-Eröffnung (voraussichtlich Frühjahr 2013) geplant. Bis mindestens 2015 werden regelmäßige Wiederaufführungen stattfinden. 49