B I B E L U N D T H EO LO G I E 21 „Der Herr kennt die Seinen“ „Die Übrigen“ und die anderen G G egen Ende unseres Theologiestudiums auf dem Seminar Marienhöhe sollten wir unser „Gesellenstück“ abliefern. Deshalb luden wir zu einer öffentlichen Vortragsreihe in Frankfurt ein. „Dein Leben kann noch einmal beginnen“, prangte es an Litfasssäulen, Schaufenstern und Autotüren. Zu einem bewussten Leben gehören klare Entscheidungen. Dazu wollten wir einladen – vor allem am letzten Abend. Als dem Jüngsten in der Klasse fiel mir diese Aufgabe zu. Nicht, weil die anderen es so von mir erwartet hätten – mich selber reizte die Herausforderung, über die Lebensentscheidung für Jesus zu predigen. So kam es, dass ich als Letzter in der Reihe meinen ersten evangelistischen Vortrag hielt. Bei der Suche nach einem passenden Text wurde ich schnell fündig: das Gottesurteil auf dem Karmel! Drei Jahre lang hatte sich Elia vor Ahab versteckt, der ihn überall suchen ließ. Doch jetzt forderte der Prophet den König zur offenen Konfrontation heraus. Auf dem Karmelgebirge sollte die Entscheidung fallen. Wer ist der wahre Gott? Der kanaanäische Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Baal oder Jahwe, der Gott Israels? Eine Frage, die – unter anderem und neuen Namen – auch heute noch nach einer Antwort verlangt. Die Kräfte in dieser Auseinandersetzung waren äußerst ungleich verteilt. Hier der König mit seiner bewaffneten Leibwache, flankiert von 850 seiner Propheten, dort der Gottesmann Elia, ganz allein auf weiter Flur. „Ich bin allein übrig geblieben“ (1 Kön 18,22), klagt er vor dem wankelmütigen, schweigenden Volk, das sich erst zum Schluss auf die Seite des Gewinners schlagen würde. Der Rest ist Geschichte und schnell erzählt. Ein Blitzschlag, buchstäblich aus heiterem Himmel, entzündet und verbrennt den mit Wasser völlig durchtränkten Opferaltar und macht auf diese Weise unübersehbar deutlich, wer der Herr im Hause Israels ist. Erst jetzt ist das Volk bereit, sich auf seine Seite zu stellen: „Jahwe ist Gott, Jahwe ist Gott!“, rufen sie aus. Für die Baalspropheten bedeutet dies das Todesurteil – Elia hat auf der ganzen Linie gesiegt. Gott hat sich als Herr über die Naturgewalten erwiesen. Bald darauf prasselt der Regen vom Himmel herab … Im Wissen über den glücklichen Ausgang der Auseinandersetzung zwischen den falschen Göttern und dem lebendigen Gott – sollte uns da die Entscheidung für unseren Schöpfer und Herrn noch schwer fallen? 13n n Einmal als glänzender Sieger dastehen – davon träumen viele Menschen. Sieger fühlen sich jedoch häufig sehr einsam – wie Elia nach dem Sieg auf dem Karmel. „ICH BIN ALLEIN ÜBRIG GEBLIEBEN“ Was mich an der Geschichte besonders fasziniert, ist der Umstand, dass in dieser „Einer 3/2006 ADVENTECHO 22 B I B E L U N D T H EO LO G I E Adventisten verstehen sich nicht als die einzig wahre Kirche. Schon früh erklärten sie, „dass Gott seine Leute überall dort hat, wo Menschen dem Licht, das sie haben, gehorchen“. Erfahrung der ersten Christen, die im römischen Reich Verfolgung und Tod erlitten. Im 19. Jahrhundert befanden sich die frühen Adventisten in einer vergleichbaren Lage. Je entschiedener sie die bevorstehende Wiederkunft Jesu verkündeten, desto mehr gerieten sie ins gesellschaftliche Abseits. Schließlich kam es zum Bruch mit den Kirchen, die in ihnen religiöse Fanatiker sahen. Millers Anhänger dagegen verstanden sich als „die Übrigen“ von Gottes Volk, die dem endzeitlichen Babylon – den (ab)gefallenen Kirchen – widerstanden. Als sich nach der großen Enttäuschung von 1844 eine kleine Gruppe sabbathaltender Adventisten bildete, bezeichnete sie sich als „kleine Herde“ und „versprengter Überrest“ der Adventbewegung. Erst nach und nach wurde ihnen bewusst, dass das „ewige Evangelium“ – die gute Nachricht vom Gericht Gottes und vom Heil in Christus – noch einmal in die ganze Welt getragen werde sollte, um Menschen aus „allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern“ aus dem endzeitlichen Babylon in Gottes letzte Gemeinde zu rufen (Offb 14,6f.; 18,4). In diesem Sinne heißt es in den adventistischen Glaubensüberzeugungen: gegen alle“-Situation der aussichtslos erscheinende Kampf Elias gegen eine erdrückende Übermacht von durchschlagendem Erfolg gekrönt ist. Meist geht es im Leben ja anders zu. Wer die Macht besitzt, setzt sich durch – egal wie. Widerstand ist zwecklos. Viele Menschen machen Erfahrungen von Ohnmacht und Unterlegenheit, und hoffen insgeheim auf die große Wende: einmal im Leben ganz obenauf sein, einmal von allen geliebt (oder auch gefürchtet) ie weltweite Gemeinde setzt sich zusammen werden, einmal als glänzender aus allen, die wahrhaft an Christus glauben. Sieger dastehen! Kein Wunder, Doch in der letzten Zeit, einer Zeit weit verdass Bücher, Comics, Filme, breiteten Abfalls, ist eine Schar der Übrigen Videos und Computerspiele das Motiv des einsamen, aber herausgerufen, um an den Geboten Gottes festsiegreichen Helden in unzähzuhalten und den Glauben an Jesus zu ligen Varianten behandeln. Allbewahren. Diese Übrigen weisen darauf hin, machtsphantasien zum Zwecke dass die Stunde des Gerichts gekommen ist, seelischen Druckausgleichs? Auch die Bibel berichtet verpredigen, dass es Erlösung durch Christus gibt, schiedentlich von Menschen, und verkündigen das Herannahen seiner die allein auf sich gestellt waren Wiederkunft. Die drei Engel in Offenbarung 14 oder als unterlegene Minderheit standhaft blieben und dafür am sind Sinnbild dieser Verkündigung. Sie geht Ende reich belohnt wurden. einher mit dem Gerichtsgeschehen im Himmel Noah, Josef, Gideon, Elia, Daniel und führt auf Erden zu einer Bewegung der Buße und seine Freunde, Petrus und und Erneuerung. Jeder Gläubige ist aufgefordert, Johannes, Paulus und andere. Die wunderbare Befreiung der sich an diesem weltweiten Zeugnis persönlich zu Israeliten aus Ägypten und ihre beteiligen. („Glaubensüberzeugungen der glückliche Rückkehr aus der baSiebenten-Tags-Adventisten“, Nr. 13n) bylonischen Gefangenschaft gehören ebenso dazu wie die D ADVENTECHO 3/2006 B I B E L U N D T H EO LO G I E WER SIND „DIE ÜBRIGEN“? Im letzten Buch der Bibel werden mehrere Grundthemen der Heiligen Schrift noch einmal aufgegriffen und miteinander verwoben, z. B. das Heiligtum und die Anbetung, Babylon und Jerusalem, das Auftreten des Antichrist und die Wiederkunft Jesu. Auch das bekannte Leitthema vom Überrest, der dank der göttlichen Gnade dem Untergang entgeht (1. Mose, Amos), von den Treuen, die dem sittlich-geistlichen Verfall im Volk Gottes widerstehen (Könige) und vom heiligen Rest der letzten Zeit (Jesaja) findet sich hier wieder. In prophetischer Schau werden sie als „die Übrigen“ bezeichnet, die nach Gottes Geboten leben und sich zu Jesus Christus bekennen (Offb 12,17; 14,12). Lässt sich Näheres darüber sagen, um wen es sich handelt? Wie immer erklärt auch hier der Zusammenhang das Gesagte bzw. Gemeinte. Nachdem es dem Drachen (Satan) nicht gelungen war, den Sohn der Frau (den Messias-Christus, der aus Gottes Volk kam) zu vernichten (er wurde „entrückt zu Gott und seinem Thron“), richtete er seine Wut gegen ihre übrigen Nachkommen (wörtl.: „die Übrigen ihres Samens“), also die anderen Kinder der Frau (Offb 12). Paulus bezeichnet das himmlische Jerusalem als „unsere Mutter“, die Gläubigen als deren Kinder (Gal 4,26.28). Johannes hört ihre Symbolzahl (12 x 12.000) und sieht eine unübersehbare Menschenmenge „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“, die niemand zählen kann (Offb 7). „Sie kommen aus Verfolgung, Leid und Bedrängnis“, erfährt er (7,14 Hfa). Doch sie sind versiegelt – sie gehören Gott und stehen unter seinem Schutz (Offb 14,1ff.). Nur sie haben Zugang zur heiligen Stadt (Offb 21f.). So paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag: „die Übrigen“ sind nicht ein kleiner Rest, sondern eine riesige Menge. So bezeichnete Paulus den christusgläubigen „Überrest“ seines Volkes als „das ganze Volk Israel“ (Rö 11,5.26) und verband damit seinen Traum von der endzeitlichen Bekehrung der Juden (Rö 11,5.25.26). SiebentenTags-Adventisten sind noch dabei, ihre ursprüngliche, kurzsichtig-verengte Auffassung von der „kleinen Schar“ verfolgter und versprengter Sabbathalter der weitsichtigen „Offenbarung Jesu Christi“ anzugleichen. „ICH WILL 7000 ÜBRIG LASSEN“ Adventisten bezeichnen sich gern als „die Gemeinde der Übrigen“ (eine Splittergruppe sogar als „Gemeinschaft der Übrigen, e. V.“) – fast so, als handele es sich bei den Visionen der Offenbarung um die Beschreibung einzelner Kirchen oder Konfessionen. Doch der „Leib Christi“ ist mit keiner „Die Übrigen“ im Neuen Testament Der griechische Begriff (hoi loipoí) bedeutet wörtlich „die anderen“. Er beinhaltet stets eine Gegenüberstellung (die einen – die anderen). Der Gedanke an einen kleinen Überrest haftet ihm nicht an. Oft bezeichnet er sogar die Mehrheit anstelle der Minderheit. Nicht selten steht ein Einzelner einer weitaus größeren Gruppe von anderen – „den übrigen“ – gegenüber. Mt 25,10f.: die klugen Jungfrauen – die anderen (törichten) Jungfrauen Mk 16,12f.: die zwei Emmausjünger – die anderen Jünger Jesu Lk 8,10: die Jünger Jesu – die anderen Zuhörer Jesu Lk 18,9.11: die frommen Pharisäer – die anderen (sündigen) Leute 1 Ko 7,10-12: die verheirateten Christen – die anderen Christen 2 Ko 12,13: die Gemeinde in Korinth – die anderen Gemeinden 1 Th 4,13; 5,6: die Gläubigen – die anderen Menschen (Nichtchristen) 2 Pt 3,16: die Briefe des Paulus – die anderen heiligen Schriften Apg 2,37: Petrus – die übrigen Apostel Apg 28,8f.: der kranke Vater des Publius – die übrigen Kranken Maltas 1 Ko 9,5: Paulus – die übrigen Apostel Gal 2,12f: Petrus – die übrigen Juden(christen) Phil 4,3: Klemens – die übrigen Mitarbeiter des Paulus In der Offenbarung kommt der Begriff hoi loipoí 8-mal vor, 4-mal in der profanen Bedeutung „die anderen“ (8,13; 9,20; 19,21; 20,5). An den übrigen vier Stellen kann an den kleinen, treuen und heiligen Überrest des Volkes Gottes gedacht werden, obwohl auch hier die Übersetzung „die anderen“ durchaus gerechtfertigt erscheint (2,24; 3,2; 11,13; 12,17). „Die Übrigen“ in 12,17 sind die Nachfolger Jesu der letzten Zeit, die trotz Abfall und Verfolgung in Treue zu ihm halten. Man erkennt sie an ihrer Loyalität gegenüber den Geboten Gottes und dem Zeugnis von Jesus. organisierten Kirche oder religiösen Institution gleichzusetzen. Braut (und Hure) sowie Jerusalem (und Babylon) sind prophetische Bildworte, die zwei völlig gegensätzliche Einstellungen gegenüber Gott beschreiben. Davon abgeleitet lassen sie sich auch auf religiöse Institutionen beziehen, insofern sie diese Grundhaltungen widerspiegeln. Gemeinde Gottes – das sind erlöste Menschen, Jünger/Nachfolger Jesu. Emil Brunner hat diese Einsicht so formuliert: „Die Ekklesia des Neuen Testaments, die Gemeinde Jesu Christi, ist reine Persongemeinschaft und hat nichts vom Charakter einer Institution an sich; es ist darum irreführend, irgend eine der historisch gewordenen Kirchen, die alle den Charakter von Institutionen haben, mit der Christusgemeinde zu identifizieren.“ („Das Missver- 3/2006 ADVENTECHO 23 24 B I B E L U N D T H EO LO G I E ständnis der Kirche“, 1951, S. 21) Keine Kirche oder Glaubensgemeinschaft ist jemals das vollkommene Abbild oder die umfassende VerkörpeEine Auswahl von Zitaten von Ellen G. White rung der „Übrigen“. Dennoch sollte es das Die Christen vergangener Zeiten hielten den Sonntag in der Bestreben aller Christen Meinung, dadurch den biblischen Sabbat zu feiern. Es gibt heute noch sein, dem biblischen in jeder Kirche, die römisch-katholische nicht ausgenommen, wahre Modell so nahe wie Christen, die aufrichtig glauben, der Sonntag sei der von Gott verordmöglich zu kommen. nete Sabbattag. Gott nimmt ihre aufrichtige Absicht und ihre RedlichAdventisten streben keit vor ihm an. („Der große Kampf“, S. 449) danach, diesem Vorbild zu entsprechen. InsoUnser Verhältnis zu Gott hängt nicht davon ab, wie viel Licht wir fern sie die Kennerhalten haben, sondern davon, was wir aus dem machen, was wir zeichen der „Heiligen“ empfangen haben. Deshalb stehen Heiden, die nach bestem Ver(Offb 14,12) besitzen, mögen und Verständnis das Rechte zu tun bemüht sind, Gott näher dürfen sie sich als den als Menschen, die großes Licht empfangen haben und angeblich Gott „Übrigen“ (Offb 12,17) dienen, dieses Licht aber nicht beachten und durch ihr tägliches zugehörig betrachten. Leben ihrem Bekenntnis widersprechen. („Das Leben Jesu“, S. 223) Dabei stellt dieser Manche Heiden dienen Gott unwissentlich. Niemals wurde ihnen Anspruch „mehr eine sein Licht durch menschliche Vermittler überbracht. Trotzdem werden Herausforderung als sie nicht verloren gehen. Zwar kannten sie das geschriebene Gebot eine Feststellung, mehr Gottes nicht, sie vernahmen aber seine Stimme in der Natur und einen Aufruf als eine taten, was das Gesetz fordert. Ihre Werke bekundeten, dass der Bilanz“ dar (Richard Heilige Geist ihre Herzen berührt hatte, und Gott anerkennt sie als Lehmann). seine Kinder. („Das Leben Jesu“, S. 636) Eines jedenfalls sollte allen – innerhalb wie Gottes Erlösungsplan ist umfassend genug, um die ganze Welt mitaußerhalb der Gemeineinzubeziehen … Er wird es nicht dulden, dass auch nur eine Seele schaft – klar sein: enttäuscht werde, die aufrichtig nach etwas Höherem und Edlerem Adventisten verstehen verlangt, als die Welt zu bieten vermag. („Propheten und Könige“, sich nicht als die einzig S. 266) wahre Kirche. Schon früh erklärten sie, „dass Auf Wegen, die er selbst bestimmt, wird der Herr jedem WahrGott seine Leute überall heitssucher Erkenntnis von sich mitteilen. („Christ’s Object Lessons“, dort hat, wo Menschen p. 125, vgl. „Bilder vom Reiche Gottes“, S. 97) dem Licht, das sie haben, gehorchen“ (R&H, 15.2.1870). „Millionen echter Christen aller die negative Weltsicht des mutlosen und von VerBekenntnisse durch alle Jahrhunderte sowie die, die folgungsängsten geplagten Propheten: „Ich werde heute aufrichtig auf Christus vertrauen … sind in Israel siebentausend übrig lassen, alle, deren Knie zweifellos gerettet“; denn „Gott hat einen kostbaren sich vor dem Baal nicht gebeugt hat.“ (1 Kön 19,18 Überrest … in jeder Kirche.“ („Questions on EÜ) Als Elia das begriffen hatte, wandte er sich Doctrine“, 1957, S. 184.192) wieder seiner eigentlichen, prophetischen Aufgabe Es steht uns nicht zu, über die (Nicht)Zugehörigzu. Und wir? keit anderer zur „Gemeinde der Übrigen“ ein Urteil „Der Herr kennt die Seinen.“ (2 Tim 2,19) Es zu fällen. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der genügt, das zu wissen – auch heute noch. HERR aber sieht das Herz an.“ (1 Sam 16,7) Auch Elia musste diese (lebens-)wichtige Lektion lernen. Dr. Rolf J. Pöhler, Er, der so mutig für Gott und seine Sache eingeTheologischer Referent im Norddeutschen Verband treten war, sah sich als einzig übrig gebliebener Proder Siebenten-Tags-Adventisten phet Israels – und verfiel darüber in eine tiefe Depression. „Nur ich bin übrig geblieben, ich allein. Und nun trachten sie auch mir nach dem Leben!“ (1 Kön 19,10.14 Hfa) Doch Gott korrigierte liebevoll Was ist mit Andersgläubigen und Nichtchristen? i Buchempfehlung: „Die Gemeinde und ihr Auftrag. Studien zur adventistischen Ekklesiologie“, Band 2. Hrsg. Gemeinschaft der Siebenten-TagsAdventisten, Euro-Afrika-Division, Biblisches Forschungskomitee, Saatkorn-Verlag, Lüneburg, 1994. Best.-Nr. 0859, 22,80 €. ADVENTECHO 3/2006