Einführung zur Ausstellung „Passion“ Am Anfang möchte ich als Theologin gern den Blick auf den Kontext dieser Ausstellung lenken: Auf die Passionsgeschichte Jesu Christi. Sie enthält zutiefst aufklärerische Momente in Bezug auf das, was das Mensch-Sein des Menschen ausmacht. In der Passionsgeschichte kommt vor: Die Masse Mensch. Und die Masse Mensch ist verführbar. Zu Beginn bejubelt sie Jesus Christus als er nach Jerusalem kommt. „Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Die Masse Mensch ist wirklich bereit alles zu geben: Kleider werden vor Jesus Christus ausgebreitet, damit er nicht den Erboden betreten muss. Mit Palmwedeln wird ihm Ehrfurcht entgegengebracht und kurze Zeit später nur, ist es wieder die Masse Mensch, die jetzt: „Kreuzige, kreuzige ihn“ skandiert. Und wieder nur kurze Zeit später ist es die Masse Mensch, die bei der Kreuzigung selbst in der Ferne steht und der eigenen Mittat gegenüber in eine Art distanzierter Zuschauerhaltung verfällt. In der Passionsgeschichte kommt vor: Die Gruppe der Jünger Jesu: Als Jesus im Garten Gethsemane auf absolute menschliche Zuwendung angewiesen ist, schlafen die Jünger ein... einer nach dem anderen. Und Jesus hadert auch deshalb mit Gott, weil die Menschen die ihm an nächsten sind... ja weil sie was?... weil sie einfach nicht mehr können... so banal ist das. In der Passionsgeschichte kommt vor: Judas, der Jesus durch einen Kuss (!) verrät. Es ist ein Verrat durch Nähe. Es sollte sein, ein Verrat, der retten sollte, denn Judas war davon ausgegangen, dass sich vor Gericht doch eigentlich nichts anderes zeigen kann als die Unschuld Jesu. In der Passionsgeschichte kommt vor: Petrus, der aus einem ganz natürlichen Reflex heraus, die eigene Haut retten will: Ich kenne diesen Menschen nicht, sagt er, als er darauf angesprochen wird, doch auch zum Kreis Jesus zu gehören... kenne ich nicht... In der Passionsgeschichte kommt vor: Pilatus mit seiner Haltung. Mit seiner sehr, sehr ernst zu nehmenden Frage: Was ist denn überhaupt Wahrheit? Ja... was ist das denn tatsächlich: Wahrheit... Er kommt vor mit seiner Geste: Ich wasche meine Hände in Unschuld. Und die Passionsgeschichte zeigt: Auch der Relativismus kann sich nicht neben die Wirklichkeit stellen. Auch das „Sich nicht entscheiden“ ist eine Entscheidung... mit Folgen. In der Passionsgeschichte kommt vor: Simon von Kyrene, der Mann, der Jesus das Kreuz abnimmt. Der Mann, der Erleichterung schafft, für eine Strecke. In der Passionsgeschichte kommen vor: Die Frauen, die weit gehen, sehr weit, die mit zum Kreuz gehen, die mit aushalten, die dabei bleiben, die treu sind. Mit der Passionsgeschichte ist man nie am Ende. Wie in der Kunst sind hier Form und Inhalt zutiefst miteinander verknüpft. Und ich wage es jetzt einfach zu sagen, auch das ist ein Moment, warum Künstler aller Zeiten so sehr in die Passionsgeschichte Jesu eingetaucht sind und warum es diese gegenseitige Affinität gibt. Zur Ausstellung: Der Mülheimer Künstler Helmut Koch wendet sich in seinen mit dieser Ausstellung dem Thema Leid und Passion direkt zu. Ich habe die Aussenstellen genannt. Das Leid selbst hat – in unterschiedlichen Facetten – je ein eigenes Gesicht. Das Bild Lampedusa zeigt Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes vollkommen entsetzt sind. Es gibt keine Heimat mehr, keinen Rückhalt. Die Flüchtlinge sind auf diesem Bild sogar dem Wüten der Elemente ausgesetzt. Wir wissen, dass auf unserem so zivilisierten Kontinent Flüchtlingen die letzte Menschenwürde genommen wird, dass sie als Menschen nicht nur im übertragenen Sinne entkleidet wurden, und genau das kommt direkt in der Passion Christi vor. Lampedusa ist kein Synonym, die Passion ist keins, das ist Realität. Mitten drin in der Ausstellung ist das Bild: Kreuzige ihn. Genau an dieser Stelle ist sie eingefangen: Die skandierende Masse, in der sich das Individuum in der Fläche auflöst und nahezu verschwimmt. Der, der gekreuzigt werden soll, wird aber über die Zeiten hinweg zum Verbündeten aller geschundenen Seelen. Und – da ist Ihre Hommage, sehr geehrter Herr Koch, an den Künstler Max Uhlig. Ich selbst bin allein schon absolut fasziniert von der Technik, die Sie bei einem der Nachempfindungen seines Bildes in „Frauenkopf III“ angewendet haben. Es werden kleinste Plättchen neben und auf kleinste Plättchen gesetzt, es werden Farbschichten aufgebracht, verdeckt und wieder entdeckt. Selbst die dabei entstandenen Stäube kommen nicht abhanden, auch sie werden wieder eingesetzt. Allein die Technik hat ihre eigene Aussage: Es geht um Akribie, Zuwendung, Hinwendung, dazu braucht man eine ganz sensible Wahrnehmung, es geht um ein Eintauchen in die Materie, es geht dabei um eine künstlerische Energie, die mit einer unglaublichen Konsequenz einfließt. Umgekehrt bestimmt aber auch die Materie den künstlerischen Handlungsspielraum, so dass eine Ebene entsteht, wo es darum geht selbst zu leiten aber auch sich leiten zu lassen – und zwar in einem offenen Prozess einer kreativen Kommunikation. Und da spürt man: Das ist Leben mit allem, was dazu gehört, das ist Leidenschaft, das geht ins Körperliche hinein, Materie und Geist, Leib und Seele treffen sich, auch das ist Passion, das ist Leidenschaft, es ist ein durchlebter Weg. Mehr als eine Skizze kann ich hier nicht geben und will es auch nicht, denn Sie, Herr Koch, lassen sich als erste Adresse gleich gern auf alles ansprechen, auch auf die Seelenverwandtschaft, die Sie zu Max Uhlig geführt hat. Ein Ausblick zum Schluss, ein notwendiger Ausblick. Denn Bilder von der Passion können einen auch in die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit führen. Das kann und soll nicht das Ziel sein. Wie begegne ich dem Kreuz Christi, dem Leid und der Passion unserer Zeit? In seinem Buch Widerstand und Ergebung schreibt Dietrich Bonhoeffer dazu: „Wir sind gewiss nicht Christus und nicht berufen, durch eigenes Tun und eigenes Leiden die Welt zu erlösen, wir sollen uns nicht Unmögliches aufbürden und uns damit quälen, dass wir es nicht tragen können. Wir sind nicht Herren, sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte. Wir können das Leiden anderer Menschen nur in ganz begrenztem Maße wirklich mitleiden. Wir sind nicht Christus. Aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, dass wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst, sondern aus der befreienden und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt.“ Pfarrerin Annegret Cohen, Mülheim 14.3.2014 Es gilt das gesprochene Wort