Fast normal - Theater Lüneburg

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Fast normal
(Next to normal)
Junges Musical von Tom Kitt und Brian Yorkey
Materialien
1
30.10.15
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
liebe Pädagogen, liebe Pädagoginnen,
liebe Leserinnen und Leser!
Das diesjährige Jugendmusical „Next to Normal“, deutsch „Fast normal“, ist für
Jugendliche ab 14 Jahren, aber auch für junge Erwachsene geeignet.
Fast Normal (Next to Normal) ist die Geschichte einer Familie, die sich durch ein
traumatisches Ereignis und die Erkrankung der Mutter in einer Schieflage befindet.
Mutter Diane stellt mit ihrer Erkrankung eine große Belastung für die Familie dar,
Vater Dan versucht mit viel Geduld Ausgleich zu schaffen und gerät dabei ständig an
seine Grenzen. Sohn Gabe scheint irgendwie immer im Mittelpunkt zu stehen. Und
die Tochter Natalie möchte vor allem eins: Endlich gesehen werden. Außerdem sind
da noch Natalies Freund Henry, Dr. Madden und Dr. Fine, die alle, vermeintliche
Lösungen für die familiären Nöte parat haben.
Next to Normal stellt Fragen zu vielen grundlegend menschlichen Themen wie dem
Erwachsenwerden, dem Streben nach Anerkennung, dem Bedürfnis nach
Geborgenheit, dem Bedürfnis normal zu sein und in einer funktionierenden Familie
zu leben. Außerdem wird das Thema Drogenkonsum nicht nur als adoleszentes
Thema behandelt, sondern auch ein Blick auf den vordergründig legalen
Medikamentenkonsum der Erwachsenenwelt gelenkt.
Eine spannende Frage, nicht zuletzt, weil der Konsum eine Strategie bei den
einzelnen Figuren auf ihrer persönlichen Glückssuche darstellt.
Auf der Bühne stehen dieses Mal drei Profi-Sänger/innen, sowie drei jugendliche
Laien.
Mit Materialien zur Vor- und Nachbereitung möchten wir Ihren Theaterbesuch
bereichern.
Neben Informationen über Musical im Allgemeinen, die Inszenierung und das Stück,
finden Sie in dieser Materialmappe mehrere Artikel über Trauer, Bipolare Störung,
Medikamentensucht, Trauma, sowie über EKT-Behandlungen.
Zusätzlich geben wir Ihnen noch theaterpädagogische Übungen und Fragen für die
Schulstunde nach dem Theaterbesuch mit.
Innerhalb des Landkreises Lüneburg bieten wir Ihnen gerne eine Einführung in der
Schule an. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte [email protected]
Viel Freude mit unseren Materialien und einen schönen und interessanten
Theaterbesuch wünschen
Katja Meier und Heidrun Kugel
2
Inhaltsverzeichnis:
Seite
Zur Besetzung
4
Zum Inhalt
5
Zum Stück
8
Zur Uraufführung
12
Zu Musicals
15
Artikel über Bipolare Störung
22
Artikel über Trauer
32
Artikel über Trauma
38
Artikel über Medikamentensucht
44
Artikel über EKT-Behandlungen
56
Fragen zur Nachbereitung
58
Theaterpädagogische Übungen
59
Quellen
62
3
FAST NORMAL (Next to normal)
Junges Musical von Tom Kitt und Brian Yorkey
Deutsch von Titus Hoffmann
Personen
Diane Goodman ……………….Anna Müllerleile
Dan Goodman …………………Kristian Lucas
Dr. Madden ……………………..Timo Rößner
Natalie Goodman .…………… Pia Jauernig / Anna von Mansberg
Henry ……………………………Timm Marvin Schattling
Gabe Goodman ………………. Calvin-Noel Auer
Dr. Fine …………………………Timo Rößner
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Musikal. Einstudierung
Vocal Coach
Choreogr. Beratung
Regieassistenz und
Abendspielleitung
Technische Leitung
Ton
Technik
Maske
1. Gewandmeisterin
2. Gewandmeisterin
Gewandmeister
Chefgarderobiere
Requisite
Tischlerei (Vorstand)
Malersaal
Alexander Eissele / Hye-Yeon Kim
Friedrich von Mansberg
Christiane Becker
Hye-Yeon Kim, N.N.
Anna Schwemmer
Heidrun Kugel
Cornelia Nell / Calvin-Noel Auer
Ludger Niemeyer
Wolfgang Ziemer
Richard Busse / Tobias Wortmann
Britta Bannemann
Elke Pesarra
Julia Debus-Borgschulze
Kay Horsinka
Imke Hampel
Rolf Seichter, Heidi Böhm
Walter Zimmermann
Dorothea Flohr, Susanne Mcleod
Bühnenrechte: Musik und Bühne Verlag Wiesbaden
Premiere: 30.10.2015
Spieldauer: ca. 2:15
Hajo Fouquet
Intendant
4
Inhalt
Erster Akt
Vorstadtmutter Diana Goodman wartet spät auf ihren Sohn und tröstet ihre ängstliche
und übereifrige Tochter, Natalie. Am Morgen hilft Dan, Dianas Mann, die Familie für
einen weiteren Tag vorzubereiten. Diana versucht, Sandwiches für die Familie zu
machen, doch sie sind am ganzen Boden verstreut. Als Dan der verwirrten Diana
hilft, geht ihr Sohn Gabe (dessen Namen man erst am Schluss erfährt) schnell in die
Schule und Natalie ins Klavierübungszimmer. Dort wird sie von Henry, einem
Klassenkameraden, der ihr gerne beim Spielen zuhört, und der eindeutig an ihr
interessiert ist, unterbrochen.
Über die folgenden Wochen macht Diana eine Serie von Besuchen bei ihrem Doktor,
während Dan draußen im Auto wartet und versucht, mit seinen eigenen Depression
zurechtzukommen. Diana leidet seit sechzehn Jahren an einer mit Halluzinationen
verbundener bipolarer Störung. Doktor Fine verändert ihre Behandlungen ständig,
bis sie sagt, dass sie gar nichts mehr fühle. An diesem Punkt erklärt er sie für stabil.
Natalie und Henry kommen sich näher bis zu dem Tag, als er ihr seine Liebe gesteht
und sie zum ersten Mal küssen. Diana bekommt das mit und merkt, dass sie ihre
besten Jahre hinter sich hat, aber sie vermisst die Höhen und Tiefen in ihrem Leben.
Mit der Ermutigung von Gabe spült sie ihre Medikamente weg.
Ein paar Wochen später freut sich Dan auf das Abendessen mit seiner Familie.
Natalie bringt Henry zum ersten Mal mit. Doch als Diana mit einem Kuchen
hereinkommt und „Happy Birthday“ für Gabe singt, sind Natalie und Dan am Boden
zerstört. Dan nimmt Diana zur Seite und erklärt ihr, dass ihr Sohn vor 16 Jahren
starb. Dan schlägt vor, dass sie zurück zum Doktor gehen solle, aber Diana lehnt ab
und sagt, dass er sicher nicht das Gleiche fühle wie sie.
Dan versucht, sie dazu zu überreden, ihm zu vertrauen, als ihr Sohn erscheint und
seine Mutter davon überzeugt, ihm anstatt Dan zu vertrauen. In ihrem Zimmer lässt
Natalie ihren Ärger an Henry aus und nimmt die Entschuldigung ihrer Mutter nicht an.
Gabe beobachtet das und verspottet sie.
Einige Tage später arbeiten Diana mit ihrem neuen Doktor, Doktor Madden. Gabe
versucht ihr zu sagen, dass er hier und lebendig sei. Dan und Natalie zweifeln daran,
dass die Sitzungen helfen. Doktor Madden schlägt Hypnose als neue
Behandlungsmethode vor, um Diana zu helfen, die Wurzeln von ihrem Trauma zu
entdecken. Zuletzt ist Diana damit einverstanden, dass es Zeit ist, ihren Sohn gehen
zu lassen. Diana geht nach Hause, um die Dinge, die Gabe gehörten, wegzuwerfen
und stößt auf eine alte Spieluhr. Gabe tanzt mit ihr und fordert sie dann auf, mit ihm
wegzugehen. Sie tut es.
Im Krankenhaus liegt Diana ruhig und zurückhaltend mit selbst zugefügten Wunden
an den Handgelenken im Krankenbett. Sie hat sich selbst die Pulsadern
aufgeschlitzt. Doktor Madden erklärt Dan, dass die ECT-Behandlung, eine
Elektroschocktherapie, die Standardprozedur für Patienten ist, die suizidgefährdet
und resistent gegen Medikamente sind. Dan geht nach Hause, um aufzuräumen und
zu entscheiden, was zu tun ist. Am nächsten Tag teilt Diana Doktor Madden mit,
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dass die die Behandlung ablehnt. Dan überzeugt sie jedoch mit dem Argument, dass
es vielleicht ihre letzte Chance sei.
Zweiter Akt
Diana erhält über zwei Wochen eine Serie von ECT-Behandlungen. Natalie probiert
inzwischen Klubs und Medikamente, die sie im Medizinschrank ihrer Mutter gefunden
hat, aus und verfällt in den Drogenrausch. Diana verliert durch die ECTs die letzten
neunzehn Jahre ihres Gedächtnisses. Sie kommt nach Hause, doch erinnert sich an
nichts. In der Uni spricht Henry Natalie darauf an, dass sie ihn meidet. Daraufhin lädt
er sie zum Frühlingsball.
Dan und Diana besuchen Doktor Madden, der ihnen erklärt, dass ein
Gedächtnisverlust normal ist, und ermutigt Dan, Fotos, Andenken und desgleichen
zu verwenden, um Diana zu helfen, sich zu erholen. Dan versammelt die Familie, um
Diana zu helfen, sich zu erinnern, auch wenn er anfangs nur geringfügige Erfolge zu
verzeichnen hat. Doch als Natalie die Spieluhr aus einem Stapel Andenken zieht,
lässt er diese verschwinden und lässt Diana verwirrt zurück. Gabe erscheint,
unbemerkt, und beklagt, dass Diana ihn vergessen habe, doch dass er immer noch
bei ihr sei, während Diana Dan sagt, dass es etwas gebe, an das sie sich dringend
erinnern müsse, das ihr auf der Zunge liegt. Als Henry kommt und Natalie sucht,
studiert Diana sein Gesicht und fragt nach seinem Alter. Er erinnert sie an jemanden.
Entnervt eilt Henry in Natalies Schlafzimmer, um sie zu überreden, ihn in der
nächsten Nacht zum Tanz zu begleiten.
Diana geht zurück zu Doktor Madden, der ihr vorschlägt, weiter ihre Geschichte zu
erforschen und mehr mit ihrem Mann sprechen. Diana geht zurück nach Hause und
durchsucht die Kisten mit Andenken, sucht die Spieluhr. Dan versucht, sie
aufzuhalten, aber die Erinnerungen an Gabe kommt schon zurück. Diana erzählt
Dan, dass sie sich aber älter an Gabe erinnere und fragt ihn nach seinem Namen.
Dan verweigert die Antwort und beharrt stattdessen darauf, dass sie weitere
Behandlung benötige. Henry kommt, um Natalie für den Tanz abzuholen. Dan reißt
währenddessen die Spieluhr aus Dianas Hände und wirft sie auf dem Boden.
Diana konfrontiert Dan mit der Frage, warum er alle Probleme dulde, die sie ihm
macht. Zur selben Zeit stellt Natalie Henry dieselbe Frage. Beide schwören,
standhaft zu bleiben. Da erscheint Gabe wieder, was Diana dazu bringt, Doktor
Madden aufzusuchen.
Diana fragt Doktor Madden, was sie tun könne, wenn die Medizin nicht funktioniert.
Mit ihren Fragen kommt die Erkenntnis, dass nicht ihr Gehirn, sondern ihr Seele
Schuld an den Halluzinationen hat. Madden versichert ihr, dass ein Rückfall normal
sei und schlägt weitere ECTs vor, doch Diana weigert sich. Natalie ist bedrückt, weil
sie erfahren hat, dass ihre Mutter die Behandlung abgebrochen hat. Diana öffnet sich
ihrer Tochter das erste Mal. Sie erinnert Natalie an den Tanz, für den Henry schon
auf sie wartet, um sie zu trösten und zu umarmen
Diana sagt Dan, dass sie ihn verlasse mit der Begründung, dass er nicht immer da
sein werde, um sie zu fangen. Sie muss ein Risiko eingehen und ihre
Angelegenheiten selbst regeln. Sie geht und lässt Gabe bei Dan. Als Dan sich fragt,
wie sie ihn verlassen konnte, nach allem, was sie durchgemacht haben, kommt Gabe
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und erklärt Dan, dass er nirgendwo hingehen werde. Dan verzweifelt immer mehr, bis
er ihn endlich sieht und ihn zum ersten Mal beim Namen nennt. Hier erfährt auch das
Publikum Gabes Name.
Natalie kommt nach Hause, ihr Vater sitzt alleine in der Dunkelheit, tränenüberströmt.
Sie tröstet ihn und schaltet das Licht an. Natalie versichert ihm, dass die beiden die
Situation schon meistern werden. Diana ist allein und immer noch verletzt, aber
hoffnungsvoll. Dan besucht Doktor Madden in der Hoffnung, über Diana reden zu
können, aber er gibt ihm stattdessen den Namen eines anderen Therapeuten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Next_to_Normal
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Next to Normal
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aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Next to Normal ist ein Musical von Brian Yorkey (Libretto) und Tom Kitt
(Musik). Es erzählt die Geschichte einer Mutter, die an einer bipolaren Störung
leidet und von den Auswirkungen, die diese auf ihre Familie hat. Außerdem
befasst sich das Musical mit Themen wie Trauer um einen Verlust,
Selbstmord, Drogenabhängigkeit, Ethik in der modernen Psychiatrie und dem
Leben in einem Vorort.
Das Musical gewann 2009 den Tony Award in den Kategorien „Best Original
Score“ (Tom Kitt [Musik] und Brian Yorkey [Libretto]), „Best Orchestration“
(Michael Starobin und Tom Kitt), und „Best Performance by a Leading Actress
in a Musical“ (Alice Ripley). Die Show war für 11 Tony Awards nominiert, unter
anderem als „Best Musical“. Es gab mehrere Workshop-Aufführungen von
Next to Normal vor dem Off-Broadway-Debüt 2008. Die Show gewann den
„Outer Critics' Circle Award“ für eine herausragende Leistung, außerdem
erhielt Alice Ripley eine Nominierung für den „Drama Desk Award“ als beste
Hauptdarstellerin. Nachdem das Stück am Off-Broadway ein Erfolg geworden
war, wurde das Stück von November 2008 bis Januar 2009 in der Arena
Stage in Crystal City (Virginia) gespielt, bevor es im April 2009 seine Premiere
am Broadway feierte und 2010 mit dem Pulitzerpreis für Drama ausgezeichnet
wurde.
Entwicklung
Workshops und Leseproben
Das Musical, das ursprünglich Feeling Electric hieß, wurde zum ersten Mal auf
einer Lesung 2002 im Cutting Room in New York City vorgestellt, mit Norbert
Leo Butz als Dan und Sherie Rene Scott als Diana, im Anschluss daran gab
es eine szenische Lesung im Oktober 2002 im Musical Mondays Theater Lab
in New York.
2005 wurde das Stück zum ersten Mal in einer Workshop-Aufführung im
Village Theatre (Issaquah) gezeigt, mit Amy Spanger als Diana, Mary Faber
als Natalie und Deven May als Dr. Madden. Im September 2005 nahm die
Barrow Group Arts Center Produktion am New York Musical Theatre Festival
teil, mit Amy Spanger als Diana, Joe Cassidy als Dan, Annaleigh Ashford als
Natalie und Anthony Rapp als Dr. Madden. Das Second Stage Theatre
produzierte das Stück im Jahr 2006 sowie im Jahr 2007 mit Joe Cassidy und
Greg Edelman als Dan, Alice Ripley als Diana, Mary Faber und Phoebe Strole
als Natalie, Anthony Rapp als Dr. Madden/Dr. Fine und Skylar Astin als Henry.
Off-Broadway- und Pre-Broadway-Produktionen
Next to Normal wurde am Off-Broadway unter seinem heutigen Namen im
Second Stage Theatre gespielt (vom 16. Januar bis zum 16. März 2008;
Regie: Michael Greif, mit Anthony Rapp als Regieassistent und unter der
musikalischen Leitung von Sergio Trujillo). Schon im damaligen Cast waren
Alice Ripley als Diana und Brian d'Arcy James als Dan zu sehen. Der
Nachname der Familie wurde von Brown in Godmann geändert. Die Show
erhielt gemischte Rezensionen, Kritiker schrieben, dass eine
unverantwortliche Botschaft über die Behandlung einer bipolaren Störungen
gezeigt werde und nicht die richtige Balance zwischen Pathos und Humor
gefunden worden sei.
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Nach der Überarbeitung des Stücks lief eine pre-Broadway-Produktion im
Arena Stage Theatre in Crystal City, VA. Regie führte wieder Michael Greif.
Alice Ripley und die meisten Mitglieder des off-Broadway Casts nahmen an
dieser Produktion teil, aber Brain d'Arcy James blieb in New York, um die
Titelrolle im Musical „Shrek“ zu spielen und wurde durch J. Robert Spencer
ersetzt. Asa Somers, der Dr. Madden und Dr. Fine spielte, wurde durch Louis
Hobson ersetzt. Einige der Nummern wurden geändert und andere durch
Lieder, die den emotionalen Inhalt des Buches wiedergeben sollten, ersetzt.
Die Produktion erhielt begeisterte Kritiken.
Broadway-Produktion 2009
Am 27. März gab es eine Preview von „Next to Normal“ am Broadway im
Booth Theatre. Premiere feierte das Musical am 15. April 2009. Es spielte der
Cast der Arena-Stage-Produktion unter der Regie von Michael Greif. Bis Ende
Januar 2011 wurde das Musical über 733-mal gespielt.
Deutschsprachige Erstaufführung 2013, österreichische Erstaufführung
2014
Am 11. Oktober 2013 fand die deutschsprachige Erstaufführung von next to
normal - fast normal unter der Regie und in der deutschen Übersetzung von
Titus Hoffmann im Stadttheater Fürth statt. Zur namhaften Besetzung
gehörten Pia Douwes als Diana, Thomas Borchert als Dan, Dirk Johnston als
Gabe, Sabrina Weckerlin als Natalie, Dominik Hees als Henry und Ramin
Dustdar als Dr. Fine bzw. Dr. Madden. Am 3. Juni 2014 erschien die Deutsche
Originalaufnahme Live (aufgenommen im Stadttheater Fürth) auf CD und auf
itunes. Wegen der großen Nachfrage fand am 30. April 2015 eine
Wiederaufnahme der Fürther Inszenierung statt. Alle Beteiligten waren dabei
wieder mit von der Partie - einzig Armin Kahl war neu in der Doppelrolle als
Dr.Fine/Dr.Madden. Aufgrund von Stimmproblemen von Pia Douwes, sang
Kristin Hölck, die in der Linzer Produktion schon die Diana spielte, am 9. und
10. Mai von der Orchesterloge aus, während Pia Douwes auf der Bühne dazu
die Lippen bewegte.
Die erste österreichische Inszenierung hat am 18. Januar 2014 im
Schauspielhaus des Landestheaters Linz als sechste Produktion des Ende
2012 gegründeten Musicalensembles Linz Premiere. Regie führt Matthias
Davids, es spielen Kristin Hölck (Diana), Reinwald Kranner (Dan), Oliver Liebl
(Gabe), Lisa Antoni/Ariana Schirasi-Fard (Natalie), Christian Manuel Oliveira
(Henry) und Rob Pelzer (Dr. Madden).

Fast normal (Next to Normal) – Die Deutsche Erstaufführung
des Broadway-Erfolgsmusicals am Stadttheater Fürth

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Dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt
von Dieter Stoll
Fürth, 11. Oktober 2013. Eben noch flippten die Psychopharmaka wie riesige
Bonbons triumphierend durch düstere Gedanken einer Suizidgefährdeten, da
kippt die depressive Patientin in einem Verzweiflungsakt sämtliche
Aufheiterungs-Medikamente in die Toilette. Den besorgten Ehemann, der
seine seit 16 Jahren an einer "bipolaren Störung" erkrankte Frau mit
schwindenden Kräften zu lenken versucht, fertigt sie scheinbar gutgelaunt ab:
"Wir haben die glücklichste Klospülung der Straße".
Leistungsstarkes Werk
Der ruppige Witz passt zum Genre, der Anlass dazu ist ein veritabler TabuBruch. Denn im Show-Schaumschlag, mit dem die Musical-Sparte mittlerweile

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weltweit eingeseift wird, gab es über die Jahre öfter mal schwarzen Humor,
aber noch nie etwas Vergleichbares wie den Todestanz um das Bewusstsein
von real existierender Geisteskrankheit. Das Komitee für den Pulitzer-Preis
war nach der Broadway-Uraufführung vonNext to Normal davon offenbar so
verblüfft, dass es den drei Tony-Awards der Spezialisten aus dem Jahr 2009
tatsächlich 2010 die Auszeichnung fürs beste Drama hinterherreichte. Mit der
jedem Pädagogen zur Ehre gereichenden Begründung, dieses
"leistungsstarke" Werk habe "die Bandbreite des Anwendungsbereichs
Musical erweitert". Kann man so sehen. Bleibt die Frage, was der gesprengte
Rahmen dem Theater bringt.
Jenseits der Musical-Betriebsunfälle
Dass es bis zum Import nach Deutschland einige Spielzeiten dauerte (und
ohne den persönlichen Einsatz des für Übersetzung und Erstaufführung
zuständigen Titus Hoffmann wohl noch mehrere gedauert hätte), ist erklärbar.
Anders als in den USA, wo etwa Stephen Sondheim mit seinem literarischen
Ehrgeiz als alternative Größe zu Webber & Co. schon lange akzeptiert war,
haben sich hierzulande die freien Produzenten aufs spektakuläre Großformat
spezialisiert und die Stadttheater mit ihrer Spartentrennung überwiegend
künstlerische Betriebsunfälle verursacht. Wo Sänger auf komplexe Dialoge
oder Schauspieler auf kehlkopflastige Songs gestoßen wurden, gab es nur in
Sonderfällen Erfolgsmeldungen.
Kurzum, der von dieser singenden Krankenakte überzeugte Hoffmann - er war
unter anderem Produktionsleiter beim Wiener Musical-Glücksfall "The
Producers", das auch im Berliner Admiralspalast Station machte - musste,
nachdem er die deutschen Aufführungsrechte gesichert hatte, bei vielen
ängstlichen Intendanten Klinken putzen. Der Fürther Theaterchef Werner
Müller konnte es wagen, er engagiert für all seine Premieren durchweg gezielt
die Darsteller und war mit den sechs mitgebrachten Akteuren aus der
einschlägigen Szene optimal bedient.
90 Prozent Musik
Die Fürther Inszenierung auf mehrstöckigem Bühnengerüst mit VideoIllustration, das auch jede "Westside Story" verkraften könnte, ist vor allem auf
Tempo bedacht. Gleitende Übergänge für Charakter-Miniaturen, harte
Schnitte zwischen den Show-Blöcken. Immer darauf achtend, dass die
deutsche Übersetzung der 39 Song-Teilchen geschmeidig abgesetzt bleibt
von den wenigen, drastisch einschlagenden Prosa-Brocken: "Ich spüre gar
nichts mehr", klagt die Kranke. "Patient stabil", sagt der Arzt.
Nach solch dunklen Momenten ohne Sound-Salbung hilft ein wenig
Sentimentalität und der Ruf nach "Licht", der metaphorisch geballt zum Finale
kommt – gesungen wie mindestens 90 Prozent der nahezu komplett
durchkomponierten Aufführung. Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) erzählt
also nicht direkt dem Publikum, eher im Umweg dem Komponisten (Tom Kitt
blättert ein Sortiment von Möglichkeiten aus Rock-Balladen, Soul-Imitaten wie
auch raffinierten Ensemble-Konstruktionen auf und manchmal sülzt er nur
herzhaft wie unser Xavier Naidoo) von dieser Standardfamilie Goodman, die
vom Schicksal dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt wird. Als wolle er
herausfordernd sagen: Was fällt dir dazu ein?
Gedankliche Komplikationen nicht zu befürchten
Die Fürther Musiker um Christoph Wohlleben, hinter der Dekoration souverän
im Einsatz, balancieren mit den öfter mal auseinanderstrebenden Elementen
von Konzert und Drama. Abstürze sind nicht zu befürchten, alle Beteiligten
10



beherrschen ihr Handwerk.
Die Handlung bleibt sperrig: Mutter Diana (Pia Douwes singt und spielt sie
voller melancholischer Rest-Energie) hat ihre Depression, seit Sohn Gabe im
Kindbett starb (der junge Dirk Johnston geistert wie leibhaftig
weitergewachsen als kletternder Dämon im T-Shirt durch Handlung und
Bewusstsein), während die vernachlässigte Tochter (Sabrina Weckerlin) in
den Drogenrausch abdriftet, aber zu unser aller Freude Halt findet am
bodenständigen Freund Henry (Dominik Hees, ganz Sympathieträger, da er
das Leben für eine Katastrophe hält, aber dabei cool bleibt). Vater Dan
(Thomas Borchert) sucht Lösungen im "Depressions-Chatroom" und gerät an
Ärzte (mal tranig wienerisch, mal als Rockstar-Therapeut: Ramin Dustdar), die
auch die Zerstörung von Erinnerung durch Elektro-Schocks als "fast normal"
empfehlen.
Bei der Premiere war zu beobachten, wie sich das Publikum, geeicht auf die
üblichen Musical-Rituale mit den großzügigen Publikums-Juchzern nach
jedem Song-Aufschwung, erst vom Schrecken des höheren Anspruchs der
Fabel erholen mussten. Als dann klar wurde, dass das "System Musical" auch
auf dieser etwas mehr als sonst gewundenen Abzweigung eigenartig
funktioniert, also zumindest in Deutschland schwerlich mit den gedanklichen
Komplikationen eines Schauspiels zu verwechseln ist, war der Jubel nicht
mehr aufzuhalten. Der gerührte Kritiker der New York Times und die
Pulitzerpreis-Jury hätten ihre Freude dran gehabt.
Fast normal – next to normal (DSE)
Musik von Tom Kitt, Buch und Gesangstexte von Brian Yorkey,
deutsche Fassung von Titus Hoffmann
Regie: Titus Hoffmann, Choreografie: Melissa King, Ausstattung: Stephan
Prattes.
Mit: Thomas Borchert, Pia Douwes, Ramin Dustdar, Dominik Hees, Dirk
Johnston, Sabrina Weckerlin.
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.stadttheater.fuerth.de

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

Kritikenrundschau
"Da reißt ein Stück 700 Leute — die handelsüblichen Musical-Claqueure
inklusive — aus den Sitzen, weil es an die Lebenswirklichkeit des 21.
Jahrhunderts andockt", schreibt Matthias Boll in den Nürnberger Nachrichten
(15.10.2013). Das "Husarenstück" von Regisseur und Übersetzer Titus
Hoffmann besteht aus Bolls Sicht darin, eine kongeniale deutschsprachige
Fassung der verblüffend dichten, Ironie, Tragik und Gefühl "souverän im
Gleichgewicht haltendenden Textfaktur" des Originals erarbeitet zu haben,
"die diesem 150-Minüter einen von der ersten Sekunde an fesselnd soghaften
Drive gibt". Wäre nicht der aus Bolls Sicht "dramaturgisch holprigere zweite
Teil mit einem allzu Apotheken-Umschau-mäßig parlierenden Therapeuten
(Ramin Dustdar) und ein Schluss, der mit dem Song 'Licht' eine ärgerlich
deplatzierte Kirchentags-Atmosphäre schafft", direser Kritiker "könnte Stück
und Produktion für rundum großartig halten".
Fast normal (Next to Normal) – Die Deutsche Erstaufführung
des Broadway-Erfolgsmusicals am Stadttheater Fürth
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Dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt
von Dieter Stoll
Fürth, 11. Oktober 2013. Eben noch flippten die Psychopharmaka wie riesige
Bonbons triumphierend durch düstere Gedanken einer Suizidgefährdeten, da
kippt die depressive Patientin in einem Verzweiflungsakt sämtliche
Aufheiterungs-Medikamente in die Toilette. Den besorgten Ehemann, der
seine seit 16 Jahren an einer "bipolaren Störung" erkrankte Frau mit
schwindenden Kräften zu lenken versucht, fertigt sie scheinbar gutgelaunt ab:
"Wir haben die glücklichste Klospülung der Straße".
Leistungsstarkes Werk
Der ruppige Witz passt zum Genre, der Anlass dazu ist ein veritabler TabuBruch. Denn im Show-Schaumschlag, mit dem die Musical-Sparte mittlerweile
weltweit eingeseift wird, gab es über die Jahre öfter mal schwarzen Humor,
aber noch nie etwas Vergleichbares wie den Todestanz um das Bewusstsein
von real existierender Geisteskrankheit. Das Komitee für den Pulitzer-Preis
war nach der Broadway-Uraufführung vonNext to Normal davon offenbar so
verblüfft, dass es den drei Tony-Awards der Spezialisten aus dem Jahr 2009
tatsächlich 2010 die Auszeichnung fürs beste Drama hinterherreichte. Mit der
jedem Pädagogen zur Ehre gereichenden Begründung, dieses
"leistungsstarke" Werk habe "die Bandbreite des Anwendungsbereichs
Musical erweitert". Kann man so sehen. Bleibt die Frage, was der gesprengte
Rahmen dem Theater bringt.
Jenseits der Musical-Betriebsunfälle
Dass es bis zum Import nach Deutschland einige Spielzeiten dauerte (und
ohne den persönlichen Einsatz des für Übersetzung und Erstaufführung
zuständigen Titus Hoffmann wohl noch mehrere gedauert hätte), ist erklärbar.
Anders als in den USA, wo etwa Stephen Sondheim mit seinem literarischen
Ehrgeiz als alternative Größe zu Webber & Co. schon lange akzeptiert war,
haben sich hierzulande die freien Produzenten aufs spektakuläre Großformat
spezialisiert und die Stadttheater mit ihrer Spartentrennung überwiegend
künstlerische Betriebsunfälle verursacht. Wo Sänger auf komplexe Dialoge
oder Schauspieler auf kehlkopflastige Songs gestoßen wurden, gab es nur in
Sonderfällen Erfolgsmeldungen.
Kurzum, der von dieser singenden Krankenakte überzeugte Hoffmann - er war
unter anderem Produktionsleiter beim Wiener Musical-Glücksfall "The
Producers", das auch im Berliner Admiralspalast Station machte - musste,
nachdem er die deutschen Aufführungsrechte gesichert hatte, bei vielen
ängstlichen Intendanten Klinken putzen. Der Fürther Theaterchef Werner
Müller konnte es wagen, er engagiert für all seine Premieren durchweg gezielt
die Darsteller und war mit den sechs mitgebrachten Akteuren aus der
einschlägigen Szene optimal bedient.
90 Prozent Musik
Die Fürther Inszenierung auf mehrstöckigem Bühnengerüst mit VideoIllustration, das auch jede "Westside Story" verkraften könnte, ist vor allem auf
Tempo bedacht. Gleitende Übergänge für Charakter-Miniaturen, harte
Schnitte zwischen den Show-Blöcken. Immer darauf achtend, dass die
deutsche Übersetzung der 39 Song-Teilchen geschmeidig abgesetzt bleibt
von den wenigen, drastisch einschlagenden Prosa-Brocken: "Ich spüre gar
nichts mehr", klagt die Kranke. "Patient stabil", sagt der Arzt.
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Nach solch dunklen Momenten ohne Sound-Salbung hilft ein wenig
Sentimentalität und der Ruf nach "Licht", der metaphorisch geballt zum Finale
kommt – gesungen wie mindestens 90 Prozent der nahezu komplett
durchkomponierten Aufführung. Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) erzählt
also nicht direkt dem Publikum, eher im Umweg dem Komponisten (Tom Kitt
blättert ein Sortiment von Möglichkeiten aus Rock-Balladen, Soul-Imitaten wie
auch raffinierten Ensemble-Konstruktionen auf und manchmal sülzt er nur
herzhaft wie unser Xavier Naidoo) von dieser Standardfamilie Goodman, die
vom Schicksal dramaturgisch einwandfrei durchgerüttelt wird. Als wolle er
herausfordernd sagen: Was fällt dir dazu ein?
Gedankliche Komplikationen nicht zu befürchten
Die Fürther Musiker um Christoph Wohlleben, hinter der Dekoration souverän
im Einsatz, balancieren mit den öfter mal auseinanderstrebenden Elementen
von Konzert und Drama. Abstürze sind nicht zu befürchten, alle Beteiligten
beherrschen ihr Handwerk.
Die Handlung bleibt sperrig: Mutter Diana (Pia Douwes singt und spielt sie
voller melancholischer Rest-Energie) hat ihre Depression, seit Sohn Gabe im
Kindbett starb (der junge Dirk Johnston geistert wie leibhaftig
weitergewachsen als kletternder Dämon im T-Shirt durch Handlung und
Bewusstsein), während die vernachlässigte Tochter (Sabrina Weckerlin) in
den Drogenrausch abdriftet, aber zu unser aller Freude Halt findet am
bodenständigen Freund Henry (Dominik Hees, ganz Sympathieträger, da er
das Leben für eine Katastrophe hält, aber dabei cool bleibt). Vater Dan
(Thomas Borchert) sucht Lösungen im "Depressions-Chatroom" und gerät an
Ärzte (mal tranig wienerisch, mal als Rockstar-Therapeut: Ramin Dustdar), die
auch die Zerstörung von Erinnerung durch Elektro-Schocks als "fast normal"
empfehlen.
Bei der Premiere war zu beobachten, wie sich das Publikum, geeicht auf die
üblichen Musical-Rituale mit den großzügigen Publikums-Juchzern nach
jedem Song-Aufschwung, erst vom Schrecken des höheren Anspruchs der
Fabel erholen mussten. Als dann klar wurde, dass das "System Musical" auch
auf dieser etwas mehr als sonst gewundenen Abzweigung eigenartig
funktioniert, also zumindest in Deutschland schwerlich mit den gedanklichen
Komplikationen eines Schauspiels zu verwechseln ist, war der Jubel nicht
mehr aufzuhalten. Der gerührte Kritiker der New York Times und die
Pulitzerpreis-Jury hätten ihre Freude dran gehabt.
Fast normal – next to normal (DSE)
Musik von Tom Kitt, Buch und Gesangstexte von Brian Yorkey,
deutsche Fassung von Titus Hoffmann
Regie: Titus Hoffmann, Choreografie: Melissa King, Ausstattung: Stephan
Prattes.
Mit: Thomas Borchert, Pia Douwes, Ramin Dustdar, Dominik Hees, Dirk
Johnston, Sabrina Weckerlin.
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.stadttheater.fuerth.de
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Kritikenrundschau
"Da reißt ein Stück 700 Leute — die handelsüblichen Musical-Claqueure
inklusive — aus den Sitzen, weil es an die Lebenswirklichkeit des 21.
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Jahrhunderts andockt", schreibt Matthias Boll in den Nürnberger Nachrichten
(15.10.2013). Das "Husarenstück" von Regisseur und Übersetzer Titus
Hoffmann besteht aus Bolls Sicht darin, eine kongeniale deutschsprachige
Fassung der verblüffend dichten, Ironie, Tragik und Gefühl "souverän im
Gleichgewicht haltendenden Textfaktur" des Originals erarbeitet zu haben,
"die diesem 150-Minüter einen von der ersten Sekunde an fesselnd soghaften
Drive gibt". Wäre nicht der aus Bolls Sicht "dramaturgisch holprigere zweite
Teil mit einem allzu Apotheken-Umschau-mäßig parlierenden Therapeuten
(Ramin Dustdar) und ein Schluss, der mit dem Song 'Licht' eine ärgerlich
deplatzierte Kirchentags-Atmosphäre schafft", direser Kritiker "könnte Stück
und Produktion für rundum großartig halten".
http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8617:next-tonormal-fast-normal-die-deutsche-erstauffuehrung-des-broadway-erfolgsmusicals-amstadttheater-fuerth&catid=292&Itemid=100190
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Musical
Das Musical [ˈmju:zikəl][1] ist eine in New York entstandene, in der Regel zweiaktige
Form populären Musiktheaters, die Elemente des Dramas, der Operette, des
Varietees und in Ausnahmefällen- der Oper miteinander verbindet. Es basiert häufig
auf literarischen Vorlagen und verwendet die Mittel des amerikanischen Popsongs,
der Tanz- und Unterhaltungsmusik und des Jazz. Showszenen, Songs und Balletts
sind in die Handlung integriert. Den Autoren ist dabei eine dramatisch-integrierte
Form wichtig; also ein Drama, das Text, Gesang, Tanz und Musik zu einer Einheit
verschmelzen lässt. Das Musical ist „Drama mit Musik“, während die Operette als
„Drama in der Musik“ definiert wird. Während bei der Operette nur der Komponist
genannt wird, werden beim Musical der Komponist, der Librettist und manchmal auch
der Lyricist genannt. Das Musical ist ein Gesamtkunstwerk und ist eine literarische
als auch eine musiktheatralische Gattung.
Etymologie
Das Wort Musical ist lediglich ein Adjektiv (engl. musikalisch) und wurde in
ergänzenden Bezeichnungen zu den Stücktiteln gebraucht wie A Musical Comedy, A
Musical Play, Musical Drama, Musical Fable, Musical Revue. Eine genaue Definition
des Begriffes ist schwierig, da er eine große Stilfülle beinhaltet und sich die
Vorstellungen im Lauf der Zeit geändert haben. Häufig werden „Musical“ und
„Musical Comedy“ synonym verwendet. Mit Musical ist im engeren Sinne „Musical
Play“ (im Stil von Showboat (1927)) gemeint.
Geschichte
Ursprünge
Als in Amerika sich das Theater zu etablieren beginnt, war die Balladenoper die
dominierende Gattung des Theaters in der englischsprachigen Welt. Kein Wunder
also, dass die amerikanischen Autoren sich dieses Genres für ihr Nationaltheater
bedienten. Selbst das ernste Theater, wie Royal Tylers The Contrast oder James
Nelson Barkers Pocahontas, enthält Lieder. Der entscheidende Wegbereiter für das
Musical war die Minstrel Show. Da das Musical in einer demokratischen Gesellschaft
entstand und nicht von Aristokraten finanziert wurde, musste es Unterhaltung für
jedermann sein. Das Musical entstand in einem kommerziellen System; die
Zuschauer sollten den Theaterbetrieb finanzieren. Um möglichst viele Leute ins
Theater zu bringen, musste das amerikanische Musical Unterhaltung sein. Unter dem
Deckmantel Unterhaltung wird gleichzeitig dem kritischen, intellektuellen Zuschauer
ernsthafte, sozialkritische und anspruchsvolle Unterhaltung geboten. Das Musical
entwickelte sich aus älteren Formen des musikalischen Theaters wie Opera buffa,
Operette und Singspiel. Die Ursprünge des Musicals finden sich in London und New
York im 19. Jahrhundert. Als erstes Musical überhaupt wird oft das 1866 produzierte
Spektakel The Black Crook genannt. The Black Crook war zunächst ein Melodram
ohne Musik. Die Produzenten wollten ein französisches Ballett in die Handlung
integriert haben. Der Autor Charles Barras gab aus Geldgründen nach und integrierte
das Ballett.
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Eine entscheidende Rolle ungefähr seit dem Ersten Weltkrieg spielte das
Theaterviertel am Broadway als Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten,
Kulturen, Hautfarben, Konfessionen und sozialer Schichten. So flossen die
verschiedensten Einflüsse in die ersten Musicals ein: Swing und Jazz der Minstrel
Shows, französische Revuen und Music Hall-Konzerte, Theaterformen der britischen
Einwanderer wie das aus artistischen Nummern bestehende Vaudeville und die
Burlesque, die Operette aus Paris und Wien und das Flair der Wild-West-Sideshows.
Zum klassischen Operngesang gesellten sich neue Techniken wie das Belting. In
aufwändigen Extravaganzas hatten Bühneneffekte, Bühnenmaschinerie,
Tanzeinlagen und Kostüme große Bedeutung.
Zu Beginn des Jahrhunderts bestand die Broadway-Unterhaltung noch hauptsächlich
aus Revueshows wie den Ziegfeld Follies. Von einer spezifisch US-amerikanischen
Gattung kann man erst seit den 1920er Jahren sprechen. Aus dieser Zeit stammen
etwa George Gershwins Lady, Be Good (1924) und Jerome Kerns Show Boat
(1927). Showboat gilt als das erste ernstzunehmende Musical (Musical Play). In
diesem Stück ergaben sich die Songs aus der Handlung, ohne diese zu stoppen.
Außerdem wurde auch Sozialkritik mit eingeflochten, wie gegen die Diskriminierung
der Afroamerikaner.
Klassische Zeit
Der New Yorker Broadway gilt neben dem West End in London nach wie vor als
Zentrum der Musicalwelt. Durch die zunehmende Konkurrenz durch den Film löste
sich das Musical von der bloßen Nummernshow und erlebte von den 1930er bis zu
den 1950er Jahren eine Blütezeit. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte das
Musical sensible gesellschaftliche Themen, wie z. B. 1949 in South Pacific.
Neben dem ernsten Musical Play gab es seit 1930 auch die Musical Comedy, die
sich mit einem literarischen Buch von den bunt zusammengestellten Revuen abhob.
Auf eine erste Generation von Komponisten, wie Cole Porter und George Gershwin
(1920er bis 1940er Jahre), folgte auf dem Höhepunkt der „klassischen“ Zeit eine
zweite mit Richard Rodgers oder Jule Styne (1940er bis 1960er). Mit dem RodgersSchüler Stephen Sondheim ging diese Tradition in den 1970er Jahren zu Ende.
Als Textautor dominierte Oscar Hammerstein.
Ganz wesentlich prägte West Side Story (1957) von Leonard Bernstein die
zunehmende Entfernung des Musicals von Pathos und drolliger Komik. Eine
Umbruchzeit waren die 1968er Jahre mit dem Niedergang der gefühlsbetonten, oft
als kitschig empfundenen Musicals, die allerdings in den 1980er Jahren
wiederkehrten.
Das Filmmusical
Die Entwicklung des Filmmusicals, die durch die Entwicklung des Tonfilms in den
1930er Jahren ins Rollen gebracht wurde und parallel zur Weiterentwicklung am
Broadway verlief, machte die Gattung „Musical“ weltweit beliebt. Zunächst waren es
hauptsächlich Revuefilme. Mit dem Filmmusical wurden am Anfang der Dreißiger
Jahre neue Aufnahmetechniken erfunden. Die sogenannten „Overhead shots“
machten die Choreografien von Busby Berkeley, der für Warner Brothers Musicals
produzierte, zum Markenzeichen. Darin bildeten – fernab jeglicher Realität –
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Hunderte von Tänzerinnen menschliche Ornamente. In Lullaby of Broadway sieht
man Hunderte von stepptanzenden Füßen in riesigen Art-Deco--Kulissen.
Eine besondere Stellung hatte das Studio Metro-Goldwyn-Mayer. MGM – und hier
vor allem die Produktionen Arthur Freeds – wurde zum Synonym für dieses Genre,
das in Ein Amerikaner in Paris (1951, nach George Gershwin) seinen künstlerischen
und qualitativen Höhepunkt fand und dafür mit einem wahren Oscarregen bedacht
wurde. Ein anderes typisches Filmmusical, das sich zu einem Klassiker entwickelte,
ist Singin’ in the Rain (1952), in dem die Filmindustrie persifliert wurde. Beginnend
mit Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) prägte Walt Disney die
Musicalform auch für abendfüllende Zeichentrickfilme.
Es fand ein reger Ideenaustausch statt zwischen dem Musicalzentrum Broadway und
Hollywood, dem Mittelpunkt der Filmproduktion. So wurden viele der BroadwayErfolge verfilmt, genauso wie später Filme als Musical-Vorlage dienten. Das Medium
Film eröffnete dem Musical neue Dimensionen und ermöglichte mehr Perfektion
sowie üppigere Ausstattung. Durch das Verlassen der Bühne wich das
Illusionstheater realistischen Landschaftsbildern. Erstmals waren rasche
Szenenwechsel ohne Umbaupausen genauso realisierbar wie Nahaufnahmen, die
dem Zuschauer das Gefühl vermittelten, in der ersten Reihe des Theaters zu sitzen.
Das Film-Musical konnte durch einprägsame Lieder, Witz, akrobatische Tanzkünste,
kostspielige Ausstattung und technische Effekte eine abwechslungsreiche
Unterhaltung für ein Massenpublikum bilden. So wurde das Musical zur Handelsware
und entwickelte sich zu einer „Kulturindustrie“. Die Blütezeit des Filmmusicals waren
die späten vierziger und die fünfziger Jahre, danach wurde dieses Genre allmählich
unpopulär. Als erfolgreichster Musicalfilm aller Zeiten folgte jedoch noch The Sound
of Music (1965), die Verfilmung einer Broadway-Produktion. Filme wie Das
zauberhafte Land (1939), Doktor Dolittle (1967) nach Hugh Lofting, Mary Poppins
(1964) oder der Zeichentrickfilm South Park: Der Film – größer, länger,
ungeschnitten (1999) ließen mitunter den (falschen) Eindruck entstehen, dieses
Genre wäre vor allem für Kinder geeignet.
Das Rock-Musical
Ende der 1960er Jahre gingen neue Ideen und Klänge, beeinflusst durch Woodstock,
Underground-Musik, auch an den Musicals nicht vorbei. Zu dieser Entwicklung
gehörte das Musical Hair von 1967, das sich intensiv mit den Problemen
Jugendlicher und deren aktueller Lage (Vietnamkrieg) beschäftigt. Durch eingebaute
Mitspielszenen wurde die Barriere zwischen (jugendlichen) Darstellern und dem
Publikum gebrochen. Auch der musikalische Stil und die Instrumentation passten
sich den neuen Anforderungen an. Aktuelle Rockmusik verdrängte die sinfonischen
Merkmale und die Jazzelemente in der Musik. Das Orchester wurde durch
elektroakustische Instrumente wie die E-Gitarre ergänzt oder ersetzt.
Hair (1967) oder Oh! Calcutta! (1969) ersetzten den Handlungsrahmen durch ein
provokatives inhaltliches Konzept, das sich wieder mehr der Revue annäherte. Eine
neue Art der Satire wie in Richard O’Briens The Rocky Horror Show (1973) wandte
sich gegen die mittlerweile als brav empfundene Komik der Musical Comedy.
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In den 1970er Jahren setzte sich eine neue Tendenz in der Kompositionsweise
durch: Die handlungstragenden gesprochenen Dialoge im alten Stil der Opéra
comique verschwanden. Es wurde nun, wie in „durchkomponierten“ großen Opern,
durchgehend gesungen. Die Musik schuf einen lückenlosen Zusammenhang. In
dieser Zeit entstanden Musicals wie Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar
(1971) und The Who's Tommy (1969) und Quadrophenia (1973).
Moderne Musicals
Mit den Stücken von Andrew Lloyd Webber wie Cats (1980), Starlight Express (1984)
oder Phantom der Oper (1986) setzte seit Beginn der 1980er Jahre eine neue
Musicalmode in Europa ein. Diese Musicals waren fast ausnahmslos
durchkomponiert. Noch konsequenter als bei den klassischen Musicals dienten die
szenische Realisierung ebenso wie die Musik als unveränderliche Vorlagen für alle
Produktionen.
Aufgrund der hohen Investitionen mussten sehr lange Laufzeiten erreicht werden.
Ende des 20. Jahrhunderts wurden in vielen Städten spezielle Musical-Theater
gebaut, um dort ein bestimmtes Musical optimal zu präsentieren. Prägnantestes
Beispiel hierfür ist das 1988 für 24 Millionen DM fertiggestellte Starlight Express
Theater in Bochum, dessen Installation der gesamten Bühnentechnik in nur 4
Monaten angefertigt worden ist und in nur 13 Monaten gebaut wurde. Das Theater
am Stadionring steht damit zweimal im Guinness-Buch der Rekorde: Zum einen ist
es das am schnellsten gebaute Theater, zum anderen, weil es das erste speziell für
ein bestimmtes Stück gebaute Theater ist.[2] (Den Rekord des weltweit
erfolgreichsten Musicals an einem Spielort hat die Bochumer Produktion übrigens
nach 20 Jahren und über 12 Millionen Zuschauern längst eingefahren. [3])
Stilistisch hatten die Musicals des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine große
Bandbreite und orientierten sich wieder mehr an hergebrachten Theatergattungen
wie der Revue, der Extravaganza, dem Melodram, dem Musical Play oder dem Film.
Rock- und Jazzelemente wurden mit sinfonischen Klängen vermischt und der
Operngesang mit dem Belting. Les Misérables (1980) ist dafür ein gutes Beispiel
oder Aida (2000).
In neuerer Zeit zeigte sich eine Annäherung des Bühnenmusicals an das Konzert in
Gestalt des Jukebox-Musicals wie etwa in Buddy (1989, Buddy Holly), Saturday
Night Fever (1998, Bee Gees), Mamma Mia! (1999, ABBA), We Will Rock You (2002,
Queen), Priscilla, Queen of the Desert (2006, Disco-Musik, basierend auf dem Film
Priscilla – Königin der Wüste), Ich war noch niemals in New York (2007, Udo
Jürgens), Ich will Spaß (2008, NDW), Über Sieben Brücken (2009, Ostrock) oder
Hinterm Horizont (2011, Udo Lindenberg).
In den USA bleibt das Musical seiner Tradition treu. Der führende Komponist und
Librettist am New Yorker Broadway ist seit den 1970er Jahren Stephen Sondheim.
Das bedeutendste Musical der letzten Dekaden in den USA ist Sunday in the Park
with George.
Kindermusical
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Der Begriff „Kindermusical“ erscheint zuerst Anfang der 1970er Jahre im Bereich des
professionellen Kinder- und Jugendtheaters.[4] Musikalische Theaterformen für
Kinder und Jugendliche sind seit dem Jesuitentheater der Renaissance verbreitet. Im
Rahmen des Religionsunterrichtes und in der Kinder- und Jugendarbeit der Kirchen
werden gern Kindermusicals erarbeitet. Neueren Datums sind die Stücke des
Braunschweiger Domkantors Gerd-Peter Münden und des Komponisten Klaus
Heizmann (Der verlorene Sohn, Der Stern von Bethlehem, Suleilas erste Weihnacht),
sowie das Werk Unterwegs mit David von Michael Benedict Bender und Ingo
Bredenbach nach einem Text von Brigitte Antes.
An nicht religiösen Musicals, die zur Aufführung durch Kinder bestimmt sind, gibt es
etwa die Ritter Rost-Serie von Jörg Hilbert und Felix Janosa (Terzio Verlag), dann die
Musicals des Ehepaars Veronika te Reh und Wolfgang König (Carus-Verlag) sowie
die Musicals aus dem Fidula-Verlag unter anderem von Mechtild von Schoenebeck.
Zum Mozartjahr 2006 erschien das Kindermusical Amadeus legt los von Thekla und
Lutz Schäfer. Musicals für die Aufführung durch Jugendliche schreibt u.a. Claus
Martin (Pinocchio, Heidi, Dracula, das Grusical, Cantus Verlag)
Neben den für jugendliche Amateure bestimmten Kindermusicals gibt es
professionelle Produktionen für Kinder, meist nach Kinderbüchern und -filmen wie
Pippi Langstrumpf, Das Sams, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Tabaluga.
Einer der meistgespielten Autoren in diesem Bereich ist Christian Berg (viele seiner
Werke mit der Musik von Konstantin Wecker)
Wichtige Musical-Komponisten
Die Liste ist alphabetisch sortiert nach dem Namen des Komponisten.
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Benny Andersson und Björn Ulvaeus (Chess, Kristina från Duvemåla, Mamma
Mia!)
Harold Arlen (Jamaica, Der Zauberer von Oz)
Burt Bacharach (Promises, Promises)
Lionel Bart (Oliver!)
Irving Berlin (Annie Get Your Gun, Call Me Madam, Miss Liberty)
Leonard Bernstein (On the Town, West Side Story, Wonderful Town, Candide
(nach Voltaires Candide))
Jerry Bock (Anatevka, She Loves Me)
Jason Robert Brown (Parade, Songs For A New World, The Last Five Years,
Urban Cowboy)
Warren Casey und Barry Gibb (Grease)
Frank Churchill (Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dumbo, Bambi)
Cy Coleman (Little Me, The Life, I Love My Wife, Sweet Charity, Seesaw, On
the Twentieth Century, Barnum, City of Angels)
Phil Collins (Tarzan)
George Gershwin (Girl Crazy, Of Thee I Sing, Shall We Dance, Funny Face)
Marvin Hamlisch (A Chorus Line, They’re Playing Our Song)
Jerry Herman (Hello, Dolly!, Mame, La Cage aux Folles, Dear World)
Elton John (Der König der Löwen, Aida, Billy Elliot – I Will Dance)
John Kander (Chicago, Cabaret, The Act, Kuss der Spinnenfrau)
Jerome Kern (Show Boat, Sally, Sunny, Roberta)
Jonathan Larson (Rent, Tick, Tick... BOOM!)
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Mitch Leigh (Der Mann von La Mancha)
Sylvester Levay (Elisabeth, Mozart!, Rebecca, Marie Antoinette)
Frank Loesser (Guys and Dolls, Hans Christian Andersen, How to Succeed in
Business Without Really Trying)
Frederick Loewe und Alan Lerner (Brigadoon, Camelot, My Fair Lady, Gigi)
Galt MacDermot (Hair)
Henry Mancini (Victor/Victoria)
Alan Menken (Der kleine Horrorladen (engl. Titel: Little Shop of Horrors), Die
Schöne und das Biest (engl. Titel: Beauty and the Beast), Der Glöckner von
Notre Dame, The Little Mermaid, Sister Act, Newsies)
Richard O’Brien (The Rocky Horror Show)
Cole Porter (Gay Divorce, Anything Goes, Silk Stockings, Can-Can, Kiss Me,
Kate)
Gerard Presgurvic (Roméo et Juliette, de la Haine à l’Amour, Autant en
Emporte le Vent (Vom Winde verweht))
A. R. Rahman (Bombay Dreams)
Jimmy Roberts (I Love You, You're Perfect, Now Change, The Thing About
Men)
Richard Rodgers und Oscar Hammerstein (Oklahoma!, Cinderella, The King
and I, The Sound of Music, Carousel, South Pacific)
Mary Rodgers (Once Upon on a Matress)
Richard Rodgers und Lorenz Hart (Pal Joey, On Your Toes, Babes in Arms,
The Boys from Syracuse)
Harry Schärer (Space Dream, Twist of Time)
Harvey Schmidt und Tom Jones (The Fantasticks, Mirette)
Claude-Michel Schönberg (Les Misérables, Miss Saigon, Martin Guerre)
Arthur Schwartz ( The Band Wagon, By the Beautiful Sea)
Stephen Schwartz (Godspell, Wicked – Die Hexen von Oz, Pippin,
Pocahontas, The Prince of Egypt)
Marc Shaiman (Hairspray, Catch Me If You Can)
Richard M. Sherman und Robert B. Sherman (Mary Poppins (Film) und
Bühnenmusical, Das Dschungelbuch, Tschitti Tschitti Bäng Bäng, Aristocats,
Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett)
Stephen Sondheim (A Little Night Music, A Funny Thing, Anyone Can Whistle,
Company, Follies, Sweeney Todd, Into the Woods, Passion, Liedtexte zu
West Side Story, Evening Primrose, Assassins, Sunday in the Park with
George, Pacific Overtures, Merrily We Roll Along)
Jim Steinman (Tanz der Vampire, Dance of the Vampires)
Dave Stewart (Barbarella)
Charles Strouse (Bye Bye Birdie, Annie)
Jule Styne (Blondinen bevorzugt, Gypsy, Funny Girl)
Karel Svoboda (Dracula)
Pete Townshend (Tommy, Quadrophenia)
Oliver Wallace (Dumbo, Cinderella, Alice im Wunderland, Peter Pan, Susi und
Strolch)
Harry Warren (42nd Street)
Andrew Lloyd Webber (Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat,
Aspects of Love, Cats, Cricket, Das Phantom der Oper, Evita, Jesus Christ
Superstar, By Jeeves, Song and Dance, Starlight Express, Sunset Boulevard,
The Beautiful Game, Tell Me on a Sunday, Whistle Down the Wind, The
Woman in White, The Likes of Us, Phantom: Love Never Dies)
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Konstantin Wecker (Hundertwasser-Musical, Ludwig²)
Kurt Weill (Lady in the Dark, Street Scene, Lost in the Stars, One Touch of
Venus)
Frank Wildhorn (Jekyll & Hyde, The Scarlet Pimpernel, Dracula,
Victor/Victoria, Rudolf - Affaire Mayerling, Der Graf von Monte Christo)
Meredith Willson (The Music Man, The Unsinkable Molly Brown)
Eric Woolfson (Freudiana, Gaudí, Gambler, Dancing with Shadows, Edgar
Allan Poe)
Maury Yeston (Nine, Phantom, Titanic – Das Musical)
http://de.wikipedia.org/wiki/Musical
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Bipolare Störung
Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung, bei der die Betroffenen an
übersteigerten, weit über das normale Maß hinausgehenden
Stimmungsschwankungen und Antriebsstörungen leiden. Dabei wechseln sich
depressive Phasen mit manischen Phasen ab. Während depressive Episoden mit
einem Gefühl der Traurigkeit und inneren Leere, Interessen- und Antriebslosigkeit
einhergehen, empfinden Betroffene in manischen Phasen eine grenzenlose
Hochstimmung mit gesteigertem Tatendrang und Selbstüberschätzung.
Was ist eine bipolare Störung?
Stimmungsschwankungen kennt vermutlich jeder Mensch. An manchen Tagen fühlt
man sich glücklich, das Leben ist heiter und unbeschwert und alles geht einem leicht
von der Hand. Dann wiederum gibt es Tage, an denen man sich bereits beim
Aufwachen niedergeschlagen fühlt. Die Welt wirkt trist und grau und alles erscheint
anstrengend und mühsam. Solche gelegentlichen Stimmungsschwankungen sind
völlig normal und meistens eine Reaktion auf bestimmte Situationen und
Lebensumstände.
Bei der bipolaren Störung, die einige Ärzte auch als manisch-depressive Erkrankung
bezeichnen, gehen die Stimmungsschwankungen weit über dieses normale Maß
hinaus. Die Stimmung pendelt unabhängig von der Lebenssituation und ohne
konkreten Anlass wie bei einer Achterbahnfahrt zwischen den Extremen hin und her
– von „himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt“. Phasen schwerer Depression und
Schwermütigkeit und sogenannte manische Phasen mit intensivem Hochgefühl und
überschäumender Euphorie lösen sich gegenseitig ab und können sich ohne
Unterbrechung über viele Monate oder sogar Jahre hinziehen.
Bei Menschen mit einer bipolaren Störung schwanken die Stimmungen zwischen
tiefer Depression und euphorischer Hochstimmung
Die Betroffenen fühlen sich diesem Wechselbad der Gefühle meistens hilflos
ausgeliefert und sind kaum in der Lage, ihre Stimmung selbst zu beeinflussen. Die
bipolare Störung wirkt sich allerdings nicht nur auf die Stimmung aus, sie verändert
auch das Denken, das Handeln und den körperlichen Zustand der betroffenen
Menschen. In manchen Fällen ist die psychische und soziale Beeinträchtigung
durch die Erkrankung so schwerwiegend, dass ein normaler Alltag nicht mehr
möglich ist.
Die bipolare Störung ist kein einheitliches Krankheitsbild und verläuft individuell sehr
unterschiedlich. Vor allem die Schwere und die Länge der einzelnen Episoden kann
sehr verschieden sein. Grundsätzlich unterscheiden Ärzte vier unterschiedliche
Formen der bipolaren Störung:


Bipolar-I-Erkrankungen sind durch einen Wechsel von stark ausgeprägten
Manien und schweren Depressionen gekennzeichnet.
Bei den Bipolar-II-Erkrankungen sind die manischen Phasen kürzer und
weniger stark ausgeprägt als bei der Bipolar-I-Erkrankung. Man bezeichnet
solche Episoden auch als Hypomanien. Hypomanische Episoden sind oft sehr
schwer festzustellen und das Krankheitsbild ist nur schlecht von einer reinen
Depression zu unterscheiden.
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

Eine besondere Form der bipolaren Störung ist das Rapid Cycling, das viele
Betroffene als extrem belastend beschreiben. Beim Rapid Cycling kommt es zu
einem besonders schnellen Wechsel der Episoden. Innerhalb von 12 Monaten
treten mindestens vier manische, hypomanische oder depressive Phasen auf.
Bei den gemischten Episoden treten Symptome von Depression und Manie
entweder in extrem schnellem Wechsel oder gleichzeitig auf. Das
Krankheitsbild ist bei solchen Mischzuständen sehr variabel und schwer zu
diagnostizieren.
Die bipolare Störung ist eine relativ häufige psychische Erkrankung. Experten
schätzen, dass bis zu fünf Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind. Das
entspricht alleine in Deutschland ca. vier Millionen Menschen. Die Krankheit beginnt
meistens im jugendlichen bis jungen Erwachsenenalter. Da
Stimmungsschwankungen gerade in der Pubertät aber auch bei gesunden
Jugendlichen nicht ungewöhnlich sind, wird die bipolare Störung zu dieser Zeit oft
noch nicht als solche erkannt. Noch heute vergehen zwischen der ersten Episode
und der Diagnose durchschnittlich fünf bis zehn Jahre. Die psychische und soziale
Entwicklung der Betroffenen ist zum Zeitpunkt der Diagnose deshalb oft schon
nachhaltig gestört. Es ist deshalb besonders wichtig, die Anzeichen einer bipolaren
Störung möglichst früh zu erkennen und so schnell wie möglich medizinische Hilfe in
Anspruch zu nehmen. Zwar kann die Erkrankung zum heutigen Zeitpunkt nicht
geheilt werden, eine angemessene Behandlung kann die Situation der Patienten
aber erheblich verbessern.
http://www.praxisvita.de/bipolare-storung
23
Bipolare Störung
"In einer Manie war meine Mutter nicht zu stoppen"
Die einen sagen bipolare Störung, die anderen manisch-depressiv. Naema Gabriel
ist der Name egal: Ihre Mutter leidet an der chronischen Krankheit. Ein Interview.
Selbst viele Erwachsene wissen nicht, was eine bipolare Störung ist. Naema Gabriel
wurde schon früh damit konfrontiert, denn sie und ihre ältere Schwester wuchsen bei
ihrer manisch-depressiven Mutter auf. Ihre Erfahrungen hat sie in dem Bilderbuch
"Sinus" verarbeitet. Ein Gespräch über Spaghetti in der Badewanne und die Angst
vorm Waisenhaus.
"Laut Beipackzettel darf Mama in ihrem Zustand nicht Auto fahren oder andere
Maschinen bedienen. Vom Kindererziehen steht da nichts." - Obwohl Naema
Gabriels Mutter an einer bipolaren Störung leidet, zog sie ihre beiden Töchter alleine
groß - und brachte sie damit mehrfach in Lebensgefahr.
Foto: Naema Gabriel
"Mama war traurig, weil die Liebe zwischen Mama und Papa aufgebraucht war. Und
die Liebe zwischen Mama und Papa war aufgebraucht, weil Mama immer traurig war.
Da haben sie ihren Tisch und ihr Bett zertrennt. Zuerst für ein Jahr und dann für
immer. Franka und ich, wir sind untrennbar. Papa hat gesagt, ich will die Kinder bei
mir haben. Mama hat gesagt: ich will lieber tot sein als von den Kindern getrennt. So
lieb hat sie uns. Deswegen sind wir mit Mama, mit den Möbeln und den Schachteln
bei Papa ausgezogen. Mamas Wohnung ist voll bis unter die Decke und viel zu klein
für uns. Papas Wohnung ist leer und viel zu groß für uns. Heute ist das Jahr vorbei.
Heute fängt für immer an." (Auszug aus Naema Gabriels Buch "Sinus")
Frau Gabriel, woran haben Sie gemerkt, dass Ihre Mutter anders ist?
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Naema Gabriel: Einen Schlüsselmoment gab es an meinem sechsten Geburtstag.
Ich wusste von anderen Kindergeburtstagen, dass Mütter sich normalerweise im
Hintergrund halten, Spiele vorschlagen, Würstchen und Kuchen reichen. Meine
Mutter hat wie ein Partylöwe alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, war in ihrer
Euphorie nicht zu stoppen und hat mich dabei komplett vergessen. Da hat es mich
das erste Mal wirklich gestört. In ihren manischen Phasen hatte meine Mutter
außerdem immer Fernweh, sie ging impulsartig auf Reisen. Sie hat mich auch viel
mitgenommen. Das hatte immer etwas sehr Abenteuerliches, wie bei Pippi
Langstrumpf.
Über die Autorin
Naema Gabriel, 40, hat Kunst studiert und arbeitet unter ihrem Pseudonym
freiberuflich als Autorin und Illustratorin. Ihr erstes Buch "Sinus" ist vor kurzem auch
als E-Book erschienen. Über ihre verrückte Kindheit spricht sie regelmäßig bei
Lesungen - in der Hoffnung, mehr Menschen für die Krankheit Bipolare Störung zu
sensibilisieren.
An was für Momente denken Sie dabei?
An Autofahren mit aufgedrehter Musik. Lauthals singend den Schwung von einem
Hügel zu nehmen, um den Nächsten hochzufliegen. Meine Mutter hat eine sehr
ausgeprägte Fantasie, sie erzählte meiner Schwester und mir zum Beispiel, das sei
die Sprungschanze in den Himmel. Sie hat auch ein echtes Schauspieltalent und
konnte uns die tollsten Charlie-Chaplin-Szenen vorspielen. Wir durften sehr viel: Mit
Rollschuhen in der Wohnung fahren, über Tische und Bänke klettern oder Spaghetti
in der Badewanne essen. Aber in einer Manie konnte es ihr auch passieren, dass sie
mich an einer Autobahnraststätte vergisst wieder einzupacken. Meine Schwester hat
sie dann auf mein Fehlen aufmerksam gemacht. Dann ist sie natürlich abgebogen.
Das war nicht die einzige kritische Situation.
Vieles hatte mit dem Autofahren zu tun. In ihren manischen Phasen war meine
Mutter zu aufgedreht zum Schlafen. Wir haben mehrmals an einer Raststätte oder
einer Tankstelle im Auto übernachtet, wenn die Müdigkeit sie dann doch überfallen
hatte. Einmal sind wir im Straßengraben gelandet, weil sie am Steuer eingenickt ist.
In einer Manie war meine Mutter zudem übertrieben kontaktfreudig. Ihr fehlte das
Gespür für Grenzen. Es kam oft vor, dass sie mit Männern anbandelte und sie mit zu
uns nach Hause brachte - manchmal gabelte sie auch Obdachlose auf. Wenn dann
früh morgens das Fernweh aufkam, fuhr sie einfach los und ließ uns mit ihren
Bekanntschaften allein.
Die manischen Phasen waren also gefährlicher als die depressiven.
25
Ja - deswegen war ich trotz allem irgendwie erleichtert, wenn meine Mutter depressiv
war. Ich habe zwar gemerkt, dass sie sehr traurig und antriebslos war. Aber ich
wusste, dass sie da ist, wenn ich aus der Schule nach Hause komme. Sie hat
während der Depressionen auch eher ihre Medikamente genommen - die sollen das
Schlimmste verhindern.
"Ich bin Teenager, aber ich mach meiner Familie keine Probleme. Ich hab andere
Sorgen. Die Angst, dass meine Mutter sich mehr oder weniger absichtlich aus dem
Leben katapultieren könnte, ist bei mir Alltag. Ihre ganz eigenen Gezeiten, die sie
regelmäßig mal himmelhoch, mal kratertief wirbeln, bringen sie todsicher jedes Mal
an einen teuflischen Wendepunkt. Bevor nämlich die Metamorphose von manisch zu
depressiv ganz vollbracht ist, tun sich unterschiedliche Facetten meiner beiden
Mütter neu zusammen und ergeben eine implosive Mischung.
Der Doktor macht einen Strich, das ist die Null-Linie, zack. Dann malt er eine
Sinuskurve, mit rotem Kuli für "Manie" oberhalb der Null-Linie und blauem Kuli für
"Depression" unterhalb der Null-Linie. "Die Medikamente", sagt er, "sollen folgendes
bewirken." Er legt den Kopf schief wie ein Kind und malt horizontale Striche in Grün
mit denen er die Hügel und die Täler der Sinuskurve abhackt. "Schwierig wird es
hier", er malt Kringel um die Stellen, wo die Sinuskurve die Null-Linie ungerührt von
oben nach unten überquert. "Da hat der Patient noch den euphorischen Antrieb der
Manie, aber schon die Stimmung der Depression. Oder hier:" (Kringel an der
nächsten Kreuzung weiter rechts) "noch die Gedanken der Depression, schon die
Kraft der Manie. Da ist statistisch gesehen die Suizidwahrscheinlichkeit am höchsten.
Man sollte denken, hier:" (Kringel am Tiefpunkt der Talkurve) "da ist der Patient ja am
depressivsten, aber nein, am höchsten ist die Suizidwahrscheinlichkeit hier: noch
die..." – "JA, JA, JA! Hab's ja schon verstanden! – Hatte es vorher schon verstanden,
auch ohne Schaubild."
Meine Welt ist in Ordnung, wenn ich weiß: Mama ist sicher in ihrer Depression
gelandet. Endlich mal Ruhe die nächsten paar Wochen. Der Tsunami, den sie am
Anfang ihrer letzten Manie ausgelöst hat, ist über uns hinweg getobt. Die Termine
der Konzerte, die sie angezettelt hat, sind sang- und klanglos vergangen. Die
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Liebhaber, die gekommen waren, um sich endlich zu holen, was ihnen versprochen
worden war, sind unverrichteter Dinge von der verschlossenen Wohnungstür
abgezogen. Die unbezahlten Rechnungen haben die Tanten schwesterlich geteilt
und barmherzig beglichen."
Foto: Naema Gabriel
Ihre Mutter war alleinerziehend, Ihr Vater lebte in einer anderen Stadt. Warum
haben sich weder Ihre Verwandten noch der behandelnde Arzt um Hilfe
bemüht?
Das habe ich meine Tanten auch gefragt. Sie fanden, dass wir Kinder nicht mehr zu
ihrem Zuständigkeitsbereich gehören. Sie fühlten sich für meine Mutter verantwortlich
und hatten mit ihr alle Hände voll zu tun: Den Haushalt managen, Rechnungen
bezahlen - Sachen, die sie ausgeheckt hat, wieder geradebiegen. Wir Kinder waren
zudem sehr unauffällig. Ein typisches Verhalten, wie ich inzwischen weiß. Es gibt
dieses Phänomen der Parentifizierung wie bei Kindern suchtkranker Eltern: Die
Kinder schlüpfen unbewusst in die Elternrolle. Sie erscheinen übermäßig vernünftig,
nehmen sich sehr zurück. Das wird oft missinterpretiert. Die Tanten, mein Vater,
Lehrer und Ärzte haben uns für reif und vernünftig gehalten, nach dem Motto: "Die
können selbst auf sich aufpassen." Das werfe ich ihnen im Rückblick vor. Auf der
anderen Seite müsste selbst ein williger Helfer erst eine hohe Mauer des Schweigens
überwinden, um ein Kind dazu zu bringen, über seine Sorgen zu Hause zu sprechen.
Kinder sind extrem solidarisch mit ihren Eltern. Das verlangt schon sehr viel
Ausdauer und Feingefühl.
Bipolare Störung - was bedeutet das?
Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt - das trifft das Krankheitsbild einer bipolaren
Störung recht gut. Sie lässt sich allerdings nicht so klar definieren wie andere
Erkrankungen, da Form und Verlauf sehr unterschiedlich sein können. Betroffene
leiden unter extremen Stimmungsschwankungen; Euphorie und Schwermut, also
manische und depressive Phasen, wechseln sich ab. Eine Liste typischer Symptome
hat das Informationsportal Neurologen und Psychiater im Netz zusammengestellt. In
Deutschland sind etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung von einer bipolaren
Störung betroffen. Experten schätzen, dass sich lediglich ein Drittel von Ihnen
behandeln lässt.
Ein Feingefühl, das offenbar niemand in Ihrem Umfeld besaß.
Weil alle dachten, dass sich schon irgendjemand kümmern wird. Der Arzt denkt: "Die
kriegen doch regelmäßig Besuch von den Tanten." Die Tanten denken: "Die kriegen
doch regelmäßig Besuch vom Vater." Dabei betritt der Vater die Wohnung nicht.
Oder die Lehrer sagen: "Die Nachbarn würden doch was mitkriegen." Und die
Nachbarn sagen: "Die Lehrer müssten doch was merken." Jeder sieht nur die Spitze
vom Eisberg - doch das ist keine Entschuldigung. In meiner Kindheit wiesen die
27
Spitzen auf einen so großen Eisberg hin, da war es schlicht unterlassene
Hilfeleistung, nichts zu tun. Meine Tanten holten meine Schwester und mich einmal
aus einem Hotel ab, in dem unsere Mutter uns allein gelassen hatte. Wir hatten
Fieber und Hunger, ernährten uns aus der Minibar. Da ist es nicht okay zu sagen,
das Problem ist gelöst, wenn die Kinder am nächsten Tag wieder in die Schule
gehen. Erwachsene sollten nachfragen. Wenn sie sich nicht zutrauen, selber
Verantwortung zu übernehmen, gibt es schließlich genügend Anlaufstellen, an die sie
sich wenden kann.
Hätten Sie sich als Kind gewünscht, von Ihrer Mutter getrennt zu werden?
Natürlich nicht. Natürlich im wahrsten Sinne des Wortes. Es liegt in der Natur des
Kindes, dass es bei der Mama bleiben möchte - selbst wenn es geschlagen oder
missbraucht wird. Hätte man mir aber gesagt, dass ich in schlimmen Phasen
woanders unterkommen kann* (s. Abspann), sonst aber weiterhin bei meiner Mutter
wohne, hätte ich das sicher angenommen. Meine Horrorvorstellung war, dass man
ein für alle Mal geschnappt wird, ins Waisenhaus kommt und die Mutter bis an ihr
Lebensende ins Irrenhaus gesteckt wird.
Foto: Naema Gabriel
"Die Franka toupiert erst ihre Haare und dann meine. Augen zu, Luft anhalten, Kopf
runter hängen, voll in die Haarlack-Wolke. Super: wir haben Haare wie braune
Zuckerwatte. Jetzt in die hundert Spitzen-Unterröcke steigen, die Mama mal
antiquarisch gekauft hat. Alle Gürtel, die wir finden, kreuz und quer um die Hüften.
Mindestens fünfzig Männer-Unterhemden auf Bauchnabelhöhe abschneiden und
übereinander anziehen – schräg, mal so, mal so, Hauptsache, die Schultern gucken
raus. Bei Franka sieht der Lippenstift super aus. Ich seh aus, als hätte ich Spaghetti
mit Tomatensoße gegessen. Egal.
Wir tanzen wie Madonna. Zwei Madonnas im Zimmer, zwei im Spiegel. Okay, jetzt
können wir los. Ich schlüpf mit meinen nackten Armen in die kühle Daunenjacke, das
fühlt sich komisch an und neu. In der Garage haben wir die Besen geparkt. Wir reiten
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auf unseren Hexenbesen durch das dunkle Dorf, zum Partykeller vom CVJM. Die
ganzen katholischen Kinder stehen rum, haben Salzstangen und Coladosen in den
Händen und reden, immer zu dritt. Thriller kommt ganz laut, aber alle sind so: ich hab
Wichtigeres zu tun als Tanzen. Die Franka kennt jemanden, aber der kommt erst
später. Ich kenn auch jemanden, vom Sehen, den da in der Ecke, den von der
Bushaltestelle. "Hallo. Na?" Vielleicht erkennt der mich nicht. "Wir sind Hexen!" – "Ihr
seid Nutten." – "Aber..."
Ich halt ihm meinen Besen hin. "Weil Eure Mutter eine Nutte ist – hat mein Vater
gesagt!" – Ich erzähl alles der Franka: "...hat sein Vater gesagt!". Sie legt den Arm
um mich, schiebt mich vor sich her, zum Eingang, wieder raus aus dem CVJM. Auf
dem Rückweg reiten wir nicht, wir gehen zu Fuß und ziehen die Besen hinter uns
her. Zuhause machen wir den Fernseher an. Kölle allaf – das können wir auch. Wir
marschieren mit durchgedrückten Knien, winken wie Funkenmariechen-Roboter und
zeigen alle Zähne – fest zusammenbeißen! Wir knicken vor Kichern nach vorne,
marschieren weiter, knicken wieder. Tä-täää, Tä-täää, Tä-täää!"
Foto: Naema Gabriel
Dazu kam es nie. Probleme hatten Sie trotzdem.
Wir wurden sozial ausgegrenzt. Meine Mutter hat manchmal mit den Vätern anderer
Kinder geflirtet. An einem Fasching hat ein Kind meine Schwester und mich als
Nutten beschimpft, weil der Vater des Kindes ihm das eingeredet hat. Ich kannte das
Wort bis dahin nicht mal. Meine Schwester hat auf solche Dinge mit einer
Überanpassung reagiert, sie war immer besonders schick gestylt. Wir verließen
morgens unsere verwahrloste Wohnung und auf dem Schulweg sah meine
Schwester aus, als kämen wir aus einem der besseren Haushalte. Wir haben
versucht, eine Fassade aufzubauen - was nicht gut geklappt hat.
Inwiefern?
Wenn die anderen Kinder ihren Eltern erzählt haben, wie es bei uns zu Hause
aussieht, durften sie nicht mehr kommen. Jugendliche Freundinnen fanden es später
eher cool, von meiner Mutter eine Zigarette angeboten zu bekommen - in einer
Wohnung, die ein einziges Chaos ist - Anarchie pur. Ich habe mich dagegen eher
nach Ordnung und Regeln gesehnt, denn die gab es für mich nicht. Ich musste mir
selber überlegen, wann ich abends nach Hause komme.
Wie lange haben Sie bei Ihrer Mutter gewohnt?
Meine Schwester war schon mit 16 Jahren viel weg. Ab 17 hatte sie einen Freund,
bei dem sie wohnen konnte, und kam fast nur zum Wäsche waschen vorbei. Als
letztes Kind zu Hause fühlte ich mich dann noch mehr verantwortlich für meine
Mutter. Ich hatte lange die Illusion, die Krankheit sei etwas, das sich heilen oder
29
zumindest bessern ließe. Mit 18 Jahren habe ich mein Kunststudium in Karlsruhe
begonnen. Das war ein Befreiungsschlag. Geographisch, aber auch innerlich. Kurz
darauf kam es zum Bruch mit meiner Mutter. Nachdem sie mir am Telefon mal
wieder lange ihr Leid geklagt und ihre Selbstmordgedanken geäußert hatte, schoss
es aus mir heraus: "Dann bring dich halt um."
Daraufhin war ein Jahr lang Funkstille.
Ich dachte, das sei für immer. Aber als wir nach einem Jahr wieder sprachen, wollten
wir beide unsere Beziehung ändern. Ich habe versucht, sie an ihre Mutterrolle zu
erinnern und mich aus der Parentifizierung zu befreien. Einfach zu sagen: "Ich bin
deine Tochter und erzähle dir jetzt meine Sorgen." Das hat ihr gut getan, denn sonst
wurde sie dauernd als Kranke behandelt und nicht für voll genommen. Heute hilft ihr
eine rechtliche Betreuerin, nicht nur in Gesundheitsfragen.
Als junge Frau haben Sie eine Magersucht entwickelt und sich selbst verletzt.
Eine Reaktion auf Ihre Erfahrungen?
Durch Therapie habe ich verstanden, was eine Magersucht ist - dass das viel mit
dem Bedürfnis zu tun hat, Grenzen zu setzen und Kontrolle zu haben. Das ist ja ein
total berechtigtes Bedürfnis, das bloß nicht gut nur über das Körperliche befriedigt
werden kann, weil es dann schnell selbstzerstörerisch wird. In Ausläufern begleitet
mich dieses mangelnde Gefühl für gesunde Grenzen bis heute. Ich bin vielleicht zu
leidensfähig: Ich merke es lange nicht, wenn jemand über meine Grenzen trampelt,
weil ich es gewohnt bin.
Ging es Ihrer Schwester genauso oder hat sie das anders verarbeitet?
Sie hat einen anderen Weg eingeschlagen, hat sich früh nach außen orientiert, ist zu
Freundinnen mit nach Hause gegangen. Durch ihre Neugier und ihr
Selbstbewusstsein hat sie andere Familienmodelle kennengelernt. Der Kontrast zu
ihrem eigenen Zuhause hat zu Konflikten geführt. Sie hat ihre Rechte als Kind
gekannt und eingefordert.
Haben Sie beide sich gut verstanden?
Ja, unsere Kindheit hat uns sehr zusammengeschweißt. Wir konnten es uns
allerdings auch nicht leisten, sehr zu streiten. Wir hatten nur einander. Sie rutschte
auch in eine Mutterrolle für mich.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erlebnisse in einem Buch aufzuschreiben und
aufzuzeichnen?
Das Bedürfnis dazu hatte ich schon lange, denn diese Stories sprengen einfach
jedes Gespräch. Durch meinen eigenen Sohn wurde dieses Bedürfnis stärker. Wenn
er groß ist, soll er wissen, warum ich so ticke und warum seine Oma so ist. Auch
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meinem Mann wollte ich es lieber in Form dieses Buches erzählen. Ich habe keinen
Ratgeber geschrieben, aber offenbar erfüllt das Buch auch diese Funktion. Bei
meinen Lesungen und der anschließenden Diskussion verlasse ich meine
Komfortzone, das wird sehr persönlich. Aber wenn die Menschen mit geschärften
Antennen für solche Kinder nach Hause gehen und ich anderen Betroffenen Mut
machen kann, hat sich alles gelohnt.
http://www.brigitte.de/gesund/gesundheit/bipolare-stoerung-1206281/
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Trauer: Ein unzeitgemäßes Gefühl
Von SPIEGEL WISSEN-Autorin Eva-Maria Schnurr
Trauer: Pendeln zwischen Sehnsucht und Ablenkung
Wer trauert, sieht sich oft unter Druck, möglichst rasch zum Alltag
zurückzukehren. Selbst Wissenschaftler streiten: Wie viel Verlustschmerz ist
eigentlich normal?
Frag einen Indianer vom Stamm der Navajo, und er wird sagen, dass vier Tage
genug sind, um die Toten zu beweinen.
Sprich mit einem Angehörigen der Zulu in Südafrika, und er wird sagen, dass Witwen
ein Jahr zu trauern haben, abseits der Gemeinschaft, in schwarzen Kleidern.
Bitte einen erfahrenen Trauerbegleiter um Rat, und er wird erklären, dass es richtig
und falsch nicht gibt. Dass die einen lange brauchen und die anderen nicht so lange,
dass manche abgrundtief erschüttert sind und andere scheinbar kaum, und dass
niemand vorher sagen kann, wie es sein wird.
Doch konsultiert man einen Psychiater, könnte es künftig womöglich passieren, dass
er jemanden für gestört erklärt, für depressiv, wenn er mehr als zwei Wochen nach
dem Tod seines Partners oder seines Kindes noch immer völlig neben der Spur ist,
nicht arbeiten kann oder sich gar danach sehnt, dem geliebten Menschen einfach zu
folgen.
Gibt es so etwas wie "gesunde" Trauer? Eine Norm, der die Gefühle nach einem
schweren Verlust gehorchen sollten? Einen Weg gar, dem man einfach nur
konsequent folgen muss, um rasch herauszukommen aus Verzweiflung und
Traurigkeit?
In den USA ist darüber eine heftige Debatte entbrannt. Denn dort arbeiten Ärzte und
Forscher an neuen Diagnose-Richtlinien für psychische Störungen, im Mai 2013 soll
die endgültige Fassung erscheinen. Einer der Hauptstreitpunkte ist die Frage, was
normale Trauer von einer krankhaften Depression unterscheidet.
Während bisher der Grundsatz galt, Depressionen bei Trauernden nicht vor Ablauf
von wenigstens zwei Monaten zu vermuten, soll diese Regel in den neuen Richtlinien
fallen: Zeigt jemand nach dem Tod eines nahen Menschen zwei Wochen lang
schwere depressive Symptome, dann könnten Ärzte die Krankheit schon bei ihm
diagnostizieren.
Noch ist die Debatte auf die USA beschränkt, da in Europa andere Kriterien für die
Diagnostik psychischer Störungen gelten. Doch in den kommenden Jahren sollen die
Standards international vereinheitlicht werden.
Ein Mittel gegen Verlustschmerz ist nicht bekannt
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Es könnte der Beginn eines weitreichenden Kulturwandels sein, fürchten Fachleute:
Weil einige Symptome bei Depressionen und Trauer sich gleichen, drohe die Gefahr,
dass Traurigkeit und seelische Schmerzen nach dem Tod eines geliebten Menschen
zu einer Krankheit abgestempelt werden. Dabei ist bisher weder ein Mittel noch eine
Therapie gegen den Verlustschmerz bekannt.
Sieben Jahre dauerte es, bis die Berlinerin Gabriele Gérard nach dem Tod ihres
Sohnes zum ersten Mal das Gefühl hatte, aus einer Art Zwischenwelt
herauszutreten, wieder so etwas wie Zukunft zu ahnen. Dann erst im vergangenen
Sommer, 4374 Tage, nachdem Florian gestorben war, beschloss sie, seine
Gedenkseiten im Internet nicht mehr zu aktualisieren. So verwoben ist der Schmerz
nun nach zwölf Jahren mit ihrem Leben, dass er keinen eigenen Ort mehr braucht.
Bis zu Florians Beerdigung hatte sie funktioniert wie eine Maschine, die Gefühle
schockgefrostet seit der Nachricht vom Tod ihres einzigen Kindes. Am Abend nach
der Trauerfeier aber zerschmetterte der Schmerz sie wie ein heranrasender
Schnellzug. Sie schrie und weinte, brach zusammen, aß nicht mehr, nahm 20
Kilogramm ab, sah nicht mehr, wie sie weiterleben sollte und warum.
Weil der Schmerz unerträglich erschien, suchte sie in einer Klinik nach Hilfe, doch die
Ärzte diagnostizierten eine Depression. Gérard war empört, sie kannte die Krankheit,
als junge Frau hatte sie damit gekämpft. "Das hier war völlig anders. Der Schmerz
und die Sehnsucht waren nicht pathologisch, dafür gab es einen Grund", sagt die
heute 65-Jährige, deren Sohn im Juli 2000 mit 23 Jahren am plötzlichen Herztod
starb. "Mir war immer klar: Ich bin nicht krank, ich bin einfach nur eine trauernde
Mutter."
Die Ärzte waren nicht die Einzigen, die hilflos auf ihren Zustand reagierten: Selbst
einige gute Freunde vermeiden es bis heute, über Florians Tod zu sprechen, manche
tauchten ab und meldeten sich nie wieder. Andere Hinterbliebene erzählen von
Bekannten, die die Straßenseite wechseln oder sich hinter dem Supermarktregal
verstecken, um eine Begegnung zu vermeiden.
Leiden, das keine Krankheit ist, das man nicht wegtherapieren, mit Medikamenten
behandeln oder mit genügend Entspannung in den Griff bekommen kann, verstört.
"Wir haben verlernt, solche Krisen auszuhalten. Sie gelten als Unterbrechung des
Lebens, als etwas Falsches, nicht als Teil des Lebens", sagt die
Entwicklungspsychologin Kathrin Boerner, die an der Abteilung für Geriatrie und
Palliativmedizin der Mount Sinai School of Medicine in New York über Verluste
forscht. Trauer ist ein zutiefst unzeitgemäßes Gefühl, das im Alltag kaum Raum
findet.
2. Teil: Die systematische Trauerforschung ist noch jung
Wahrscheinlich wäre die Sache einfacher, wüsste man mehr über Trauer und was
sie mit einem Menschen macht. Doch obwohl fast jeder im Leben damit zu tun
bekommt, gibt es erst seit rund 25 Jahren systematische Forschungen dazu. Auch
bei Ärzten, Seelsorgern oder Psychologen halten sich deshalb bis heute einige
Annahmen, die auf Spekulationen und nicht auf empirischen Untersuchungen beruhen.
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Nach einem Verlust sei intensive "Trauerarbeit" nötig, postulierte Sigmund Freud
1915, es gehe darum, die Bindung zum geliebten Objekt völlig zu lösen - als
gefährlich für das seelische Wohl galt es daher, wenn jemand gar nicht offensichtlich
trauerte oder gar verdrängte.
In den siebziger Jahren kam zudem die Vorstellung auf, Trauer verlaufe in immer
gleichen Phasen. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hatte diese Stadien bei
Sterbenden entdeckt, man übertrug sie auf die Hinterbliebenen: Einer Zeit, in der
man den Tod nicht wahrhaben will, folge ein Abschnitt, in dem die Emotionen
durchbrechen, danach gehe es darum, die Realität zu akzeptieren und sich zu lösen,
um schließlich mit dem Geschehenen Frieden zu schließen und mit einer neuen
Sicht auf sich selbst und die Welt wieder ins Leben zurückzukehren.
Die Konzepte sind populär, weil sie so eingängig sind und weil die Vorstellung eines
fast gesetzmäßigen Ablaufes, den man durch eigene Anstrengung unterstützen
kann, beruhigend ist. Doch sie setzen die Vielen unter Druck, die ihre Trauer anders
erleben.
"Ist das, was ich fühle, eigentlich normal?", fragte sich Anne Saider ein paar Wochen,
nachdem ihr Mann am Ostersonntag 2011 bei einer gemeinsamen Fahrradtour von
einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden war: Da waren einerseits tiefe
Verzweiflung und Schmerz, auch Wut, dass ihr Mann sie allein zurückgelassen hatte.
Da waren Schuldgefühle und die Frage, ob sie, die erfahrene Krankenschwester,
nach dem Unfall mehr hätte tun können.
Aber andererseits lief der Alltag der 54-jährigen Hamburgerin bald schon erstaunlich
glatt, nach drei Wochen ging sie wieder arbeiten, registrierte früh auch schöne
Momente und fragte sich mit schlechtem Gewissen, ob das denn überhaupt sein
dürfe.
"Bin ich normal, oder bin ich krank?", sei die häufigste Frage, mit der Trauernde zu
ihnen kommen, erzählt Raili Koivisto, Trauerbegleiterin in der Hamburger
Trauerberatungsstelle "Charon".
Menschen trauern ganz unterschiedlich
In den Beratungszimmern mit Blick über die Stadt erzählen sie etwa, dass sie nach
einer stabilen ersten Zeit dann doch von massiven Gefühlen eingeholt wurden. Dass
es auch nach Monaten im Job noch immer nicht so läuft wie vorher. Dass sie über
sich selbst erschrecken, weil sie den Tod eines nahen, schwerkranken Menschen als
Erleichterung wahrnehmen - oder weil sie gerade nicht aufatmen können, obwohl sie
das doch erwartet hatten. Dass sie manchmal selbst nicht weiterleben möchten.
Oder sich fragen, ob sie sich schon wieder freuen dürfen. "Es ist für viele eine ganz
große Hilfe, wenn wir ihnen sagen können, dass fast alles fast immer normal ist",
sagt Koivisto.
Denn so etwas wie den einen, richtigen Umgang mit einem Verlust gibt es nicht.
Studien an Betroffenen haben gezeigt, dass der Trauerprozess zumindest in
westlichen Kulturen nicht in festgelegten Stadien verläuft, sondern eher wellenförmig:
Die meisten Menschen erleben die Trauer als Pendeln zwischen Kummer,
Sehnsucht und Leere einerseits - verlustbezogene Prozesse - und Verdrängung,
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Ablenkung und Nach-vorn-Denken - wiederherstellungsbezogene Prozesse andererseits.
Zudem trauern Menschen ganz unterschiedlich, je nach der eigenen Vorgeschichte,
dem Verhältnis zum Verstorbenen, der Art seines Todes und auch dem kulturellen
Umfeld. Vorhersagen lässt sich das meist nicht. "Die meisten gängigen Annahmen
sind haltlos: Selbst eine enge Bindung muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass
die Trauerreaktion sehr ausgeprägt ausfällt. Verdrängen ist nicht unbedingt
schädlich. Und schwierige Beziehungen führen nicht notwendig auch zu einer
schwierigen Trauer", sagt die Verlustforscherin Boerner.
Ein großer Teil der Betroffenen leidet eine Weile ziemlich heftig, einige Symptome
überschneiden sich mit denen einer Depression. Allerdings erholen sie sich mit der
Zeit auch ohne Hilfe fast vollständig, wenngleich mit wiederkehrenden Rückschlägen.
Verblüffend zahlreich sind aber auch jene, die selbst nach einem schweren Verlust
wie dem des Ehepartners eher kurze und milde Trauersymptome entwickeln, fand
der amerikanische Trauerforscher George Bonanno bei älteren Ehepaaren heraus er spricht von "Resilienz", einer hohen Widerstandsfähigkeit gegenüber schlimmen
Erfahrungen.
Nur eine Minderheit trauert chronisch, spürt auch nach Monaten gar keine
Veränderung der Gefühlslage und braucht möglicherweise professionelle
psychologische Hilfe. Häufig gibt es dann eine Vorgeschichte psychischer Probleme,
oder der Todesfall war besonders traumatisch, etwa durch einen Unfall oder wenn
ein Kind stirbt.
"Es gibt keine Regeln, wie man optimal mit dem Kummer umgeht"
Trauerforscher gehen allerdings davon aus, dass man so eine chronische Trauer
allerfrühestens nach einem halben Jahr erkennen kann und dass auch erst dann
eine Therapie ansetzen sollte - auf keinen Fall jedoch schon nach zwei Wochen.
Die Konsequenz aus den neuen Forschungsergebnissen ist befreiend und fordernd
zugleich: Es gibt keine Regeln, wie man optimal mit dem Kummer umgeht. Niemand
kann sagen, wann man die Kleider des Verstorbenen aus dem Schrank räumen
muss, ob man einen Stapel behalten kann. Ob man mit anderen über ihn sprechen
oder sich lieber ein ganz eigenes Ritual ausdenken soll. Ob es besser ist, sich einer
Trauergruppe anzuschließen, auf Gedenkseiten im Internet zu surfen oder Gedichte
zu lesen. Jeder muss selbst herausfinden, was hilfreich ist und was weniger schließlich geht es um den Abschied von einem Menschen, der ebenso einzigartig
war wie die Beziehung zu ihm.
"Trauer erfordert Mut, sie muss etwas Revolutionäres in einem wecken. Mir hat
niemand zu sagen, wie ich trauern soll", sagt Gabriele Gérard. Auch wenn ihr damals
jede Idee fehlte, wie ihr Leben weitergehen könnte ohne Florian, war ihr schnell klar,
dass sie aktiv werden musste.
So nahm sie sich die Briefe vor, die sie über Jahre mit ihrem Sohn gewechselt hatte.
Die Aufzeichnungen, die sie nach seiner Geburt gemacht hatte und als er in Irland
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lebte, schrieb sie ab, schmückte sie mit Fotos, zwölf Bände, ein Dokument seines
Lebens und der gemeinsamen Zeit.
Im Internet schrieb sie von ihren Erfahrungen und Gefühlen, veröffentlichte Briefe
und Gedanken in einem Buch, jedes Jahr an Florians Geburtstag im Oktober lädt sie
seine Freunde ein, weil es tröstlich ist, dass noch immer alle an ihn denken. "Trauer
ist einsam und individuell, aber wenn ich erst einmal den ersten Schritt gemacht
habe, legt sich der Weg wie von selbst unter die Füße", beschreibt es Gérard.
Ihre Leidensgefährtin Anne Saider begann nach dem Unfalltod ihres Mannes
Tagebuch zu führen, "ganz wichtig, um zu erkennen, wie es mir vor einem Jahr ging
und wie sich die Trauer entwickelt hat", sie lief lange Strecken, um dabei
nachzudenken, hängte die Fotos der letzten gemeinsamen Radtour mit ihrem Mann
im Flur auf und stellte am ersten Todestag gemeinsam mit ihren Töchtern am
Unfallort ein Kreuz auf.
3. Teil: Nie wieder so sein wie zuvor
Beide Frauen schreiben an die Verstorbenen, zünden täglich eine Kerze an,
sprechen mit ihnen, wenn es Schwieriges zu entscheiden gilt oder einfach nur etwas
zu erzählen. Auch das weiß man heute: Es geht nicht darum, nur ja loszulassen und
die Verbindung zu kappen. Die Beziehung zu Verstorbenen kann weiterhin eng sein,
sie ist eben anders als zu Lebzeiten.
"Am schwierigsten war es zu akzeptieren, dass so viel auf einmal weggebrochen ist",
sagt Anne Saider. Plötzlich stand ihr ganzer Lebensentwurf in Frage: Wer war sie
ohne ihn? Was war ihre künftige Rolle, nach 30 Jahren als Ehefrau?
Gabriele Gérard fühlte sich fremd im eigenen Leben, als habe sie überhaupt keinen
Boden mehr unter den Füßen: "Für mich war es wie eine Sternstunde, als ich
realisierte, dass in all dem Wahnsinn ja auch eine Chance liegt: Mein Innerstes liegt
in Einzelteilen vor mir, ich darf jetzt ganz neu entscheiden, wer ich sein will und wer
und was noch in mein neues Leben passt."
Von einer Entwicklungsaufgabe spricht die New Yorker Psychologin Boerner und
davon, dass solche Lebensphasen vor allem Zeit brauchen und Geduld. Nicht vier
Tage, nicht zwei Wochen, sondern manchmal auch Jahre. Am Ende ist die Trauer
nicht weg, sie hat sich verwandelt, ebenso wie der Mensch, der sie durchlebt.
Aushalten müssen das nicht nur die Trauernden, sondern auch Freunde und
Kollegen. "Ich habe manchmal den Eindruck, als würden Menschen in meinem
Umfeld von mir erwarten, dass ich möglichst schnell wieder die Alte werde. Aber das
geht nicht - ich werde nie wieder die Frau von vor dem Unfall sein", sagt Anne
Saider.
Das zu akzeptieren fällt schwer in einer Zeit, in der schon harmlose Kopfschmerzen
sofort mit Tabletten betäubt werden und in der für jedes Problem ein Spezialist
bereitsteht. "Wir wollen immer etwas tun, um möglichst schnell wieder möglichst gut
zu funktionieren. Das geht in diesem Fall nicht", sagt die Trauerbegleiterin Koivisto.
Der Tod reißt eine Wunde, die heilen muss und möglicherweise für immer eine Narbe
hinterlässt.
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"Trauer sollte nicht unterdrückt oder ausgeschaltet werden"
"Trauer kann bei vielen Menschen eine notwendige Reaktion auf den Verlust sein
und sollte nicht unterdrückt oder ausgeschaltet werden", kommentiert das
renommierte Fachblatt "The Lancet" die geplanten Änderungen für
Depressionsdiagnosen: Ärzte sollten ihnen lieber einfühlsam Zeit, Mitgefühl und
Raum für Erinnerungen anbieten statt Tabletten.
Manchmal merken aber selbst Fachleute für die Seele das erst, wenn sie es selbst
erfahren haben. Als die Amerikanerin Joanne Cacciatore, später Gründerin einer
Hilfsorganisation für verwaiste Eltern, 1994 ihre Tochter Chey verlor, konnte sie in
den ersten Monaten nicht schlafen, nichts essen, empfand keine Freude mehr. Auf
ihrem Blog erzählte Cacciatore, dass ihre besorgte Familie sie zu einem
Psychologen schickte, der eine Depression diagnostizierte und Medikamente anriet.
Sie weigerte sich, tiefverletzt, fühlte sich unverstanden in ihrer Trauer.
Im Jahr darauf bekam sie einen überraschenden Anruf: Der Psychologe wollte sich
entschuldigen. Seine Tochter war gestorben. Und er hatte genau die gleichen
Gefühle durchlebt.
Dieser Artikel stammt aus dem SPIEGEL WISSEN Heft 4/2012
http://www.spiegel.de/spiegelwissen/trauer-wie-viel-verlustschmerz-ist-eigentlichnormal-a-866061-3.html
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Trauma: Narben der Seele

Belastungen nach dem Trauma

Quälende Flashbacks

Ein Reiz genügt

'Unverdauter' Schrecken

Traumen sind 'unlogisch'

Kinder sind empfindlicher

Reden hilft nicht immer

Symptome erst nach drei Monaten

Gute Erfolge mit Psychotherapie

Kommentar
Durch ein Trauma kann es zu Veränderungen im Gehirn kommen. Traumatisierte
Menschen haben schwere seelische Verletzungen erlitten. Sie brauchen viel Hilfe
und Verständnis, um mit den Schreckensbildern in ihren Köpfen fertig zu werden.
Denn nicht immer heilt die Zeit alle Wunden.
Die Bankangestellte, die Opfer eines brutalen, bewaffneten Überfalls wird, der
Feuerwehrmann, der die Leichenteile eines zerfetzten Unfallopfers einsammeln
muss, die Frau, die einem Vergewaltiger in die Hände fällt — für sie alle ist die Welt
innerhalb einer Sekunde auf die andere nicht mehr in Ordnung. Sie sind
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traumatisiert. Am häufigsten entstehen Traumen durch Unfälle, Gewalt, Folter,
Vergewaltigung oder Verlust eines Kindes. Eine weitere und oft unterschätzte
Ursache ist die psychische Belastung bei einer schweren und plötzlichen
körperlichen Erkrankung (zum Beispiel wenn man auf der Intensivstation liegt oder
vom Notarztteam behandelt werden muss). Doch nicht immer sind es ganz massive
Belastungen, die zu einem Trauma führen. In manchen Momenten haben wir einfach
eine dünnere Haut, da können schon "kleinere" Traumen wie eine Scheidung oder
eine Kündigung massive Folgen haben. Bei diesen "kleinen" Traumen gerät das
Nervensystem im Normalfall nur vorübergehend in Unordnung. Der Schmerz ist groß,
doch wir werden damit fertig, indem wir "Trauerarbeit" leisten. Und oft ist es so, dass
der Mensch aus den widrigen Umständen sogar gestärkt hervorgeht. Er hat aus den
emotionalen Herausforderungen gelernt und kann mit der nächsten bedrohlichen
Situation besser umgehen.
Belastungen nach dem Trauma
Ob großes oder kleines Trauma – bei vielen Menschen, die so etwas erleben, heilt
die Zeit tatsächlich alle Wunden. Die Erinnerungen verblassen und die psychische
Gesundheit bleibt erhalten. Doch ein großer Anteil – man schätzt 20 bis 30 Prozent –
ist dazu nicht in der Lage und entwickelt eine "Posttraumatische Belastungsstörung"
(PTBS). Bei ihnen dauern die seelischen Schmerzen an – oft über Jahre und
Jahrzehnte. Die emotionale Wunde will einfach nicht verheilen. Die Belastungen
treiben viele Betroffene in die Alkoholsucht oder Depression. Ob sich aus einem
Trauma eine PTBS entwickelt, kann man nach Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter
Kapfhammer, Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie der Universität Graz, an
Hand von drei Kriterien feststellen: Zum einen entwickeln PTBS-Betroffene massive
Abwehrmechanismen. Sie vermeiden alles, was mit dem Trauma zu tun hat. Das
kann so weit gehen, dass jemand, der einen dramatischen Autounfall erleben
musste, fortan völlig auf das Auto verzichtet. Ein zweites Anzeichen für eine
posttraumatische Störung ist eine deutlich spürbare emotionale Betäubung. Die zeigt
sich darin, dass sich die Betroffenen von allen Gefühlen abkapseln und den erlebten
Schmerz einfach nicht mehr zulassen. Jemand kann mit scheinbar größter
Gelassenheit und ohne eine Miene zu verziehen über das Drama seines Lebens
berichten. Das hat nichts mit "Herzlosigkeit" oder Abgebrühtheit zu tun, sondern ist
ein Zeichen dafür, dass seine Psyche mit dem Erlebten einfach nicht fertig wird. Ein
dritter Hinweis auf ein starkes, unverarbeitetes Trauma sind die sogenannten
Flashbacks.
Quälende Flashbacks
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Bei einem unbewältigten Schockerlebnis kann die Schreckenserinnerung nahezu
unverändert im Nervensystem gespeichert werden. Dort lagern nun die Bilder, frisch
wie im ersten Moment und inklusive aller dazugehörenden Geräusche, Gerüche,
Emotionen und anderer Empfindungen. Dieses unverarbeitete Informationspaket
kann jederzeit wieder aktiviert werden. Sobald uns irgend eine Kleinigkeit, derer wir
uns meist gar nicht bewusst sind, an das ursprüngliche Trauma erinnert, wird das
Schreckensszenario neu abgespult.
Ein Reiz genügt
Diese sogenannten Flashbacks sind besonders quälend: Ein auslösender Reiz
genügt und die schrecklichen Vorgänge werden immer und immer wieder in
Gedanken durchlebt. Alle Gefühle und alle Sinneseindrücke, die Gerüche,
Geräusche, selbst der Geschmack im Mund sind so gegenwärtig, als würde das
furchtbare Erlebnis gerade jetzt passieren! Gleichzeitig mit diesen übergenauen
Erinnerungen können massive Gedächtnisdefizite einhergehen. Der Betroffene ist
zum Beispiel gerade beim Einkaufen. Er ist guter Dinge und arbeitet seine
Einkaufsliste ab. In dem Moment, in dem er ein Stück Käse in die Hand nimmt,
stürmen plötzlich, ohne Vorwarnung und vor allem ohne erkennbare Ursache
schreckliche Erinnerungen an eine Gewalterfahrung auf ihn ein. Er sieht sich am
Boden liegen, über ihm in der Finsternis nur undeutlich zu erkennen den Angreifer
mit einer Flasche in der Hand, die gerade auf ihn niedersaust. Seit diesem
schrecklichen Erlebnis sind mehrere Jahre vergangen. Der Verstand weiß, dass der
Supermarkt sicher und hell erleuchtet ist. Doch das Innere des Überfallopfers gerät
durch die Erinnerung an das Trauma von einer Sekunde auf die andere in Aufruhr:
Das Herz klopft wie verrückt, der Puls rast, die Handfläche wird feucht vor Schweiß
und das Gesicht wächsern bleich. Traumatisierte Menschen erleben ihre
"persönliche Hölle" immer wieder neu. Auch in Alpträumen kann das Horrorszenario
auftauchen. Ängste und Schlafstörungen sind mögliche Folgen. Das
Selbstwertgefühl kann leiden. Das ganze weitere Leben ist womöglich ganz massiv
vom Trauma bestimmt. Die Betroffenen stehen ohne erkennbaren äußeren Anlass
gleichsam ständig unter Dauerstress. Arbeitsunfähigkeit und Probleme in der
Partnerschaft sind mögliche Folgen.
'Unverdauter' Schrecken
Was passiert eigentlich bei der Traumatisierung im Körper? Durch das Trauma
kommt es zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Seine innere Struktur und
Organisation wird massiv gestört. Dadurch verändern sich nachhaltig die neuronalen
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Verschaltungen des Gehirns, die unser Fühlen, Denken und Handeln steuern. Diese
Veränderungen sind um so massiver, je länger der Psychostress dauert. Tatsächlich
haben Untersuchungen erwiesen, dass sich nach schweren psychischen Traumen in
bestimmten Bereichen des Hirns Nervenzellen zu "Furchtstrukturen" vernetzen.
Emotionale Traumen hinterlassen sozusagen Narben im Gehirn. Posttraumatische
Belastungsstörungen lassen sich daher durch Aufzeichnungen der Gehirnströme
nachweisen (das gelang etwa Forschern von der psychiatrischen Abteilung der
Universität Harvard). Das Trauma kann auch den Hormonhaushalt und hier
insbesondere das gesamte Stresshormon-System durcheinanderbringen (auch der
Anstieg eines bestimmten Stresshormons im Blut lässt sich nachweisen). Dadurch
reagiert der Körper unangemessen auf Belastungen.
Traumen sind 'unlogisch'
All diese Dinge laufen sozusagen automatisch ab und lassen sich nicht willentlich
beeinflussen. Verstandesmäßig kann man einem Trauma nicht beikommen. Von
einem traumatisierten Menschen zu verlangen, er solle sich "zusammenreißen", ist
absolut unsinnig. Ebensowenig kann man Traumen wegerklären oder als "unsinnig"
abstempeln. Tatsächlich kümmern sich die Gefühle traumatisierter Menschen nicht
um Tatsachen; Verstand und Gefühl klaffen meilenweit auseinander. Das gilt auch
für weniger starke Traumen. Wer schon einmal einen Autounfall erlebt hat, kennt
vielleicht das unbehagliche Gefühl, das einen noch lange Zeit nach diesem Ereignis
begleitet. Man fährt eine vertraute Strecke, alles ist scheinbar in Ordnung, ja der
Verstand weiß ganz sicher, dass alles in Ordnung ist. Und trotzdem ist da ein
unbehagliches Gefühl, das sich weder von der Realität noch von rationalen
Argumenten beeinflussen lässt.
Kinder sind empfindlicher
Besonders traumagefährdet sind Kinder, da ihre Psyche noch nicht so stabil ist, wie
die eines Erwachsenen. Traumatisierung im Kindesalter können sich fatal auf die
weitere Hirnentwicklung auswirken und sogar das Volumen bestimmter
Hirnstrukturen verringern. Mögliche Folgen sind Verhaltensstörungen,
Lernschwierigkeiten, Depressionen und andere psychische Störungen. Darum ist es
auch so wichtig, rasch zu reagieren, wenn eine Misshandlung oder ein Missbrauch
von Kindern vermutet wird. Denn das was mit ihnen geschieht, verletzt nicht nur den
Körper sondern auch die Seele und zwar ganz massiv!
Reden hilft nicht immer
41
Wie kann man nun posttraumatischem Stress zu Leibe rücken? Wie kann man diese
alten, "verkrusteten" Emotionen, die sich durch das Trauma regelrecht in das
emotionale Gehirn eingegraben haben, wieder loswerden? Traumen sind schwer zu
behandeln. Gleich nach dem Schock intensiv darüber zu reden, verbessert die
Sache oft nicht, wie Professor Kapfhammer weiß. So sei es nicht sinnvoll, bei
Katastrophen alle Betroffenen sozusagen programmgemäß über das Erlebte
sprechen zu lassen. Dieser Vorgang, der in der Fachsprache als "Debriefing"
bezeichnet wird, sei nicht für alle Traumatisierten gleich hilfreich. Sogar das
Gegenteil könne der Fall sein: "Es gibt Hinweise", so Dr. Kapfhammer, "dass sich
durch ein nicht sorgfältiges Debriefing eine Traumatisierung sogar verschlimmert."
Die meisten Menschen würden keine Notfallpsychologen brauchen und alleine viel
besser mit dem Trauma umgehen können, erklärt der Grazer Psychiatrieprofessor.
Das heißt aber nicht, dass eine helfende Hand in einer derartigen Situation nicht
wichtig wäre und sei es nur, um die Hand des Betroffenen zu halten oder ihm eine
Tasse Tee zu bringen.
Symptome erst nach drei Monaten
Ob jemand tatsächlich ein Trauma erlitten hat, lässt sich ohnehin erst nach etwa drei
Monaten feststellen und das ist auch der Zeitpunkt, an dem sich Menschen mit einer
Traumaerfahrung psychiatrisch untersuchen lassen sollten. Wer zu diesem Zeitpunkt
Symptome einer Traumatisierung zeigt – und das sind immerhin bis zu 30 Prozent
aller Betroffenen – sollte jetzt mit einer Therapie starten. Zwar kann ein Trauma auch
auf "natürlichem" Weg ausheilen und ist dann in etwa zwei bis drei Jahren
ausgestanden, aber das ist nicht immer der Fall. Ob jemand ein chronisches Trauma
entwickelt oder nicht, lässt sich schwer vorhersagen. Eine "Trauma-Vorsorge" ist
daher immer sinnvoll, besonders dann, wenn sich nach den erwähnten drei Monaten
erste Symptome zeigen.
Gute Erfolge mit Psychotherapie
Wie lässt sich eine PTBS nun am besten behandeln? Sehr gute Ergebnisse bringt
die kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Sie geben dem
Patienten die nötige Sicherheit, um sich intensiv mit dem Trauma auseinander zu
setzen. Wer pausenlos von Schreckensbildern überschwemmt wird, lernt, wie er
diese am besten abwehren kann. Wer den Schrecken völlig abgekapselt hat, wird
ganz behutsam an das Erlebte herangeführt und lernt, sich dem Thema zu stellen.
Durch die Beschäftigung mit dem schmerzvollen Erlebnis und das Zulassen der
damit zusammenhängenden Gefühle verliert der Schrecken allmählich seine Kraft.
42
Ferner hilft eine relativ junge Methode bei der Traumabearbeitung. EMDR, das ist die
Abkürzung für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, arbeitet mit
Desensibilisierung und Neuorientierung durch Augenbewegungen. Bei dieser
Methode ruft sich der Patient das traumatische Ereignis vor Augen und folgt
gleichzeitig mit den Augen schnellen rhythmischen Fingerbewegungen des
Therapeuten. Wie das eher zufällig entdeckte EMDR letztlich funktioniert, wurde
bislang noch nicht erforscht. Ein drittes ergänzendes Standbein der
Traumabehandlung bilden Medikamente und hier vor allem Antidepressiva aus der
Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). All diese
Methoden unterstützen bei der Bewältigung eines Traumas, können es aber nicht
"ausradieren". "Besonders schlimme Traumen lassen sich vermutlich nie löschen",
weiß Professor Kapfhammer.
Dr. Regina Sailer
April 2006
Foto: Contrastphoto, privat
Kommentar
"Eine Traumatisierung kann man grundsätzlich nicht verhindern. Aber man kann
einem Betroffenen beistehen, indem man einfach menschlich reagiert. Man sollte den
Geschockten umsorgen, ihn trösten und ihm zuhören, wenn er über das Erlebte
reden möchte. Man sollte ihn aber nie zwingen, alles rauszulassen. Das kann
nämlich mehr schaden als nützen."
Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer
Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie der Universität Graz
Zuletzt aktualisiert am 11. März 2015
http://www.forumgesundheit.at/portal27/portal/forumgesundheitportal/content/content
Window?action=2&viewmode=content&contentid=10007.688926
43
Medikamentensucht: Bleiben Sie jetzt bloß nicht ruhig!
Zunächst helfen Beruhigungs- und Schlafmittel, dann schaden sie massiv – 1,5
Millionen Deutsche sind süchtig. Die Folgen tragen wir alle. Höchste Zeit, sich
aufzuregen.
Von Anne Kunze
15. Juni 2015, 16:34 Uhr DIE ZEIT Nr. 24/2015, 11. Juni 2015 60 Kommentare
Inhalt
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Seite 1 — Bleiben Sie jetzt bloß nicht ruhig!
Seite 2 — Das Ausmaß der massenhaften Abhängigkeit
Seite 3 — Ein regelrechtes Sediersystem, in dem alle Akteure profitieren
Seite 4 — Die Tricks der Süchtigen
Seite 5 — "Ich danke dem Erfinder von Valium"
Seite 6 — Die Z-Substanzen
Das Sturmbrausen im Kopf, das Rieselgeräusch in den Ohren nahm zunächst kein
Arzt ernst. Als man Melanie Schneiders* Hirntumor schließlich entdeckte, musste es
schnell gehen. Die Operation dauerte zwei Stunden. Danach, im Klinikbett, mit
Titanplatten in der Schädeldecke, setzte die Angst vor dem Einschlafen ein. "Ich
habe", sagt sie, "nur noch von Blut geträumt." Sie sitzt auf einem Holzstuhl, die
Hände im Schoß gefaltet, im Fenster hinter ihr stehen die Schweizer Alpen.
"Damals", sagt sie, "ging die Krankenschwester abends über die Station und fragte:
'Wer braucht noch was zum Schlafen?'" Das Medikament war herrlich, es breitete
sich in Melanie Schneider aus, nahm ihr die Angst, ließ sie einschlafen.
Auch Barbara Voss hatte Angst, eine rätselhafte, die sie nicht verstand. Immer wenn
ihr Mann beruflich unterwegs war, kroch die Panik in ihr hoch. "Ich weiß noch, wie ich
abendelang bei anderen Leuten saß, weil ich nicht allein mit den Kindern zu Hause
sein konnte", sagt sie. Sie steht im Zimmer ihres inzwischen verstorbenen Mannes.
"Er war Kirchenkantor." Durch die Fenster fällt Sonnenlicht, an der Wand lehnt eine
Bratsche, und im alten Holzschrank stehen vergilbte Notenhefte. Auch Barbara Voss,
so schien es zunächst, wurde durch ein wunderbares Medikament von ihren
Gespenstern befreit.
Menschen, die in eine Krise geraten, brauchen Hilfe. Viele suchen sie bei Ärzten. Die
Frau, die sich nach ihrer Hirn-OP vor der Nacht fürchtete, bekam das Schlafmittel
Stilnox. Die Frau, die Angst hatte, mit ihren Kindern allein zu sein, erhielt das
Beruhigungsmittel Adumbran.
1957, ein Labor in Nutley, New Jersey: Ein Helfer räumt auf, auch zur Seite gestellte
Versuchsschalen soll er wegwerfen. In einer dieser Schalen erblickt er besonders
schöne Kristalle. So viel Anmut will er nicht vernichten und zeigt seinen Fund
anderntags den Wissenschaftlern. Die Moleküle, die aus den schönen Kristallen
entwickelt werden, sind bald sehr begehrt. Eines davon heißt: C16H13ClN2O. Das
Labor gehört der Pharmafirma Roche, und das Molekül wird bald berühmt unter dem
Namen Valium.
44
Valium und Adumbran haben eine sehr ähnliche Molekülstruktur, man nennt sie
Benzodiazepine. Stilnox ist eine sogenannte Z-Substanz, eine Weiterentwicklung des
C16H13ClN2O-Moleküls. Die Stoffe entfalten eine enorme Wirkung, auch
gesellschaftlich. Jedes Jahr werden sie millionenfach verschrieben und geschluckt.
Allein 2014 wurden in deutschen Apotheken 18,7 Millionen Packungen derartiger
Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft. Das zeigt die Auswertung aktueller Daten,
die Insight Health der ZEIT exklusiv zur Verfügung stellt. Das Institut sammelt
regelmäßig flächendeckend Daten zur Versorgungsforschung in Deutschland.
Der Hirntumor von Melanie Schneider, 39, ist bereits seit acht Jahren entfernt. Bei
ihrer Entlassung gibt man ihr die Packung mit den Stilnox-Tabletten sicherheitshalber
mit nach Hause. "Es kam ein richtiges Freudengefühl auf, wenn ich sie
eingenommen habe", sagt sie. Auf den Hirntumor folgt die Scheidung, Schneider
bleibt allein mit Tochter Selma, damals zehn Jahre alt. Die Tochter kommt in die
Pubertät, zu früh, findet die Mutter. Selma wird schwierig. Gegen den Stress nimmt
Frau Schneider Stilnox.
Seite 2/6:
Das Ausmaß der massenhaften Abhängigkeit
Alle paar Wochen, sagt sie, sei es zu solchen Wortwechseln bei der Hausärztin
gekommen:
"Ich kann nicht schlafen."
"Okay, dann drei."
"Ich kann nicht schlafen."
"Okay, dann vier."
"Ich kann nicht schlafen."
"Okay, dann fünf."
Tabletten nehmen heißt: kein Kopfweh. Kein Kummer. Keine Schmerzen. Keine
Angst.
Die Angst von Barbara Voss, mit ihren drei kleinen Kindern allein zu sein, ist älter.
Sie begann schon vor 45 Jahren. Barbara Voss ist heute 84 Jahre alt, eine Frau mit
kurzen weißen Haaren, entschiedenen Bewegungen, wer sie sieht, dem fällt das
Attribut "resolut" ein. Trotzdem hat Adumbran sie mehr als vier Jahrzehnte lang
Abend für Abend in den Arm genommen und zu Bett gebracht. Wie so viele andere
Menschen auch.
Die Daten, die der ZEIT vorliegen, illustrieren erstmals öffentlich das ganze Ausmaß
einer massenhaften Abhängigkeit, über die nicht gesprochen wird und deren
Konsequenzen nicht abzusehen sind. Es gibt 1,2 bis 1,5 Millionen Abhängige in
Deutschland. Das hat der auf diesem Gebiet führende Gesundheitswissenschaftler
Gerd Glaeske errechnet. Glaeske ist Professor für Arzneimittelversorgungsforschung
45
an der Universität Bremen, gibt jährlich den Arzneimittel-Report heraus und saß
jahrelang im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen. "Ich war überrascht, als ich in den 1980er Jahren zum ersten
Mal gesehen habe, wie massenhaft die Mittel verschrieben werden – und dass keiner
darüber redet", sagt er. Gegen das Schweigen wertet Glaeske Daten aus. Er nimmt
die tatsächlichen Verschreibungsverläufe an und rechnet großzügig, dass die
meisten Menschen erst nach drei Monaten täglicher Einnahme abhängig werden und
nicht schon nach drei bis sechs Wochen, wie es tatsächlich oft der Fall ist. Glaeskes
Zahlen werden auch von anderen Wissenschaftlern und Institutionen wie der
Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren bestätigt – und es kann sein, dass es in
Wirklichkeit noch viel schlimmer ist. Die Zahlen zeigen, dass die Verschreibungen auf
Kassenrezept zwar sinken. Seit einigen Jahren verschreiben die Ärzte die Schlafund Beruhigungsmittel aber vermehrt auf Privatrezept, unabhängig davon, ob die
Patienten kassen- oder privat versichert sind. Im Jahr 2014 wurden 8,2 Millionen
Packungen verkauft. Damit verschwinden die Packungen aus den Statistiken. Wenn
Ärzte Privatrezepte ausstellen, geben Apotheken die Daten nicht an die
Krankenkassen weiter. So vermeiden die Ärzte auch, dass sie nachzahlen, weil sie
zu viel von einem Mittel verschrieben haben. Eine Kontrolle über die Abgabe könnte
nur stattfinden, wenn die Ärzte ihre Verschreibungen offenlegen würden.
Das Zimmer, in dem Melanie Schneider vor der Alpen-Kulisse sitzt, liegt in einer
Entzugsklinik. Wenn sie sich Stilnox als Person vorstellt – wie wäre sie? "Eine liebe
Person", sagt Melanie Schneider sofort. "Ich mag alles an ihr. Schon der Name:
Stilnox." Gedehnt, fast genüsslich spricht sie es aus. "Ich würde sie anlachen", sagt
sie. "Sie hat mir so viel geholfen. Mir die Ängste genommen. Einen Mantel gegeben,
wenn mir kalt war." Melanie Schneiders Augen leuchten jetzt. Sie sagt: "Sie ist so
zierlich. Wie eine gute Fee." Der Entzug dauert bereits sechs Wochen. Halbzeit.
Doch Melanie Schneider ist immer noch verliebt. "So schlank sind die Tabletten, so
klein", schwärmt sie. "Und die Packung, so elegant."
Dabei kennt Melanie Schneider die dunkle Seite ihrer Freundin längst. Nach der
Operation nimmt sie immer mehr Tabletten. "Am Abend war die Stilnox ein
Schlafmittel, am Morgen ein Beruhigungsmittel", sagt sie. Sie schluckt sie mit
Wasser, abends, schluckt sie mittags und morgens, schluckt sie nachts. "Plötzlich
waren es 30 Pillen am Tag." Das war drei Jahre nach der ersten Stilnox.
"Wenn ich keine Tabletten hatte, war ich aggressiv schon am Morgen", sagt die
Entzugspatientin. Immer öfter muss sie jetzt zur Hausärztin gehen. Die verschreibt ihr
eine neue Packung, Melanie Schneider kehrt heim, Freiburger Fachwerk,
schwitzend, zitternd, und wirft auf der Stelle zehn Tabletten ein. "Mein Kopf war wie
ein Wasserstrudel", sagt sie. "Es gab nur noch die Tabletten." Bald braucht Melanie
Schneider täglich ein neues Rezept. Um kurz nach sieben ist sie die Erste in der
Apotheke, sagt: "Ich komme meine Diamanten holen." Erst wenn die Tabletten intus
waren, beruhigt sich der Wasserfall in ihrem Kopf. Dann erledigt sie rasch alles
Notwendige: Haushalt, Einkaufen, Gassi mit dem Zwergspitz. Sie muss ja noch ein
bisschen funktionieren, wegen Selma. Den Rest des Tages verdämmert sie.
Ein regelrechtes Sediersystem, in dem alle Akteure profitieren
Über die Jahre ist ein regelrechtes Sediersystem entstanden, ein pharmakologischer
Komplex, der erstens aus der pharmazeutischen Industrie und Forschung, zweitens
46
den staatlichen Behörden und drittens den Ärzten und Apothekern besteht. Die
Akteure sind miteinander verwoben, durch ökonomische Anreize, mangelnde
Aufklärung, Auftragsstudien und das große Versprechen der allgemeinen
Ruhigstellung. Dieses System ist der Grund, warum Schlaf- und Beruhigungsmittel
seit Jahrzehnten in einem derartigen Ausmaß verschrieben und eingenommen
werden. Wenn die Patienten, einmal abhängig gemacht, ihren Stoff einfordern,
profitieren alle Akteure: Die Pharmaindustrie verkauft Bestseller, die Behörden haben
ihre Ruhe, die Ärzte genug Patienten. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen
westlich geprägten Ländern. Es ist, als wiege das Sediersystem die Welt in einen
großen Schlaf.
Die weitreichenden Konsequenzen für die Menschen scheinen dem System egal zu
sein. Da sind die Ängste, die niedergezwungen werden müssen. Und da ist die
Tablette, die so vielen hilft – und dabei verschleiert, was ihnen wirklich droht. Obwohl
auch sie einen Entzug hinter sich hat, würde Barbara Voss niemals von sich sagen,
sie sei drogensüchtig gewesen. Sie hat ein solides Leben geführt, nie geraucht und
nur sehr gelegentlich ein Glas Wein getrunken. Sie war fast ihr ganzes Leben mit
demselben Mann verheiratet, lange Jahre Grundschullehrerin, immer zuverlässig und
pünktlich. Nur jetzt, mit 84 Jahren, stand sie plötzlich morgens unter der Dusche und
zitterte. "Na ja, zittern ist ein bisschen wenig", sagt sie. "Geschlottert habe ich!" Ihr
fehlte Adumbran, das sie 40 Jahre lang eingenommen hat, nur eine Tablette am Tag.
Erst als ihr Mann starb, erhöhte sie die Dosis – auf eineinhalb Tabletten. Sie litt, wie
die meisten anderen Süchtigen auch, unter einer sogenannten
Niedrigdosisabhängigkeit. Als sie die Tabletten wegließ, hatte sie schlimme Krämpfe,
den Entzug nennt sie "die Hölle".
Benzodiazepine und Z-Substanzen sind in der Medizin unverzichtbar, für Menschen,
die vor Operationen unruhig sind, starke Krämpfe haben, akute Angst- und
Panikattacken oder Schlafstörungen. Aber länger als ein bis zwei Wochen sollten die
Mittel nicht eingesetzt werden, da sind sich die Experten einig. Nur in
Ausnahmefällen wie einer Depression können Patienten die Medikamente drei bis
vier Wochen lang nehmen, damit sie zur Ruhe kommen, bis die Antidepressiva
wirken, die sie eigentlich schlucken sollten.
Bekannt sind Benzodiazepine und Z-Substanzen unter anderem mit folgenden
Handelsnamen: Adumbran, Alprazolam, Antelepsin, Bikalm, Bromazanil, Bromazep,
Bromazepam, Buccolam, Clonazepam-neuraxpharm, Demetrin, Diazepam, EspaDorm, Lorazepam, Normoc, Oxazepam, Rivotril, Rudotel, Rusedal, Sigacalm,
Somnosan, Sonata, Stesolid, Stilnox, Tafil, Tavor, Tolid, Tranxilium, Ximovan, Zolpi,
Zolpidem, Zopiclodura, Zopiclon.
Die Medikamentenabhängigkeit ist anders als die Heroin- oder Kokainsucht.
Medikamente werden selten am Bahnhof vertickt, sondern von Ärzten verschrieben
und von Apothekern verkauft. Einer, der seine Sucht überwunden hat, sagt: "Ich
habe mich die ganze Zeit so sauber gefühlt. Mein Dealer war der Apotheker, und mit
meinem Stoff habe ich noch eine Packung Taschentücher bekommen."
Vor allem Hausärzte verschreiben die Medikamente. Schon aus den der ZEIT
vorliegenden Daten von Kassenrezepten ist ersichtlich, dass die eigentlich
zuständigen Fachärzte für Nervenheilkunde nur 18,5 Prozent der Mittel verschrieben
haben. Die Mittel werden auf Kassenrezept zu 70 Prozent von Allgemeinärzten und
47
Internisten verschrieben. Von Hausärzten wie Lore Wegener*, Ärztin in einer
Gemeinschaftspraxis in einer deutschen Großstadt. Die 42-Jährige sagt, man nehme
die Tablettensüchtigen nicht wahr, obwohl es mehr von ihnen gibt als Alkoholiker.
Doch sie torkeln nicht, lallen nicht und erbrechen sich auf niemandes Schuhe. Sie
machen weder Lärm noch Probleme, sondern verschwinden still in der Menge.
Nimmt der Busfahrer da vorn am Steuer Adumbran? Hilft Stilnox der Lehrerin an der
Tafel, dem Arzt im OP-Saal, der Chefin in der Konferenz? Wer unter BenzoAbhängigen recherchiert, dem begegnen alle Berufe: Banker, Lehrer, Ärzte,
Verleger, Hausfrauen. Viele wollen gut schlafen, damit sie am nächsten Tag
funktionieren können.
"Was würden Sie machen, wenn die Praxis voll ist und der Patient jammert, weil er
sein Mittel will?", fragt die Hausärztin Wegener. "Würden Sie anfangen, mit ihm seine
Sucht zu diskutieren, mit 15 Kranken im Wartezimmer?" Das Verhalten bei Süchtigen
sei immer dasselbe: "Erst sind sie verbindlich. Sie suchen eine gemeinsame Ebene.
Später werden sie ungemütlich." Diesen Druck auszuhalten sei schwer. Das liege
auch daran, dass Ärzte den Menschen gefallen wollten: "Wir wollen Anerkennung."
Verweigere man die Tablette, werde der Süchtige laut. Pöble das Personal an. Rede
schlecht über die Praxis. "Das ist fatal in Zeiten, in denen alles im Netz bewertet
wird", sagt die Hausärztin. Auch sie habe schon schlechte Bewertungen gekriegt –
verfasst von Patienten, denen sie keinen Stoff gab.
In Deutschland werden besonders viele Arzneimittel verschrieben. In den
Niederlanden bekommt nur etwa die Hälfte der Patienten, die einen Arzt aufsuchen,
auch ein Medikament. Hier aber verlässt kaum jemand die Praxis ohne ein Rezept.
Hier werden Ärzte dafür bezahlt, zu verschreiben. Bei Kassenpatienten sind
Gespräche in der Versichertenpauschale enthalten, für zusätzliche Gespräche gibt
es ein enges Budget. Die Beratung eines Privatpatienten oder Selbstzahlers kann
der Hausarzt mit 4,66 Euro abrechnen, in begründeten Ausnahmefällen für längere
Sitzungen mit 8,74 Euro. Tritt der Patient bloß an die Theke und holt sich das
Rezept, bekommt der Doktor für Kassenpatienten immerhin 1,23 Euro, für
Privatpatienten und Selbstzahler 1,75 Euro. Das Geld kommt regelmäßig, denn der
Patient braucht Nachschub. Ein Arzt, der seinem Patienten gegenübersitzt und fragt:
"Wie geht es Ihnen wirklich?", verdient also kaum etwas – auch wenn dem Patienten
mit dieser Frage vielleicht am meisten geholfen wäre. Gespräche bringen letztlich
weniger ein als das massenhafte Ausstellen von Rezepten. So will es unser
Gesundheitssystem. Die Hausärztin Wegener sagt: "Als Arzt hat man auch ein
Geschäft." Ein Benzo-Süchtiger gilt bei Wegener und ihren Kollegen als "Schein".
Man unterschreibt das Rezept, und er geht wieder.
Die Tricks der Süchtigen
Es gibt jährliche Sitzungen, in denen sich die Ärztevertreter zanken, welche Gruppe
für welche Leistung Geld aus dem Topf der Krankenkassen bekommt. Jahr für Jahr
werden immer kompliziertere Verteilungsschlüssel ersonnen, die eine einfache
Wahrheit verbergen: Medikamente und Eingriffe, auch wenn sie nutzlos oder sogar
schädlich sind, halten das milliardenschwere System am Laufen.
Auch an den Folgeerkrankungen der Schlafmittelsüchtigen verdient das
Sediersystem. Ein Drittel aller Patienten, die mit Oberschenkelhalsbrüchen in
Krankenhäuser eingeliefert werden, sind wahrscheinlich unter dem Einfluss von
48
Benzodiazepinen oder Z-Schlafmitteln gestürzt. Die Folgekosten der
Medikamentenabhängigkeit, von denen der Großteil den Benzodiazepinen
zuzuordnen ist, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen auf 14 Milliarden
Euro im Jahr.
Nicht jeder Arzt verschreibt die gefährlichen Medikamente, aber viel zu viele viel zu
schnell. Wie schnell, das fand die Stiftung Warentest in einem Feldversuch heraus:
Man schickte eine 42-jährige Testerin, die wegen ihres Mannes gerade in eine
andere Stadt gezogen war und nicht gut einschlafen konnte, zu zehn verschiedenen
Hausärzten. Vier davon verordneten ihr ohne Umschweife die abhängig machenden
Schlafmittel. Von vier weiteren Ärzte wollte sie wissen, ob ihr ein Schlafmittel helfen
könnte – und bekam sofort ein Rezept. Nur ein einziger Arzt fragte die Patientin, wie
oft sie nicht schlafen könne. Er fahndete nach der wahren psychischen Ursache.
Kein Arzt zählte ihr die Grundregeln für Schlaflose auf: kein fettiges Essen, kein
Alkohol und kein Kaffee vor dem Schlafengehen, kein Wecker neben dem Bett, auf
den man dauernd starrt.
Hans-Herbert König, 57 Jahre alt, verfiel den Benzos mit 29 Jahren. "Ich bin über die
Jahre perfekt geworden", sagt er, wenn er über die Beschaffung spricht. Er kennt die
Benzo-Schleudern, jene Praxen also, die hemmungslos verschreiben. "Die
Versichertenkarte ist ein Freifahrtschein", sagt er. König nennt die Tricks der
Süchtigen:
Geh zu einem Arzt, der seine Praxis erst kürzlich eröffnet hat, der braucht Patienten.
Wechsle dauernd den Arzt.
Sag: Mein Arzt ist im Urlaub/verstorben/krank, der verschreibt mir das immer.
Sag: Ich bin erst in diese Gegend gezogen.
Auch in großen Systemen gibt es immer ein paar wenige, die nicht mitmachen. Dazu
gehört Ernst Pallenbach. Vor acht Jahren, als er Krankenhausapotheker in VillingenSchwenningen war, rief ihn ein Arzt zu einer Patientin: Ob er sich mal ihre
Medikamente anschauen könne? Als Pallenbach ins Zimmer der älteren Dame trat,
öffnete sie ihre Handtasche, heraus fielen 20 Packungen, darunter Bromazepam,
eines der meistverordneten Benzodiazepine. Er fragte sie:
"Hat Ihnen das früher geholfen?"
"Ja."
"Und jetzt?"
"Jetzt nicht mehr."
Er erklärte der Patientin, dass nach einer Weile die Wirkung des Medikaments
nachlässt oder sich sogar umkehrt, bot ihr Beratung an und ging. Fünf Tage später
rief sie ihn an: "Was Sie mir erzählt haben, das hab ich nicht verstanden. Können Sie
es mir noch mal erklären?" Pallenbach sagt, in diesem Moment habe er eine Idee
gehabt: Die Apotheker reden behutsam mit den Abhängigen, führen sie an den
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Entzug heran, entscheiden muss am Ende der Arzt. Pallenbach probiert es aus.
Sagt, um die Menschen nicht zu erschrecken, "Gewöhnung" statt "Sucht". Sagt
"runterdosieren" statt "Entzug". Er merkt: Die Abhängigen sind zutraulich, die meisten
lassen nach dem langsamen Herunterdosieren die Mittel dankbar weg.
Vier Jahre lang kämpfte er um Geld für einen Modellversuch. Wenn die Behörden
schon kein Mitgefühl haben mit den Süchtigen, dachte er, sind sie vielleicht offen fürs
Sparen: Der stationäre Entzug kostet pro Person 15.000 Euro. Redet der Apotheker
mit den Abhängigen, kostet es nichts. Schließlich bekam Pallenbach eine Förderung
vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und Unterstützung durch die
Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände für sein Modell, dreieinhalb Jahre
Laufzeit, über hundert Apotheken in Baden-Württemberg machten mit.
Die Hälfte der beratenen Patienten setzte die Medikamente ganz ab. Auch nach
Monaten wurden sie nicht rückfällig. Weitere 30 Prozent reduzierten die Dosis. Die
Patienten fühlten sich besser: Da war die 82-Jährige, die nach Jahrzehnten wieder
ins Schwimmbad ging, nachdem sie viele Jahre tranig vor dem Fernseher verbracht
hatte. Da waren die vielen, die merkten: Nicht wegen meines Alters bin ich
schusselig – sondern wegen der Medikamente.
Pallenbach wollte mehr Ärzte und Apotheken einbeziehen. Er scheiterte an Christoph
von Ascheraden, dem Vorsitzenden des Ausschusses Sucht und Drogen der
Bundesärztekammer. Der gibt zu, dass die dauerhafte Abhängigkeit "ein
Riesenproblem" sei. "Die Benzodiazepin-Sucht ist sehr klebrig und der Entzug viel
schwieriger als bei Heroin", sagt er. "Aber dass jetzt Apotheker anstelle von Ärzten
Gespräche mit den Patienten über die Reduktion der Medikamente führen, das geht
nicht. Diagnose und Therapieentscheidung müssen in der Arzthand bleiben."
Pallenbach entgegnet, Apotheker könnten viel mehr als nur Medikamente abgeben,
von Ascheraden bezeichnet Pallenbach als "ehrenwerten Idealisten".
Und so bleibt alles, wie es ist. Wer will etwas wissen von den Ängsten der Melanie
Schneider, der Barbara Voss und Tausender anderer? In Deutschland gibt es schon
jetzt nicht genug Therapieplätze. Was wäre, wenn Schneider, Voss und die restlichen
1,5 Millionen anrückten? "Viele flüchten sich in die zynische Wahrheit: Es ist für uns
alle bequemer, wenn die Ruhiggestellten abhängig bleiben", sagt Gerd Glaeske.
"Ich danke dem Erfinder von Valium"
Hartmut Berger* arbeitet an einer technischen Universität, in seiner Freizeit fährt er
Kajak und Drachenboot, man sieht ihm an, dass er viel Sport treibt, auch wenn er,
wie jetzt, in einem Sprechzimmer in Ostwestfalen sitzt. Vor sich ein Blatt mit einem
Diagramm, das er selbst erstellt hat. Alle Tage der letzten drei Monate sind da zu
sehen, in verschiedenen Farben.
Rot: starke Ängste, Panik;
Orange: latente Ängste, Bedrücktheit;
Grün: bewältigte Ängste, Symptomfreiheit;
Schwarz: Einnahme von Valium;
50
Blau: Sport.
"Ich danke dem Erfinder von Valium", sagt er. "Valium schirmt alles ab. Ich fühle
mich wohlig und aufgehoben." Allerdings folgen in letzter Zeit auf die schwarzen oft
rote Tage. Das bedeutet: Panik trotz Valium. "Wenn die Ängste auftauchen, sind sie
so bedrohlich, dass sie mir alles zerstören. Was von außen kommt, kann ich
ertragen. Vor dem, was in mir ist, graut mir", sagt er.
Stilnox und Valium, Benzodiazepine und Z-Substanzen sind Suchtstoffe. Sie
sprechen das körpereigene Belohnungssystem an, indem sie, genau wie Alkohol, am
GABA-Rezeptor andocken. Der GABA-Rezeptor ist die Beruhigungszentrale des
Gehirns. Hier werden Ängste gelöst, Muskeln entspannt und Krämpfe gebremst.
Außerdem wird der Schlaf angeregt. Deswegen sind Benzos und Z-Substanzen so
hilfreich bei Traumata wie einer Trennung oder einem Todesfall. Man gewöhnt sich
schnell an die Mittel, viel schneller als etwa an Alkohol. Die Medikamente
unterbinden den Nervenverkehr. Signale erreichen ihr Ziel nicht, das Gehirn beruhigt
sich. Viele, die es nehmen, erleben Ruhe vor dem inneren Geschwätz und werden
vom Schlaf überwältigt wie Dreijährige im Autositz. Andere überwinden das
Schlafbedürfnis und geben sich schummriger Ekstase hin. Manche haben Sex, an
den sie sich später nicht erinnern, fahren schlafwandlerisch Auto oder essen den
Kühlschrank leer.
"Nach wenigen Wochen täglicher Einnahme hat sich der Körper so an das
Medikament gewöhnt, dass es zu Absetzeffekten kommt, die zur weiteren Einnahme
führen – das Grundmuster jeder Abhängigkeit", sagt der Psychiater Rüdiger
Holzbach. Er ist der Arzt, der sich in Deutschland am besten mit Benzodiazepinen
und Z-Substanzen auskennt, er hat in Ostwestfalen die einzige Suchtklinik in
Deutschland mit einem eigenen Entzugsprogramm für Benzodiazepin-Abhängige
aufgebaut. "Die vielen Patienten, die bei einer Tablette täglich bleiben, spüren nicht
mehr die Wirkung des Medikaments, sie arbeiten nur noch gegen die
Entzugserscheinungen, die sie für wieder auftretende Symptome ihrer
Grunderkrankung halten", sagt Holzbach.
Es gibt Menschen, die nehmen nur einmal im Monat eine Tablette. Aber eine
tägliche, längere Einnahme ist gefährlich. Dass die Benzodiazepine Konzentration,
Aufmerksamkeit, Erinnerung und Gedächtnis stören, dass sie gleichgültig machen
oder chronisch depressiv, antriebslos oder grundlos euphorisch, dass sie die
Belastungs- und Konfliktfähigkeit verringern, dass sie langsam machen, seelisch und
mental, verstimmt, reizbar, aggressiv, manchmal richtig feindselig, nervös, unruhig
und fahrig, dass sie die Angst, die sie eigentlich bekämpfen sollen, langfristig
verstärken und zuletzt hervorrufen – all das ist in zahlreichen Studien bewiesen und
steht längst im Beipackzettel.
Aber erst seit Kurzem ist klar, wie riskant die Substanzen wirklich sind. Im Herbst
2014 erschien eine Studie im renommierten Fachblatt British Medical Journal, in der
kanadische und französische Forscher zum ersten Mal eine Verbindung zwischen
Demenz und der Abhängigkeit von Benzodiazepinen sehen: Patienten, die
Schlafmittel einnahmen, erkrankten eineinhalbmal häufiger an Alzheimer. Es ist ein
erster Hinweis darauf, dass die Schlafmittel ein Grund sein könnten für die Explosion
der Volkskrankheit Demenz.
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Im selben Fachblatt erschien schon vor drei Jahren eine aufsehenerregende
Warnung. Der berühmte amerikanische Schlafforscher Daniel Kripke, emeritierter
Professor der University of California, hatte die elektronischen Gesundheitsdaten des
amerikanischen Bundesstaats Pennsylvania ausgewertet und kam zu dem Schluss,
dass Menschen, die regelmäßig Schlafmittel nahmen, innerhalb von sieben Jahren
dreimal häufiger starben als die der Vergleichsgruppe. Wer eine höhere Dosis nahm,
starb mit einer mehr als fünfmal größeren Wahrscheinlichkeit. Aus den Daten kann
man freilich die Todesursache nicht herauslesen, und verstorbene
Schlafmittelsüchtige waren oft alt und hatten Krankheiten.
Kripke plädiert trotzdem dafür, die Mittel vom Markt zu nehmen: "Niemand stirbt,
wenn er keine Schlaftabletten nimmt", sagte er dem amerikanischen Magazin The
New Yorker. Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske schlägt vor, die
Packungen zu verkleinern und die Medikamente nur noch auf
Betäubungsmittelrezepten zuzulassen, wie es etwa bei Ritalin der Fall ist, dem Mittel
gegen Aufmerksamkeitsstörungen. Das BGM sagt, es gebe derzeit keine
Überlegungen, die Packungsgrößen zu verkleinern.
In das ostwestfälische Entzugsprogramm von Rüdiger Holzbach kommen zwischen
50 und 100 Patienten pro Jahr, ambulant betreut Holzbach weitere Abhängige aus
dem ganzen Land. "Gute Patienten", sagt Holzbach, "brav und angepasst." Die
Mehrheit der Abhängigen ist über 50 Jahre, ein Drittel älter als 70. "Sie haben
einfach zu wenig Beschäftigung", sagt Holzbach. "Das Selbst-Strukturieren der Zeit
haben die älteren Leute nie gelernt." In all der langen, zähen Weile wollten die Alten
zwölf Stunden am Tag im Bett verbringen. "Falsche Schlaferwartung" nennt
Holzbach das und erklärt, gesunde ältere Menschen brauchten häufig höchstens
sechs Stunden Schlaf. Dahinter erkennt Holzbach ein gesellschaftliches Problem:
"Wir haben zu wenig sinnvolle Beschäftigung für Ältere."
Was kann man tun? "Wir müssen die Ärzte aufklären." Nur wer die Sucht erkennt,
kann sie auch ansprechen. "Es beginnt schon in der Ausbildung. Ich habe im
Medizinstudium viele Transplantationspatienten gesehen, aber wie man Husten,
Schnupfen oder eben Schlafstörungen behandelt, hat mir keiner beigebracht." In
seinen Fortbildungen, sagt Holzbach, sitzen Hausärzte, die glaubten, jemand, der ein
bis zwei Tabletten am Tag nimmt, sei nicht süchtig. Genauso oft höre er von
Kollegen das Argument: "Wenn eine 75-Jährige das jahrelang genommen hat, soll
sie es halt weiter nehmen." Aber, sagt Holzbach, gerade die 75-Jährige gehöre
entzogen, weil sich die Alterserscheinungen mit den Benzo-Symptomen ungünstig
koppelten.
"Seit es Menschen gibt, wollen sie Sedativa", sagt der Medizinhistoriker Matthias M.
Weber vom Max-Planck-Institut in München. Die Menschen wollen beruhigt werden,
ihre Angst loswerden. Schon in Homers Odyssee kommt das Zaubermittel
Nepenthes vor. Es bedeutet auf Altgriechisch "kein Kummer". In der Odyssee erhält
die schöne Helena den Stoff Nepenthes von einer ägyptischen Königin, als "Mittel
gegen Kummer und Groll und aller Leiden Gedächtnis". Wer es nimmt, dem benetzt
"keine Träne die Wangen, wär’ ihm auch sein Vater und seine Mutter gestorben,
würde vor ihm sein Bruder, und sein geliebtester Sohn auch mit dem Schwerte
getötet". Das Molekül C16H13ClN2O schien Anfang der sechziger Jahre dieses
Nepenthes zu sein. "Die Idee, ich nehme eine Substanz ein und bin das los, was
mich betrifft", sagt Weber.
52
Leo Sternbach, der Erfinder der Benzos, schrieb, nachdem er sie an Tieren getestet
hatte: "Die zähmende Wirkung wurde auch an wilden Tieren beobachtet, wie am
Tiger und Luchs, ganz besonders am Affen. Da unser 'Medical Director' gute
Verbindungen zum Zoo in San Diego hatte, wurde die Droge auch dort an wilden
Tieren geprüft. Dabei erwies sich ebenfalls die außerordentliche Aktivität der
Substanz: Ein sonst sehr aggressiver Tiger, der erst kurze Zeit im Zoo war, wurde so
gezähmt, dass er ganz unbehelligt berührt werden konnte. Dabei wurde ihm auch
eine Blume ins Maul gesteckt, und das wurde fotografiert."
Die allgemeine Zähmung war ein Milliardengeschäft. Valium und der Vorgänger
Librium waren damals die kommerziell erfolgreichsten Pharmapräparate. Sie wurden
noch häufiger verschrieben als heute. Bei Roche machten die Benzos im Jahr 1974
zwei Drittel aller Pharmaerlöse aus. Ein Jahrzehnt lang war Roche allein wegen der
Benzodiazepine der größte Arzneimittelkonzern der Welt.
Die Z-Substanzen
Dabei hatten amerikanische Forscher schon kurz nach der Zulassung
herausgefunden, dass Benzodiazepine abhängig machen. Sie verabreichten in
Menschenversuchen elf psychisch gesunden Gefängnisinsassen über mehrere
Monate 300 bis 600 Milligramm Chlordiazepoxid – eine hohe Dosis. Beim Umstellen
auf Placebos entwickelten zehn von elf Patienten Depressionen, Psychosen,
Unruhezustände, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Übelkeit. Es kam zu zwei
epileptischen Anfällen.
Warum passierte nichts? "Die Firma Roche fürchtete, dass die 'Nebenwirkung'
Abhängigkeit dazu führen könnte, dass Valium nicht mehr entsprechend häufig
verordnet würde", sagt der Gesundheitswissenschaftler Glaeske. "Das hätte das
außerordentlich profitable Geschäft gefährdet. Entsprechenden Studien wurde von
Roche stets widersprochen, nach dem Motto: Wir haben keine Daten zu dieser
angeblichen Nebenwirkung." Roche, mit den Vorwürfen konfrontiert, sagt, die Firma
habe sich "aktiv in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und auf den
angemessenen und sicheren Umgang mit Benzodiazepinen hingewiesen". Aber
Abhängigkeit taucht erst ein Vierteljahrhundert später in Beipackzetteln und der
Roten Liste auf, einem Arzneimittelverzeichnis, das nicht unabhängig ist, sondern
von der Pharmaindustrie herausgegeben wird.
Die Pharmaindustrie sucht nach einer neuen Droge, die den Menschen die Ängste
nimmt. Doch jetzt, Mitte der achtziger Jahre, muss man vor Einführung eines
Medikaments Studien vorweisen, denn in Deutschland waren viele Jahre zuvor
Babys ohne Arme geboren worden, nachdem ihre schwangeren Mütter Contergan
geschluckt hatten. Alle Studien werden von der Pharmaindustrie selbst gemacht. Sie
diktiert die Bedingungen. Sie entwickelt: die Z-Drugs, Zolpidem und Zopiclon. Sie
haben eine andere chemische Struktur als Benzodiazepine – wirken aber genauso.
Sieht man sich heute die Bedingungen an, unter denen die Z-Substanzen eingeführt
werden durften, könnte man glauben, die Zulassung habe von vornherein
festgestanden: Die Studien waren so angelegt, dass sie Menschen mit
Suchtproblemen ausschlossen. Und die Untersuchungszeiträume waren so kurz,
dass sie die Entwicklung einer Abhängigkeit gar nicht erfassen konnten.
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Also konnten die Vertreter der Pharmaindustrie den Ärzten guten Gewissens
erklären, die Mittel seien nicht schädlich und machten nicht abhängig. Und viele der
Ärzte glauben das noch heute. Zopiclon und Zolpidem sind aktuell die am häufigsten
verschriebenen Schlafmittel. In Deutschland werden sie unter anderem unter dem
Namen Ximovan oder Stilnox vertrieben – das ist das Mittel, nach dem Melanie
Schneider süchtig ist.
"Mami, was ist los mit dir?", hat die Tochter sie oft gefragt, "Mami, du bist so
komisch." Selma ist jetzt 18 und findet, es sei nicht gerade einfach, unter der Obhut
einer Mutter aufzuwachsen, die tablettensüchtig ist. Einmal hat eine neue
Apothekerin der Mutter aus Versehen sechs Packungen statt sechs Tabletten
ausgehändigt. "Ich wollte sie in den Arzneischrank tun", sagt Schneider, "hab ich
auch zuerst." Dann hat sie die Tabletten doch genommen. Jede einzelne. "Es ist wie
ein Magnet. Ich hab die Packung eingenommen, eine nach der anderen. Ich konnte
nicht anders." Geweint habe sie dabei und ferngesehen. Als sie zu sich kam, hatte
sie keine einzige Pille mehr. "Ich hab die leeren Packungen das Klo runtergespült",
sagt sie, "damit ich sie nicht sehen muss. Damit keiner sie sieht." Dann habe sie die
Handtasche durchwühlt, ob sich noch irgendwo eine Tablette finde. Schneider: "Wie
ein Maulwurf habe ich gewühlt."
Eines Abends ist Melanie Schneider wieder im Dämmerzustand, als ihre Tochter
nach Hause kommt. In der Tür stehend, fragt sie: "Mami, hast du schon gekocht?"
Da schmeißt die Mutter ein Glas Nescafé nach ihr. Es zerschmettert an der Wand.
Jetzt ist Schneider in der renommierten Privatklinik Meiringen auf Entzug. Es ist ihr
dritter. Die Schweizer Klinik ist ihre letzte Hoffnung. Sie weiß nicht, welche Dosis ihr
im Moment verabreicht wird, und sie soll es nicht wissen. Das Medikament ist schon
aufgelöst in Wasser. "Für Abhängige, die an ihrer Dosis kleben, ist das eine gute
Methode", sagt Michael Soyka, der Klinikleiter und Autor mehrerer einschlägiger
Fachbücher. Diesmal müsse sie den Entzug schaffen, sagt Schneider, "ich hab’s der
Selma versprochen".
Die Sucht verläuft schleichend und ist für Betroffene und Angehörige oft schwer zu
durchschauen. Es ist nicht so, dass Süchtige über Nacht ihre Persönlichkeit
verändern, wie beim Heroin. Sie werden einfach stiller. Keiner erfasst die tatsächliche
Zahl der Abhängigen – auch die zuständigen Behörden kennen sie nicht. Zwar
befragt das BGM jährlich eine Kohorte, wie oft in den vergangenen Wochen
Rauschmittel konsumiert wurden. Befragt werden aber nur Menschen, die jünger sind
als 65 Jahre – oft fängt das Problem mit diesem Alter aber erst an.
In Deutschland tauchen in den Schlichtungsstellen für Arzthaftungsfragen mitunter
Patienten auf, die den Entzug geschafft haben. Sie verklagen ihre Ärzte – wie der
Manager aus Bremen, der 2004 von seinem Hausarzt Schadensersatz wollte und
75.000 Euro bekam. Es ist einer der wenigen Fälle, die bekannt wurden.
Die meisten Abhängigen sind Frauen. Das liegt daran, dass Frauen mehr über ihre
Ängste sprechen als Männer. Männer greifen eher zum Alkohol, Frauen zur Tablette,
die Benzos sind "mother’s little helper", wie die Rolling Stones 1966 sangen. Das
habe auch mit dem männlichen Blick auf die Welt zu tun, sagt der
Gesundheitswissenschaftler Glaeske, er präge die Medizin. Aus diesem Blickwinkel
neigen Frauen zu Übertreibung und Hysterie. Frauen sind labil. Sie gehören
54
ruhiggestellt. Glaeske kann viele Fälle nennen, bei denen Männer das wirksame
Arzneimittel bekommen und Frauen eines, das sie beruhigt. Nach einem Herzinfarkt
zum Beispiel bekämen Frauen deutlich weniger Prophylaxe wie Cholesterinsenker
und Blutverdünner als Männer – stattdessen verabreiche man ihnen etwas "zur
Beruhigung", sagt Glaeske. Diese Unterversorgung könne Frauen schaden. Die
sogenannte Hysterie war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Sammelbegriff, um
weibliches Verhalten zu pathologisieren. Es scheint, als hätten Reste dieser
Vorstellung bis heute überdauert. Glaeske erinnert sich noch an eine Werbung für
Benzos aus den 1970er Jahren. Der Slogan lautete: "Keine Scheinlösung für
Probleme, sondern eine Lösung für Scheinprobleme."
Bleiben die Behandelten nach dem Entzug clean? Holzbach sagt: "In der Regel
schon. Aber es taucht plötzlich ein anderes Problem auf." Er lacht. "Hier haben schon
Ehemänner ehemaliger Patientinnen angerufen. Sie klagen: 'Meine Frau ist plötzlich
so rebellisch. Sie widerspricht und macht nur noch, was sie will.' Und dann fragen
sie: 'Können Sie da nichts machen, Herr Doktor?'"
* Name geändert
http://www.zeit.de/2015/24/medikamenten-sucht-beruhigungsmittel-schlafmittel
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Elektrokrampftherapie (EKT)
Die Elektrokrampftherapie (EKT) beruht darauf, dass in Narkose und unter
Muskelentspannung durch eine kurze elektrische Reizung des Gehirns ein
Krampfanfall ausgelöst wird. Der genaue Wirkmechanismus ist noch nicht geklärt.
Nach heutigem Kenntnisstand ist die Wirkung auf neurochemische Veränderungen
verschiedener Botenstoffe im Gehirn zurückzuführen.
Die Indikation für die EKT stützt sich auf zahlreiche Wirksamkeitsnachweise. Für die
Auswahl der Patienten sind maßgeblich: die Diagnose, die Schwere der Symptome,
die Behandlungsvorgeschichte sowie die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken
unter Berücksichtigung anderer Behandlungsoptionen. Dabei wird bei gegebener
Indikation auch der Wunsch des Patienten berücksichtigt. Am häufigsten wird die
EKT eingesetzt, nachdem Behandlungen mit Psychopharmaka keinen Erfolg
gebracht haben.
Die EKT ist grundsätzlich dann angebracht (indiziert), wenn




eine Notwendigkeit für eine schnelle, definitive Verbesserung aufgrund der
Schwere der psychiatrischen Erkrankung besteht,
die Risiken der EKT geringer sind als die anderer Behandlungen,
aus der Vorgeschichte ein schlechtes Ansprechen auf Psychopharmaka
(Therapieresistenz) oder ein gutes Ansprechen auf EKT bei früheren
Erkrankungsepisoden bekannt ist,
Unverträglichkeit oder erhebliche Nebenwirkungen der Pharmakotherapie
aufgetreten sind.
Bei folgenden psychiatrischen Erkrankungen ist die EKT die Therapie der ersten
Wahl:



wahnhafte Depression, depressiver Stupor, schizoaffektive Psychose mit
schwerer depressiver Verstimmung,
Depression mit starker Suizidalität oder Nahrungsverweigerung,
akute, lebensbedrohliche (perniziöse) Katatonie.
Als Therapie der zweiten Wahl ist die EKT angezeigt bei:


therapieresistenter Depression, somit nach Anwendung von mindestens zwei
verschiedenen Antidepressiva möglichst unterschiedlicher Wirkstoffklassen in
ausreichender Dosierung und zusätzlichem therapeutischem Schlafentzug,
therapieresistenten, nicht lebensbedrohlichen Katatonien und anderen akut
exazerbierten schizophrenen Psychosen nach erfolgloser NeuroleptikaBehandlung,
therapieresistenten Manien nach erfolgloser Behandlung mit Neuroleptika,
Lithium oder Carbamazepin.
Seltenere Indikationen können therapieresistente schizophreniforme Störungen,
therapieresistente schizoaffektive Störungen, therapieresistente Parkinson-Syndrome
und das maligne neuroleptische Syndrom sein.
Die nach dem heutigen Standard durchgeführte EKT ist ein sicheres
56
Behandlungsverfahren. Die Risiken der Behandlung sind im Wesentlichen die
Risiken der Narkose.
Hirnschädigungen sind bisher nach sachgerecht durchgeführter EKT nicht
nachgewiesen. Gedächtnisstörungen können als Nebenwirkungen auftreten, zumeist
als vorübergehende, diskrete Störung der Orientierung, des Kurzzeitgedächtnisses
und der Aufmerksamkeit unmittelbar nach der Behandlung. Während sich die
anterograden Gedächtnisstörungen in der Regel rasch (in der Regel nach Stunden
bis zu wenigen Tagen, spätestens 4 Wochen) zurückbilden, können die retrograden
Amnesien in seltenen Fällen länger bestehen bleiben. Unmittelbar nach der EKT
auftretende weitere Beeinträchtigungen wie Wortfindungsstörungen sind
vorübergehend und bedürfen keiner spezifischen Behandlung.
Kopfschmerzen in Form von Spannungskopfschmerzen treten bei etwa 30 % der
Patienten nach EKT auf und können im Bedarfsfall mit Schmerzmitteln behandelt
werden. In seltenen Fällen können auch Migräneanfälle durch EKT ausgelöst
werden. Übelkeit und Erbrechen nach EKT kommen selten vor.
http://www.psychiatrie.med.uni-goettingen.de/de/content/patienten/243.html
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Fragen zur Nachbereitung:
Was ist das Besondere an Musicals? Welche Kunstgattungen treffen aufeinander?
Wie hat euch die Musik gefallen?
Wie hat euch das Bühnenbild gefallen?
Mit welcher Rolle könnt ihr euch am Stärksten identifizieren? Warum?
Welche Probleme könnt ihr nachvollziehen? Welche nicht?
Wie hat sich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter im Laufe des Stücks
verändert?
Wie verändert sich das Verhältnis zwischen Vater und Tochter?
Wie unterscheidet dich die Trauer des Vaters mit der Trauer der Mutter?
Was für einen Charakter hat der Sohn Gabe? Hat er zwei Seiten? Wenn ja,
beschreibe seine zwei Seiten.
Wodurch existiert Gabe?
Wodurch versucht Henry Natalie zu helfen?
Wie verläuft die Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen?
Könntet ihr euch ein anderes Ende vorstellen?
Was hat euch überrascht oder irritiert? Warum?
Gab es Szenen, die euch nicht so gut gefallen haben? Warum?
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Übungen
 Kurze Vorstellung der Hauptfiguren
Alle stehen im Kreis und finden eine Geste/Haltung, die zu der jeweiligen Figur
passt.
Mutter: himmelhochjauchzend-zu Tode betrübt
Vater: geduldig, beharrlich
Tochter: Natalie ist sensibel, verletzt, herausfordernd
Sohn: Gabe ist unsichtbar, in sich gefangen, dringt nicht zu den anderen
durch (es gibt ihn nicht)
Freund der Tochter: Henry ist locker, ist sehr verliebt und zeigt dies offen
 Übungen zu Gefühlen
Möglichst viele verschiedene Gefühle sammeln und auf Karten schreiben.
- Pantomimisch wird von einer Person ein Gefühl vorgespielt. Die
Gruppe darf rate. Wer richtig lag, ist als nächster dran.
- Ein Raumlauf, bei dem jeder/jede eine Karte bekommt und versucht,
sich in das Gefühl zu versetzen. Der Spielleiter/ die Spielleiterin stoppt,
Karten werden getauscht, es geht weiter. Mehrmals wiederholen.
Gut ist es ein paar Karten übrig zu haben, um bei Bedarf schnell
jemandem eine Karte geben zu können, der nicht tauschen konnte.

Konzepte von Normalität in der Gesellschaft und in der Familie
Was ist normal, was nicht mehr? Gesellschaften definieren Normalität. Wer
anders ist, als diese Konzepte vorsehen, fühlt sich ausgegrenzt. Vor allem in
der Adoleszenz stellen sich Menschen die Frage, wohin sie gehören, wie sind
und sein wollen und ob sie in die Gesellschaft passen (wollen). Sind die
Dinge, die ihnen widerfahren normal ? Erleben andere Menschen auch solche
Momente? Geht es in anderen Familien nicht viel besser zu?
Lebendige Diagramme
Es werden drei Orte im Raum definiert, die JA, NEIN und UNENTSCHIEDEN
heißen.
Im Folgenden werden Fragen gestellt oder Feststellungen gemacht und alle
müssen sich entscheiden, auf welches Feld sie gehen möchten. So entsteht
eine sehr körperliche, sichtbare Abstimmung oder auch Momentaufnahme.
Wichtig: Dies ist eine stille Übung, es sollte nichts kommentiert werden.
Grundthema:
Kennt ihr folgende Themen unter jungen Menschen?
-
Sich wie ein Außerirdischer fühlen
Nicht so werden wollen wie die eigenen Eltern
Ist das realistisch?
Ängste vor Versagen haben
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-
-
Sich eine überglückliche Zukunft basteln
Enttäuscht sein über die eigenen Eltern
Sich zugleich schämen und wütend sein
Ängste vor Trennung der Eltern oder vom eigenen Partner haben
Angst vorm übersehen werden
Angst davor, enttäuscht zu werden
Andere für total verrückt halten
Sich für die eigenen Eltern schämen
Etc.
Begegnung auf der Diagonalen
Es werden zwei Gruppen gebildet, die sich in zwei Schlangen im Raum
einander gegenüberstehen. Es gehen immer nur die ersten der beiden
Schlangen aufeinander zu.
Wenn die ersten sich begegnet sind stellen sie sich auf der andren Seite
hinten in der Schlange an. Dann erst folgt die nächste Begegnung.
Der Spielleiter/ die Spielleiterin nennt jeweils ein Motto für die Begegnung auf
der Raumdiagonalen. Dazu ist es wichtig auch die Rollen zu verteilen: Z.B. ist
die eine Seite die Mutter, die andre Seite die Tochter und sie sollen einander
begegnen, als ob sie sich näher kommen wollten, es aber nicht können. Pro
Motto können sich mehrere Paare nacheinander treffen.
Beispiele:
Sich nicht näher kommen können (Mutter/Tochter)
Übersehen werden (Mutter/Tochter; oder Vater/Tochter)
60
-
Anhimmeln (Henry/Natalie; Mutter /Sohn)
Lieben und Dulden (Vater/Mutter)
Sich schämen (Vater/Mutter)
Familienstandbilder
Es wird eine Bühnensituation geschaffen. Je nach Gruppengröße werden
Teams aus drei oder vier Personen gebildet. Diese werden nacheinander
aufgerufen und bekommen den Auftrag ein Standbild darzustellen. Sie sollten
das Bild ohne sich abzusprechen, aus dem Stehgreif stellen.
Beispiele:
Liebe, Hoffnung, Unverständnis, Duldsamkeit, Selbstbezogenheit, Ansprüche,
Zusammenhalt, Vorwürfe, übersehen werden, Angst vor Verlust, Reue, Nähe
zulassen, Nähe herstellen können, Familienglück
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Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Next_to_Normal
http://de.wikipedia.org/wiki/Musical
http://www.psychiatrie.med.uni-goettingen.de/de/content/patienten/243.html
http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8617:next-tonormal-fast-normal-die-deutsche-erstauffuehrung-des-broadway-erfolgsmusicals-amstadttheater-fuerth&catid=292&Itemid=100190
http://www.praxisvita.de/bipolare-storung
http://www.brigitte.de/gesund/gesundheit/bipolare-stoerung-1206281/
http://www.forumgesundheit.at/portal27/portal/forumgesundheitportal/content/content
Window?action=2&viewmode=content&contentid=10007.688926
http://www.spiegel.de/spiegelwissen/trauer-wie-viel-verlustschmerz-ist-eigentlichnormal-a-866061-3.html
http://www.zeit.de/2015/24/medikamenten-sucht-beruhigungsmittel-schlafmittel
Fotos:
Inszenierung „Fast Normal“ Theater Lüneburg: Andreas Tamme
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