Sexualität in der Beratung Wurden in Ihrer Ausbildung Bereiche wie

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Sexualität in der Beratung
Wurden in Ihrer Ausbildung Bereiche wie Sexualität thematisiert? Wenn ja, wurde dies auf
sexuelle Gewalt und Ausbeutung fokussiert? Sexualberatung war lange kein Thema der
Sozialarbeit. Heute ändert sich dies und mit dem ersten Nachdiplomkurs zu Sexualität an der
HSA Luzern wurde ein eigentlicher Meilenstein in der Deutschschweizer
Sozialarbeits−Landschaft gesetzt. Für SozialarbeiterInnen in den Arbeitsfeldern
Familienplanung und Aidsprävention gehört das Thema Sexualität zum Arbeitsalltag.
Von Susanna Siegrist Moser
Sexualberatung im Kanton Graubünden
Im Kanton Graubünden ist die Beratungsstelle Adebar seit mehr als 20 Jahren in der
Sexualberatung tätig. Adebar erfüllt ihre Aufgabe im Auftrag des Kantons Graubünden und bietet
Beratungen zu den Themen Familienplanung, Sexualität, Schwangerschaft und Partnerschaft an. In
der Präventionsarbeit engagiert sich Adebar in der Sexualpädagogik, Erwachsenenbildung und
Öffentlichkeitsarbeit zu sexueller und reproduktiver Gesundheit. Die Trägerschaft bildet ein Verein
und finanziert wird Adebar durch den Kanton Graubünden, Mitgliederbeiträge, Honorare und
Spenden. Der Sitz der Beratungsstelle ist in Chur, regionale Stellen stehen immer wieder zu
Diskussion, sind aber bis heute nicht vorhanden.
Seit Gründung der Beratungsstelle erscheint das Wort Sexualität im Namen der Stelle. Unter dem
Stichwort Sexualberatung findet man Adebar im Telefonbuch, Twixtel und im Internet. Im Prospekt
der Stelle und auf der Homepage wird das sexualberaterische Angebot folgendermassen
beschrieben:
Sexualberatung hilft weiter, wenn;
Sie sich mit der eigenen Sexualität auseinandersetzen und Fragen wie Lustlosigkeit,
vorzeitiger Samenerguss, sexuelle Orientierung u.a. angehen möchten;
in Ihrer Partnerschaft unterschiedliche Vorstellungen zur Sexualität zu Differenzen führen
Wer meldet sich zu einer Sexualberatung?
Grundbedingung für eine Sexualberatung ist die Bereitschaft, sich mit seiner eigenen Sexualität
auseinander zu setzen. Diese Anforderung ist hoch und es melden sich Personen, die eine
entsprechende Motivation mitbringen. Bei der Anmeldung ist ein gewisser Unterschied zwischen
Frauen und Männern festzustellen.
Bei Frauen steht die Partnerschaft und der persönliche Zugang zur Sexualität im Vordergrund. Sie
melden sich an, wenn sie Veränderungen der eigenen Sexualität bewirken möchten. Oder wenn sie
die Sexualität in ihrer Partnerschaft als unbefriedigend erleben und die Ansprüche der Partner in
bezug auf Sexualität sehr unterschiedlich sind und oft zu Konflikten führen. Aber auch konkrete
Probleme wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Lustlosigkeit können Frauen zu einer
Sexualberatung bewegen.
Männer melden sich meist dann zur Sexualberatung, wenn bei ihnen konkrete Schwierigkeiten wie
etwa vorzeitiger Samenerguss oder Erektionsprobleme auftreten. Manchmal sind es auch Berichte
in Medien oder Gespräche mit Freunden, die sie bei sexuellen Schwierigkeiten zu einer
Sexualberatung motivieren.
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Für einige Personen kann es einfacher sein, bei sexuellen Problemen eine Beratung auf einer
öffentlichen Sexualberatungsstelle in Anspruch zu nehmen, als eine Sexualtherapie bei einer/einem
Psychotherapeutin/Psychotherapeuten aufzusuchen. Das Wort Therapie im Zusammenhang mit
Sexualität löst bei vielen Personen die Assoziation mit gestörtem Sexualverhalten und mit Krankheit
aus. Die Bezeichnung Beratung wird von diesen Personen positiver bewertet. In den Medien,
besonders in Zeitschriften und im Internet gibt es Beispiele von Sexualberatung, die für viele
Menschen auch motivierend sein können, bei sexuellen Problemen selber ein Beratungsangebot in
Anspruch zu nehmen.
Sexualberatungskonzept
Meine Beratungstätigkeit ist geprägt durch meine Aus− und Weiterbildung. Sie stützt sich auf eine
systemische Sichtweise. Aber auch die Grundhaltung, die das UNO Menschenrecht der sexuellen
und reproduktiven Gesundheit deklariert und eine freie selbstbestimmte Sexualität voraussetzt,
bildet ein wesentliches Kriterium meiner Arbeit. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die meisten
Menschen über Ressourcen verfügen, die ermöglichen, die positiven Energien der eigenen
Sexualität zu fördern und dadurch Störungen und Probleme erfolgreich anzugehen.
Der Satz einer meiner KursleiterInnen, der niederländischen Sexologin Willeke Bezemer, prägt
meine Haltung in der Sexualberatung bis heute: Sexualität findet mehr zwischen den Ohren als
zwischen den Beinen statt. Bilder, Vorstellungen und Mythen wie Sexualität sein sollte, persönliche
Wünsche, Ängste und Phantasien oder Interpretationen, was die Partnerin bzw. der Partner jetzt
denken und fühlen könnte – all dies findet in den Gedanken statt. Oft stimmt dies mit der
Lebensrealität wenig überein und meist werden diese Gedanken in der Partnerschaft nicht
kommuniziert. Eine wesentliche Aufgabe der Sexualberatung besteht darin, dieses Gespräch zu
fördern.
Je nach Situation finden zwischen vier und sieben Beratungssequenzen statt. Es werden konkrete
Themen besprochen, die Gewichtung der einzelnen Aspekte kann von KlientIn zu KlientIn sehr
unterschiedlich sein.
Die Sexualberatung mit einem Paar kann folgende Themen beinhalten:
Sexuelle Biographie / Ausgangslage
Klima und Moral in der Ursprungsfamilie in Bezug auf Körperlichkeit und Sexualität sowie auf
Information und Wissen zur Sexualität werden thematisiert. Wie wurde die eigene Pubertät erlebt
und die Paarbeziehung der eigenen Eltern wahrgenommen? Gab es besondere Situationen, wie
etwa die Eltern beim Sex gesehen oder gehört zu haben? Bestehen Erinnerungen an
unangenehme sexuelle Erlebnisse, Ausbeutung oder Gewalt? Wie wurden erste Verliebtheit,
Küsse, Petting, das erste Mal und weitere sexuelle Beziehungen erlebt? Waren Schwangerschaften
und Geburten gute Erfahrungen und änderte sich die Sexualität nach einer Geburt? Wie ist die
Verhütung geregelt und besteht ein aktueller Kinderwunsch?
Weibliche / männliche Sexualität
Wie wird die Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Geschlechtlichkeit eingeschätzt?
Biologische Unterschiede, erogene Zonen, Sexuelle Erregung, Orgasmus, Zyklus etc. werden
thematisiert. Wie werden kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Werthaltungen definiert?
Welche verbalen und nonverbalen Mitteilungen und Interpretationen benutzt das Paar, wenn es um
Sexualität geht? Gibt es bestimmte Rollenmuster und Machtaspekte in der gemeinsamen
Sexualität? Welche persönlichen Motivationen führen zu Sex? Handelt es sich um den Wunsch
nach Nähe und Intimität, das Bedürfnis nach Lust und Entspannung oder die Absicht von
Versöhnung und Pflichterfüllung?
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Sinnlichkeit
Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität bestehen aus mehr als aus Geschlechtsorganen und Koitus.
Welches sind die Vorlieben der sinnlichen Wahrnehmung, wenn es um Erotik geht? Welche Musik
ist sinnlich, welche Frucht erotisch und welche Farbe sexy? Wie werden diese Phantasien im Alltag
umgesetzt, wie sinnlich ist z.B. das Schlafzimmer eingerichtet? Was bedeuten Inspirationen durch
Bilder, Bücher oder Filme und durch Hilfsmittel wie Massageöl, Vibrator oder aphrodisierende Düfte
für das Paar?
Konkretes Anliegen
Was war das Ausgangsproblem? Hat sich etwas verändert? Wann und unter welchen Umständen
tritt es auf und wie ist die Reaktion darauf? Wäre alles gut, wenn das Problem nicht mehr bestehen
würde? Könnte das Problem auch eine positive Funktion haben, indem es ein anderes überdeckt?
Wird weitere Information zum Problem auf medizinischer oder psychologischer Ebene gewünscht?
Partnerschaft
Welche gemeinsame sexuelle Sprache wird als positiv empfunden? Wie können
sexualtherapeutische Übungen weiterentwickelt werden? Wer ist zuständig für welchen Bereich des
Sexuallebens? Müssen Verhütungsfragen und Familienplanung geregelt werden? Wie wichtig ist
die Offenheit, wenn es um Selbstbefriedigung, Phantasien und Treue geht? Wie könnte der
Balaceakt zwischen Sicherheit und Spannung gelingen? Wie sieht sich das Paar in zehn oder
zwanzig Jahren und was müsste für Beziehung, Liebe und Sexualität getan werden?
Beispiele aus der Beratung
Frau L., 29 Jahre und Herr A., 34 Jahre leben seit mehreren Jahren als Paar zusammen und
wünschen sich eine gemeinsame Zukunft. Seit einigen Monaten leidet Herr A. immer wieder an
Erektionsstörungen. Obwohl er Lust hat, erschlafft sein anfänglich steifer Penis wieder. Herr A. hat
bereits einen Urologen aufgesucht, der ihm mitteilte, dass körperlich alles in Ordnung sei, und ihm
die Adresse unserer Beratungsstelle angegeben hat. Das Paar kommt gemeinsam in die Beratung
und beide sind sehr motiviert. Durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Elementen der
Sexualität wie Sprache, Sinnlichkeit, Polarität der Geschlechter u.a. findet das Paar vielfältigere
Sichtweisen. Während der Beratungszeit führt das Paar zu Hause konkrete Zärtlichkeitsübungen
durch. Der genitale und koitusbezogene Sex rückt in den Hintergrund. Herr A. liest mit grossem
Interesse Bücher aus unserer Bibliothek zu männlicher Sexualität und der sozialen, kulturellen und
persönlichen Beziehung von Männern zu ihrem Penis. Die Erektionsstörungen nehmen ab, und
wenn sie auftauchen, haben sie nicht mehr den grossen Stellenwert wie früher. Herr A. fragt sich
dann ehrlicher, ob er wirklich Lust habe oder ob er manchmal zu müde sein könnte. Frau L. wird im
Laufe der Beratung klar, dass sie ihre sexuellen Bedürfnisse oft nicht mitgeteilt hat und dann auch
erleichtert gewesen sei, wenn es beim Mann nicht geklappt habe. Das Thema der verbalen und
averbalen Kommunikation in Bezug auf Lust und Sexualität wird ein zentraler Punkt in dieser
Beratung. In der Abschlussberatung betont das Paar, dass Sexualität für sie viel mehr Farben
erhalten habe.
Herr U., 19 Jahre, kennt uns aus dem sexualpädagogischen Unterricht an der Gewerblichen
Berufsschule. Er sieht seine Freundin nur an den Wochenenden und dann machen die beiden auch
Sex zusammen. Herr U. hat jeweils sofort nach dem Eindringen einen Samenerguss und möchte
dies nun verändern. Im Gespräch wird bald klar, dass es sich nicht nur um ein technisches Problem
handelt. Das Paar hat auch an den Wochenenden wenig Zeit, seine Freundin arbeitet im
Gastgewerbe und so bleibt den beiden lediglich der Sonntag. Für die gemeinsame Sexualität
entsteht dadurch auch ein gewisser Zeit− und Leistungsdruck. Nach dieser Erstberatung wünscht
Herr U. keine weiteren Termine mehr und leiht Literatur über männliche Sexualität aus. Nach etwa
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einem halben Jahr meldet sich Herr U. und teilt mit, dass er jetzt nach dem Lehrabschluss in die
Nähe seiner Freundin gezogen sei und sich die Situation sehr verbessert habe. Aber die Zeit der
geographischen Distanz habe er auch genutzt um einiges mehr über sich und seine Sexualität zu
erfahren. Mit der Auseinandersetzung der Technik zur Vermeidung der vorzeitiger Ejakulation habe
er auch etwas über die technische Seite dazu gelernt.
Frau J., 31Jahre, ist Mutter zweier Kleinkinder und kennt ihren Partner schon über 10 Jahre. Seit
der Geburt des ersten Kindes bereitet ihr Sexualität immer mehr Mühe. Es sei ein Wunder, dass
überhaupt ein zweites Kind entstanden sei, denn es habe in dieser Zeit nur ein einziger
Geschlechtsverkehr stattgefunden. Jetzt werde ihr Mann langsam ungeduldig und sie verstehe ihn
auch, aber sie habe einfach keine Lust mehr. Frau J. wünscht eine Einzelberatung. Frau J. möchte
einen besseren Zugang zu ihrer eigenen Sexualität finden. Durch die intensive Auseinandersetzung
mit dem Thema gelingt ihr dies. Sie informiert ihren Mann über gewisse Themen der Beratung.
Beide lesen zusammen die Bücher, die Frau J. im Zusammenhang mit der Beratung ausleiht und es
findet ein intensiverer Dialog statt. Frau J. plant nach Abschluss der Beratung in eine
Körpertherapie einzusteigen und sich dadurch noch intensiver mit sich und ihrem Körper
auseinanderzusetzen.
Einzel− oder Paarberatung
Die Dynamik unterscheidet sich selbstverständlich stark, ob es sich um eine Einzel− oder eine
Paarberatung handelt. Viele Sexualberatungen beginnen das Erstgespräch mit einer Person und
daraus folgt eine Paarberatung. Das System wechselt von der Dyade zur Triade, was andere
Ansprüche stellt. Grundsätzlich können partnerschaftliche sexuelle Störungen in einer Paarberatung
besser angegangen werden. Für eine Einzelperson ist die Sexualberatung dann sinnvoll, wenn sie
vor allem eine Auseinandersetzung mit sich selber und der eigenen Sexualität wünscht. Liegen aber
Konflikte in der Sexualität zwischen den Partnern vor, macht eine Einzelberatung wenig Sinn.
Es gibt auch immer wieder Beratungen, die zwar als Sexualberatung deklariert werden, bei denen
aber andere Gründe die Ursachen sind und wo sich die sexuelle Störung als Symptom bemerkbar
macht. In der Regel kristallisiert sich eine andere Ursache erstaunlich schnell heraus. Und über
Sexualität sprechen kann man nur, wenn ein guter Boden, ein grundsätzlich gutes Klima zwischen
dem Paar besteht.
Der Zugang zu einer für beide Seiten befriedigenden Sexualität kann durch das Gespräch der
beiden über ihre Sexualität gefördert werden. Über Sexualität sprechen ist jedoch nicht einfach.
Weder im Deutschen noch im Romanischen oder Italienischen gibt es eine grosse Palette mit
schönen Wörtern, die das Liebesleben beschreiben. Durch spielerische Übungen kann ein Paar die
Worte bestimmen, die beide persönlich ansprechen. Neben den rein sprachlichen Barrieren ist die
ehrliche Kommunikation zur Sexualität oft delikat. Wie kaum in einem andern Lebensbereich
bedeutet Kritik im Sexualleben für viele eine äusserst heikle Angelegenheit und wirkt oft verletzend.
Auf der anderen Seite steigert das Erleben einer befriedigenden Sexualität und das ehrliche
Gespräch dazu für die meisten Menschen die Lebensenergie. Sexualität hat grosse Auswirkungen
auf unser psychisches, seelisches und körperliches Befinden.
Wo liegen die Grenzen einer Sexualberatung?
Sexualberatung stösst ganz klar an Grenzen, wenn die Ursachen der sexuellen Störungen in
traumatischen Erlebnissen liegen. Oder wenn es sich um eine äusserst komplexe Situation mit
Persönlichkeitsstörungen handelt. In diesen Fällen weisen wir an sexualtherapeutische oder
psychiatrische Angebote weiter.
Veränderungen und Visionen
In den letzten Jahren ist klar feststellbar, dass eine Sexualberatung selbstverständlicher aufgesucht
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wird. Besonders Einzelpersonen und Paare im Alter zwischen 20 und 35 Jahren gehören zum
Hauptklientel in der Sexualberatung. Die klassische Problemstellung: Der Mann will Sex und die
Frau hat keine Lust, hat sich verändert. Frauen verfügen heute über gute Informationen und Zugang
zu Details der weiblichen Sexualität. Bei jungen intellektuellen Paaren habe ich auch schon die
Ausgangslage angetroffen, dass die Frau nicht ein so langes Vorspiel wünscht, lieber zur Sache
kommt und der Mann sich mehr Zärtlichkeit und Kuscheln wünscht.
Sexualberatung ist heute zweifellos zu einem wichtigen Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit geworden.
Sexualität ist ein wesentlicher Bereich im Leben jedes Menschen. Fachpersonen der Sozialen
Arbeit sollten sensibilisiert für das Thema Sexualität sein, den es spielt in allen Arbeitsfeldern mit,
von der Spannweite der stationären Einrichtungen für Betagte bis hin zur offenen Jugendarbeit.
Susanna Siegrist Moser ist dipl. Sozialarbeiterin HFS und Stellenleiterin von Adebar,
Beratungsstelle für Familienplanung, Sexualität, Schwangerschaft und Partnerschaft Graubünden in
Chur. Sie verfügt über eine langjährige Berufserfahrung und fundiertes Fachwissen im Bereich
Sexualberatung. Zur Zeit besucht sie den NDK Sexualität, Fachrichtung Sexualpädagogik an der
HSA Luzern
www.avenirsocial.ch
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