6 TIT ELT H E M A NOTARZT IN BAYERN – ZUKUNFTSFÄHIGES AUSLAUFMODELL? Ist das in Bayern weitgehend als selbstständige Tätigkeit auf freiwilliger Basis organisierte Notarztsystem zeitgemäß? Wo drückt die Einsatzweste? Diesen Fragen geht PD Dr. med. Michael Reng in seinem Gastkommentar nach. Er ist Internist und Gastroenterologe mit den Zusatzbezeichnungen Intensiv- und Notfallmedizin, Chefarzt an der Goldberg-Klinik in Kelheim, seit 1989 aktiver Notarzt und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte (agbn). Ist das ein Beruf oder kann das weg? „In Zukunft sollen Notärzte die Behandlung vom Computer aus leiten“, titelte die Süddeutsche Zeitung bereits 2010. „Rettungssanitäter sollen Notärzte ersetzen“, schrieb die WELT 2014. Trotzdem eilen an 227 Standorten in Bayern immer noch rund um die Uhr Notärzte beim schrillen Piepen des Meldeempfängers zum Einsatzfahrzeug. Sie können weder einen Notfallsanitäter „vorschicken“, noch sich telegen vor einer Kamera rekeln, um den Cyberdoc zu geben. Binnen zwei Minuten – so schreibt es der Gesetzgeber vor – blaulichten sie höchst unvirtuell in die Einsatzrealität hinaus, egal wie einladend Wetter und Tageszeit erscheinen. Und die Einsätze werden jährlich mehr. Strukturziel – einheitlich? Früher war jeder Notarzt Selbstfahrer, der, wenn die Routenfindung – ohne Navigationsgerät – gelang, allein am Notfallort eintraf und auf sich selbst gestellt handeln musste. Dank des Bayerischen Rettungsdienstgesetzes (BayRDG) gibt es seit einiger Zeit einen Fahrer für das Notarzt-Einsatzfahrzeug (NEF). K V B F O R U M 4/2016 Die Regelung hat sich prinzipiell bewährt, denn dank Fahrer treffen mit dem NEF jetzt immer zwei qualifizierte Kräfte am Einsatzort ein. Leider wird vielerorts erwartet, dass Notarzt und Fahrer gemeinsam auf der Rettungswache dem nächsten Einsatz entgegenwarten. Gerade an Standorten mit geringer Einsatzfrequenz kann das die Besetzung vor allem nachts und an Feiertagen gefährden. Wer in einer Woche schon zwei Nächte hauptberuflich in der Klinik verbracht hat, wird nur dann noch eine Notarztnacht nebenberuflich besetzen, wenn er von Zuhause aus losfahren kann, was mit Fahrer mangels Platz an der Bettkante selten machbar ist. Seit der Einführung der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst (ÄLRD), die Organisation und Qualität des Rettungsdienstes optimieren sollen, sind viele gute Regelungen erarbeitet worden, die den Rettungsdienst – einschließlich des Notarztdienstes – bayernweit zu optimieren helfen. Manche Strukturverbesserung wurde aber so apodiktisch angelegt, dass sie pragmatisches Handeln behindert. Bayern ist ein vielgesichtiges Land, beim Auftreten von Verwaltungsübeln muss im Konsens der richtige, für jeden Einzel- fall ideale Weg gefunden werden. Das gilt nicht nur für die NEF-Fahrer-Regelung. Merke: Die lückenlose Besetzung von Notarztstandorten kann nicht nur mithilfe von Vergütungsregelungen erreicht werden. Apropos Vergütung. Seit Anfang 2016 gilt eine bayernweit einheitliche Vergütungsregelung. Die bayerischen Notärzte erhalten an allen Standorten das gleiche Entgelt pro Stunde Wartezeit wie pro Einsatz. Leider ist mit der Summe, die zur Verteilung bereitsteht, nicht genug Geld vorhanden, sodass aus der fairen Verteilung des verfügbaren Geldes auch eine angemessene Vergütung der Notärzte resultieren könnte. Wir erwarten daher, dass die Kostenträger hier kurzfristig, analog zur Bereitschaftsdienstvergütung, nachbessern. Merke: Die lückenlose Besetzung von Notarztstandorten kann auch nicht ohne geeignete Vergütungsregelung erreicht werden. Ergänzender Ersatz Im Gesetzentwurf zum Bayerischen Rettungsdienstgesetz steht, dass der Tätigkeitsbereich des nicht-ärztlichen Rettungsdienstes ausgeweitet werden solle, „um unnötige Not- T I T ELT HEMA arzteinsätze künftig zu vermeiden“. Sollen die Notfallsanitäter den Notarzt ersetzen? Die Politik bezeichnet diese Interpretation der klar formulierten Absicht als Missverständnis. Es gehe darum, besonders den Patienten in der Fläche durch den Notfallsanitäter noch vor dem Eintreffen des Notarztes Hilfe anzubieten. Dazu sollen Notfallsanitäter definierte heilkundliche Maßnahmen (zum Beispiel Analgesie) eigenständig durchführen dürfen. Dass dabei die Verantwortung für deren Durchführung vom gar nicht am Einsatz beteiligten ÄLRD getragen werden soll, ist eine der Kuriositäten des BayRDG und wird von der Landesärztekammer heftig kritisiert. Diese komplexe Materie soll hier aber gar nicht diskutiert werden. Wir sollten aber mit wachsamen Holzaugen darauf achten: „Wo Notarzt draufsteht, muss auch ein Notarzt drin sein.“ Wenn er aber gar nicht kommt? Was ist eigentlich ein „unnötiger“ Notarzteinsatz? Das steht im NotarztIndikationskatalog. Wird der Indikationskatalog sensitiv gestaltet, nimmt man unnötige Einsätze in Kauf, dafür bleibt kein „echter“ Notfall unversorgt. Fördert der Indikationskatalog die spezifische Notfallselektion, gibt es kaum mehr unnötige Einsätze, um den Preis, dass der eine oder andere „echte“ Notfall primär notärztlich unversorgt bleibt. Darum ist ein bayernweit einheitlicher Notarzt-Indikationskatalog keine kluge Lösung. Wird in der Großstadt nach fünfminütiger Anfahrt des nichtärztlichen Rettungsteams ein Notarzt nachgefordert, so trifft dieser in der Regel nach weiteren fünf Minuten ein. Fährt ein nicht-ärztliches Rettungsteam auf dem Land 20 Minuten zum Patienten, um dann den Notarzt nachzualarmieren, so wird dieser erst weitere 20 Minuten später beim Patienten eintreffen. Hier muss eine bayernweite Festlegung einer regional orientierten Regelung gegenüber weichen. Tue Gutes und sprich schlecht darüber – es scheint berufsimmanent, dass die Aktiven der Akutversorgung in je nach Charakter unterhaltsamer oder reißerischer Form von spektakulären Fehlleistungen anderer zu berichten wissen. Beim Spinnen des akutmedizinischen Sanitätsgarns berichten Notaufnahme-Patriarch und Notarzt-Django nur selten über eigene Fehlleistungen, viel lieber wird in den Notaufnahmen über inkompetente Notärzte hergezogen, wenn die unter Extrem- und Behelfsbedingungen durchgeführte Behandlung nicht den Vorstellungen der mit allen Leitlinien gepuderten Schockraumbesatzung entspricht. Gleichermaßen weiß der einsatzgestählte Notarzt von selbsternannter Bedeutsamkeit gern von Patientenübergaben zu berichten, bei denen er den jungen Klinikdoktores erst einmal erklären musste, wie die Welt funktioniert. Da immer mehr der klugen Superdocs ihren Drang zur kollegenscheltebasierten Selbsterhöhung in der Öffentlichkeit nicht unterdrücken können, bleibt im Bewusstsein der Bevölkerung zwar nicht die Tat der Großgescheiten, dafür aber ein zunehmend mit Zweifeln und Skepsis belegtes Image der Notfallmedizin. Dabei freue ich mich regelmäßig über das fundierte Wissen der jungen Kollegen, die ich zur Zusatzweiterbildung Notfallmedizin bei der Landesärztekammer prüfen darf. Auch waren und sind die Altnotärzte – auch ohne die jetzt geforderte Fortbildungspunktesammelei – seit jeher ohne Zwang bereit, ihre Kenntnisse aufzufrischen, was unter anderem die von der agbn angebotenen und meist ausgebuchten Fortbildungskurse bestätigen. So muss ich langweiligerweise bekennen, dass, obwohl auch ich „tolle Geschichten“ kenne, die große Mehrheit der von Notärzten in meiner Notaufnahme angelieferten Patien- ten perfekt versorgt ist. Ebenso gestehe ich, dass die Notaufnahmen eigentlich immer einen guten Job machen, wenn ich dort Patienten abliefere. Ausblick: Wir schaffen das! Die Nachfrage nach notärztlichen Leistungen wird angesichts der Vergreisung unseres Landes nicht abnehmen. Zusammen mit Notfallsanitätern und allen anderen Mitstreitern des Rettungsdienstes können wir helfen, das höchste Gut unserer Gesellschaft zu bewahren. Der Preis dafür muss stimmen, darf aber nicht allein auf das Pekuniäre reduziert werden. Arbeitsbedingungen, berufliche Perspektiven und Wertschätzung sind nicht weniger wichtig. Die Ärzte in Bayern – auch die Notärzte – sind bestens ausgebildet, fachlich qualifiziert und persönlich engagiert. Sprechen wir also mit zurückhaltendem Stolz und wechselseitiger Anerkennung, statt mit publikumswirksamer Häme und rüpelhafter Effekthascherei über unsere Arbeit. Fördern wir junge Kolleginnen und Kollegen. Gerade in der Notfallmedizin können nie genug Ärztinnen und Ärzte qualifiziert sein. Keiner weiß, neben wem er sitzt, wenn es gilt, die Uhr des eigenen letzten Stündchens perakut etwas nachzustellen beziehungsweise nachstellen zu lassen. Unser Bayern und unsere Bayern sind an jedem Ort anders. An den regionalen, an den individuellen Umständen müssen sich Direktiven und Handeln ausrichten – im Interesse unserer Patienten. Für die machen wir’s und für die wollen und werden wir weiter machen als auch in Zukunft zünftige bayerische Notärzte. Dr. med. Michael Reng (agbn) K V B F O R U M 4/2016 7