das unsichtbare - Abenteuer Philosophie

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philoSPIRIT
DAS UNSICHTBARE
ÄGYPTEN
Gigantische Pyramiden und Tempel, hunderte Tonnen schwere
Obelisken, unterirdische Labyrinthe, reich verzierte, farbenprächtige
Grabanlagen – all das sind Zeugnisse einer der faszinierendsten
Kulturen der Menschheit. Die Griechen gaben ihr den Namen
aigyptos, das Rätsel. Um ein Stück dieses Rätsels zu lösen, gilt es,
den Blick und das Denken auf das Leben hinter den steinernen
Fassaden zu richten – auf das unsichtbare Ägypten.
Von Hannes Weinelt
B
ei vielen Besichtigungen in zahlreichen Ländern enttäuschten
mich immer wieder Reiseführer
gleichermaßen wie Museen. Erklärungen
wie „4. Jahrhundert v. Chr., Länge, Höhe,
Breite, erbaut von“ oder Beschriftungen,
die beschreiben, was man ohnehin sieht,
ließen mich oft unbefriedigt. Gerade im
Falle Ägyptens sind jedoch schon die nackten Daten und Fakten eine Faszination für
sich: die große Pyramide von Gizeh mit
einer Höhe von 147 Metern, aus 3 Millionen
Steinblöcken zu je rund 2,5 Tonnen; der
Karnaktempel in Luxor mit über einem
halben Kilometer Länge der größte Tempel
der Welt, alleine die große Säulenhalle bietet
Platz für dreimal Notre Dame …
Doch die Ägypter begnügten sich nicht
mit dem Errichten von Bauwerken. Ab
der 5. Dynastie, am Ende des Alten Reiches, vermitteln ihre Bild- und Textreliefs
Zweck und Funktion dieser Bauwerke. Mit
dem Entziffern der Hieroglyphen wurde
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das unsichtbare Ägypten sichtbar. Gleichzeitig sind es in Stein gehauene Riten und
Zeremonien, die sich auf diese Weise bis
heute lebendig erhalten haben. Wir wollen
nun das Leben einiger dieser steinernen
Giganten ergründen.
Sakkara – eine
Regentschaft in Stein
20 Kilometer südlich von Kairo liegt
Sakkara, die Nekropole von Memphis, der
legendären Hauptstadt des Alten Reiches,
Waage zwischen den beiden Ländern Oberund Unterägypten. In ihrem Zentrum
erhebt sich die berühmte Stufenpyramide
des Pharaos Djoser aus der 3. Dynastie (um
2.650 v. Chr.). Jede Pyramide ist jedoch nur
das letzte Bauwerk eines ganzen Komplexes,
und im Falle dieses Komplexes hat sich der
geniale Bauherr Imhotep etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Die ganze Anlage ist
von einer Mauer umgeben, die exakt die
Die Stufenpyramide des Pharaos Djoser.
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Stadtmauer von Memphis imitiert. Von
den 14 symbolischen Stadttoren bietet nur
eines Zutritt. Innerhalb der Mauer befinden
sich ein riesiger offener Platz, daneben ein
Königspalast und ein Thronsaal, umgeben
von den Kapellen der 42 Nomoi (Gaue)
des alten Ägypten. Im Osten der Pyramide
stehen dann symbolisch die Amtsgebäude,
das Haus des Südens und das Haus des
Nordens. Ohne diese Anlage noch näher
zu erforschen, können wir erkennen, dass
dieser Begräbniskomplex eine Kopie der
Stadt Memphis ist, jedoch auf der Westseite des Nil, also im Jenseits. Dort vollzog
der Pharao Djoser seine Jubiläumsriten auf
dem großen Platz, wechselte im Palast seine
Kleider, ließ sich im Thronsaal krönen und
von den Herren der 42 Nomoi bestätigen,
um schließlich in den Amtsgebäuden zu
regieren. Eine Regentschaft in Stein, in der
Ewigkeit und für die Ewigkeit.
Die Mastaba – das
Haus der Toten
Das ägyptische Haus war dreigeteilt: der
Vorraum, das Speise- und das Schlafzimmer.
Auch der Tempel war dreigeteilt: ein offener
Scheintür
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Sakkara, die Nekropole von Memphis.
Hof, ein geschlossener Hof für die Vorbereitung der Opfer und das Sanktuarium,
das „Schlafzimmer“ der jeweiligen Gottheit.
Auch die Gräber, im Alten und Mittleren
Reich in Form der Mastabas (Steinbänke),
wiesen eine Dreiteilung auf: ein Vorraum,
das Schlafzimmer des Toten mit dem Sarkophag und der Mumie darin und eine
Art „Wohnraum“, wo sich der Opferaltar
Hotep mit der dahinterliegenden Scheintür
befand. Die Opfer – von den Verwandten
zu den diversen Feierlichkeiten dargebracht
– wurden vom Ka des Verstorbenen durch
ein kleines Sichtfenster begutachtet. Der
Ka ist bei den Ägyptern so etwas wie der
psychische Teil des Menschen. Dieser lebt
in seiner Statue im Grab weiter und dient
als Mittler zwischen den Lebenden auf der
Erde und der Seele des Verstorbenen im
Himmel. Dank der Opfer wird die Verbindung zwischen den Lebenden und den
Toten aufrechterhalten. Die Hieroglyphe des
Opferaltars Hotep bedeutet Glück. Bestand
für die alten Ägypter das Glück im Opfer,
im Geben? Bestand ihr Glück in ihrer Verbindung mit dem Jenseits, mit der inneren
Welt unseres Universums?
Sakkara, Waage zwischen den beiden Ländern Ober- und Unterägypten.
Wozu also diente diese Pyramide wirklich?
Die Pyramidentexte überliefern uns die sehr
komplexen Inhalte der Religion zur Pyramidenzeit, später kommt es zu enormen
Vereinfachungen und Popularisierungen.
Diese Texte sprechen davon, dass die Seele
des Pharaos einen direkten Aufstiegsweg
von der königlichen Grabkammer durch
die Achse zur Spitze der Pyramide macht
und dass der Sonnenstrahl im Zenit ihr als
Vehikel dient, um den Weg zu ihrem Schicksal in den Fixsternen zu finden. Und die
neben der Pyramide rituell begrabene Barke
diente als symbolisches Transportfahrzeug,
als himmlisches Boot zu den Sternen. Sind
dies möglicherweise symbolische Beschreibungen von Einweihungsritualen, deren Ziel
ja immer die Transformation des Menschen
in ein himmlisches Wesen war?
Dendera
Eine gute Stunde nördlich von Luxor
findet sich die in der Ptolemäerzeit wiedererrichtete Tempelanlage von Dendera. Sie
ist Hathor, exoterisch die Göttin der Liebe
Wem gehörte die
Cheopspyramide?
Die Cheopspyramide ist die größte und
geheimnisvollste aller Pyramiden. Allein
eine einzige im Inneren gravierte Kartusche des Pharaos Cheops macht diesen
in der offiziellen Wissenschaft zu ihrem
Bauherrn und Besitzer. Neuere Untersuchungen haben jedoch eindeutig ergeben,
dass sich im gigantischen Steinsarkophag
im Inneren der Königskammer niemals
organisches Material, demnach nie eine
Mumie befunden hat. Die sogenannten
Luftschächte sind auf exakte Sternkonstellationen, nämlich Orion, Kleiner Bär und
Sirius, ausgerichtet, die noch dazu mit den
Hauptgöttern Osiris (Orion), Isis (Sirius)
und Horus (Kleiner Bär) assoziiert werden.
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Das Aufrichten des Osiris.
und der Freude, esoterisch der kosmische
Urozean, das Haus des Horus, gewidmet.
Wie jeder Tempel ist auch dieser dreigeteilt,
nicht nur horizontal, sondern auch vertikal.
Es gibt unterirdische Krypten wie auch eine
Dachterrasse. Die Reliefs an den Wänden
entlang des Aufstiegs auf die Terrasse zeigen,
wie zu speziellen Festtagen die Statue der
Gottheit am Morgen ans Licht getragen
wurde, um von den Strahlen der aufgehenden Sonne wieder mit neuer Energie
beladen zu werden.
Das eigentliche Mysterium dieses Tempels jedoch enthüllen die sechs Kapellen, die
sich versteckt vor den Blicken der Außenwelt auf der Terrasse befinden. Die Reliefs
dieser Kapellen zeigen den Tod und die
Wiederauferstehung des Gottes Osiris. Jede
Kapelle zeigt die einzelnen Stationen dieses
Prozesses, vom rituellen Tod zum Neumond
des Monats Kojak (Mitte Oktober bis Mitte
November), über seine Mumifizierung, die
neuntägige „Schwangerschaft“ der Mumie
in einem magischen Kubus, das Wiedererwachen von Osiris, das Öffnen seiner
Sinne, bis zu seiner endgültigen Wiederau-
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Darstellungen des Aufrichtens des Djed.
ferstehung zum Vollmond am 26. Tag des
Monats Kojak. Kapelle zwei zeigt übrigens
auf der Decke den berühmten Tierkreis von
Dendera, der Konstellationen beinhaltet, die
erst mit feinsten Spiegelteleskopen entdeckt
werden konnten. Die letzte Kapelle zeigt
den Vollmond mit dem Abbild des wieder
hergestellten Horusauges. Die Mysterien
erzählen von den zwei Augen des Schöpfergottes: eines ist die Sonne Ra, immer
mächtig, das andere der Mond Osiris, das
im Kampf verletzt wurde. Es ist das Auge
der zyklischen Wiederherstellung und
Erneuerung. Denn für die alten Ägypter
ist alles dual: das Ewige, Dauerhafte und das
Periodische, das zyklisch erneuert werden
muss. Und diese Dualitäten werden immer
wieder in einer Harmonie des Gegensatzes
miteinander verbunden.
Die Mysterien des Osiris sind einerseits landwirtschaftlicher Natur, denn im
Monat Kojak ziehen sich die Wasser der Nilschwemme zurück, die Erde taucht wieder
auf, die Aussaat beginnt und die Natur wird
neu geboren. Andererseits ist Osiris auch
der Mensch, der zerstückelt, jedoch von
seiner Gattin Isis (die unsterbliche Seele des
Menschen) wieder zusammengesetzt wurde,
um neu geboren zu werden – jedoch nicht
auf der Erde, sondern im Himmel. Osiris
ist der erste Tote, aber gleichzeitig auch
Horusauge (im Zentrum der
Sonnenscheibe)
der erste Wiederauferstandene, Symbol der
Initiation.
Djed – der aufrechte Mensch
Bewusst möchte ich nun von den gigantischen Bauwerken zu einfachen Darstellungen und Symbolen kommen. Im Tempel von
Sethos II. in Abydos finden sich mehrere
Darstellungen des Aufrichtens des Djedpfeilers, eines der wichtigsten Symbole des
Gottes Osiris. Der Djed ist eine vertikale
Säule mit vier waagrechten Balken. Diese
stehen für die vier Elemente oder auch die
vier Körper des Menschen: physischer, energetischer, emotionaler und mentaler Körper.
Der Djed ist damit ein Symbol des Menschen schlechthin und wird daher auch oft
mit Augen in einer anthropomorphen Form
dargestellt. Das Aufrichten des Djedpfeilers
ist ein Symbol für das geistige Erwachen des
schlafenden Menschen. Es ist der Mensch,
der durch seine innere vertikale Achse seine
vier materiellen Körper in eine Harmonie
gebracht hat. Es ist der aufrechte Mensch,
der weder seiner Trägheit noch seinen Leidenschaften erliegt. Diese Form der Stabilität und Vertikalität kann der Mensch nur
im Reich des Osiris, das symbolisch für das
eigenen Innere steht, erlangen.
Der Djed symbolisiert auch eine der drei
Mächte des Pharaos: Macht (symbolisiert
durch das Wash-Szepter), Stabilität (durch
den Djed) und Leben (durch das AnkhKreuz). Im selben Tempel von Abydos findet
sich eine einzigartige Darstellung, bei der
aus dem Wash der Djed und daraus das
Ankh hervorgeht: durch die Macht – über
sich selbst – erlangt man Stabilität, und wer
Stabilität besitzt, kann Leben geben.
Es sind die gigantischen Bauwerke, die
uns in Staunen versetzen und unsere Neugierde wecken, aber es sind die einfachen
Symbole, die uns in das unsichtbare Ägypten führen. Das Symbol war immer Träger
einer Botschaft aus der unsichtbaren Welt.
Für das alte Ägypten war immer dieses
Darstellungen im Sethostempel.
Djed – der aufrechte Mensch
Unsichtbare das Reale und das Sichtbare nur
das Abbild davon. Das Unsichtbare entdecken, heißt die Wirklichkeit entdecken, eine
Wirklichkeit, die in uns selbst schlummert,
verdeckt von den unzähligen Einzelheiten
unseres Alltags. Wir sind der zerstückelte
Osiris, der sich zyklisch immer wieder aus
seinem Alltag erhebt, um eines Tages im
Himmel wiedergeboren zu werden. ☐
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