Praxis der Naturwissenschaften - Physik

Werbung
Der Karlsruher Physikkurs
F. Herrmann
Abteilung für Didaktik der Physik, Institut für Theoretische Festkörperphysik, Universität, 76128 Karlsruhe
1. Einleitung
An der Abteilung für Didaktik der Physik der Universität Karlsruhe wird seit etwa 20 Jahren an der Entwicklung neuer Physikkurse für Schule und Hochschule gearbeitet. Im Folgenden wird über einen Kurs für den Physikunterricht am Gymnasium für Schüler zwischen 13 und 16 Jahren, dessen Entwicklung und Erprobung einen gewissen Abschluß gefunden hat, berichtet.
Der Kurs liegt vor in Form eines Schülertextes, sowie eines Textes “Unterrichtshilfen” für
den Lehrer [1]. Der Lehrertext enthält Begründungen für das Vorgehen im Unterricht, die
Beschreibung von Experimenten und die Lösungen zu den Aufgaben im Schülertext. Der
Text ist in deutscher Sprache geschrieben. Ein Kapitel – die Wärmelehre – existiert auch in
englischer Sprache, einige Kapitel – Mechanik, Wärmelehre, Energie und Informatik – in
spanischer Sprache, der ganze Text auch in slowenischer Sprache.
Im folgenden Abschnitt wird begründet, warum wir eine Neubearbeitung des physikalischen Unterrichtskanons für notwendig halten. Danach, in Abschnitt 3, werden Organisation und Ablauf des Karlsruher Curriculumprojekts beschrieben. Im 4. Abschnitt werden
die physikalischen Ideen vorgestellt, die dem Kurs zugrunde liegen, und in Abschnitt 5
werden einige Besonderheiten, die sich daraus für den Unterricht ergeben, dargestellt. Es
ist nicht möglich, im Rahmen dieses Artikels die Inhalte des Kurses wiederzugeben.
2. Warum ein neuer Physikkurs?
Das Problem ist alt: Wie in anderen Wissenschaften, nimmt auch in der Physik das Wissen
zu, während die Unterrichtszeit gleich bleibt. Eine Lösung des Problems besteht darin,
daß man immer mehr und immer neue Gegenstände unter gemeinsamen Gesichtspunkten
behandelt. Dies ist ohnehin die Methode der Wissenschaft, mit der Vielfalt der Erscheinungen und Beobachtungen fertig zu werden. Jede Theorie dient dazu, viele Einzelerfahrungen zusammengefaßt darzustellen. Sie dient der Datenreduktion, wie man es in der
Sprache der Nachrichtentechnik formulieren würde. Was für die Fachwissenschaft selbstverständlich ist, ist aber genauso gültig für die Lehre. Auch der Lehrstoff kann in seinem
Umfang dadurch reduziert werden, daß man scheinbar Verschiedenes als gleich, ähnlich
oder analog erkennt und darstellt. Solche umfassenden Beschreibungsweisen zu finden,
ist eines der Ziele didaktischer Forschung.
Versäumt man diese Art der Bearbeitung des naturwissenschaftlichen Wissens, so resultiert eine Lehre, die der historischen Entwicklung des Fachs folgt, und die einer Beschreibung dieses Entwicklungsprozesses gleichkommt. In der Tat hat der traditionelle Inhaltskanon der Physik in hohem Maße einen solchen Charakter.
Ein Vergleich mit dem Geschichtsunterricht ist interessant. Auch hier nimmt der Stoff zu.
Der Forderung nach gleich bleibender Unterrichtszeit wird man dadurch gerecht, daß man
nach Strukturen in der historischen Entwicklung sucht. In der Physik geht es aber nicht darum, in der historischen Entwicklung der Naturwissenschaft Strukturen zu suchen, denn
das Unterrichtsziel ist nicht die Beschreibung dieser Entwicklung, sondern vielmehr die
Beschreibung des Endprodukts dieser Entwicklung. Die Strukturen sind also in diesem
2
Endprodukt zu suchen, das heißt, in der Physik, so wie sie unseren heutigen Auffassungen
entspricht.
Man könnte der Meinung sein, für die Lehre der Physik sei es aus lernpsychologischen
Gründen das Beste, der historische Weg werde, wenn auch stark abgekürzt, nachvollzogen. Diese Auffassung ist unserer Meinung nach falsch. Der historische Weg ist nicht nur
zu lang. Die Umwege, die er macht, sind auch lernpsychologisch meist nicht nützlich. Der
historische Weg ist gewöhnlich schwieriger als ein direkter Weg.
Der traditionelle Physikunterricht folgt der historischen Entwicklung nicht nur in der großen Linie. Bei genauerer Betrachtung sieht man, daß er auch im Detail voll ist mit Relikten
vergangener Zeiten. Wir vergleichen diese Überbleibsel gern mit Fossilien. Wie die Fossilien aus der Biologie, haben auch die Fossilien im Lehrgebäude der Physik in vergangenen Zeiten einmal eine positive Rolle gespielt, und wie die biologischen Fossilien sind sie
heute überflüssig oder sogar störend.
Es handelt sich bei diesen Fossilien zum Teil um Lehrinhalte, zum Teil um Lehrmethoden.
Manche beziehen sich auf fundamentale Auffassungen, andere nur auf einzelne Wörter.
Manche Themen sind dadurch zum Fossil geworden, daß sich unser naturwissenschaftliches Weltbild geändert hat, andere nur durch den Fortschritt der experimentellen Technik.
Die Gewöhnung an die Physik, die wir gelernt haben, hindert uns oft daran, Fossilien im
Lehrgebäude als solche wahrzunehmen. Für die Entwicklung neuer Lehrgänge ist aber ihre Identifizierung eine der wichtigsten Voraussetzungen [2].
Mit der Entwicklung des Karlsruher Kurses wurde der Versuch unternommen, möglichst
viele Fossilien aus der Physik zu entfernen.
3. Zum Projektablauf
Die Bearbeitung eines Teilbereichs der Physik beginnt bei uns stets mit einer logischen
Aufarbeitung des jeweiligen Themas. Dabei wird noch keine bestimmte Adressatengruppe ins Auge gefaßt. Erst wenn dieser Schritt abgeschlossen ist, beginnt das Schreiben eines Kurses, und zwar zunächst immer für Physikstudenten an der Universität. Danach
entstehen schließlich elementarisierte Versionen für die verschiedenen Altersgruppen der
Schule. Bei diesem Vorgehen ist es gewährleistet, daß eine elementare Version nicht nur
einfach eine Physik für Kinder ist, sondern auch eine tragfähige Grundlage für weitergehende Kurse darstellt.
Im Rahmen dieser Entwicklung entstanden zunächst Kursvorlesungen der Physik für Studenten der Physik an der Universität Karlsruhe: Mechanik, Elektrodynamik, Optik,
Atomphysik und Thermodynamik.
Die Entwicklung des Kurses für das Gymnasium, um die es hier geht, lief selbst wieder in
zwei Phasen ab.
In der ersten Phase wurden die zu erprobenden Kurse von Mitarbeitern des Instituts in
mehreren Durchgängen an einem Gymnasium unterrichtet. Während dieser ersten Erprobungsphase entstanden ein Schülertext und Unterrichtshilfen für den Lehrer.
Danach wurde damit begonnen, den Kurs in zahlreichen Seminaren an Lehrerfortbildungsakademien und pädagogischen Hochschulen im In- und Ausland vorzustellen.
Zur gleichen Zeit begann die zweite Erprobungsphase. In dieser Phase ging es darum zu
zeigen,
- daß der Kurs auch von gewöhnlichen Lehrern, d. h. Personen, die nicht an der Entwicklung beteiligt waren, unterrichtet werden kann;
- daß der Lehrplan erfüllt werden kann;
3
- daß für Schüler, die mitten im Kurs die Schule oder den Lehrer wechseln, keine Schwierigkeiten auftreten;
- daß keine Probleme beim Übergang in die höheren Klassenstufen entstehen.
Das größte Projekt im Rahmen der zweiten Erprobungsphase war das im Bundesland Baden-Württemberg. Der Unterricht wurde im Schuljahr 1988/89 mit etwa 15 Lehrern und
20 achten Klassen begonnen. Diese Klassen wurden von ihren Lehrern nach dem Karlsruher Kurs bis einschließlich Klasse 11 unterrichtet.
Die Lehrer wurden von uns in Seminaren, die etwa alle 6 Wochen stattfanden, jeweils auf
die nächsten Unterrichtsstunden vorbereitet. Das Projekt wurde von dem für die Schulen
zuständigen Ministerium unterstützt.
Nach dem erfolgreichen Abschluß dieser zweiten Erprobungsphase erteilten die Oberschulämter die Genehmigung, mit dem Unterricht nach dem Karlsruher Konzept fortzufahren. Der neue Baden-Württembergische Lehrplan für die Sekundarstufe I läßt das Vorgehen nach dem Karlsruher Physikkurs als Alternative ausdrücklich zu: Dem Physikteil
des Lehrplans ist eine Bemerkung vorangestellt, derzufolge der Unterricht so gestaltet
werden kann, daß die mengenartigen Größen im Mittelpunkt stehen.
Die Lehrer, die an der Erprobung teilgenommen hatten, werden auch in Zukunft beim
Karlsruher Konzept bleiben. Viele neue Lehrer sind inzwischen hinzugekommen. Insgesamt wurden bisher etwa 8000 Schüler nach dem Konzept unterrichtet.
4. Physikalische Grundlagen
4.1 Mengenartige Größen
Es gibt eine Klasse physikalischer Größen, von denen man sich besonders leicht eine Anschauung bilden kann. Wir nennen sie mengenartige Größen [3, 4, 5]. Zu ihnen gehören
Masse, Energie, elektrische Ladung, Stoffmenge, Impuls, Drehimpuls, Entropie und andere.
Ein Kennzeichen dafür, daß eine Größe X mengenartig ist, ist ihr Auftreten in einer Gleichung des Typs:
dX/dt = IX +∑X
(1)
Die Gleichung macht eine Aussage über ein bestimmtes Raumgebiet. dX/dt stellt die zeitliche Änderung des Werts von X im Innern des Raumgebiets dar. Auch ∑X bezieht sich
auf das Innere des Gebiets. Der Wert von IX dagegen bezieht sich auf die Oberfläche.
Man kann nun Gleichung (1) und den in ihr auftretenden Größen eine anschauliche Deutung geben: Man stellt sich die Größe X als eine Art Stoff oder ein Fluidum vor. Mit “vorstellen” ist gemeint, daß man physikalisch korrekt mit ihr umgeht, wenn man so über sie
spricht wie man über einen Stoff spricht. Man darf dasselbe Vokabular verwenden, das in
der Umgangssprache benutzt wird, um Substanzen zu bilanzieren. dX/dt ist demnach die
zeitliche Änderung der Menge X. ∑X gibt an, wieviel der Menge X im Raumbereich pro
Zeiteinheit erzeugt oder vernichtet wird, und IX deutet man als die Stärke eines Stroms,
der durch die Oberfläche des Bereichs fließt [6]. Die Änderung des Wertes von X hat demnach zwei Ursachen: Zum einen die Erzeugung bzw. Vernichtung von X im Innern des
Gebiets und zum anderen einen Strom durch die Oberfläche. Gleichung (1) beschreibt also
die Bilanz der Größe X.
Der Term ∑X ist für manche mengenartigen Größen immer gleich null. Solche Größen
können ihren Wert innerhalb eines Raumgebiets nur dadurch ändern, daß ein Strom durch
4
die Oberfläche des Gebiets fließt. Man nennt sie Erhaltungsgrößen. Beispiele hierfür sind
die elektrische Ladung und die Energie. So lautet Gleichung (1) für die elektrische Ladung
dQ/dt = I.
Hier ist I die elektrische Stromstärke.
Für die Energie gilt entsprechend
dE/dt = P,
wo P die Energiestromstärke oder “Leistung” ist.
Eine mengenartige Größe muß also keineswegs eine Erhaltungsgröße sein. Der Begriff
der mengenartigen Größe ist umfassender als der Begriff der Erhaltungsgröße. Es ist aber
wichtig sich klarzumachen, daß die Frage nach Erhaltung oder Nichterhaltung nur bei
mengenartigen Größen einen Sinn hat.
Eine mengenartige Größe muß nicht ein Skalar sein. Impuls und Drehimpuls sind Beispiele für vektorielle mengenartige Größen. Bei festgehaltenem Koordinatensystem darf man
sich eine vektorielle mengenartige Größe als drei skalare Größen vorstellen, wobei für jede der drei Vektorkomponenten einzeln eine Bilanzgleichung (1) gilt.
Die Tatsache, daß man über bestimmte Größen genauso sprechen darf wie über Stoffe, also z. B. wie über Wasser oder über Luft, ist für den Unterricht außerordentlich wichtig.
Gewöhnlich muß man sich, wenn man eine neue physikalische Größe kennenlernt, auch
das verbale Umfeld dieser Größe aneignen: bestimmte Verben, Adjektive, Adverbien und
Präpositionen. Bei der Formulierung von Sätzen, in denen z. B. die Größen Kraft, Arbeit
oder Spannung vorkommen, hat man nicht viel Spielraum: Eine Kraft wird auf einen Körper “ausgeübt”, oder sie “wirkt” auf den Körper, Arbeit wird “verrichtet” und eine Spannung “herrscht” oder “liegt an”.
Beim Umgang mit mengenartigen Größen kann man sich dagegen aller umgangssprachlichen Wendungen bedienen, die man auch benutzt, um Stoffbilanzen zu formulieren. So
kann man sagen: “Ein Körper enthält eine bestimmte Menge Impuls”, – genauso aber
auch: “In dem Körper steckt Impuls”, “der Körper hat Impuls” oder “es ist soundsoviel Impuls in dem Körper drin”. Auch darf man die Adverbien “viel” und “wenig” benutzen: Ein
System kann viel oder wenig Energie haben (aber nicht viel oder wenig Temperatur). Man
kann auch sagen, ein System habe “keine” Ladung oder “keinen” Impuls, um auszudrücken, daß der Wert von Ladung bzw. Impuls gleich null ist. (Man sollte dagegen nicht
sagen, in einem Punkt sei kein Potential oder keine Temperatur). Auch das “Fließen eines
Stroms” einer mengenartigen Größe läßt sich auf die verschiedensten Arten zum Ausdruck bringen. So kann man sagen, die elektrische Ladung “fließt” oder “strömt” von A
nach B. Man kann aber auch sagen, sie “geht” von A nach B oder sie “verläßt” A und
“kommt in B an”. Man kann Energie, Impuls oder Entropie “anhäufen”, “konzentrieren”,
“verdünnen”, “verteilen”, “verlieren”, “aufsammeln” und vieles andere mehr.
Die Sprache, die hier verwendet wird, ist jedem Schüler vertraut, noch ehe er zum erstenmal Physikunterricht hat. Die Hervorhebung des Mengencharakters dieser Größen ist daher für den Unterricht sehr hilfreich.
Im traditionellen Unterricht werden diese Vorteile nicht immer ausgenutzt. Nur die Größen Masse und elektrische Ladung werden so eingeführt, daß eine mengenartige Anschauung entsteht. Energie und Impuls dagegen werden gewöhnlich aus anderen Größen
abgeleitet. Dadurch wird die Einsicht, daß es sich um mengenartige Größen handelt, erschwert.
Daß man sich von der Energie gewöhnlich keine stoffliche Anschauung bildet, äußert sich
in den folgenden, für den Umgang mit der Energie typischen Sätzen, die den in Abb. 1 dargestellten Vorgang beschreiben: “Der Motor verrichtet an der rechten Kondensatorplatte
Arbeit. Dadurch nimmt die potentielle Energie der rechten Platte im Feld der linken zu.”
5
Kondensator
Motor
Abb. 1. Durch das Seil und die rechte Kondensatorplatte
fließt Energie ins Feld des Kondensators.
Abb. 2. Durch das Seil fließt Impuls in den Wagen.
Denselben Sachverhalt kann man unter Berücksichtigung des Mengencharakters der
Energie so ausdrücken: “Durch das Seil und die rechte Kondensatorplatte fließt Energie
vom Motor zum Feld des Kondensators.”
Daß man gewöhnlich vom Impuls keine mengenartige Vorstellung vermittelt, äußert sich
in dem für den traditionellen Unterricht typischen Satz, Abb. 2: “Die Person übt über das
Seil eine Kraft auf den Wagen aus; dadurch ändert sich der Impuls des Wagens. Gleichzeitig übt sie eine gleichgroße, entgegengesetzte Kraft auf die Erde aus, wodurch sich der Impuls der Erde ändert.” Bei Anerkennung der Mengenartigkeit des Impulses wird man denselben Sachverhalt etwa so ausdrücken: “Die Person befördert über das Seil Impuls aus
der Erde in den Wagen.”
4.2 Energieformen und Energieträger
Der Name der physikalischen Größe Energie wird oft mit Adjektiven oder Vorsilben versehen. So spricht man von kinetischer, potentieller, elektrischer, chemischer und freier
Energie oder von Kern-, Wärme-, Ruh- und Strahlungsenergie. Dieser Einteilung der
Energie in verschiedene “Energieformen” liegt aber kein einheitliches Prinzip zu Grunde,
sondern sie erfolgt nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Manche der Attribute sollen
einfach das System oder den Gegenstand kennzeichnen, in dem die Energie enthalten ist.
So meint man mit Strahlungsenergie nichts anderes als die (gesamte) Energie einer ins
Auge gefaßten Strahlung – genauso, wie man unter der Elektronenladung die Ladung eines Elektrons und unter der Sonnenmasse die Masse der Sonne versteht. In den meisten
Fällen hat man aber beim Benennen der Energieform eine weitergehende Absicht.
Das Bedürfnis danach, die Energie in Formen einzuteilen, ergab sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, unmittelbar nach der Einführung des Energiebegriffs selbst. Man
schloß damals auf die Existenz einer neuen physikalischen Größe, obwohl man kein allgemeines Kennzeichen der Größe, keine allgemeine Meßvorschrift für ihre Werte kannte.
Die Energie manifestierte sich in den verschiedensten Systemen und Prozessen auf ganz
unterschiedliche Art. Daß man es in den verschiedenen Fällen überhaupt mit derselben
Größe zu tun hatte, schloß man daraus, daß sich bei Prozessen bestimmte Kombinationen
anderer physikalischer Größen in einem ganz bestimmten Verhältnis änderten. Es existierten sozusagen feste Wechselkurse zwischen diesen Größenkombinationen, die sogenannten Äquivalente. Der bekannteste dieser Wechselkurse war das “mechanische Wärmeäquivalent”. Es war eine große wissenschaftliche Leistung, diese Größenkombinationen als Manifestationen einer einzigen, neuen physikalischen Größe zu erkennen. Man
nannte diese Größe Energie.
Die neue Größe hatte einerseits die schöne Eigenschaft, daß sie sehr allgemeiner Natur
war. Sie spielte in den verschiedensten Gebieten der Physik eine Rolle. Sie schaffte eine
6
Verbindung zwischen den verschiedenen physikalischen Teildisziplinen. Andererseits
hatte sie aber einen Makel: Sie gab sich nicht immer auf dieselbe Art zu erkennen, so wie
man es von einer ordentlichen physikalischen Größe erwartet hätte. Aus diesem Grunde
sahen auch manche Physiker in ihr nicht mehr als eine mathematische Hilfsgröße. Auf jeden Fall erschien es aber vernünftig, die verschiedenen Größenkombinationen, die die
verschiedenen Gewänder der Energie darstellten, als Energieformen zu bezeichnen. Die
Energie offenbarte sich nicht immer auf dieselbe Art, sondern immer nur in der einen oder
anderen “Form”. Sie hatte keine Eigenschaft, an der man sie immer erkennen, über die
man ihren Wert in jedem Fall bestimmen konnte.
Dies war jedenfalls der Stand der Dinge bis etwa zur Jahrhundertwende. Wir werden später zeigen, daß, im Lichte der Physik des 20. Jahrhunderts, der Begriff der Energieform
überflüssig wird, genauso überflüssig, wie es etwa der Begriff der Impuls- oder Entropieform wäre. Da sich aber der Begriff der Energieform bis heute erhalten hat, und gerade im
Unterricht der Schule in den letzten Jahren wieder aufgewertet wurde, wollen wir zunächst noch ein paar Bemerkungen zu den physikalischen Grundlagen der Einteilung der
Energie in Formen machen.
Bei der Einteilung der Energie in Formen muß man beachten, daß zwischen zwei Einteilungsverfahren zu unterscheiden ist [3, 7]: nach dem einen Verfahren ordnet man gespeicherter Energie, d. h. der in einem System oder Teilsystem enthaltenen Energie, einen Namen zu; nach dem anderen Verfahren werden Energieänderungen und Energieströme
klassifiziert. Das erste Verfahren führt zu Kategorien wie kinetische Energie, potentielle
Energie, innere Energie, Spannungsenergie (einer Feder) etc. Das zweite führt zu den Kategorien elektrische Energie, chemische Energie, Wärme, Arbeit etc.
Wir wollen hier nur das Verfahren diskutieren, mit dem Energieströme klassifiziert werden.
Wir gehen von der Erfahrung aus, daß sich jeder Energietransport durch eine Gleichung
der Form
P = y IX
(2)
beschreiben läßt. Hier ist P die Energiestromstärke, IX die Stärke des Stroms der mengenartigen Größe X und y die zu X energiekonjugierte intensive Größe. Realisierungen von
Gleichung (2) sind
P=vF
(3a)
P = T IS
(3b)
P=UI
(3c)
P = µ In
(3d)
(v = Geschwindigkeit, F = Impulsstromstärke, T = absolute Temperatur, IS = Entropiestromstärke, U = elektrische Spannung, I = elektrische Stromstärke, µ = chemisches Potential, In = Stoffstromstärke).
Man sagt von der Energie, sie werde in einer bestimmten Form transportiert, je nach dem,
welche der Gleichungen (3a) bis (3d) den Transport beschreibt. Zu Gleichung (3a) gehört
die Energieform Arbeit, zu (3b) gehört die Wärme, zu (3c) elektrische Energie und zu (3d)
chemische Energie.
Gleichung (2) bringt eine einfache und wichtige Tatsache zum Ausdruck, die aber leider
nur selten explizit formuliert wird: Immer wenn Energie strömt, strömt noch mindestens
eine weitere (mengenartige) Größe. Diese Aussage läßt sich in Form eines einfachen
Merksatzes formulieren: “Energie fließt nie allein.”
So verständlich es nun aus der Sicht des vorigen Jahrhunderts war, die einzelnen Aus-
7
drücke (3a) bis (3d) als Formen der Energie, und Geräte, die Energie in einer Form aufnehmen und in einer anderen abgeben, als Energiewandler zu bezeichnen, so unglücklich erscheint diese Darstellungsweise aus heutiger Sicht, legt sie doch nahe, daß es sich bei den
Energieformen um verschiedene physikalische Größen handelt, mit der merkwürdigen
Eigenschaft, daß man eine in die andere umwandeln kann. Seitdem wir die spezielle Relativitätstheorie kennen, wissen wir, daß die Energie eine eigenständige physikalische Größe ist, und nicht nur eine abgeleitete Rechengröße. Über Formen der Energie zu sprechen
ist deshalb heute genauso unbegründet, wie wenn man über verschiedene Formen der
elektrischen Ladung spräche, je nachdem, ob die Ladung von Elektronen, Protonen oder
Myonen getragen wird [8]. Der Begriff der Energieform ist also ein Fossil. Die Relativitätstheorie sagt uns, welche allgemeinen Kennzeichen die Energie hat. Aus der EnergieMasse-Äquivalenz folgt nämlich, daß die Energie genau diejenigen Eigenschaften hat, die
wir von der Masse kennen: Schwere und Trägheit.
Um die durch die verschiedenen Ausdrücke (3) charakterisierten Energietransporte zu unterscheiden, braucht man nicht von verschiedenen Formen der Energie zu sprechen; es genügt anzugeben, welche mengenartige Größe neben der Energie noch übertragen wird.
Statt z. B. von Energie in Form von Wärme zu sprechen, sagt man einfach, daß neben dem
Energiestrom noch ein Entropiestrom fließt.
Die Gleichungen (3) legen darüberhinaus ein einfaches Bild für die Beschreibung eines
Energietransports nahe: Wir nennen in unserem Kurs die einen Energiestrom begleitende
mengenartige Größe den Energieträger. Die Energie wird also, bildlich gesprochen, getragen von Entropie, elektrischer Ladung, Impuls, Stoffmenge etc. In Geräten, die nach
traditioneller Sprechweise Energiewandler heißen, wechselt die Energie einfach den Träger. Sie gelangt mit einem Träger in das Gerät hinein, wird dort auf einen anderen Träger
umgeladen und verläßt das Gerät mit diesem anderen Träger.
4.3 Strukturen in der Physik
Die Gleichungen (3) lassen eine Systematik im Aufbau der Physik erkennen. Jeder der
Terme y IX läßt sich einem der großen klassischen Teilgebiete der Physik zuordnen, denn
er enthält nur Größen, die für ein einziges solches Gebiet charakteristisch sind. Diese Zuordnung ist in Tabelle 1 dargestellt.
Die in Tabelle 1 durchgeführte Zuordnung bildet die Grundlage einer Analogie zwischen
Teilbereichen der Physik, die viel weiter geht, als es zunächst den Anschein hat. Sie gestattet eine Abbildung von physikalischen Größen, Relationen, Vorgängen, Erscheinungen
und Geräten aufeinander. Diese Abbildung, die sich zunächst nur auf die mathematische
Strukturverwandtschaft der Teile der Physik bezieht, legt es nahe, in den verschiedenen
Bereichen der Physik mit denselben Anschauungen zu operieren. Wir machen in unserem
Kurs von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch. Die angestrebte Straffung des Unterrichts beruht vor allem auf der Ausnutzung dieser Analogie.
Wir haben gesehen, daß in jedem der in Tabelle 1 aufgeführten Gebiete der Physik zwei
Tabelle 1. Zuordnung physikalischer Größen zu Teilgebieten der Physik und zur Chemie
Extensive Größe
Stromstärke
Intensive Größe
Mechanik
Impuls p
Kraft F
Geschwindigkeit v
Elektrizitätslehre
elektrische Ladung Q
elektrische Stromstärke I
elektrisches Potential ϕ
Wärmelehre
Entropie S
Entropiestromstärke IS
Temperatur T
Chemie
Stoffmenge n
Stoffstromstärke In
chemisches Potential µ
8
mengenartige Größen eine wichtige Rolle spielen: zum einen die Energie und zum anderen die für das jeweilige Gebiet charakteristische, in Spalte 2 der Tabelle aufgeführte Größe. So sind die beiden mengenartigen Größen der Mechanik Energie und Impuls, die der
Elektrizitätslehre Energie und elektrische Ladung. In der Wärmelehre sind es Energie und
Entropie und in der Chemie Energie und Stoffmenge. Die Darstellung eines solchen Teilgebiets würde problematisch, wenn man versuchte, mit einer einzigen mengenartigen
Größe auszukommen. Es hat lange gedauert, bis sich diese Einsicht durchgesetzt hat. So
ging es in dem berühmten Streit zwischen Cartesianern und Leibnizianern über das “wahre Kraftmaß” in der Mechanik in moderner Sprache ausgedrückt um die Frage, ob der Impuls oder die kinetische Energie die “richtige” Größe sei. Man ging offenbar davon aus,
daß es nur eine von beiden sein könnte. Obwohl die beiden mengenartigen Größen der
Thermodynamik, nämlich Energie und Entropie, seit mehr als 100 Jahren bekannt sind,
bemüht man sich noch heute in der Lehre, einen möglichst großen Teil der Thermodynamik ohne Zuhilfenahme der Entropie darzustellen. Diesem Umstand verdankt die traditionelle Schulwärmelehre ihren abschreckenden Aufbau. Tabelle 1 läßt erkennen, daß eine
Darstellung der Wärmelehre ohne Entropie einer Elektrizitätslehre entsprechen würde,
die ohne elektrische Ladung und ohne elektrische Stromstärke operiert [9], oder einer Mechanik, in der es keinen Impuls und keine Kraft gibt.
Die bisherigen Betrachtungen zeigen, daß die Energie in der Physik eine übergeordnete
Rolle spielt. Die Energie ist in Mechanik, Wärmelehre und Elektrizitätslehre gleichermaßen wichtig. Nun gibt es neben der Energie noch eine andere Größe, die eine solche gebietsübergreifende Funktion erfüllt: die Shannonsche “Datenmenge” – die Größe, deren
Maßeinheit das bit ist.
Genauso wie man Energietransporte klassifizieren kann nach dem “Energieträger”, so
kann man Datentransporte nach dem zugehörigen “Datenträger” einteilen. Und genauso
wie jeder Energieträger ein bestimmtes Teilgebiet der Physik charakterisiert, so gehört
auch jeder Datenträger zu einem bestimmten physikalischen Teilgebiet. So sind Datentransporte mit dem Datenträger “Licht” für die Optik charakteristisch. Der Datenträger
“Schall” gehört in die Akustik und in der Elektronik hat man es mit der Elektrizität als Datenträger zu tun. Auch die Analogie zwischen Energie und Datenmenge hat eine gesunde
physikalische Grundlage [10, 11].
4.4 Die Konzepte Strom, Antrieb, Widerstand
Es geht um ein Bild, das man sich von den intensiven Größen machen kann. Das Bild selbst
ist sehr bekannt und verbreitet, allerdings wird es gewöhnlich nur in der Elektrizitätslehre
angewendet. Seine Stärke liegt aber gerade darin, daß es mit genauso viel Nutzen in Mechanik, Wärmelehre und Chemie angewendet werden kann. Wir erläutern es am vertrauten Beispiel der Elektrizitätslehre.
Ein elektrischer Strom fließe durch einen Widerstand, der nicht unbedingt ein ohmscher
Widerstand zu sein braucht. Bereits die Wörter, die wir zur Beschreibung dieser Situation
benutzen, beruhen auf dem Bild, um das es hier geht: Wir sprechen von einem “Strom”,
wenn die Größe I einen von null verschiedenen Wert hat, und wir nennen ein Gebilde, in
dem dabei Entropie erzeugt wird, einen “Widerstand”. Die Tatsache, daß der Strom, der
durch den Widerstand fließt, um so größer ist, je größer die Potentialdifferenz ∆ϕ ist, interpretiert man so, daß man sagt, die Potentialdifferenz sei der “Antrieb” des Stroms. Der
Strom fließt, in diesem Bild, nicht von allein, denn der Widerstand des Gegenstandes,
durch den er hindurchfließt, behindert ihn.
Wie willkürlich dieses Bild ist, wollen wir am Spezialfall des ohmschen Widerstandes erläutern. Für ihn gilt
U = R . I.
9
Die Gleichung besagt, daß U und I proportional zueinander sind: Je größer U, desto größer I, oder je größer I, desto größer U. Sie sagt aber nichts darüber aus, wer die Ursache
von wem ist. Sie sagt weder, daß die Spannung Ursache des Stroms ist, noch daß der Strom
Ursache der Spannung ist. Die Spannung zur Ursache des Stroms zu erheben, ist Willkür.
Daß wir es gewöhnlich als natürlicher empfinden, die Spannung, und nicht die Stromstärke als Ursache zu bezeichnen, liegt daran, daß man meistens die Spannung leichter vorgeben kann als die Stromstärke. In dem Fall, daß man die Stromstärke vorgibt, etwa mit Hilfe
eines stromstabilisierten Netzgeräts, spricht man tatsächlich auch lieber von einem Spannungsabfall, der von einem Strom verursacht wird.
Trotz dieser Willkür ist nun dieses Bild von Antrieb, Strom und Widerstand von größtem
Nutzen für den Lernenden, denn er kann sich, wenn er Phänomene der Elektrizitätslehre
verstehen will, oder wenn er elektrotechnische Probleme lösen will, an den Erscheinungen orientieren, von denen dieses Bild herstammt: an Strömungen von Flüssigkeiten und
Gasen, oder konkreter, von Wasser und Luft.
Wir benutzen dieses Bild aber vor allem deshalb, weil es außer in der Elektrizitätslehre
auch noch in der Mechanik, in der Wärmelehre und in der Chemie brauchbar ist.
Damit sich die Schüler im Umgang mit diesem Bild üben, stellen wir dem ganzen Kurs
eine Unterrichtseinheit über Strömungen von Flüssigkeiten und Gasen voran. Ein großer
Teil der wichtigsten Begriffe des Kurses wird bereits in diesem Kapitel erarbeitet.
Man sieht hier, daß auch das Bild von Antrieb und Widerstand in die im vorigen Abschnitt
angesprochene einheitliche Struktur der Physik paßt und damit zu einer Vereinfachung
des Physikunterrichts beiträgt.
5. Einige Besonderheiten
Während im vorangehenden Abschnitt die allgemeine Struktur des Kurses beschrieben
und begründet wurde, werden im Folgenden einige Konsequenzen dieser Struktur für verschiedene Teilgebiete der Physik beschrieben. Es handelt sich dabei um eine kleine Auswahl.
5.1 Die Kraft als Stärke des Impulsstroms
In der Mechanik wird bereits in der ersten Stunde der Impuls eingeführt. Selbstverständlich, – denn die Mechanik ist ja in unserem Aufbau derjenige Teil der Physik, bei dem es
um den Impuls und dessen Ströme geht. Der Impuls wird eingeführt als ein Mengenmaß
für Bewegung, etwa im Descartesschen Sinn. Die Kraft ist nichts anderes als die Stärke des
Impulsstroms [12,13]. Dieses Vorgehen bringt die folgenden Vorteile mit sich:
- Entsprechend Tabelle 1 sind die der Mechanik zugrunde liegenden Denkstrukturen dieselben wie die von Elektrizitätslehre und Wärmelehre.
- Die traditionelle, Newtonsche Einführung der Mechanik ist Fernwirkungsmechanik. Sie
beruht also auf Vorstellungen, die von der Physik spätestens seit Faraday und Maxwell
verworfen wurden, sie ist ein Fossil.
- Einige Probleme, mit denen sich der Schüler beim traditionellen Vorgehen herumplagen
muß, verschwinden einfach. So bekommen die Newtonschen Grundgesetzte eine so einfache Gestalt, daß es überflüssig wird, sie als Lehrsätze zu formulieren:
1. Ein Körper ändert seinen Impuls nicht, wenn kein Impuls in ihn hinein oder aus ihm heraus fließt.
2. Die zeitliche Änderung des Impulses eines Körpers ist gleich der Stärke des Impulsstroms, der in ihn hineinfließt: dp/dt = F.
3. Wenn Impuls von einem Körper A zu einem Körper B fließt, so ist die Stromstärke beim
Verlassen von A gleich der beim Eintritt in B.
10
Der Inhalt dieser Sätze ist selbstverständlich, sobald man verstanden hat, daß man Impuls
nicht erzeugen und nicht vernichten kann. Man braucht sie ebensowenig zu formulieren,
wie die entsprechenden Sätze für die elektrische Ladung. (“Wenn Ladung von einem Körper A in einem Körper B fließt, so ist die Stromstärke beim Verlassen von A gleich der
beim Eintritt in B.”)
5.2 Die Entropie von Anfang an
Wie in der Mechanik der Impuls, so ist in der Wärmelehre die Entropie der Protagonist,
und wir führen in der ersten Stunde des Wärmelehreunterrichts neben der Temperatur die
Entropie ein. Die Entropie wird vorgestellt als ein Mengenmaß für das, was man umgangssprachlich Wärme nennt [14]. In der Tat ist die Übereinstimmung des umgangssprachlichen Wärmebegriffs mit der Zustandsgröße Entropie viel besser als mit der Energieform “Wärme” der traditionellen Physik. Eine Temperaturdifferenz erscheint als Antrieb für einen Entropiestrom.
Wir kommen schnell zu sehr wichtigen Themen der Wärmelehre, etwa zur Behandlung
von Wärmepumpe und Wärmekraftmaschine.
Große Vorteile bringt das Operieren mit der Entropie auch bei der Thermodynamik der
Gase, sowie bei der Behandlung von Phasenübergängen. Man muß Wasser, damit es verdampft, Entropie zuführen. Der Wasserdampf enthält einfach um so viel mehr Entropie als
das flüssige Wasser, wie man beim Verdampfen zugeführt hat. Das Entsprechende kann
man von der traditionellen Verdampfungswärme nicht sagen: Bekanntlich trifft es nicht
zu, daß die Wärme, die man beim Verdampfen zuführt, nachher im Dampf enthalten ist.
Dies ist übrigens nicht nur für Schüler, sondern auch Physikstudenten an der Universität
schwer zu verstehen.
5.3 Felder als physikalische Systeme
Das Feld wird eingeführt als physikalisches System, das genauso real existiert wie andere
Systeme auch, etwa wie ein starrer Körper oder wie ein Gas [15]. Üblicherweise wird das
Feld eingeführt etwa als “ein Raumbereich in dem Kräfte wirken”. Diese Einführung führt
leicht zu Verständnisschwierigkeiten: Einen solchen Raumbereich stellt sich der Lernende als leer vor. Wenn der Raumbereich leer ist, wie kann er dann aber bestimmte Eigenschaften haben? Sicher kommt man so nicht auf die Idee, daß ein Feld durch dieselben
physikalischen Größen beschrieben wird, wie ein Körper: durch Energie, Impuls, Entropie, Druck, Temperatur etc., kurz, daß ein Feld nicht geheimnisvoller ist als etwa Luft.
5.4 Physikalische Chemie
Der Kurs umfaßt eine Unterrichtseinheit “Physikalische Chemie”. Auch sie hat dieselbe
Struktur wie Elektrizitätslehre und Wärmelehre [16, 17]. Wie eine elektrische Potentialdifferenz als Antrieb eines elektrischen Stroms auftritt oder eine Temperaturdifferenz einen Entropiestrom verursacht, so erscheint eine chemische Potentialdifferenz als Antrieb
einer chemischen Reaktion. In Analogie zum elektrischen Widerstand wird der Reaktionswiderstand eingeführt. Ein Katalysator erscheint als eine Art Schalter, mit dem eine
Reaktion eingeschaltet werden kann. Brennstoffzelle und Elektrolysezelle werden dargestellt als Geräte, die Energie vom Träger Stoffmenge auf den Träger Elektrizität bzw. umgekehrt umladen.
11
5.5 Daten und Datenträger
Eines der Ziele der Unterrichtseinheit “Daten und Datenträger”ist es, die Gemeinsamkeiten von Optik, Akustik, Informatik und Elektronik klarzumachen. Es werden Geräte und
Erscheinungen, die scheinbar nicht viel miteinander zu tun haben, unter gemeinsamen
Gesichtspunkten behandelt. So lernen die Schüler, daß etwa Lautsprecher, Videokamera
und Antenne Geräte sind, die Daten von einem auf einen anderen Träger umladen. Auch
Schallplatte, Buch, Photographie, Schlüssel, DNS, Gehirn etc. haben eine gemeinsame
Funktion: Sie sind Datenspeicher. Wichtigstes Hilfsmittel bei der umfassenden Beschreibung von Vorgängen der Datenübertragung, -speicherung und -verarbeitung ist die Shannonsche Datenmenge.
6. Schlußbetrachtung
Vor einiger Zeit ergab sich die Gelegenheit, daß wir in einer Klasse für den Unterricht von
Mechanik und Wärmelehre zusammen nur 20 Stunden zur Verfügung hatten. Bei dieser
Gelegenheit hat sich ein Vorteil unseres Kurses besonders deutlich gezeigt. Wir konnten
feststellen, daß man auch bei extrem kurzer Unterrichtszeit sehr nützliche Lernziele erreichen kann. Dadurch, daß die Mechanik mit dem Impuls beginnt, wurden in der kurzen Zeit
wesentliche Prinzipien der Dynamik erarbeitet und angewendet, und in der Thermodynamik kam man durch den frühen Umgang mit der Entropie bis hin zu wichtigen Aussagen
über Wärmekraftmaschinen.
Die Unterrichtszeit, die man durch eine Straffung gewinnt, kann dem dringend notwendigen Unterricht der modernen Physik zugute kommen. In der Tat: Die Zeit, die wir für den
Unterricht der Physik des 20. Jahrhunderts nach den Lehrplänen zur Verfügung haben, ist
viel zu gering, wenn man berücksichtigt, welchen Anteil die moderne Physik an unserem
gesamten physikalischen Wissen hat, und welche Bedeutung die moderne Physik in unserer Gesellschaft hat.
Der Teil “Moderne Physik” des Karlsruher Physikkurses für die Sekundarstufe I ist noch
nicht abgeschlossen. Es liegen bisher vor ein Kapitel über Wellen, insbesondere elektromagnetische Wellen, eine Unterrichtseinheit über Atomphysik, Quantenphysik und Festkörperphysik, sowie eine über Kernphysik. Ein Kapitel über Astrophysik und Kosmologie befinden sich in der Planung.
Wir kommen noch einmal auf den Anfang zurück: Ein Neuaufbau des Physikunterrichts
ist dringend notwendig, um mit den ständig neu hinzukommenden Themen fertigzuwerden. Der Karlsruher Physikkurs ist ein Vorschlag zur Vereinfachung des Curriculums.
Selbstverständlich ist es nicht die einzige Lösung des Problems. Eine Straffung des Physikkanons, die auf ganz anderen Ordnungsprinzipien beruht, ist denkbar.
12
Literatur
[1] HERRMANN, F.: Der Karlsruher Physikkurs. Ein Lehrbuch für den Unterricht der
Sekundarstufe I, Teile 1 und 2 und Unterrichtshilfen.
[2] HERRMANN, F., JOB, G.: Altlasten der Physik. Kolumne in Physik in der Schule,
beginnend mit Heft 10, 1994.
[3] FALK, G.: Theoretische Physik, Band II, S. 48. Springer Verlag, Berlin (1968).
[4] FALK, G.: Was an der Physik geht jeden an? Phys. Blätter 33, 616-626 (1977).
[5] FALK, G.: Die begriffliche Struktur der Physik. Konzepte eines zeitgemäßen Physikunterrichts, Heft 3, S.7-23. Hermann Schroedel Verlag KG, Hannover (1979).
[6] HERRMANN, F.: Is an energy current energy in motion? Eur. J. Phys. 7,198-204
(1986).
[7] FALK, G., RUPPEL, W.: Energie und Entropie. Springer Verlag, Berlin (1976).
[8] FALK, G., HERRMANN, F., SCHMID, G. B.: Energy forms or energy carriers?
Am. J. Phys. 51, 1074-1077 (1984).
[9] FUCHS, H.: A surrealistic tale of electricity. Am. J. Phys. 54, 907-909 (1986).
[10] HERRMANN, F., SCHMÄLZLE, P.: Daten und Energie. J. B. Metzler und B. G.
Teubner, Stuttgart (1987).
[11] HERRMANN, F., SCHMID, G. B.: An analogy between information and energy.
Eur. J. Phys. 7, 174-176 (1986).
[12] HERRMANN, F., SCHMID, G. B.: Analogy between mechanics and electricity.
Eur J. Phys. 6, 16-21 (1985).
[13] HERRMANN, F., SCHMID, G. B.: Statics in the momentum current picture. Am. J.
Phys. 52, 146-152 (1984).
[14] JOB, G.: Neudarstellung der Wärmelehre. Akademische Verlagsgesellschaft,
Frankfurt am Main (1972).
[15] HERRMANN, F.: Energy density and stress: A new approach to teaching electromagnetism. Am. J. Phys. 57, 707-714 (1989).
[16] JOB, G.: Das chemische Potential im Physik- und Chemie-Elementarunterricht.
Konzepte eines zeitgemäßen Physikunterrichts, Heft 2, S.67-78. Hermann
Schroedel Verlag KG, Hannover (1978).
[17] JOB, G.: Chemische Reaktionen physikalisch beschrieben.S.14-31. Reaktionen in
der Biologie. S. 84-94. Die Werte des chemischen Potentials. S. 95-110. Konzepte
eines zeitgemäßen Physikunterrichts, Heft 4, Hermann Schroedel Verlag KG,
Hannover (1978).
Herunterladen