„Von Jesse war die Art“ Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 am 8. 12 2013

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~ 1 ~ „Von Jesse war die Art“
Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 am 8. 12 2013 in Wädenswil und 15. 12. 2013 in Horgen
Liebe Gemeinde
Neulich habe ich mit meinem Sohn über dieses Lied „Es ist ein Ros entsprungen“
gesprochen. Und da hat sich herausgestellt: Ich bin nicht der einzige, der als Kind
gedacht hat, es ginge in diesem Lied um ein Pferd, das weggelaufen ist. Schon damals
habe ich mich natürlich gewundert, wie denn ein Ross „aus einer Wurzel zart“
entspringen kann. Auch kannte ich zwar verschiedene Arten von Pferden, aber von einer,
wo es heißt: „von Jesse kam die Art“ hatte ich nie etwas gehört.
Später hat mir dann jemand erklärt, dass es nicht um ein Ross, sondern um eine Rose
gehe. Die könne schon aus einer zarten Wurzel entspringen. Und in dem Lied wird ja
dann auch deutlich, dass mit dem Blümlein das Jesuskind gemeint ist, das die zarte
Jungfrau Maria mitten im kalten Winter geboren hat. Das ist eben Dichtung, Poesie.
Was dann aber immer noch ein Rätsel blieb: Es gibt auch keine Rosensorte mit der
Bezeichnung „Jesse“. Dazu braucht man nun tatsächlich echtes Insiderwissen: Das Lied
greift hier nämlich jenen Text aus dem Buch Jesaja, Kapitel 11, auf, den wir am Anfang
des Gottesdienstes gehört haben. In der alten Lutherbibel lautet der am Anfang:
„Es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Jesse
Und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“
Die Zürcher Bibel übersetzt statt Rute: Schössling und Spross. Man kann auch von einem
jungen Trieb sprechen, der aus einem Baum oder Baumstumpf herauswächst. Im Lied ist
aus diesem Trieb eine Rose geworden. Aber was ist mit dem Stamm und der Wurzel
gemeint, die den merkwürdigen Namen Jesse trägt? Fündig wird man, wenn man sich in
der alten Lutherbibel genauer umschaut. Da entdeckt man irgendwann: Jesse – so hieß
der Vater von König David! Später wurde die Übersetzung verbessert, und aus Jesse
wurde Isai. Aber damit ist nun endlich klar: Es geht hier um einen Stammbaum, und
zwar den Stammbaum der Könige von Juda. Der Text sagt: Aus diesem Stamm, aus
dieser Ahnenreihe, wird eines Tages ein neuer Trieb herauswachsen, also ein besonderer
Nachkomme geboren werden. Und das Lied sagt: Diese Nachkomme aus der JesseDavid-Dynastie ist das Jesuskind.
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
~ 2 ~ Wie kam es zu dieser Ankündigung eines besonderen Nachkommen aus dieser Dynastie?
Als Jesaja lebte und dieser Text aufgeschrieben wurde, war der König David schon seit
fast 200 Jahren tot. Es war das achte Jahrhundert vor Christus. Aber die in jenen Jahren
regierenden Könige, Ahas, Hiskia, Manasse mit Namen, waren direkte Nachkommen
von David. Ihr Königtum hatte längst nicht mehr den Glanz ihres großen Ahnherrn. Sie
waren Herrscher mit wenig Format. Beim Regieren hatten sie keine glückliche Hand.
Jesaja durfte sie zwar beraten, das hieß aber längst nicht, dass sie sich nach seinem Rat
richteten. So verstrickten sie sich in falsche Bündnisse und gerieten in verheerende Kriege
hinein. Jesaja sah mit prophetischer Klarheit, dass das Ende dieser Königsdynastie
gekommen war. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde sie zu Ende gehen.
Jesajas Zukunftsvision war also durchmischt. Er sieht im Geiste schon den abgehauenen,
gefällten Stammbaum, die abgebrochene Königsfolge. Er kündet ihr Ende selbst an. Aber
er hält trotzdem daran fest, dass Gott mit diesem Stammbaum etwas Besonderes vorhat:
Aus dem Baumstumpf dieser Dynastie, aus den Nachkommen der Familie des Königs
David, auch wenn die gar keine weltliche Macht mehr haben, wird eines Tages wieder
ein neuer Zweig entspringen, ein neuer König hervorgehen. Und der wird dann ein neuer
David sein, und noch mehr als dieser: ein König, der Weisheit, Gerechtigkeit und
Frieden in seiner Person vereint. Er wird so sein, wie es der dann folgende lange Text in
gewaltigen, bis heute utopischen Worten beschreibt.
Man muss sich das einmal klarmachen: Es geht hier nicht einfach um Träume von einer
guten Zukunft, in die man nach und nach hineinrollt. Es geht um die Zukunft nach einer
kommenden Katastrophe. Es war damals so, als würde heute jemand sagen: „Nach der
kommenden Zeit, in der die Schweizer Staatsform abgeschafft, das Land verarmt, halb
entvölkert und von fremden Diktatoren beherrscht werden wird, wird eines Tages auch
wieder eine bessere Zeit des Friedens und Wohlstands kommen. Wer möchte so etwas
schon hören? In Israel damals wollte es niemand. Aber die Katastrophe ist gekommen.
Knapp achthundert Jahre nach Jesaja, inmitten langer Zeiten der Unterdrückung durch
fremde Mächte, tauchen dann aber Menschen auf, die sagen: Der Friedenskönig, von
dem Jesaja damals gesprochen hat, ist gekommen. Als die Zeit erfüllt war, ging aus dem
Stammbaum Davids der Nachkomme hervor, auf den nicht nur Israel, sondern auf den
die Völker, die ganze Welt gewartet haben. Sein Name ist Jesus. Er wurde in der Stadt
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
~ 3 ~ geboren, aus der auch David und sein Vater Jesse stammten: Bethlehem. Matthäus stellt
den Stammbaum von Jesus an den Anfang seines Evangeliums, seines großen Berichts
über Jesus. Man kann dort nachlesen, wie die Linie über die Könige Israels bis zu Joseph
geht, der mit Maria das Kind Jesus bekommt. Damit soll deutlich werden: Jesus ist
tatsächlich dieser neue Spross im alten Stammbaum, von dem Jesaja spricht.
Interessant ist dabei, dass Matthäus die Ahnenreihe noch weiter zurückführt. Sie beginnt
nicht erst bei Jesse oder Isai, dem Vater Davids, sondern bei Abraham. Damit möchte
Matthäus unterstreichen: Jesus hat nicht nur eine Bedeutung für Israel, sondern auch für
die anderen Nationen der Welt. Denn Gott sagte bei der Berufung des Abrahams, er
werde ein Vater vieler Völker werden, und in ihm sollen alle Geschlechter der Erde
gesegnet sein.
Noch weiter geht der Evangelist Lukas. Er konstruiert eine Ahnenreihe, die bis zurück
auf Adam, den ersten Menschen geht. Wissenschaftler würden heute den Kopf schütteln
über so einen Stammbaum – aber das inhaltliche Anliegen des Lukas ist klar. Er will
damit sagen: Jesus ist der neue Adam. Er ist der, auf den die Entwicklung der
Menschheit von Anfang an zuläuft. Er ist der Mensch, den Gott schon im Blick hatte, als
er die Menschheit entstehen ließ. Der Mensch, wie er sein sollte.
Damit, liebe Gemeinde, sind wir an einer Stelle angekommen, wo eine Entscheidung
getroffen werden muss. Denn die Frage, ob Jesus tatsächlich der ist, den Jesaja
angekündigt hat, ist umstritten. Menschen jüdischen Glaubens wenden ein: Dieser
angebliche neue David herrscht doch noch gar nicht als König! Und das Reich des
Friedens ist doch noch gar nicht da! Und wie sieht es denn aus mit dem Tierfrieden, der
da bei Jesaja beschrieben wird? Steckt mal Wolf und Lamm oder Raubkatze und Zicklein
zusammen in einen Käfig – es ist kein Wunder, dass das nach dem Tierschutzgesetz
verboten ist, Lamm und Geiß hätten keine Chance.
Ein gläubiger Jude sagte mir einmal: Seine Katze beweise ihm immer wieder neu, dass
der neue David und sein Friedensreich noch nicht gekommen sind. Katzen sind ja nah
verwandt mit Großkatzen, wie zum Beispiel Löwen. Seine Katze verschlingt auch
manchmal Gras, obwohl sie ja Fleischfresser ist. Wenn sie das macht, könnte man ja
denken: Jetzt erfüllt sich Jesajas Vision, in der es heißt: „Der Löwe wird Stroh fressen wie das
Rind.“ (Jes. 11, 7). Aber nach einer Weile würgt seine Katze das Gras wieder heraus. Sie
hat sich nur den Magen damit gereinigt. Anschließend jagt sie wieder Mäuse, und der
neue David ist also immer noch nicht da.
Wie reagieren wir auf solche ja durchaus einleuchtenden Argumente? Nun, manche
haben sich eine Antwort zurechtgelegt, die geht etwa folgendermaßen: Jesus hat auf
Erden das angekündigte Friedensreich schon verkündigt. Aber nach Kreuz und
Auferstehung ist er erstmal wieder weggegangen, nämlich zum Himmel aufgefahren.
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
~ 4 ~ Eines Tages wird er von dort wiederkommen, seine Herrschaft antreten und sein Reich
perfekt machen.
Ich will gar nichts gegen diese Auffassung sagen. So ähnlich formuliert es ja auch das
Apostolische Glaubensbekenntnis. Aber ich mache darauf aufmerksam, dass man
natürlich fragen kann: Warum wartet er so lange damit? Warum hat er sein Friedensreich
nicht gleich beim ersten Kommen perfekt gemacht? Der Menschheit wäre viel Leid
erspart geblieben.
Und man kann auch fragen: Wie ist das eigentlich mit der Wiederkunft von Jesus? Es
gibt doch auch andere Stellen in der Bibel, nach denen er zum Beispiel gesagt hat: „Siehe
ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ (Matthäus 28, 20) Ist er nun wieder weg?
Oder ist er noch da? Und wenn ja – auf welche Weise?
Es gibt in neuester Zeit eine interessante Antwort auf diese Frage, die ganz in der
Vorstellungswelt des Jesaja zu sein scheint und aus meiner Sicht trotzdem ganz falsch ist.
In dem Buch „Der Da Vinci Code“ von Dan Brown aus dem Jahr 2003 und dessen
weltbekannter Verfilmung wird folgende Idee ausgemalt: Jesus war der erwartete
Nachkomme des Königs David. Aber er war nicht der Letzte in dieser Ahnenreihe.
Vielmehr hatte er zusammen mit Maria Magdalena ein Kind. Dieses Kind hatte wieder
Kinder. Der Stammbaum pflanzte sich weiter fort durch die Jahrhunderte. Aber die
Identität der Nachfahren von Jesus musste geheim gehalten und von einer geheimen
Organisation geschützt werden. Denn dass es Jesus Nachkommen hat, verträgt sich nicht
mit der offiziellen Lehre der Kirche. Noch heute gibt es – so Dan Browns Geschichte – in
Frankreich Nachfahren von Jesus. Eine Art geheime Elite von guten, klugen und
schönen Menschen. Und auf ihnen ruht weiter die Hoffnung der Menschheit.
Nun haben Historiker und Theologen aus verschiedenen Richtungen längst darauf
hingewiesen, dass diese Vorstellung reine Spekulation ist, für die es keine Anhaltspunkte
gibt. Eine klassische Verschwörungstheorie. Für uns ist dieser kleine Ausflug in die
Fantasy-Welt aber vor allem deshalb interessant, weil sich das Neue und Besondere des
christlichen Glaubens vor diesem Hintergrund besonders deutlich abhebt.
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
~ 5 ~ Die Hoffnung der Christen ruht nämlich gerade nicht auf einem Menschen, der sich
durch seine Abstammung, also sein genetisches Material oder seine körperliche
respektive seelische Ausstattung, von anderen Menschen unterscheidet. Es gibt kein
Christus-Gen, genauso wenig wie ein David-Gen oder Messias-Gen. Es gibt nicht einmal
so etwas wie ein Glaubens-Gen, auch wenn das heute gelegentlich wieder behauptet
wird. Es kommt seit Jesus nicht mehr auf den Stammbaum an. Deshalb kann das
Besondere und Neue, was Jesus gebracht hat, auch nicht weitervererbt werden.
Das Neue und Besondere, das Jesus gebracht hat, ist etwas, zu dem jeder Mensch neu
Zugang finden muss und auch finden kann. Es hat zu tun mit dem freien Willen, der
jedem Menschen gegeben ist. Es ist die Entscheidung, sich im eigenen Leben Gott
anzuvertrauen und sich von seiner Liebe erfüllen zu lassen. Jesus hat das in vorbildlicher
und inniger Weise getan. Und dazu hat er alle Menschen eingeladen. Und grundsätzlich
kann das auch jeder Mensch, wenn er oder sie denn will. Wir erben ja so manches von
unseren Eltern und sonstigen Vorfahren – Äußerliches und auch Charaktereigenschaften.
Wie wir uns dazu stellen, wie wir damit umgehen, was wir daraus machen, das ist die
freie Entscheidung von jedem Menschen als geistige Person. Die geistige Person, das Ich
eines Menschen kann nicht weitervererbt werden. Niemand von uns ist ein Teil vom
Vater oder der Mutter. Wir alle sind wir selber und immer das Original.
Und aus dieser Perspektive wird dann auch klar. Was es mit dem kommenden
Friedensreich auf sich hat. Es ist von seinem ganzen Wesen her kein Reich, welches
irgendjemand, gar eine einzelne Person, mit Macht und Gewalt durchsetzt. Es ist das
Reich von Menschen, die sich in frei dafür entschieden haben dazuzugehören. Das Reich
ist aus genau diesem Grund nicht einfach äußerlich sichtbar. Es ist in denen, die
vertrauen und lieben, schon ganz da. Es ist ein Reich des Geistes, der geistigen
Entscheidung. Aber es soll vom Geist her übergreifen in Seele und Leib, in die Materie
dieser Welt. Es soll Fleisch werden. Es soll kommen „Wie im Himmel, so auf Erden.“
Was also hat Jesus gebracht? Nichts anderes als sich selber. Er hat nicht den Frieden
gebracht, sondern er ist selber Frieden. Er hat nicht Liebe gebracht, er ist Liebe. Um ins
Reich des Friedens und der Liebe zu gelangen braucht es nämlich vor allem eines:
friedliche und liebevolle Menschen.
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
~ 6 ~ Und als Jesus als einzelne Person wieder gegangen ist, ist er doch in Gestalt des Geistes
des Friedens und der Liebe geblieben. Nichts anderes meint Paulus im Römerbrief, wenn
er sagt: „Die vom Geist Gottes getrieben werden, das sind Söhne und Töchter Gottes.“ (Römer 8,
14) Bei diesen Söhnen und Töchtern geht es wiederum nicht um genetische
Abstammung, sondern um die freie Entscheidung der geistigen Person, ob jemand auf
Gott vertraut und sich von seiner Liebe erfüllen lässt.
Mit allen Menschen, die das tun, möchte Gott seine neue Welt bauen. Die ganze
Schöpfung wartet nach Paulus sehnsüchtig darauf, dass diese Menschen in Erscheinung
treten, um sich in diese Richtung weiter zu entwickeln (Römer 8, 19). Wann dies
vollendet sein wird, wissen wir nicht. Gott und der Kosmos schreiten in großen
Zeiträumen fort. Aber dass wir dabei sein können, das wissen wir. Und ob wir dabei sein
werden, das können wir heute entscheiden.
Amen.
© Stefan Weller, Predigt zu Jesaja 11, 1 – 10 im Dezember 2013
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