Ein neues Argument in einer alten Diskussion

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Ein neues Argument in einer alten Diskussion:
‚Politikverdrossenheit‘ und der gender gap im politischen Interesse
- vorläufige Fassung, bitte nicht zitieren -
Bettina Westle und Harald Schoen
Universität Mainz
Institut für Politikwissenschaft
Saarstraße 21
D-55099 Mainz
e-mail: [email protected],
[email protected]
1.
Einleitung
In der Bundesrepublik Deutschland haben sich – wie in anderen Nationen auch (vgl. etwa
Inglehart 1981: 303-306; Verba/Schlozman/ Brady 1995: 348-350) – Frauen trotz zahlreicher
gesellschaftlicher Angleichungsprozesse lange Zeit politisch weniger interessiert geäußert als
Männer (vgl. Falter/Schumann 1990: 130; Cornelissen 1993: 322; Köcher 1994: 27; Sauer
1994: 106). 1 Dieser Differenz wurde eine ganze Reihe von Wirkungen zugeschrieben. Erstens
wurde daraus gefolgert, Frauen hätten weniger konsistente und stabile politische
Einstellungen (siehe etwa van Deth 1990: 290-297), was deren Artikulation politischer
Wünsche beeinträchtige (vgl. van Deth 1990: 275-276). Zweitens habe das geringere
politische Interesse von Frauen Unterschiede zu Männern im Wahlverhalten hervorgebracht.
Zum einen hätten Frauen aus diesem Grund lange Zeit eine konservative Ideologie vertreten
und die CDU/CSU bevorzugt (vgl. Rusciano 1992: 348-349; siehe auch Falter/Schumann
1990; Molitor/Neu 1999). Zum anderen führe das geringere politische Interesse der Frauen
dazu, daß sie neue Angebote am politischen Markt später als Männer wahrnähmen und diese
in der Anfangsphase unterproportional unterstützten (vgl. Roth 1989: 11-12; siehe auch Borre
1985: 379). Schließlich habe das geringere politische Interesse die politische Partizipation von
Frauen behindert, und zwar
umso
stärker,
je
höhere
Ansprüche
die
jeweilige
Partizipationsform an den einzelnen stellt: Für die Wahlbeteiligung ist der Effekt des
Interesses (siehe etwa Köcher 1994: 26-27) schwächer ausgeprägt 2 als etwa für die aktive
Unterstützung eines Kandidaten oder gar für die Übernahme eines Amtes (vgl. etwa
Ackelsberg/Diamond 1987: 508; Andersen 1975: 439-440; Milbrath/Goel 1977: 46;
Bennett/Bennett 1989: 106; Verba/Burns/Schlozman 1997: 1053). Daher wird dieses Gefälle
im politischen Interesse neben offenen Diskriminierungen als Erklärung für den geringen
Frauenanteil in politischen Elitepositionen herangezogen (vgl. etwa Inglehart 1981: 299-301;
siehe auch Hoecker 1987, 1995: 110-161, 1997). Wie nicht zuletzt der rasche Aufstieg von
Angela Merkel zur Bundesvorsitzenden der CDU zeigt, sind Frauen mittlerweile jedoch auch
in vormals als Männerbastionen geltenden Organisationen in Spitzenpositionen anzutreffen.
1
In diesem Aufsatz betrachten wir Differenzen zwischen Frauen und Männern, ohne damit die Über- oder
Unterlegenheit der einen oder anderen Seite zu verbinden; damit hoffen wir, dem Vorwurf von feministischer
Seite, der männliche Aktivbürger diene der Forschung als Ideal, an dem Frauen gemessen würden (vgl. Meyer
1992: 4-5), die Spitze zu nehmen.
2
Dieser in der Literatur mehrfach nachgewiesene Effekt kann nicht mit dem von Meyer (1992: 7) und Sauer
(1994: 107) formulierten Einwand, auch unter den Nichtwählern fänden sich politisch Interessierte, wie auch
unter den Wahlteilnehmern an Politik nicht interessierte Menschen anzutreffen seien, angezweifelt werden. Denn
diese Kritik unterstellt augenscheinlich einen deterministischen Zusammenhang, was für die
Sozialwissenschaften viel zu ambitioniert und deshalb unangemessen ist. Überdies fällt die Nonchalance auf, mit
der der Begriff ‚Indikator‘ synonym mit ‚Einflußfaktor‘ verwendet wird (vgl. Sauer 1994: 107).
1
Darf man – trotz der Spezifika dieses Falles – daraus schließen, daß die bundesdeutsche
Geschlechterkluft im politischen Interesse verschwunden ist?
Frau Merkels Aufstieg läßt sich jedoch auch aus einer zweiten Perspektive betrachten. Denn
nicht zuletzt wurde er als Versuch gedeutet, die CDU für Frauen, insbesondere jüngeren
Alters, attraktiver zu machen. Damit wird indirekt ein Argumentationsmuster aufgegriffen,
das neuerdings – in bewußter Abgrenzung zu etablierten Erklärungsansätzen – dazu genutzt
wird,
die
Geschlechter-Differenzen
im
politischen
Interesse
zu
erklären.
Diese
Argumentation, die von einem spezifisch weiblichen Politikverständnis ausgeht, wird
indessen auch dazu benutzt, für Frauen und Männer unterschiedliche Mechanismen für die
Vermittlung politischen Interesses zu postulieren. Beiden Fragen werden wir im folgenden
nachgehen.
Die folgenden Ausführungen gliedern sich in sieben Abschnitte. Zunächst werden die
etablierten sowie neu entwickelten Erklärungen für den gender gap vorgestellt und diskutiert.
Nach einer knappen Darstellung der Operationalisierung der zentralen Variable, des
politischen Interesses, werden in einem ersten empirischen Schritt im Längsschnitt die
Entwicklung des politischen Interesses sowie die Entwicklung von Urteilen über das
Funktionieren des politischen Systems und dessen Akteure analysiert; neben dem Geschlecht
werden dabei Alter, Schulbildung und Geschlechtsrollenorientierungen berücksichtigt.
Danach wird in multivariaten Analysen für das Jahr 1998 die relative Erklärungskraft der
verschiedenen Argumente sowie die Ähnlichkeit der Vermittlungsmechanismen für
politisches Interesse unter Frauen und Männer untersucht. Abschließend werden die
Kernbefunde der Analysen zusammengefaßt, Folgerungen gezogen und Anregungen für die
weitere Forschung formuliert.
2.
Politisches Interesse und Geschlecht : Theoretische Überlegungen
Um Geschlechterunterschiede im politischen Interesse zu erklären, wird in der Literatur eine
breite Palette von Argumentationsmustern offeriert. Sehen wir an dieser Stelle von
biologistisch-genetisch inspirierten Überlegungen ab (siehe etwa Ackelsberg/Diamond 1987:
516), lassen sich folgende vier Lesarten unterscheiden: erstens Unterschiede in der politischen
Sozialisation, zweitens zwischen den Geschlechtern divergierende Lebensumstände, drittens
speziell gegen Frauen wirksame Zugangsbarrieren zur politischen Arena (vgl. etwa
Bennett/Bennett 1989: 106-110; Welch 1977: 712; siehe ähnlich Kulke 1996: 490). Aus der
Kritik an diesen drei traditionellen Argumentationsschemata hat sich schließlich – bevorzugt
2
unter feministischen Politikwissenschaftlerinnen – eine vierte Lesart entwickelt, die eine
geschlechtsspezifische Unzufriedenheit mit den politischen Akteuren und den Leistungen des
politischen Systems in den Mittelpunkt stellt.
Die sozialisationstheoretische Argumentationslinie stellt darauf ab, daß in der primären
politischen Sozialisation Mädchen und Jungen divergierende Geschlechterrollen und
Verhältnisse zur Politik vermittelt würden. Mädchen würden darauf vorbereitet, den Haushalt
zu führen, Kinder aufzuziehen und sich um soziale Beziehungen zu kümmern, während bei
Jungen in den formativen Jahren der Sinn für das Durchsetzungsvermögen im Wettbewerb
um Macht und Einfluß geschult werde. Dadurch werde zumindest unbewußt der Eindruck
vermittelt, Politik sei eine männliche Domäne, von der sich Frauen fernzuhalten hätten (vgl.
etwa Campbell/Converse/Miller/Stokes 1960: 484-485; Greenstein 1961: 369, 1969: 107-127;
Chodorow 1978: 173-175; Lane 1959: 215; Orum et al. 1974: 206; Welch 1977: 713-714;
Rapoport 1981). 3 Sofern dieses Argument valide ist, würden sich die einmal ansozialisierten
Einstellungen im weiteren Lebenszyklus kaum noch wandeln. Später eintretende Ereignisse
oder Lebensumstände entfalteten keinen Einfluß mehr. Beispielsweise könnte das politische
System Frauen für das Geschehen in der politischen Arena auch nicht interessieren, indem es
deren Wünschen und Forderungen nachkommt. Eine attitudinale Geschlechterkluft wäre nur
sehr langsam, nämlich infolge eines Generationswechsels veränderlich. 4
Die situativ argumentierende Erklärung geht hingegen davon aus, daß vor allem die aktuellen
Umstände, unter denen Frauen und Männer leben, für das unterschiedlich große Interesse an
den Geschehnissen in der politischen Arena verantwortlich seien. Die Lebenssituation von
Frauen sei weitaus weniger als die von Männern dazu geeignet, politisches Interesse oder
politische Aktivitäten zu erlauben oder gar zu fördern. So seien Frauen von ihrer Hausarbeit
und der Betreuung der Kinder derart in Anspruch genommen, daß ihnen weder Zeit noch
Energie bleibe, sich um Politik zu kümmern. Zudem eröffne die Beschränkung auf die Rolle
als Hausfrau und Mutter weit weniger Gelegenheiten, in Gespräche politischen Inhalts
verwickelt zu werden, als eine Tätigkeit außer Haus (vgl. Welch 1977: 715; siehe für
empirische Analysen Andersen 1975: 441-447; Andersen/Cook 1985: 611-619; McDonagh
1982: 284-295). Diese Argumentation impliziert, daß die Geschlechterkluft durchaus
wandelbar ist, nämlich dann, wenn sich die Lebensumstände von Frauen und Männern
3
Siehe für die Diskussion um die Rolle beider Elternteile in der Sozialisation Rapoport (1985: 205-207),
Jennings (1983: 370-382).
4
Ein Paradebeispiel hierfür liefert Inglehart (1981: 303-313), indem sie im internationalen Vergleich das Niveau
politischen Interesses unter Frauen durch die in der jeweiligen Gesellschaft historisch vorherrschenden
Einstellungsmuster zur Rolle der Frau bestimmt sieht: Je länger und nachdrücklicher autoritäre
Einstellungsmuster dominiert hätten, um so größer fiele die gegenwärtige Geschlechterkluft aus.
3
angleichen. Da die objektiven Lebensbedingungen beider Geschlechter in der Bundesrepublik
einander tatsächlich langsam ähnlicher geworden sind (siehe etwa Statistisches Bundesamt
2000: 88) sollte der gender gap im politischen Interesse zumindest kleiner geworden, wenn
auch nicht unbedingt verschwunden sein. In innerdeutscher Perspektive läßt beispielsweise
die im Vergleich zu den alten Bundesländern merklich höhere weibliche Erwerbsquote in den
neuen Bundesländern spürbar geringere Geschlechterdifferenzen im politischen Interesse
vermuten.
Das strukturelle Erklärungsmuster sieht das schwächer ausgeprägte politische Interesse der
Frauen darin begründet, daß ihnen die männlich dominierte Gesellschaft den Zugang zu
politikaffinen gesellschaftlichen Sektoren und politisch relevanten Ressourcen verwehre
(siehe etwa Orum et al. 1974: 198-199; Welch 1977: 712, 715-716). Beispielsweise würden
Mädchen nicht im gleichen Ausmaß wie Jungen schulisch gefördert und Frauen der Zugang
zu besser dotierten Erwerbspositionen erschwert. Grundsätzlich impliziert auch dieses Modell
die Wandelbarkeit politischer Attitüden, sieht also den gender gap als durchaus veränderlich
an. Indessen dürfte einer raschen Änderung die Trägheit gesellschaftlicher Strukturen
entgegenstehen. In sozialstruktureller Hinsicht schneiden die Frauen in der Bundesrepublik
nach wie vor schlechter ab als Männer, doch schrumpft der Abstand. Deshalb dürfen wir eine
Angleichung des Interesses für Politik erwarten. Im innerdeutschen Vergleich gilt das zu den
situativen Faktoren Gesagte analog.
Der situative und der strukturelle Ansatz unterscheiden sich vom Sozialisationsargument, da
sie nicht von unveränderlichen Einstellungen ausgehen. Diese Divergenz kann jedoch nicht
über die wesentliche Gemeinsamkeit aller drei traditionellen Muster hinwegtäuschen (vgl.
Orum et al. 1974: 198-199; Bennett/Bennett 1989: 108): Die Wurzeln der Geschlechterkluft
hinsichtlich politischer Einstellungen sind vorpolitischer Natur. 5 Das heißt, unabhängig
davon, welche Leistungen das politische System erbringt, welche Gruppeninteressen
berücksichtigt werden und wie sich die Akteure auf der politischen Bühne präsentieren, seien
bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker der Politik zugewandt als andere.
Diese vorpolitischen Erklärungen lehnt die jüngste Argumentationslinie ab und sieht
stattdessen eine geschlechtsspezifische Unzufriedenheit mit dem politischen Prozeß und dem
politischen System als den entscheidenden Erklärungsfaktor an. Als Grundlage wird ein
Zusammenhang zwischen dem Responsivitätsempfinden der Bürger und ihrem politischen
Interesse postuliert: Sofern Bürgerinnen und Bürger das Gefühl hätten, die Akteure auf der
5
„Vorpolitisch“ meint, daß die aktuelle politische Situation nicht als Erklärungsmöglichkeit herangezogen wird.
Die gesellschaftlich-historisch geronnenen Sozialisationsmuster und strukturellen Lebensumstände sind dagegen
durchaus politischer Natur.
4
politischen Bühne kümmerten sich um die Sorgen der Bevölkerung und entwickelten
geeignete Vorschläge, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, so interessierten sie sich für
das Geschehen in der politischen Arena. Sollten sie hingegen den Eindruck gewinnen, die
politische Elite habe hauptsächlich ihr eigenes Fortkommen im Auge, würden die Menschen
„politikverdrossen“ und wendeten sich von der Politik ab (siehe etwa Key 1961: 546; van
Deth 1996: 383-384). Diese theoretisch6 wie auch empirisch durchaus strittige Behauptung7
wird für die Diskussion um den gender gap durch die Annahme nutzbar gemacht, Frauen
seien systematisch unzufriedener mit dem Geschehen in der politischen Arena, was dann zu
einem schwächer ausgeprägten politischen Interesse führe.
Das Unbehagen an der Politik kann dabei zahlreiche Facetten haben. Erstens hätten Frauen
ein anderes Politikverständnis als Männer entwickelt 8 , das ihnen die Teilnahme am von
‚männlichen‘ Charakteristika dominierten Politikbetrieb verleide. Frauen legten Wert auf
Kooperation sowie Flexibilität und arbeiteten gerne prozeß- und personenorientiert,
wohingegen in der traditionellen Politik in eng begrenzten Ressorts gedacht und prinzipienund sachorientiert gehandelt werde (vgl. Meyer 1992: 11; Cornelissen 1993: 323-324; Sauer
1994: 109). 9 Deshalb wendeten sich Frauen von den traditionellen Formen politischer
Organisation wie den Parteien ab und engagierten sich vorwiegend in unkonventionellen und
wenig formalisierten Formen politischer Partizipation, etwa in neuen sozialen Bewegungen
und lokalen10 Bürgerinitiativen (vgl. Cornelissen 1993: 327-328; siehe Rubart 1988; de Luca
1995: 168-170). Auch die politischen Themen und Inhalte bewegten die Frauen zu einer
Abkehr von der institutionalisierten Politik (vgl. Meyer 1992: 8). Denn diese vernachlässige
Problemfelder, die Frauen besonders am Herzen liegen, systematisch, während neue soziale
Bewegungen häufiger Themen aufgriffen, die auch für Frauen relevant seien (vgl. Cornelissen
1993: 327-328). Drittens sei das Spitzenpersonal in der institutionalisierten Politik derart
männerlastig, daß es Frauen zusätzlich schwerfallen müsse, sich für das Geschehen in der
6
Nie/Verba/Petrocik (1976: 270-288) sehen das politische Interesse als treibende Kraft hinter der wachsenden
Skepsis gegenüber dem Staat in den USA in den sechziger und siebziger Jahren, kehren also die Richtung der
Kausalität gerade um.
7
Bennett (1986: 84-86) stellt in den USA von den sechziger bis in die achtziger Jahre hinein einen allenfalls
minimalen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in die Regierung und dem politischen Interesse fest.
8
Die Frage, inwieweit es sich dabei um ein Produkt jüngerer historischer Perioden oder weit zurückliegender
Phasen handele, ist in der feministischen Literatur umstritten (siehe etwa Hagemann-White 1987, SchaefferHegel/Leist 1996). In einer Spielart gilt die „mütterliche Praxis“ als Ursache für diese Differenzen im
Verständnis von Politik (vgl. etwa Chodorow 1978; Gilligan 1982; Ackelsberg/Diamond 1987: 516; HagemannWhite 1987: 34-36).
9
Der von Lafferty (1980) eingeführte Begriff „female culture“ geht in eine ähnliche Richtung; indessen büßt er
ein Gutteil seiner Attraktivität dadurch, daß er anhand objektiver Merkmale operationalisiert wird.
10
Als ein Produkt der weiblichen Präferenz für kontextgebundenes Arbeiten wird ein stärker an
kommunalpolitischen Fragen ausgerichtetes politisches Interesse der Frauen gesehen. Siehe für diese
Spekulation etwa Hayes/Bean (1993: 675-676).
5
politischen Arena zu interessieren oder sich gar damit zu identifizieren (vgl. etwa ReichartDreyer 1993: 109). 11
Der jüngste Erklärungsversuch unterscheidet sich von den drei vorher präsentierten
Argumentationslinien in mehrerlei Hinsicht. Erstens wird das politische Desinteresse von
Frauen als auf die institutionalisierte Politik beschränkt gesehen, weshalb Frauen „nicht
politik-, sondern parteien- und staatsverdrossener als Männer“ (Sauer 1994: 108; vgl. auch
Cornelissen 1993: 323) seien. 12 Zweitens berücksichtigt es als einziges das Wechselspiel
zwischen Angebots- und Nachfrageseite am politischen Markt. Drittens folgt daraus ein
erheblicher, auch kurzfristiger Spielraum für Änderungen im politischen Interesse, da die
relevanten Parameter, also etwa politische Programme oder herausragende Personen, rascher
ausgewechselt werden können, als sich in einer Gesellschaft beispielsweise die Arbeitsteilung
zwischen
den
Geschlechtern
wandelt.
An
empirischen
Überprüfungen
dieses
Erklärungsmusters fehlt es bislang jedoch.
3.
Zur Messung des politischen Interesses
Das politische Interesse nimmt in der empirischen Einstellungsforschung eine wichtige
Position ein, was allerdings noch nicht zu einer unumstrittenen Operationalisierung geführt
hat. Scheidet die theoretisch attraktivste Option, die Messung mit Hilfe multipler Indikatoren,
mangels geeigneter Daten aus, bieten sich zwei Indikatoren aus der vorliegenden Forschung
an. Erstens werden Respondenten darum gebeten, ihr politisches Interesse selbst
einzuschätzen. Zweitens wird vorgeschlagen, die Auskunft der Befragten über die Häufigkeit,
mit der sie sich über Politik unterhalten, als Indikator für das politische Interesse zu nutzen.
Beide Instrumente sind mit Problemen behaftet. Erstens sind die Antwortvorgaben in aller
Regel wenig präzise gehalten, so daß es fraglich ist, ob zwei Respondenten, die beispielsweise
angeben, „gelegentlich“ über Politik zu diskutieren, tatsächlich dieselbe Häufigkeit meinen.
Zweitens müssen die Auskünfte der Befragten nicht notwendig deren tatsächliche
Einstellungen und Handlungen widerspiegeln, sondern können beispielsweise wegen Effekten
der sozialen Erwünschtheit das Niveau des Interesses systematisch überschätzen (siehe für
11
Auf die Gefahr, daß der Begriff ‚politisch‘ seinen analytischen Wert einbüßt, wenn er alle Sachverhalte
bezeichnet, sei nur am Rande hingewiesen. Vor dieses Problem sieht sich beispielsweise Reichart-Dreyer (1993:
114) gestellt, die das Vorhandensein politischen Interesses nicht als empirische Frage betrachtet, sondern meint,
Interesse an Politik axiomatisch unterstellen zu können.
12
Sauer (1994: 115) weist auf zwei zentrale Probleme dieses Argumentationsmusters hin. Erstens berge das
Postulat eines spezifisch weiblichen Politikverständnis die Gefahr eines Rückfalls in biologistische
Argumentationsschemata. Zweitens litten nicht wenige Arbeiten, die mit dem weiblichen Politikbegriff
6
eine eingehende Indikatorendiskussion van Deth 1990: 281-284). Drittens besteht im Fall des
politischen Interesses die Möglichkeit, daß dieser Indikator zu ‚weich‘ ist, d.h. eine eher
folgenlose Haltung mißt. Der scheinbar ‚härtere‘ Indikator zur ‚Diskussionshäufigkeit‘ birgt
jedoch umgekehrt die Gefahr, mehr als eine Dimension zu messen. Denn es könnte leicht
sein, daß er neben dem reinen Interesse noch etwas anderes, etwa den Grad der Extraversion
des Befragten oder die Gelegenheiten zum Gespräch erfaßt. Wegen dieser Bedenken werden
wir unsere Analysen zunächst mit beiden Indikatoren separat durchführen. Sollten sich dabei
zwischen beiden merkliche Unterschiede ergeben, werden wir die Analyse auf den theoretisch
plausibleren, nämlich die direkte Frage nach dem politischen Interesse reduzieren.
Neben diesen generellen Schwierigkeiten bei der Messung politischen Interesses gilt es im
Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Analysen weitere Einwände zu bedenken. So
wird in sozialwissenschaftlichen Erhebungen in der Regel allgemein nach dem politischen
Interesses gefragt, ohne daß der Bedeutungsgehalt des Begriffs ‚Politik‘ spezifiert würde, was
den Respondenten jede beliebige Assoziation ermöglicht (vgl. Cornelissen 1993: 322). Da
jedoch in unserer Gesellschaft der männlich verengte Politikbegriff vorherrsche, so die
feministische Kritik, assoziierten sämtliche Befragten ‚institutionalisierte Politik‘. Zugleich
seien Männer wegen des dominierenden Politikverständnisses in dieser traditionellen Politik
deutlich aktiver und auch stärker interessiert als Frauen. Daher führe allein die Fragestellung
zu einer Geschlechterkluft zugunsten der Männer (vgl. Cornelissen 1993: 322; Meyer 1992: 7;
Sauer 1994: 107), diese sei mithin nichts als ein Methodenartefakt. Allerdings ist auch diese
Kritik bislang nicht empirisch überprüft worden. 13
Ferner ist bekannt, daß Männer in vielen Kontexten nicht nur seltener „weiß nicht“ zur
Antwort geben (vgl. etwa Ferber 1966: 402-406; Francis/Busch 1975: 211-217), sondern sich
auch eher für extreme Antwortoptionen entscheiden als Frauen (vgl. Bertelsen 1974: 413414). Auch infolge der gesellschaftlichen Rollenvorstellungen könnte bei Männern die
Neigung zur Übertreibung des politischen Interesses und Engagements stärker ausgeprägt sein
als bei Frauen (vgl. etwa Verba/Burns/Schlozman 1997: 1054; siehe Meyer 1992: 8). Da die
operierten, unter einer zirkulären Argumentation, da sie zugleich ein spezifisch weibliches Politikverständnis
unterstellten und nachzuweisen suchten.
13
Eng damit verwandt ist eine Diskussion um Instrumente, die nicht pauschal Interesse an der Politik, sondern
an spezifischen Politikfeldern messen. Denn, so die Kritikerinnen, erstens würden dabei policy-Felder wie die
Außen- und Wirtschaftspolitik berücksichtigt, während sozial- und familienpolitische Fragen unterbelichtet
blieben (vgl. etwa Reichart-Dreyer 1993: 114; siehe auch Ackelsberg/Diamond 1987: 505, 518) und zweitens
würde nur nach der nationalen Politik gefragt, während die Kommunalpolitik, für die sich Frauen besonders
interessierten (siehe Ackelsberg/Diamond 1987: 518), ausgespart bleibe. Da in der ersten Hinsicht die
empirische Evidenz alles andere als eindeutig ist (vgl. Rusciano 1992: 352; Köcher 1994: 31; Togeby 1994: 380382; Verba/Burns/Schlozman 1997: 1069) und in der zweiten Hinsicht mit der wünschenswerten Eindeutigkeit
gegen die skizzierten Einwände spricht (vgl. Hayes/Bean 1993: 675-679), erscheint wenigstens diese Kritik
weitgehend gegenstandslos.
7
Indikatoren für das politische Interesse nicht dichotom sind, könnte eine differenzierte
Antwortvorgabe die männlichen Respondenten allein methodenbedingt politisch interessierter
erscheinen lassen als die weiblichen. 14 Um dieses Artefakt-Argument zu überprüfen, werden
wir neben einer differenzierten Variante auch eine dichotomisierte Version des politischen
Interesses verwenden, in der wir die Befragten, die angeben, überhaupt nicht an Politik
interessiert zu sein bzw. sich nie an politischen Diskussionen zu beteiligen, jenen
Respondenten gegenüberstellen, die – in welcher Intensitätsstufe auch immer – politisches
Interesse bzw. Beteiligung an politischen Diskussionen bekunden (vgl. hierzu van Deth 2000:
6).15
Zusammengefaßt verwenden wir in unseren empirischen Analysen also zwei unterschiedliche
Arten von Indikatoren, die direkte Frage nach dem politischen Interesse und die Auskunft
über die Häufigkeit politischer Diskussion. Darüber hinaus spalten wir beide Indikatoren in
eine mehrstufige und eine dichotomisierte Variante auf. Dabei sollte die Messung mit Hilfe
der zweiten Version geringere Unterschiede hervorbringen als die erste, sofern damit
geschlechtsspezifisch wirkende Effekte der sozialen Erwünschtheit reduziert werden.
4.
Die Entwicklung des Interesses an Politik und der Beteiligung an politischen
Diskussionen
Zunächst ist zu klären, in welcher Weise sich das Interesse an Politik und die Beteiligung an
Diskussionen über politische Themen entwickelt haben. Besteht der früher beobachtete
gender gap noch, gab es eine Angleichung oder - wie gelegentlich in der Literatur vermutet in jüngerer Zeit wieder eine Verbreiterung der Unterschiede zwischen Frauen und Männern?
Und: Verändern sich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in Abhängigkeit von der
bei der Erhebung vorgegebenen Anzahl der Antwortkategorien sowie der analytischen
Variation zwischen den ursprünglichen skalierten versus den asymmetrisch dichotomisierten
Antwortkategorien?
14
Noch einen Schritt weiter geht Meyer (1992: 8), indem sie einen für die Geschlechter unterschiedlich
gerichteten Effekt sozialer Erwünschtheit unterstellt und annimmt, Frauen gäben ganz bewußt ein geringeres
politisches Interesse zu Protokoll, um sich vom ‚schmutzigen Geschäft‘ in der männlichen Domäne ‚Politik‘ zu
distanzieren.
15
Insofern unterscheidet sich unsere Operationalisierung von der, die Gabriel/van Deth (1995: 396) favorisieren,
da sie die Angabe, ‚häufig‘ Diskussionen politischen Inhalts zu führen, allen übrigen Kategorien
gegenüberstellen.
8
4.1
Politisches Interesse
Betrachtet man zunächst die 4-kategoriale Erhebung des Interesses an Politik, ist zwischen
Mitte der 70er und Mitte der 90er Jahre bei Männern und Frauen eine vergleichbare
Entwicklung des politischen Interesses zu beobachten, d.h. ein Anstieg bis Anfang 1980, in
den 80ern ein Rückgang, zur Zeit der Vereinigung wiederum ein Zuwachs, danach ein
Absinken. Dabei verringert sich der gender gap nicht. Die dichotomisierte Version zeigt
denselben generellen Kurvenverlauf, jedoch deutet sich bei ihr durchgehend eine
Verkleinerung des geschlechtsspezifischen Niveauunterschieds an, besonders ausgeprägt zur
Zeit der Vereinigung.
Grafik 1A-V1+V2
Allerdings liegen für die 4-kategoriale Ermittlung des politischen Interesses nur relativ
wenige Meßzeitpunkte vor, weshalb im nächsten Schritt eine 5-kategoriale Messung auf der
Grundlage der Bundestagswahlstudien betrachtet wird. Wiederum zeigt sich bei Frauen und
Männern ein ähnlicher Kurvenverlauf, allerdings bei generell leichtem Anstieg des politischen
Interesses zwischen Ende der 60er und Ende der 90er Jahre, also ohne den vorher
beobachteten Rückgang in den 80ern und nach der Vereinigung. Der geschlechtsspezifische
Niveauunterschied bleibt jedoch erhalten, fällt allerdings in der dichotomisierten Version
wiederum geringer aus und deutet zudem auf eine tendenzielle Angleichung, wenn auch nicht
auf eine völlige Nivellierung seit den 80ern hin.
Grafik 1B-V1+V2
Da Erhebungen zu Zeiten von Bundestagswahlen im allgemeinen höhere Niveaus des
politischen Interesses erbringen als zu weniger politisierten Zeiten, ist die Entwicklung des
politischen
Interesses
noch
auf
der
Grundlage
verschiedener
repräsentativer
Querschnittserhebungen zu analysieren. Dabei handelt es sich durchgängig wieder um eine 5kategoriale Abfrage, die den Zeitraum von Ende 60er bis Ende der 90er Jahre umfaßt.
Grafik 1C-V1+V2
9
Hier nun wird deutlich, daß der durch die Bundestagswahlstudien vermittelte Eindruck eines
generellen und kontinuierlichen Anstiegs des politischen Interesses ein Trugschluß sein
dürfte, d.h. daß es sich dabei wohl eher um eine zunehmende Politisierung zu
Wahlkampfzeiten handelt, die jedoch nicht von Dauer für „Normalzeiten“ ist . Vielmehr ist
bis Anfang der 80er ein Anstieg, in der ersten Hälfte der 80er dagegen ein Rückgang und in
der zweiten Hälfte wieder ein Anstieg bis zur Spitze während der Vereinigung, danach ein
leichter Rückgang mit anschließender „Normalisierung“ beobachtbar. Auch hier bleibt der
gender gap jedoch im wesentlichen erhalten und erweist sich in der dichotomisierten Version
(mit wenigen Ausnahmen) als kleiner, wiederum aber nur im Umfeld der Vereinigung nahezu
nivelliert.
Zwischen-Fazit 1:
a)
Im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung zeigen Frauen nach wie vor ein weniger
intensives Interesse an Politik als Männer - der gender gap hat sich kaum verändert.
b)
Der gender gap ist jedoch geringer, wenn nur berücksichtigt wird, ob überhaupt
Interesse an Politik besteht. Dies kann allerdings sowohl ein substantieller Befund sein
als auch auf der gelegentlich vermuteteten Tendenz von Frauen, sich weniger deutlich
als Männer als politisch intensiv interessiert zu bezeichnen, beruhen.
c)
Zu stark politisierten Zeitpunkten besteht eine Tendenz zur Nivellierung des gender
gaps, wenn das Interesse an Politik dichotomisiert wird.
Für die Frage, inwieweit der gender gap auch unter bestimmten Alters-
und
Bildungsgruppierungen beobachtbar ist, wird im folgenden die Version der 5-kategorialen
Abfrage auf Grundlage der verschiedenen Querschnittsstudien herangezogen, da sie am
wenigsten von kurzfristigen Kontexteinflüssen tangiert ist und eine größere Sensibilität
gegenüber geschlechtsspezifischen Unterschieden als die dichotomisierte Version zeigt, also
einen „härteren“ Test darstellt. Generell läßt sich - sowohl bei Frauen als auch bei Männern ein, vermutlich lebenszyklich bedingter Anstieg des politischen Interesses in den mittleren
Altersgruppen sowie ein Anstieg bei zunehmender Schulbildung beobachten. Daher werden
im folgenden nur die Differenzen zwischen den Geschlechtern in den jeweiligen
Gruppierungen betrachtet.
Grafiken 1c-2 und 1c-3
10
Für jede der unterschiedenen Altersgruppierungen sowohl in West- als auch in
Ostdeutschland wird zunächst deutlich, daß Frauen ein weniger intensives Interesse an Politik
artikulieren als Männer. Dabei ist der gender gap zumeist - allerdings nicht immer - in der
ältesten Kohorte am deutlichsten, in der jüngsten am geringsten, was vor dem Hintergrund des
lebenszyklischen Verlaufs des politischen Interesses auf zusätzliche Generationseffekte
verweist. Auch im Hinblick auf die Abhängigkeit von Schulbildung werden vorliegende
Befunde weitgehend gestützt, d.h. in keiner Gruppierung verschwindet der gender gap, jedoch
ist er überwiegend bei geringer Schulbildung am größten, bei hoher Schulbildung am
geringsten.
Daß
diese
Zusammenhänge
sowohl
bei
dem
Lebensalter/der
Generationszugehörigkeit als auch bei der Schulbildung zwar überwiegend, aber nicht immer
auftreten, dürfte auf Kontexteffekte verweisen, d.h. auf eine unterschiedliche Aufmerksamkeit
für Politik in Abhängigkeit von Ereignissen, die spezifische sozialstrukturelle Strata in
unterschiedlichem Ausmaß betreffen.
Grafiken 1-c3a bis 1c-3d
Berücksichtigt man Alter und Schulbildung gleichzeitig, findet sich in allen Fällen nach wie
vor die geschlechtsspezifische Diskrepanz - am stärksten ausgeprägt in der ältesten
Gruppierung mit geringer Schulbildung, am schwächsten in der ältesten Gruppierung mit
hoher Schulbildung.
Zwischen-Fazit 2:
a)
Der gender gap besteht nach wie vor in allen Alters- und Bildungsstrata.
b)
Für ältere Kohorten ist die formale Schulbildung jedoch eine wesentliche Größe, die zur
Reduktion des gender gap beiträgt. In den mittleren und jüngeren Kohorten erweist sich
die Schulbildung dagegen in geringerem Ausmaß als nivellierender Einflußfaktor.
4.2
Beteiligung an politischen Diskussionen
Hinsichtlich der Häufigkeit einer Beteiligung an Diskussionen über Politik ist in West und Ost
ein ähnlicher geschlechtsspezifischer Unterschied wie beim Interesse an Politik beobachtbar,
d.h. Frauen beteiligen sich im Durchnitt deutlich weniger als Männer an politischen
Diskussionen. Dieser Unterschied ist ebenfalls über die Zeit hinweg weitgehend konstant, fällt
11
jedoch - anders als beim politischen Interesse - bei dichotomisierter Betrachtung nicht
geringer als bei skalierter aus.
Grafik 2-V1+V2
Die bei politischem Interesse schon beobachteten Zusammenhänge zu Alter und Schulbildung
finden sich bei der Teilnahme an politischen Diskussionen in noch deutlicher ausgeprägter
und seltener durchbrochenen Systematik wieder: Die Unterschiede zwischen den
Geschlechtern sind bei Jüngeren und bei höherer Schulbildung am geringsten, bei Älteren und
geringer Schulbildung am größten.
Grafik 2-2 und 2-3
Nach Alter und Schulbildung gleichzeitig differenziert, besteht im Westen wiederum
durchgängig der größte Unterschied in der ältesten Gruppierung mit geringer Schulbildung,
der geringste variiert jedoch nach Erhebungszeiträumen: In den 70er Jahren weist wiederum
die älteste Kohorte mit hoher Schulbildung die kleinsten geschlechtsspezifischen
Unterschiede auf. In den 80ern sind dagegen die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei
den Jüngeren durchgängig am geringsten, im Umfeld der Vereinigung sind die Unterschiede
bei der mittleren und jüngeren Kohorte jedes Bildungsstatus etwas kleiner (wobei die Frauen
mit hoher Schulbildung in der jüngeren Gruppierung die Männer minimal überflügeln) und in
der zweiten Hälfte der 90er Jahre bei den mittleren Altersgruppierungen. Im Osten ist dieses
Bild dagegen diffuser, in der Tendenz aber ähnlich.
Grafik 2-3a bis 2-3f
Zwischen-Fazit 3:
a)
Bei der Teilnahme an politischen Diskussionen besteht ähnlich wie bei dem Interesse an
Politik ein ausgeprägter und über die Jahre hinweg kaum veränderter gender gap, der
sich - anders als bei dem Interesse an Politik - nicht auf die Reaktion auf
Intensitätsskalen bei der Erhebung zurückführen läßt.
b)
Der gender gap reduziert sich bei steigender Schulbildung und in jüngerem Lebensalter,
verschwindet jedoch nur wenigen Fällen.
12
c)
Die den gender gap reduzierende Kraft der Schulbildung läßt bei den jüngeren
Altersgruppen im Vergleich zu den älteren nach.
d)
Zu vermuten ist daher ein komplexes Determinantengefüge aus Lebenszyklus- und
Kohorteneffekten bei gleichzeitig abnehmender Bedeutung der Schulbildung.
4.3
Zusammenhänge zwischen Interesse an Politik und Beteiligung an politischen
Diskussionen
Die ähnlichen, aber nicht identischen Entwicklungsverläufe des politischen Interesses und der
Beteiligung an politischen Diskussionen sowie die ebenfalls ähnlichen, aber nicht identischen
Zusammenhänge mit Alter und Schulbildung lassen vermuten, daß beide Indikatoren
keineswegs dasselbe messen. Diesen Eindruck stützen bivariate Zusammenhangsanalysen
zwischen den beiden Indikatoren in den verschiedenen Varianten.
- Tabelle 3 -
So variieren die Zusammenhangsmaße zwischen .30 und .50. Der Prozentanteil der
individuellen Verortung auf der „identischen“ Antwortkategorie beträgt bei den skalierten
Varianten zwischen 40% und 70%, bei den dichotomisierten Varianten zwischen 50% und
95%. Darüber hinaus fällt aber bei den dichotomisierten Varianten auf, daß die
Übereinstimmung zwischen beiden Indikatoren bei Frauen regelmäßig geringer als bei
Männern ist.
- Tabelle 4 -
Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Männer nicht nur dann, wenn sie an Politik
interessiert sind, häufiger als an Politik interessierte Frauen auch über Politik diskutieren,
sondern sich insbesondere im Fall fehlenden Interesses an Politik dennoch häufiger als Frauen
an politischen Diskussionen beteiligen.
Zwischen-Fazit 4::
a)
Der gender gap bei der Artikulation von politischem Interesse und bei der Beteiligung
an politischen Diskussionen sind keineswegs Ausdruck desselben Phänomens. Vielmehr
13
spielen bei der Häufigkeit politischer Diskussionen offenbar weitere Faktoren eine
Rolle.
b)
Zum einen gilt für Frauen bei politischem Desinteresse häufiger als für Männer das
Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, während Männer dieses Motto eher
umkehren. Zum anderen dürften für die geringere Diskussionsfreudigkeit der Frauen
auch bei vorhandemen politischen Interesse Gelegenheitsstrukturen eine nicht
unwesentliche Rolle spielen - ein Faktor, auf den an dieser Stelle jedoch nicht näher
eingegangen werden kann (dazu vgl. Westle 2000a,b).
5.
Politikverdrossenheit als Ursache geringen Interesses an der Politik?
Sofern Unzufriedenheit mit der Politik bei den Frauen zu einer Abwendung von politischen
Fragen geführt hat und daher einen wesentlichen Grund für den gender gap im politischen
Interesse darstellt, wie von der feministischen Politikwissenschaft vermutet, so sollte sich bei
den Frauen - insgesamt oder in wesentlichen Teilen – erstens eine größere Unzufriedenheit als
bei den Männern zeigen; zweitens sollte diese Unzufriedenheit in einem eindeutigen
Zusammenhang mit dem politischen Interesse stehen.
5.1
Die Entwicklung von Urteilen zur Politik
Im folgenden werden daher zunächst verschiedene Urteile zur Politik analysiert, wobei die
Ebene der Herrschaftsträger und die der politischen Ordnung in der Bundesrepublik betrachtet
werden. Bei den Parteien beurteilen Frauen im Durchschnitt die etablierten Parteien CDU,
SPD und FDP 16 mit ansteigender Tendenz seit Anfang der 90er Jahre - entgegen der
Erwartung - keineswegs schlechter, sondern genauso oder minimal positiver als Männer.
Jedoch hegen sie für die Grünen seit Mitte der 80er und seither in zunehmendem Ausmaß
deutlich größere Sympathien als die männliche Bevölkerung, was tendenziell auch für die
Frauen in Ostdeutschland gilt. Ebenso zeigen ostdeutsche Frauen ausgeprägt größere
Sympathien als ostdeutsche Männer für die PDS.
Grafiken 5-7
16
Die Einbeziehung der CSU ändert die Ergebnisse nur marginal.
14
Die geringfügig positivere Beurteilung der Altparteien liegt im Westen allerdings im
wesentlichen bei den älteren Gruppierungen und geringer Schulbildung vor, während sich bei
Jüngeren und höherer Schulbildung noch weniger geschlechtsspezifische Unterschiede oder
sogar - in den 80ern eher negativere Urteile zeigen. Im Osten sind hierzu keine klaren
Konturen erkennbar. Die überproportionale Attraktivität der Grünen unter den westdeutschen
Frauen verdankt sich vor allem denjenigen mit höherer, gefolgt von mittlerer Schulbildung.
Nach Alter differenziert wiederholt sich dieses Muster, wenn auch weniger klar ausgeprägt.
Jedoch ist in allen Gruppierungen für die Grünen ein relativer Attraktivitätsvorsprung und
eine Vergrößerung dieses Vorsprungs in den letzten Jahren bei den Frauen zu verzeichnen. Im
Osten zeigen sich ähnliche Muster, wenn auch weniger klar ausgeprägt. Während sich die
westdeutschen Frauen und Männer aller Alters- und Bildungsstufen in der Beurteilung der
PDS nahezu einig sind, genießt die PDS in Ostdeutschland vor allem bei den jüngeren und
mittleren Altersgruppen unter den Frauen deutlich mehr Sympathien als unter den Männern,
während die älteren Frauen ihr eher ablehnender als die älteren Männer gegenüberstehen. Die
geschlechtsspezifischen Unterschiede nach Schulbildung sind dagegen weniger ausgeprägt
und fluktuieren stark.
Auch bei der Bewertung der führenden Leute in Deutschland liegen nur minimale
Unterschiede zwischen den Geschlechtern vor, allerdings im Westen ein geringfügiger
Wandel insofern, als Frauen bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre eher zu einem etwas
positiveren Urteil über das Führungspersonal tendierten, seither jedoch etwas häufiger zu
einem etwas negativeren als die Männer. Die überproportional positive Beurteilung ging
allerdings primär auf die älteren Kohorten und Befragte mit geringer Schulbildung zurück,
während Frauen in jüngerem Alter und besonders bei hoher Schulbildung häufiger als die
männlichen Vergleichsgruppen der Meinung waren, es seien die falschen Leute an der
Führung. In den 90ern haben sich die schon vorher nur geringen geschlechtsspezifischen
Unterschiede
jedoch
weitgehend
angeglichen.
In
Ostdeutschland
zeigen
die
geschlechtsspezifischen Differenzen bei diesen Urteilen unsystematische Schwankungen.
Grafik 8-9
Der Befund nur minimaler Unterschiede wiederholt sich bei den Urteilen zu der jeweils
amtierenden Bundesregierung, ebenso im Westen die Tendenz zu etwa positiveren Urteilen
der Frauen in den älteren Bevölkerungsteilen und bei geringer Schulbildung, zu negativeren
15
bei höherer Schulbildung in den 80er Jahren. Im Osten finden sich hierzu wiederum keine
klaren Konturen.
Zwischen-Fazit 5:
a)
Auf der Ebene politischer Herrschaftsträger bestehen bei der Beurteilung des
Führungspersonals und der Bundesregierung weder in der Gesamtbevölkerung noch in
spezifischen Alters- und Bildungsstrata ausgeprägte Urteilsunterschiede.
b)
Im Hinblick auf die Parteien kann nicht von einer generell größeren Unzufriedenheit
oder gar Verdrossenheit der Frauen als der Männer die Rede sein, denn die etablierten
Altparteien werden von beiden nahezu identisch beurteilt.
c)
Jedoch zeigt die im Vergleich zu Männern für Frauen größere Attraktivität der Grünen
sowie der PDS im Osten - sofern man beiden Parteien, wenn auch auf unterschiedliche
Weise, eine gegenüber der etablierten Politik kritische und abweichende Haltung als
Image zuschreiben kann – gewisse größere Unzufriedenheitsmomente unter den Frauen
als unter den Männern, besonders ausgeprägt in den jüngeren und mittleren Kohorten
mit höherer Schulbildung.
Während in der Haltung zur demokratischen Ordnungsidee im allgemeinen oder im Vergleich
zu einer Diktatur (auf der Grundlage verschiedener Studien) keine geschlechtsspezifischen
Unterschiede vorliegen, sind die Befunde zur Bewertung der demokratischen Realität in der
Bundesrepublik widersprüchlich. Auf der Grundlage der Politbarometer, die nur zwei
Antwortkategorien vorsehen, äußern ost- und noch etwas ausgeprägter westdeutsche Frauen
in den 90er Jahren konsistent häufiger Unzufriedenheit als Männer, wenn auch nicht in
großem Ausmaß. Auf der Grundlage der Eurobarometer, die vier Antwortkategorien
vorsehen, wechseln die geschlechtsspezifischen Unterschiede dagegen ebenso wie bei
Betrachtung anderer Studien. Insgesamt sind jedoch in allen Studien die Differenzen nur
gering.
- Grafiken 10-12
Zieht man die Politbarometer, die ja am ehesten einen Anhaltspunkt für größere
Unzufriedenheit der Frauen geben, zur näheren Analyse nach Alter und Schulbildung heran,
so zeigen sich im Westen größere geschlechtsspezifische Unterschiede bei den jüngeren und
mittleren Alterskategorien, geringere bei der älteren, während die Schulbildung nicht
16
systematisch differenziert. Auch im Osten sind es die Frauen der jüngeren und mittleren
Altersgruppen sowie bei höherer und mittlerer Schulbildung, die sich unzufriedener als die
Männer äußern, während die älteren Frauen und diejenigen mit geringerer Schulbildung
dagegen zunehmend eher zufriedener als die männlichen Vergleichsgruppen sind. In der
Tendenz liefern die Eurobarometer und die anderen Studien ähnliche Befunde nach Alter und
Geschlecht, jedoch mit häufigeren Abweichungen.
Zwischen-Fazit 6:
Auf der Ebene der politischen Ordnung bestehen in den 90ern Anzeichen für eine geringere
Zufriedenheit der Frauen als der Männer - insbesondere unter den mittleren und jüngeren bei
höherer Schulbildung - jedoch weder in gravierendem Ausmaß noch in systematischer Weise,
d.h. nicht zu allen Erhebungszeitpunkten und nicht in allen Studien.
Insgesamt kann somit weder auf der Ebene der Gesamtbevölkerung noch in spezifischen
sozialstrukturellen Strata von einer größeren Politikverdrossenheit der Frauen als der Männer
die Rede sein, da bei ihnen über die verschiedenen Dimensionen hinweg keine konsistent
negativeren Urteile zur Politik vorliegen. Allenfalls läßt sich eine gegenüber den Altparteien
im Vergleich zu den Grünen und der PDS (nur im Osten) distanziertere Haltung und eine
etwas geringere Zufriedenheit mit der Realisierung der Demokratie beobachten. Auf der
Ebene der Gesamtbevölkerung sind diese Unterschiede jedoch so geringfügig, daß sie kaum
für den konstatierten gender gap im politischen Interesse verantwortlich sein können.
5.2
Zusammenhänge zwischen politischen Urteilen und Interesse an Politik sowie der
Beteiligung an politischen Diskussionen
Diese Vermutung wird bei den bivariaten Zusammenhängen zwischen politischen Urteilen
und dem Interesse an Politik sowie der Teilnahme an politischen Diskussionen erhärtet.
Sofern politische Unzufriedenheit unter den Frauen zu ihrem geringeren politischen Interesse
beiträgt, sollten sich zwischen beiden Variablen - bei den Frauen - ausgeprägte positive
Zusammenhänge zeigen.
Tabelle 13a und Tabelle 13b
17
Jedoch bestehen erstens überwiegend nur schwache, insignifikante Zusammenhänge. Sofern
sich aber signifikante Zusammenhänge zeigen, sind diese zweitens ebenfalls nur schwach und
treten drittens nicht konsistent über die Erhebungsjahre hinweg auf. Relativ häufig finden sich
zwar viertens negative Zusammenhänge bei der Bewertung der Altparteien und positive bei
den Grünen sowie im Osten bei der PDS; jedoch widerspricht dieser Befund gerade den
Vermutungen, daß Unzufriedenheit mit der Politik zu politischem Desinteresse beitrage, denn
er bedeutet - mit anderen Worten -, daß negative Urteile zu den Altparteien und positive zu
den Grünen und zur PDS tendenziell mit größerem politischen Interesse einhergehen.
Lediglich
die
nur
wenigen
und
schwachen
signifikanten
Korrelationen
mit
der
Demokratiebewertung deuten auf einen Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und
politischem Desinteresse hin. Allerdings treten auch diese, fünftens, keineswegs systematisch
nur bei Frauen auf, sondern - wenn auch nicht in denselben Erhebungsjahren - gelegentlich
bei Frauen, gelegentlich bei Männern. Schließlich zeigen sich sechstens zwischen der
Bewertung der demokratischen Realität und der Teilnahme an politischen Diskussionen in
manchen Erhebungsjahren negative Zusammenhänge, in anderen positive.
Zwischen-Fazit 7:
Die bivariaten Zusammenhangsanalysen - auch hier nicht ausgewiesene, die zusätzlich zum
Geschlecht auch nach Alters- und Bildungskategorien differenziert durchgeführt wurden können die These der Politikkritik als Ursache geringen politischen Interesses und/oder
geringer Beteiligung an politischen Diskussionen nicht stützen.
6.
Geschlechtsrollenorientierung und Interesse an Politik sowie Beteiligung an
politischen Diskussionen
Eine der gängigen Thesen zur Plausibilisierung des gender gap im politischen Interesse
rekurriert auf eine Sozialisation der Frauen, die stärker als die der Männer auf den
Privatbereich, auf Familie, Haushalt und Kinder, und weniger auf die Bereiche des
Erwerbslebens, der Öffentlichkeit und der Politik ausgerichtet sei. Jedoch haben sich in den
letzten Jahrzehnten deutliche Verschiebungen in den traditionellen Geschlechtsrollen
entwickelt, d.h. Frauen dringen zunehmend in die außerfamiliäre Sphäre, insbesondere in das
Erwerbsleben, ein. Im folgenden soll daher überprüft werden, wie sich Orientierungen
18
gegenüber diesem Aspekt der Geschlechtsrollen entwickelt haben und ob sie einen
Zusammenhang mit dem politischen Interesse aufweisen. 17
In der Verteilung und Entwicklung dieser Haltungen zur Rolle der Frau, wird - wie erwartbar
- deutlich, daß Frauen häufiger als Männer eine moderne Orientierung aufweisen. Zwischen
den 80er und den 90er Jahren ist bei beiden Geschlechtern ein klarer „Modernisierungsschub“
beobachtbar. Jedoch reichen die Orientierungen der Westdeutschen nicht an die deutlicher
ausgeprägten Überzeugungen der Ostdeutschen über die Wünschbarkeit von Erwerbstätigkeit
der Frau und ihrer Vereinbarkeit mit der Familie heran. Selbst ostdeutsche Männer sind dieser
gegenüber nochmals positiver eingestellt als westdeutsche Frauen.
Grafik 14a
Sowohl im Westen als auch im Osten weisen Frauen und Männer mit modernen
Geschlechtsrollenorientierungen eindeutig ein größeres Interesse an Politik auf als Männer
und Frauen mit traditionellen Rollenorientierungen. Jedoch verbleibt ein gender gap - sowohl
zur jeweils unmittelbaren Vergleichsgruppe als auch zwischen den Frauen mit moderner und
den Männern mit traditioneller Rollenorientierung. 18
Grafik 14b
Da moderne Geschlechtsrollenorientierungen verstärkt in den jüngeren und besser
ausgebildeten Bevölkerungsteilen anzutreffen sind, könnte es sich allerdings bei dem Effekt
der Rollenorientierungen auf das politische Interesse um ein Artefakt handeln. Dies ist jedoch
nicht der Fall, wie die Kontrolle nach Alter und Schulbildung zeigt. Zwar reduziert sich der
Effekt, jedoch bleibt in jeder Alters- und Bildungskategorie (mit zwei Ausnahmen: ältere
Männer West, Männer mit mittlerer Schulbildung Ost) bei den Befragten mit modernen
Rollenorientierungen ein Vorsprung im politischen Interesse erhalten.
17
Etwas problematisch ist dabei allerdings, daß in den vorliegenden Studien ausschließlich Haltungen zur Rolle
der Frau zwischen Familie und Beruf (Vereinbarkeit) ermittelt wurden, nicht jedoch Orientierungen gegenüber
der Rolle des Mannes. Allerdings entspricht diese mangelnde Berücksichtigung der Frage, ob für den Mann
Beruf und Familie/Kinder/Haushalt vereinbar seien, durchaus der nach wie vor asymmetrischen Realität in der
Geschlechtsrollenverteilung, die zwar eine Erweiterung der Freiheitsräume der Frauen erlaubt, aber eine
gleichzeitige Doppelbelastung impliziert und bislang kaum eine Veränderung der Rolle der Männer nach sich
gezogen hat.
19
Grafiken 14c-e
Leider ist eine Verknüpfung zwischen Geschlechtsrollenorientierungen und Urteilen zur
Politik nur für das Jahr 1992 möglich. Zu diesem Zeitpunkt äußern sich Männer und Frauen
mit modernen Rollenhaltungen etwas unzufriedener mit der Regierung als Befragte beiderlei
Geschlechts mit traditioneller Rollenhaltung. Im Hinblick auf die Bewertung der Demokratie
trifft dies aber nur in Ostdeutschland zu, während in Westdeutschland Frauen beider
Rollenorientierungen etwas unzufriedener als Männer sind. Darüber hinaus deutet sich an, daß
bei traditioneller und moderner Rollenorientierung ein unterschiedlicher Zusammenhang mit
dem politischen Interesse bestehen könnte, d.h. bei traditioneller Rollenorientierung scheinen
Unzufriedenheit und Desinteresse, bei moderner dagegen Unzufriedenheit und Interesse an
Politik miteinander einherzugehen. Jedoch sind auch diese Zusammenhänge nur schwach und
unsystematisch.
Tabelle 14 f
Zwischen-Fazit 8:
a)
Moderne Rollenorientierungen gehen sowohl bei Frauen als auch bei Männern mit
einem verstärkten Interesse an Politik einher.
b)
Moderne
Rollenorientierungen
korrespondieren
jedoch
nicht
mit
größerer
generalisierter Poitikunzufriedenheit.
c)
Somit kann die Annahme, die durch die Wahrnehmung einer der Modernisierung der
Frauenrolle feindlichen Poltik führe zu politischer Unzufriedenheit und diese dann zu
einer Abwendung von politischem Interesse, als unwahrscheinlich gelten.
7. Die Erklärungsansätze im Vergleich
Im folgenden werden wir multivariate Querschnittsanalysen durchführen. Dies ist
erforderlich, um zu prüfen, ob die vier vorgestellten Argumentationsmuster in ihrer
Gesamtheit in der Lage sind, den gender gap zu erklären. Sollte dies nicht der Fall sein, also
auch nach Kontrolle theoretisch plausibler Größen die Variable Geschlecht einen
signifikanten Einfluß auf das politische Interesse entfalten, müßten die Theorien als
mangelhaft gelten. Zudem werden wir in für Frauen und Männer getrennten Analysen der
18
Vgl. zu ähnlichen Befunden Lundmark (1995).
20
Frage nachgehen, ob für beide Geschlechter unterschiedliche Wege zum politischen Interesse
führen.
7.1 Operationalisierung der unabhängigen Variablen
Um die Erklärungsmuster zu überprüfen, verwenden wir folgende Indikatoren. Die situativen
Einflüsse auf das politische Interesse operationalisieren wir zunächst mit drei Merkmalen.
Erstens erfassen wir die Berufstätigkeit der Befragten mit Hilfe einer Dummy-Variable, die
den Wert 1 annimmt, falls jemand einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ansonsten 0 ist. Dabei ist
ein positiver Effekt der Berufstätigkeit auf das politische Interesse zu erwarten. Zweitens
verwenden wir eine Dummy-Variable, die nur für die verheirateten Respondenten 1 wird,
wobei die Literatur einen negativen Effekt vermuten läßt. Drittens erfassen wir das
Vorhandensein von Kindern im Haushalt mit einer dichotomen Variable, die die kinderlosen
Befragten den Interviewten mit Kindern – gleich wie vielen – gegenüberstellt; dabei sollten
Kinder dem politischen Interesse abträglich sein. 19 Neben diesen drei einfachen Termen
verwenden wir einen, der die verschiedenen Merkmale kombiniert und die in der Literatur
formulierte Mehrfachbelastung der Frauen erfassen soll. Diese Variable nimmt den Wert 1 an
für verheiratete Befragte mit Kindern und ohne Erwerbstätigkeit. 20 Da diese Faktoren mit dem
Lebensalter wie auch der Generationenzugehörigkeit zusammenhängen, wir aber die reinen
Effekte dieser Einflußgrößen messen wollen, haben wir das Lebensalter sowohl mit einem
linearen als auch einem quadratischen Term in die Analyse einbezogen; dabei ist der
klassische kurvilineare Zusammenhang zu erwarten. Als strukturelle Größen verwenden wir
die formale Bildung (siehe etwa Sapiro 1983: 90) sowie das Einkommen, wobei in beiden
Fällen ein positiver Effekt auf das Interesse an Politik zu erwarten ist.
Im Vergleich zum situativen und strukturellen Erklärungsmuster ist es relativ schwierig, die
Sozialisationsthese angemessen empirisch zu überprüfen. Diese postuliert, daß in einer
bestimmten Phase des Lebenszyklus eine Reihe von Einstellungen ansozialisiert würden, die
im weiteren Verlauf des Lebens weitgehend stabil blieben. Idealerweise ließe sich dieser
Mechanismus mit Hilfe eines Langfristpanels überprüfen, das Jugendliche durch ihre
Adoleszenz hindurch und einige Jahre darüber hinaus begleitet. Die von uns verwendeten
Querschnittsuntersuchungen erlauben es hingegen nicht, diesen Mechanismus detailliert zu
19
Siehe für diesen Erwartungen widersprechenden Befunde zur Wirkung dieser Größen auf politische
Partizipation von Frauen die Befunde aus der Regionalstudie von Blättel-Mink/Mischau/Kramer (1998).
20
In weiteren Analysen haben wir weitere Kombinationen der verschiedenen Merkmale überprüft, sind jedoch in
keinem Fall zu anderen als den hier berichteten Resultaten gelangt.
21
verfolgen, da wir nicht untersuchen können, ob die fraglichen Einstellungen in der formativen
Phase vermittelt worden sind und seitdem weitgehend unverändert bestehen. Deshalb arbeiten
wir mit folgender Behelfslösung: Wir ziehen solche Einstellungen heran, von denen bekannt
ist, daß sie in der formativen Phase vermittelt werden und über die Zeit einigermaßen stabil
sind, so daß wir unterstellen können, die momentan gemessenen Werte spiegelten den Einfluß
der Sozialisation wider. Als eine solche Attitüde ist das Gefühl politischer Kompetenz
bekannt (vgl. Weissberg 1974: 117; Rapoport 1981: 36; Conway 1985: 28; Bennett/Bennett
1989: 112; Vetter 1997: 16-18). 21 Deshalb beziehen wir einen Index22 zur internal efficacy in
die Analyse ein, um die Sozialisationsthese zu überprüfen.
Das politische Erklärungsmodell bilden wir mit drei Indikatoren ab, die die Unzufriedenheit
mit verschiedenen Facetten der Politik erfassen. Erstens verwenden wir einen Summenindex,
der das Vertrauen in drei zentrale Institutionen des politischen Systems der Bundesrepublik,
nämlich den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung sowie das Bundesverfassungsgericht
mißt. Zweitens dient das Responsivitätsempfinden der Befragten – operationalisiert als
Summenindex23 – als Prädiktor. Neben diesen beiden Indikatoren, die auf die Beurteilung
politischer Institutionen und des Verhaltens der politischen Elite abstellen, berücksichtigen
wir schließlich ein Item, das die Zufriedenheit mit den staatlichen Maßnahmen auf dem
Gebiet der Geschlechtergleichstellung erfaßt. Dieser Indikator sollte es wenigstens
ansatzweise gestatten, die These zu überprüfen, Frauen wendeten sich von der
institutionalisierten Politik ab, da diese die für Frauen relevanten Themen nicht beachte und,
sofern sie handle, unzureichende Maßnahmen ergreife. 24
21
Es kann dabei unseres Erachtens nicht ausgeschlossen werden, daß dieses Kompetenzgefühl in späteren
Lebensphasen durchaus noch wandlungsfähig ist, beispielsweise infolge der Aufnahme oder Aufgabe einer
Berufstätigkeit. Allerdings läßt sich dies hier nicht prüfen.
22
Summenindex aus folgenden Aussagen: „Wichtige politische Fragen kann ich gut verstehen“, „Ich traue mir
zu, in einer Gruppe, die sich mit politischen Fragen befaßt, eine aktive Rolle zu übernehmen“ sowie „Die ganze
Politik ist so kompliziert, daß jemand wie ich nicht versteht, was vorgeht“ (umgepolt).
23
Summenindex aus folgenden Aussagen: „Die meisten Parteipolitiker sind vertrauenswürdige und ehrliche
Menschen“ , „Politiker kümmern sich darum, was einfache Leute denken“, „Bürger haben kaum Möglichkeiten,
auf die Politik Einfluß zu nehmen“, „Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten
interessieren sie nicht“, „Den Parteien geht es nur um die Macht“, „Die meisten Parteien und Politiker sind
korrupt“ (die letzten vier Items umgepolt).
24
Diese Lösung ist insofern unzulänglich, als Frauen, die eine bestimmte Lesart feministischen Bewußtseins
pflegen, staatliche Frauenförderung ablehnen, da sie eine Integration und Anpassung an das männlich dominierte
System befürchten (vgl. Maihofer 1998).
22
7.2
Empirische Analysen
7.2.1 Inwieweit läßt sich der gender gap erklären?
Zur Überprüfung der oben formulierten Hypothesen haben wir getrennt für die alten und
neuen Bundesländer Regressionsanalysen für zwei unterschiedliche Operationalisierungen
politischen Interesses durchgeführt, 25 zum einen mit einer fünfstufigen Variable lineare
Regressionsanalysen,
zum
anderen
mit
der
dichotomisierten
Variante
logistische
Regressionsanalysen.
Die Resultate der multivariaten Analysen sind in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens
nehmen sich die Ergebnisse insofern ernüchternd aus, als den wenigsten der verwendeten
Prädiktoren ein signifikant von Null verschiedener Koeffizient zugewiesen wird. Und auch
die Gesamterklärungsleistung der Modelle erscheint angesichts der Verwendung von 13
unabhängigen Variablen als eher mäßig. Bereits an dieser Stelle scheint jedoch eine
wesentliche Differenz zwischen den Modellen mit dichotomisierter und fünfstufiger
abhängiger Variable ins Auge: erstere läßt sich – selbst wenn man die generell geringeren
Erklärungsleistungen mit logistischen Modellen26 in Rechnung stellt (vgl. Urban 1993: 62-63)
– weitaus schlechter erklären als letztere.
Die Kernfrage, inwieweit die vier skizzierten Erklärungen in der Lage sind, den gender gap
im Hinblick auf das politische Interesse zu erklären, ist differenziert zu beantworten. Legt
man die dichotomisierte abhängige Variable zugrunde, verbleibt weder in West- noch in
Ostdeutschland ein signifikanter Effekt des Geschlechts, wenn die übrigen Prädiktoren in das
Modell eingeführt worden sind. Anders im Falle der fünfstufigen abhängigen Variable: Hier
vermögen diese Größen den gender gap zwar zu vermindern, aber können ihn nicht
eliminieren. Für diese Divergenz könnte das Problem verantwortlich sein, daß die fünfstufige
Interesse-Variable stärker von Effekten der sozialen Erwünschtheit tangiert wird als die
dichotomisierte.
Für die einzelnen Argumente ist die empirische Evidenz außerordentlich gemischt. Das
Lebensalter, das hier lediglich als eine Kontrollvariable dient, spielt keine Rolle, was gegen
die Existenz eines genuinen Alterseffekts spricht und die bivariaten Zusammenhänge in den
vorangegangenen Abschnitten als Scheinkorrelationen erscheinen läßt. Situative Faktoren
bleiben in West- wie auch in Ostdeutschland beinahe ohne jede Wirkung. Insbesondere
erstaunt es, daß nicht einmal die Rolle der verheirateten Hausfrau und Mutter die politische
25
Den Analysen liegt der aus dem DFG-Projekt „Politische Einstellungen, politische Partizipation und
Wählerverhalten im vereinigten Deutschland“ hervorgegangene Datensatz (ZA-Nr. 3064) zugrunde.
26
Wir verwenden das von Andreß/Hagenaars/Kühnel (1997: 291) vorgeschlagene, konservative Pseudo-R².
23
Abstinenz spürbar fördert. Folglich sind beispielsweise von Veränderungen in der
Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann kaum direkte Effekte auf die Angleichung im
politischen Interesse erwarten. Allerdings sind indirekte Wirkungen nicht ausgeschlossen, da
Veränderungen in der Arbeitsteilung Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Klima und
damit auch die Sozialisationsmuster haben könnten.
Das strukturelle Erklärungsmodell scheint der Realität eher gerecht zu werden. Denn
zumindest die formale Bildung beeinflußt das politische Interesse nachhaltig. Neben dem
substantiellen Befund verdient in diesem Zusammenhang ein methodisches Ergebnis
Aufmerksamkeit: Die dichotomisierte Interesse-Variable bleibt von der formalen Bildung
vollkommen unberührt, während die fünfstufige Variante der abhängigen Variable deutliche
Bildungseffekte hervorbringt. Dies nährt den Verdacht, daß diese Meßmethode stärker unter
Effekten der sozialen Erwünschtheit leidet: Es könnte für Menschen mit höherer formaler
Bildung erstrebenswerter scheinen, als politisch interessiert zu gelten, als für solche mit
niedrigerem Bildungsabschluß, was gewissermaßen in einen bildungsbürgerlichen Bias der
Messung mündet (siehe van Deth 1990: 283-284). Jedoch läßt sich diese Frage hier nicht
abschließend klären.
Die Indikatoren, die das jüngste Erklärungsmuster für den gender gap repräsentieren, sind
empirisch nicht vollkommen irrelevant. Jedoch gilt dies für die einzelnen Facetten in
unterschiedlichem Maße: In den alten Bundesländern begünstigt das Gefühl, die politischen
Akteure kümmerten sich um die Belange der Bürger das politische Interesse; dagegen fördert
in den neuen Ländern vor allem das Vertrauen in Bundestag, Bundesregierung und
Bundesverfassungsgericht die politische Involviertheit Das Item zur Frauenförderung bleibt
ohne jede direkte Wirkung. Daraus sollte man jedoch nicht schließen, daß diese Einstellung
keinerlei Einfluß auf das politische Interesse hat. In hier nicht berichteten Analysen zeigt sich
nämlich, daß sie die Zufriedenheit mit den entsprechenden staatlichen Maßnahmen in Westwie auch in Ostdeutschland das Vertrauen in die Institutionen und die external efficacy
beeinflussen. Vermittelt über diese allgemeinen Einschätzungen zum politischen System und
seinen Akteuren hat die Bewertung der Gleichstellungspolitik also eine indirekte Wirkung auf
das politische Interesse.
Den vorteilhaftesten Eindruck von allen vier skizzierten Erklärungsmodellen hinterläßt die
Sozialisationsthese. Erstens leistet die internal efficacy, die als Indikator hierfür dient, in
jedem Falle einen deutlich von Null verschiedenen Beitrag zur Erklärung des politischen
Interesses. Zweitens, und mindestens ebenso wichtig, verschwindet die Geschlechterkluft im
Laufe der statistischen Analysen erst nach Einbeziehung dieser Variable. Folglich scheint das
24
Gefühl politischer Kompetenz die zentrale Größe zu sein, wenn es darum geht, den gender
gap zu erklären. Und sofern dieses Kompetenzgefühl tatsächlich in der formativen Phase
vermittelt wird und danach relativ stabil ist, läßt sich folgern, daß die Wurzeln des gender gap
hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich in der frühen politischen Sozialisation liegen.
- Tabelle 14 und 15 -
Zwischenfazit:
1. Der gender gap im politischen Interesse läßt sich mit den vorgestellten Argumente
auflösen, wenn man die dichotomisierte Variante der abhängigen Variable verwendet,
nicht jedoch im Falle der differenzierten Version.
2. Von den vorgestellten Modellen schneidet die sozialisationstheoretische Argumentation
am besten ab. Deutlich in deren Schatten steht die jüngste Erklärung, die jedoch einen
durchaus spürbaren Erklärungsbeitrag leistet. Strukturelle, insbesondere aber situative
Faktoren zeitigen im Vergleich dazu nur sehr schwache direkte Wirkungen.
7.2.2 Führen für Frauen und Männer unterschiedliche Wege zu politischem Interesse?
Das spezifisch weibliche Politikverständnis wird nicht nur herangezogen, um Differenzen
hinsichtlich des politischen Interesses zu rechtfertigen oder zu erklären, sondern dient auch
dazu, für beide Geschlechter unterschiedliche Gründe für politisches Engagement zu
postulieren (vgl. etwa Hoecker 1996: 23; siehe Schlozman/Burns/Verba 1994: 964;
Verba/Burns/Schlozman 1995: 445-448). Um zu prüfen, ob diese Behauptung in bezug auf
das politische Interesse empirisch haltbar ist, haben wir die im vorhergehenden Abschnitt
präsentierten Analysen nochmals getrennt für Frauen und Männer durchgeführt.
Die Resultate zu den einzelnen Erklärungsversuchen entsprechen weitgehend den Ergebnissen
der Analysen, die Frauen und Männer simultan einbeziehen. Wiederum beeinflußt weder das
Lebensalter noch die aktuellen Lebensumstände das politische Interesse nachdrücklich.
Besser schneidet der strukturelle Erklärungsansatz ab. Zwar bleibt die formale Bildung im
Falle der dichotomisierten abhängigen Variable wirkungslos, doch entfaltet sie für die
fünfstufige Version in allen Subgruppen eine merkliche Wirkung. Der Tendenz nach stützt
dieses Ergebnis das strukturelle Argument und unsere methodischen Überlegungen zur
Messung des politischen Interesses. Dagegen verblaßt das Einkommen etwas, da es nur bei
westdeutschen Männern einen Effekt zeitigt.
25
- Tabelle 16 und 17 -
Den beiden verbleibenden Argumenten kommt eine relativ große Erklärungskraft zu. Das
Sozialisationsargument schneidet mit einer kleinen Ausnahme in sämtlichen acht Analysen
ausgezeichnet
ab.
Unter
den
Indikatoren
für
politische
Zufriedenheit
hat
das
Responsivitätsgefühl nur in Westdeutschland, aber für beide Geschlechter einen positiven
Effekt. Beinahe komplementär dazu wirkt das Vertrauen in zentrale politische Institutionen
nur unter ostdeutschen Frauen positiv, während es unter ostdeutschen Männern einen
tendenziell negativen Effekt hat. Die policy-Komponente spielt eine nachgeordnete Rolle:
Einzig unter westdeutschen Männern ist ihre Wirkung spürbar, aber nicht – wie von
feministischer Seite postuliert – unter Frauen.
Bei einem abschließender Vergleich der Koeffizientenmuster zwischen Frauen und Männern
überwiegen die Ähnlichkeiten die Unterschiede bei weitem. Nur in fünf von 48 Fällen stellt
sich in einem paarweisen Vergleich heraus, daß ein Faktor nur für ein Geschlecht ein Faktor
wirkungsvoll ist. Folglich gibt es zwar Unterschiede im kleinen. Diese rechtfertigen es jedoch
nicht, davon zu sprechen, daß für Frauen und Männer unterschiedliche Mechanismen zur
Vermittlung politischen Interesses führen. Sofern diese Mechanismen tatsächlich mit dem
Politikverständnis korrespondieren, wäre weitergehend zu folgern, daß sich Frauen und
Männern in ihrem Politikverständnis weitgehend ähnlich sind.
8.
Schlußbemerkungen
Ziel unseres Beitrages war es, die Entwicklung und Ursachen des gender gap im politischen
Interesse in der Bundesrepublik zu untersuchen. Erstens hat sich gezeigt, daß auch am Ende
der neunziger Jahre noch eine solche Geschlechterkluft besteht, zwar in leicht abgeschwächter
Form, aber nach wie vor spürbar. Neben drei traditionellen Erklärungsmustern, dem
sozialisationstheoretischen, dem situativ und dem strukturell argumentierenden, haben wir
unser Augenmerk auf eine neue Argumentation gelegt: Insbesondere von feministischer Seite
wird argumentiert, in dem geringeren politischen Interesse von Frauen spiegele sich
gleichsam eine Entfremdung der Frauen von der institutionalisierten Politik, da diese in Stil
und Inhalt den weiblichen Wünschen nicht gerecht werde. In den empirischen Analysen
haben sich nur wenige Anhaltspunkte ergeben, die diese Sichtweise zu stützen vermögen: Die
genannten Faktoren sind zwar nicht vollkommen irrelevant, wenn es darum geht,
26
Unterschiede im politischen Interesse zwischen Frauen und Männern zu erklären, doch
verbleibt der Erklärungsbeitrag relativ gering. Zwar schneidet dieses Modell besser ab als die
situativen
und
strukturellen
Überlegungen,
doch
wird
es
vom
klassischen
Sozialisationsmodell in der hier gewählten Operationalisierung in den Schatten gestellt.
Vor dem Hintergrund dieser Befunde erscheinen die Aussichten, den gender gap rasch zu
schließen, eher schlecht. Da die kurzfristig variablen Einflußfaktoren, wie die politische
Programmatik, das Spitzenpersonal und der politische Stil, lediglich einen marginalen Beitrag
leisten, die Geschlechterkluft zu erhellen, kann die Angebotsseite am politischen Markt kaum
direkt und mit rasch sichtbaren Erfolgen daran mitwirken, den gender gap abzubauen. Auch
Regelungen, die einseitig auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit nur für
Frauen zielen, ohne das traditionelle Rollenbild der Männer zu tangieren, dürften kaum rasch
Früchte tragen. Das bedeutet jedoch nicht, daß der vorgefundene Unterschied unveränderlich
sei. Größere Erfolge sind von langfristig angelegten Prozessen, die die in der Gesellschaft
vorherrschenden und in der Sozialisation vermittelten Rollenmuster aufbrechen, zu erwarten.
Ob solche Prozesse allerdings in Gang kommen und bleiben, ist nicht zuletzt von einer
Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und der für Frauen und Männer
unterschiedlichen Optionen der Lebensführung abhängig.
Neben diesen substantiellen Befunden hat unsere Analyse auch ein wesentliches
methodisches Resultat an den Tag gebracht. Die Ergebnisse empirischer Analysen des
politischen Interesses hängen nicht unwesentlich vom Grad der Differenziertheit ab, mit dem
politisches Interesse gemessen wird. Je mehr Abstufungsmöglichkeiten berücksichtigt
werden, umso größer fällt der gender gap aus und umso resistenter zeigt er sich gegenüber
Versuchen, ihn auf die vier skizzierten Erklärungsansätze zurückzuführen. Dies kann als
Anhaltspunkt für einen nach dem Geschlecht unterschiedlich stark ausgeprägten Effekt
sozialer Erwünschtheit gewertet werden.
Diese Resultate bieten sich als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen an. Erstens ist zu
fragen, inwieweit sich die Differenzen zwischen der mehrstufigen und der im nachhinein
dichotomisierten Variante der abhängigen Variable auf einen Vergleich zwischen einer
skalierten und einer bereits dichotom erhobenen Interessevariable übertragen lassen. Zweitens
bleibt zu klären, inwieweit diese Befunde der Messung politischen Interesses Folgen für
andere Analysen hat, die das politisches Interesse beispielsweise als unabhängige Variable
verwenden. Drittens folgt daraus die Frage, inwieweit auch bei anderen Variablen
möglicherweise
eine
unbefriedigende
Äquivalenz
der
Frageformulierung
oder
Antwortvorgaben zwischen den Geschlechtern vorliegt. Viertens sollte unbedingt die
27
feministische Spekulation, das in Umfragen erhobene politische Interesse messe
ausschließlich die Aufmerksamkeit für institutionalisierte Politik, einer empirischen Prüfung
unterzogen werden. Schließlich bleibt zu klären, ob die politische Sozialisation tatsächlich der
entscheidende Faktor zur Erklärung der Geschlechterkluft ist. Um diesen Beweis stringent
führen zu können, sind langfristige Paneluntersuchungen, trotz aller Probleme, die damit
verknüpft sind, unabdingbar und deshalb wünschenswert.
28
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(im Erscheinen).
33
Von den im Text erwähnten Tabellen und Graphiken finden sich im
folgenden Anhang aus technischen Gründen lediglich die Tabellen 14 bis
17. Alle übrigen Tabellen und Graphiken werden auf der Tagung in einem
Handout verteilt.
Tabelle 14: Logistische Regression der dichotomisierten Interesse-Variable (unstandardisierte
Logitkoeffizienten; in Klammern Standardfehler)
Prädiktoren
Westdeutschland
Ostdeutschland
Geschlecht
-,57
-,24
(,31)
(,41)
Bildung
,28
,64
(,22)
(,39)
Einkommen
-,02
-,10
(,07)
(,11)
Berufstätigkeit
,37
,68
(,35)
(,50)
Familienstand
,17
,32
(,33)
(,48)
Kinder im Haushalt
,05
,49
(,41)
(,59)
Verheiratet, keine
,54
1,14
Erwerbstätigkeit, Kinder
(,65)
(1,41)
Alter
-,09
,04
(,05)
(,07)
Alter quadriert
,001
-,000
(,001)
(,001)
Politische Kompetenz
,78***
1,07***
(,16)
(,25)
Institutionenvertrauen
,31
,57 *
(,17)
(,24)
Responsivität
,75***
-,49
(,22)
(,33)
Zufriedenheit mit Gleichstellung
-,55
-,03
(,56)
(,76)
Konstante
-,29
-3,36
(1,43)
(1,90)
-2LL
Modell- χ²
Devianzreduktion (in %)
df
Korrekte Prognosen (in %)
N
564,2
101,3***
15,6
13
94,5
1322
268,1
45,5***
12,1
13
94,9
714
Soweit nicht anders vermerkt, sind die Koeffizienten statistisch insignifikant. Signifikanzniveaus: *: p<0,05, **:
p<0,01, ***: p<0,001.
34
Tabelle 15: Lineare Regression der fünfstufigen
Regressionskoeffizienten)
Prädiktoren
Westdeutschland
Geschlecht
-,13***
Bildung
,23***
Einkommen
,02
Berufstätigkeit
-,01
Familienstand
,06 *
Kinder im Haushalt
-,05
Verheiratet, keine
-,05
Erwerbstätigkeit, Kinder
Alter
,05
Alter quadriert
,02
Politische Kompetenz
,37***
Institutionenvertrauen
-,03
Responsivität
,10***
Zufriedenheit mit Gleichstellung
-,02
Konstante
1,02***
Korrigiertes R² (in %)
Standardfehler
N
32,7
,82
1308
Interesse-Variable
(standardisierte
Ostdeutschland
-,10**
,19***
-,03
,05
,05
-,01
-,01
,22
-,03
,44***
,02
-,05
-,03
,71 *
29,7
,80
693
Soweit nicht anders vermerkt, sind die Koeffizienten statistisch insignifikant. Signifikanzniveaus: *: p<0,05, **:
p<0,01, ***: p<0,001.
35
Tabelle 16: Logistische Regression der dichotomisierten Interesse-Variable (unstandardisierte
Logitkoeffizienten; in Klammern Standardfehler)
Prädiktoren
Westdeutschland
Ostdeutschland
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Bildung
,07
,85
,96
,65
(,27)
(,44)
(,55)
(,63)
Einkommen
,08
-,32**
-,08
-,13
(,08)
(,12)
(,17)
(,15)
Berufstätigkeit
,37
,11
1,04
,13
(,41)
(,76)
(,73)
(,77)
Familienstand
,05
,36
-,39
1,75
(,40)
(,73)
(,69)
(,89)
Kinder im Haushalt
-,09
,55
-,35
7,98
(,48)
(,84)
(,77)
(26,85)
Verheiratet, keine
1,14
-2,40
2,91
-2,27
Erwerbstätigkeit, Kinder
(,79)
(1,32)
(1,73)
(91,48)
Alter
-,11
-,002
,05
,06
(,07)
(,11)
(,11)
(,11)
Alter quadriert
,001
-,000
-,000
-,001
(,001)
(,001)
(,001)
(,001)
Politische Kompetenz
,88***
,43
1,51***
,98 *
(,19)
(,33)
(,39)
(,45)
Institutionenvertrauen
,28
,44
1,24***
-,32
(,19)
(,38)
(,35)
(,47)
Responsivität der Parteien
,69**
,90
-,36
-,57
(,25)
(,46)
(,44)
(,58)
Zufriedenheit
-,27
-1,87
-,13
,39
mit Gleichstellung
(,65)
(1,25)
(,98)
(1,52)
Konstante
-,72
,76
-7,37 *
,02
(1,63)
(2,85)
(3,10)
(2,71)
-2LL
386,7
Modell- χ²
68,4***
Korrigiertes Pseudo-R² (in %) 14,5
df
12
Korrekte Prognosen (in %)
92,3
N
701
158,4
30,3**
11,5
12
97,2
621
161,2
45,5***
20,7
12
94,4
360
104,6
24,5 *
11,8
12
96,4
354
Soweit nicht anders vermerkt, sind die Koeffizienten statistisch insignifikant. Signifikanzniveaus: *: p<0,05, **:
p<0,01, ***: p<0,001.
36
Tabelle 17: Lineare Regression der fünfstufigen Interesse-Variable (standardisierte
Regressionskoeffizienten)
Prädiktoren
Westdeutschland
Ostdeutschland
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Bildung
,24***
,22***
,28***
,13 *
Einkommen
,03
,01
-,02
-,04
Berufstätigkeit
,05
-,10 *
,04
,01
Familienstand
,08
,06
,04
,07
Kinder im Haushalt
-,05
-,04
-,08
,05
Verheiratet, keine
-,02
-,06
,06
-,08
Erwerbstätigkeit, Kinder
Alter
-,13
,35
,11
,40
Alter quadriert
,25
-,35
,15
-,28
Politische Kompetenz
,35***
,38***
,46***
,42***
Institutionenvertrauen
-,03
-,04
,04
-,003
Responsivität der Parteien
,10 *
,11**
-,04
-,04
Zufriedenheit mit
,02
-,07 *
-,01
-,04
Gleichstellung
Konstante
,77 *
,97**
,25
,86
Korrigiertes R² (in %)
Standardfehler
N
26,0
,83
682
28,1
,81
625
32,4
,78
354
21,4
,83
338
Soweit nicht anders vermerkt, sind die Koeffizienten statistisch insignifikant. Signifikanzniveaus: *: p<0,05, **:
p<0,01, ***: p<0,001.
37
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