Dieses Manuskript stimmt nicht unbedingt mit dem Wortlaut der Sendung überein. Es darf nur zur Presse- und Hörerinformation verwendet und nicht vervielfältigt werden, auch nicht in Auszügen. Eine Verwendung des Manuskripts für Lehrzwecke sowie seine Vervielfältigung und Weitergabe als Lehrmaterial sind nur mit Zustimmung der Autorin/des Autors zulässig. hr2-kultur – Camino – Religionen auf dem Weg Sonntag, 27.09.2015 11:30 Uhr Schweigen reicht nicht Wo steht die evangelische Sexualethik? Von Michael Hollenbach Musik: Let’s talk about sex (kurz frei, dann drunter legen) 1. (Schmidt) Ich glaube, die Gesellschaft kommt überhaupt nicht klar mit ihrer Sexualität und ihrer Moral in dieser Beziehung. Wir brauchen da dringend eine Klärung und einen gesellschaftlichen Konsens. 2. 35:35 (Jung) Eine Sexualethik ist sicher ausgesprochen hilfreich und gut, wenn sie Orientierung gibt und nicht (…) als moralisch erhobener Zeigefinger auftritt. 3. 0:55. (Sielert) Wir brauchen so was, obwohl jeder einzelne zwar ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung hat, aber andererseits sind wir immer in Beziehung und gerade in der Sexualität spielt das In-Beziehung-Sein eine große Rolle. Und das heißt, in unserer Gesellschaft ist es notwendig, über die vielen Facetten (…) über die Schwierigkeit von gelingender Sexualität in den Austausch zu treten. 4. 35:45: (Jung) Wir sind in einer Gesellschaft, in der Sexualität eine große Rolle spielt, insbesondere medial, und da ist es schon hilfreich an bestimmten Punkten, zu sortieren und zu bewerten. 5. 7:40: (Schmidt) Ich empfinde es in der Gesellschaft so, dass es wieder in großen Teilen Rückschritte gibt, wo wir in der Emanzipation schon weiter waren. Auch solche Fragen von getrennten Sportunterricht von Mädchen und Jungen, Kleiderfragen spielen wieder eine größere Rolle, kann man noch ein Top tragen, wo der Bauchnabel zu sehen ist. Der Wiesbadener Pfarrer Ralf Schmidt, der Darmstädter Kirchenpräsident Volker Jung und der Kieler Sexualpädagoge Uwe Sielert sind sich einig: nicht nur die Kirchen, auch die Gesellschaft braucht eine neue Sexualethik als Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen. Musik Let’s talk about sex Zeitgemäße Positionen wären gefragt. Doch die katholische Kirche verharrt mit ihrer offiziellen Sexualmoral noch immer in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Kein Sex vor der Ehe, keine Verhütungsmittel, praktizierte Homosexualität als Sünde. Positionen, die hierzulande kaum jemand ernst nimmt, und selbst die katholischen Basis stimmt selten mit der vatikanischen Morallehre überein. Aber auch die evangelische Amtskirche tut sich schwer mit einer modernen Sexualethik. Eine Kommission der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, die eine Denkschrift zur Sexualethik ausarbeiten sollte, wurde im vergangenen Jahr wieder aufgelöst. Musik: Let’s talk about sex (abwürgen) Der Kieler Sexualpädagoge Uwe Sielert war Mitglied dieser EKDKommission: 6. 6:33 (Sielert)Bei diesem Entwurf zur Sexualethik ist die Angst da gewesen, beim Rat der Evangelischen Kirche, dass eine gewisse Gruppierung (..), ich spreche die Evangelikalen konkret an, da nicht mitgehen. Und die Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle, Autorin des Buches „Liebe in der Moderne“, meint: 7. 16:05 (Karle) Das hat sicher mit den großen Verunsicherungen zu tun, weil es auf diesem Feld doch einen rasanten und extremen Wandel gegeben hat, und dieser Wandel ist zwar offensichtlich und auch für viele Menschen in der Kirchenleitung offensichtlich, aber man hat jetzt Angst, da ranzugehen. Diese Angst hat einen Anlass: Eine Orientierungsschrift der EKD zum Thema Familie hat vor zwei Jahren zu derart kontroversen Debatten über das protestantische Ehe- und Familienverständnis geführt, dass die Kirchenleitung eine noch schärfere Diskussion über die Sexualethik vermeiden wollte. Volker Jung ist Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und einer der Autoren der umstrittenen EKDFamilienschrift. Er kennt die enorme Spannbreite im Protestantismus: 8. 38:40: (Jung)Es ist sicher ein Hinweis darauf, dass das protestantische Lager (…) Positionen in sich trägt, die sehr weit auseinanderliegen. Das ist ja mit Blick auf das Thema Homosexualität immer noch zu sehen, dass - glaube ich - sehr viele erkannt haben, dass eine Neubewertung von Homosexualität nötig ist. Auf der anderen Seite aber auch eine stramm biblisch orientierte Richtung sagt: Nein, hier ist eine deutliche biblische Vorgabe, über die wir nicht hinweggehen können. Stramm biblisch orientiert ist Hartmut Steeb. Er ist seit fast 25 Jahren Generalsekretär der Evangelischen Allianz, eines Netzwerkes konservativer evangelikaler Protestanten. Hartmut Steeb ist der Ansicht, die Kirche braucht keine neue Sexualethik: 9. 21:05 (Steeb) Weil die Sexualethik von meiner Einstellung klar ist seit eh und je. Wir haben klare Positionen im biblischen Wort, und ich verstehe nicht, warum man jetzt eine neue Ethik bräuchte. Denn die Ethik ist dieselbe, wie wir sie schon seit Jahrhunderten haben. Eske Wollrad von den Evangelischen Frauen und Martin Rosowski von der Männerarbeit stehen am anderen Rand des protestantischen Spektrums. Sie fordern eine zeitgemäße Sexualethik. Ihr Credo: Nicht allein die Ehe – auch nicht die gleichgeschlechtliche Ehe - könne und müsse Ort und Hort einer glücklichen Beziehung sein: 10.O-Ton. 1:36:32 (Rosowski) Wir gehen noch einen Schritt weiter: uns geht es um das Aufbrechen von Stereotypen (..), weil wir uns mit den Normen der Heterosexualität und der Zweigeschlechtigkeit viel zu sehr einengen. // (Wollrad) Wir stellen die Frage: wie ernst ist es der Kirche mit der Öffnung? Deswegen stellen wir auch die Frage nach der Akzeptanz von Single-Lebensformen ebenso wie polyamoren Lebensformen. 11.22:42 (Steeb) Meines Erachtens ist die Sexualethik die klare Positionsbestimmung, die wir von der Bibel her haben: Die Sexualität zwischen Mann und Frau ist in der Bibel vorgegeben. Sprecherin: Seid fruchtbar und mehret euch und regt euch auf Erden, dass euer viele darauf werden. 12.Das ist im Schöpfungsbericht klar formuliert, hat eine klare Zielbestimmung, und diese Sexualethik ist klar: Wir sind dazu geschaffen, dass wir als Mann und Frau auch bis hinein ins Körperliche Gemeinschaft haben können, geschlechtliche Gemeinschaft auch haben können, und das Ganze hat auch eine Einbettung in eine verlässliche Gemeinschaft. Für den Generalsekretär der Evangelischen Allianz ist die gleichgeschlechtliche Ehe, die „Ehe für alle“, ein Irrweg: 12. 24:25: (Steeb)Ich bin der Meinung, dass die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau der schöpfungsgemäß Richtige ist und dass darauf der Segen Gottes ruht. Gelebte Homosexualität ist für ihn Sünde: 13. 32:05: (Steeb)Sünde bedeutet eine Zielverfehlung dessen, was Gott sich eigentlich gedacht hat. Wenn Sie das so formulieren, würde ich sagen: Ja. Das sieht auch Sachsens neuer Landesbischof Carsten Rentzing so: Möglichst keine homosexuellen Pastoren ins Pfarrhaus, und ein kirchlicher Segen für Homosexuelle ist allenfalls als ein Akt der Seelsorge denkbar. 14. 19:55: (Scior)Ich halte es für eine Unverschämtheit, dass es Landeskirchen gibt, die sich mit diesem Thema nicht inhaltlich auseinandersetzen. Das ist eine Diffamierung. Empört sich der Frankfurter Wilhelm Scior, der kürzlich seinen Partner geheiratet hat – mit einer kirchlichen Trauung. 15. 21:00 (Scior)Ich bin froh, dass ich in dieser Landeskirche bin und nicht in einer anderen Landeskirche, das ist unerträglich. Event. Atmo: „homosexuelle Trauzeremonie“ Vor zwei Jahren wurde in der Landeskirche von Hessen und Nassau die bisherige Segnung homosexueller Paare der konventionellen Trauung weitgehend gleichgestellt. Kirchenpräsident Volker Jung: 16. 46:05: (Jung) In dieser Frage ist immer noch Bewegung, ist immer noch Sprengstoff drin, allerdings ist es so, dass sich die Debatten etwas beruhigt haben, weil auch gesellschaftlich klar geworden ist, dass Homosexualität eine Neubewertung braucht, dass es weder als Krankheit noch als Sünde verstanden werden kann, sondern als eine mögliche Veranlagung von Menschen, die auch verantwortlich und gut gelebt werden kann. Damit wird deutlich, wie weit sich die meisten Landeskirchen von der alten Denkschrift der EKD zur Sexualethik verabschiedet haben. In dem Papier von 1971 ist zu lesen: Sprecherin: Die evangelische Kirche versteht die Homosexualität als sexuelle Fehlform. (…) Individuell gestört ist entweder das Verhältnis zur eigenen Geschlechtsrolle oder das zum anderen Geschlecht. Und die evangelischen Wissenschaftler der damaligen Kommission diagnostizieren: Sprecherin: Häufig ist eine Fehlentwicklung der Sexualität in frühen Kindesalter Ursache für Homosexualität. (…) Bei anderen Homosexuellen ist die Hinwendung zum anderen Geschlecht gehemmt durch angeborene oder erworbene hirnorganische Schäden. Und die Kommissionsempfehlung lautet: Sprecherin: Beratung und Therapie können helfen, die Scheu vor der heterosexuellen Bindung zu überwinden. In anderen Fällen ist eine medikamentöse oder operative Behandlung mit dem Ziel möglich, die drängende homosexuelle Triebhaftigkeit zu mildern. Positionen aus der EKD-Denkschrift von 1971, die auch heute noch teilweise von evangelikalen Christen vertreten werden. Für Hartmut Steeb ist die Bibel die letzte Instanz – auch in Fragen der Sexualität: 17. 27:55. (Steeb)Ich sehe das Wort Gottes als eine Bedienungsanleitung für ein gelingendes Leben. 18. 40:00 (Jung) Die Bibel ist kein Buch, die eine Handlungsanweisung für alle Situationen gibt. Sagt dagegen Volker Jung. 19. 40:10: Die Bibel ist auch kein Buch, wo man eine vorgegeben Lehre einfach übernehmen kann, und dann genau wüsste, was zu tun ist. Die Bibel gibt uns eine bestimmte Sicht auf die Welt und auf den Menschen vor und trägt in sich aber auch immer die Herausforderung, dies jeweils für die eigene Situation neu herauszufinden, was sinnvoll und gut zu tun ist. Musikakzent Innerprotestantischer Streit herrscht nicht nur beim Thema Homosexualität, sondern auch beim Eheverständnis. Für Hartmut Steeb ist die Ehe quasi sankrosankt; Sex vor oder außerhalb der Ehe lehnt er ab: 20. 27:10(Steeb) Die Bibel spricht davon, dass Mann und Frau eins werden, sozusagen ein richtiger gemeinsamer Körper, und eine solche tiefe Vereinigung, die braucht auch einen Schutzraum und dieser Schutzraum ist die Ehe, den Gott selber vorgesehen hat und es ist gut für die Menschen, wenn sie sich daran halten. 21. 48:37 (Jung) Das war lange Zeit die Grundvorgabe auch evangelischer Sexualethik, dass man Sexualität ganz eng mit Ehe in Verbindung gebracht hat. (..) Aber eine ausschließliche Begrenzung der Sexualität auf einen ehelichen Zusammenhang verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Für den südhessischen Kirchenpräsidenten Volker Jung ist klar, dass eine Institution wie die Ehe für den Menschen da sein muss und nicht umgekehrt: 22. 54:26 (Jung) Es ist aber selbstverständlich auch möglich, in anderen Beziehungsformen Verantwortung füreinander und miteinander zu leben. Insofern würde ich diese Wertorientierung ganz oben anstellen und sagen: Institutionen sollen Menschen helfen, dies füreinander zu leben, das bedeutet aber nicht, dass Institutionen ausschließlich der Ort sind, in denen dies gelebt werden kann. In einer Partnerschaft ohne Trauschein könne genauso guter oder schlechter Sex gelebt werden wie in einer Ehe: 23. 55:20 (Jung) Sexualität sollte eingebunden sein in verantwortungsvoll gelebte Beziehungen. Das ist das Entscheidende, dass Menschen hier auf Augenhöhe ihre Sexualität leben und dass sich dabei respektieren, nicht ausnutzen, verachten, das sind entscheidende Punkte. Musikakzent ev. Je t’aime, nur kurz den Anfang instrumental Der Rat der EKD hat seine Kommission zur Sexualethik vor eineinhalb Jahren aufgelöst. Doch einige der Kommissionsmitglieder haben nun ein Buch mit ihren Ergebnissen vorgelegt. Der Titel: unverschämt schön. Sexualethik – Evangelisch und lebensnah. Einer der Autoren ist der Sexualpädagoge Uwe Sielert: 24. 9:00 (Sielert)Eine große Aspektverschiebung ist sicherlich, dass auch die Lust unter dieses Label der Gabe Gottes gesetzt wird, also Lust eine begrüßenswerte Möglichkeit des Menschen ist, lebendig zu sein, sich fortzupflanzen, aber auch Identität zu stiften. (..) Also Lust wird aus dem Bereich des Schmuddeligen oder des Gefährlichen herausgeholt. Das Ausleben sexueller Lust ist nicht nur auf die Ehe beschränkt, sagt auch Volker Jung: 25. 57:07 (Jung) Sexualität hat unterschiedliche Formen und meines Erachtens ist Sexualität besonders wertvoll dann, wenn sie auch in einer von Liebe getragenen Beziehung gelebt wird, man muss aber auch ganz ehrlich sagen, dass es gelebte Sexualität gibt, die außerhalb von Liebesbeziehungen stattfindet. Auch hier ist meines Erachtens der oberste Wert, der anzulegen ist, die verantwortlich gelebte Sexualität. 26. 14:40 (Sielert)Insofern sind sexuelle lustvolle Beziehungen ethisch-evangelisch hoffähig, auch wenn sie sich vor der Ehe ereignen oder ohne Ehe ereignen. Nun muss man bei der Extremform des One-Night-Stand (..) es dem Einzelnen überlassen: gelingt es, Lust auch in einer kurzfristigen Begegnung so zu leben, dass sie von Respekt begleitet ist. Musikakzent Rap Doch viel höher als beim Sex der Erwachsenen schwappen die emotionalen Wogen, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Als die Landesregierungen in Baden-Württemberg und Niedersachsen neue Schwerpunkte in der Sexualerziehung setzen wollten, war der Aufschrei groß. Die Landesregierungen aus SPD und Grünen fordern in den Schulen mehr Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen wie zum Beispiel Homosexualität. In einer Landtagsentschließung in Niedersachsen heißt es zum Beispiel: Sprecherin: Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität müssen an der Schule verbindlich thematisiert werden, um alle Kinder und Jugendlichen bei der Entwicklung ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität zu unterstützen, gegenseitiges Verständnis zu fördern und Diskriminierung durch Ausgrenzung und Mobbing vorzubeugen. Auf heftige Kritik stoßen solche Vorstellungen vor allem bei konservativen Christen, aber auch bei traditionellen Muslimen. Auf einer Demonstration in Hannover war auf einem Flugblatt zu lesen: Sprecher: Sexuelle Verführung von Kindern in der Schule droht! Sind Sie dafür, dass unsere Kinder schon ab der Grundschule von Lehrern angeleitet werden, Sexspiele zu betreiben und miteinander zu schlafen? Homosexuelle Beziehungen einzugehen? Die Ideologie des Genderismus zu akzeptieren? ….. Diese abstrusen Vorwürfe zeigen, wie emotionalisiert die Auseinandersetzung um die Frühaufklärung der Kinder geführt wird. Eberhard Freitag ist Leiter einer Beratungsstelle zur Mediensucht. Träger dieser Beratungsstelle „Return“ sind die Freikirchen. Der hannoversche Pädagoge kritisiert die Ausrichtung der Bildungspolitik auf eine emanzipatorische Sexualpädagogik. 27. 1:20:35 (Freitag)Da ist eine sehr starke Fokussierung auf sexuelle Praktiken zu sehen und auch eine Diskreditierung von Kernfamilie. Das halte ich für sehr problematisch. (..) und alle Unterschiede zwischen Mann und Frau sollen im Grund eingeebnet werden, um so Diskriminierungen abzubauen. Eberhard Freitag wirft vor allem rot-grünen Landesregierungen vor, die Schüler indoktrinieren zu wollen: 28. 1:21:20 (Freitag)Das Ziel dieses Unterrichts ist es nicht, dass Jugendliche eine eigene fundierte Überzeugung zu anderen sexuellen Orientierungen als der eigenen finden, sondern das Ziel dieses Unterrichts ist vorweg schon gesetzt, nämlich sie sollen alle anderen Orientierungen akzeptieren (…) egal wie zahlenmäßig klein sie sind. 1:22:10 und hier soll Schule sich einer Gesinnungspädagogik unterwerfen und die müsste ich aus meinem Bildungsverständnis ablehnen. Das sieht Sascha Flüchter, Schulpfarrer an einem evangelischen Gymnasium, ganz anders. 29. 38:15: (Flüchter) Ich würde sagen, die Vielfalt an sexueller Orientierung ist etwas, was wir in der guten Schöpfung Gottes vorfinden. Und was die Bibel tut, ist, dass sie Menschen hilft, in dieser Schöpfung und mit dieser Schöpfung zu leben. Und das auch mit Schülern zu thematisieren, halte ich für wichtig, weil es davor schützen würde, Worte wie Homosexualität oder Homosexuelle als Schimpfworte zu benutzen, denn auch dahinter steht eine bestimmte Wertehaltung. Doch Sexualpädagogen und Pfarrer, die sich in der Jugendarbeit engagieren, geht es nicht so sehr um das Thema „Vielfalt sexueller Orientierungen“. Sie haben ganz andere Sorgen: Musik Bushido Rap kurz frei, dann drunter legen 30. 41:10: (Siggelkow)Wir haben die Porno-Rapper, wir haben in der Musik ganz viel Pornographie, wir haben eine Ausdrucksweise, die sehr sexistisch ist, die Kinder hören das, die singen das, die kennen die Texte, aber sie werden immer noch (..) aufgeklärt wie vor 25 Jahren, das passt nicht, da muss man anders mit umgehen. Bernd Siggelkow ist Leiter der Arche, einer christlichen Einrichtung für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien. „Deutschlands sexuelle Tragödie. - Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“ - so heißt ein Buch des Berliner Pfarrers. 31. 36:10: (Siggelkow) Der Anstoß (..) war eigentlich, dass wir in unserer Einrichtung merken, dass viele Kinder ihrer Kindheit beraubt sind und sich schon im frühen Teenager-Alter oder im späten Kindesalter viel zu früh mit Sexualität beschäftigen, weil sie selbst zu wenig Liebe bekommen. Rap-Musik: Bushido 32. 36:30 (Siggelkow)Wir haben in den letzten Jahren Kinder kennengelernt, die mit 12 Jahren schon die Frage gestellt haben: Bin ich hässlich, weil ich hatte noch keinen Sex? Wir haben Mädchen kennengelernt, die schon mit 15, 16 ihr erstes Kind bekommen haben; nicht, weil sie zu dumm sind zum Verhüten, sondern weil sie sich ein Kind wünschen, um finanziell unabhängig zu sein, den Schulabschluss nicht machen zu müssen, aber vor allem um Liebe zu bekommen, die sie in ihrem Elternhaus nicht bekommen haben. Susanne van Suntum würde nicht von einer ‚sexuellen Tragödie‘ sprechen. Aber die Sexualpädagogin, die regelmäßig Schulklassen besucht, sieht ebenfalls Anlass zur Sorge. 33. 29:35: (van Suntum) Bei den Jungens erlebe ich das, dass die schon ab der 6. Klasse Pornos sehen; Mädchen schauen das auch schon mal, aber eher so zwangsweise, weil sie das auf ihr Handy geschickt bekommen, oder auch weil ihre Freunde möchten, dass sie das sehen, aber das macht Jungen wie Mädchen auch beiden große Angst. Die denken, so funktioniert Sexualität, und so muss das sein, und die glauben, was die da sehen. Pornographie ist im Internet allgegenwärtig: ein Viertel aller Nutzer von Google ist auf der Suche nach Sex- und Pornoseiten; und ein Drittel des weltweiten Internetverkehrs beschäftigt sich mit Pornographie. 34. Atmo: Tastatur, Atmo Porno: Was viele – vor allem männliche – Erwachsene treiben, lässt Jugendliche nicht unberührt. Doch die Fragen der 13- bis 15Jährigen zeigen, wie irritiert Schülerinnen und Schüler sind, berichten die Sexualpädagogen Susanne van Santum und Andreas Müller: 35. 36:30: (van Suntum) Eine Frage war: Müssen Frauen im Bett immer High-Heels anziehen? (…) Ist das normal? 43:00 (Müller) Zum Beispiel wenn man über ganz harmlose Dinge redet wie den ersten Samenerguss, dann kommen so Fragen wie: Ja, kommt da wirklich ein halber Liter Sperma heraus? Das lässt einen Sexualpädagogen natürlich aufhorchen. Man hat dann schon den Verdacht: woher haben die solch merkwürdige Vorstellungen. Das können sie ja nicht an ihrem eigenen Körper erlebt haben, weil ein Samenerguss nur fünf Milliliter sind. Andreas Müller arbeitet bei Pro Familia; Susanne van Suntum beim Mädchenzentrum Gelsenkirchen. Regelmäßig gehen sie in Schulen und reden mit den Jugendlichen über alles, was die Kids über Sex wissen wollen. Wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass sich knapp die Hälfte der 14- bis 15-Jährigen Pornoclips anschaut. Bei den 15- bis 18-Jährigen sind es 60 Prozent, die mehrmals wöchentlich Seiten wie youporn anklicken. Jugendliche hätten heute ein ganz anderes Verhältnis zur Pornographie, als dies noch vor zehn, 20 Jahren der Fall war, sagt Eberhard Freitag. Er ist Leiter von „Return“, der Beratungsstelle zum Thema Mediensucht. 36. 1:17:50 (Freitag)Die Erreichbarkeit, mit zwei Klicks Pornographie konsumieren zu können, führt im Grunde zu einer Normalisierung, und wenn etwas oft genug stattfindet, dann entsteht auch so ein Empfinden, dass das Unrechtsbewusstsein oder das Problembewusstsein eher geschwächt wird. Wenn etwas alle tun, warum soll man sich dann noch darüber aufregen. Auch wenn es fast alle tun – öffentlich reden mögen darüber nur wenige Jugendliche – wie der 17-jährige Peter: 37. 27:30: (Peter) Ich denke, Pornographie (…) färbt auf jeden Fall ab, bei Jungens, was man in Gesprächen dann hört, wenn jemand angibt, was er alles ausprobiert hat und was für ein toller Hecht er ist und wie gut er im Bett ist. Solche Sachen sind auch nicht realitätsnah, sondern abgeschaut von dieser Pornographie. Umstritten ist unter Sexualpädagogen, welche Wirkungen der Konsum von Pornoclips bei Jugendlichen hat. 38. 47:45: (Müller) Je stabiler ein Kind und Jugendlicher ist in seiner Persönlichkeitsentwicklung, desto besser wird er das einordnen können. So sieht es Andreas Müller von pro familia. Gerade die Sexualberater von pro familia verweisen darauf, dass sich das Sexualverhalten von Jugendlichen im vergangenen Jahrzehnt kaum verändert habe: Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hatte 2005 ein Viertel der 17jährigen Mädchen noch keinen Geschlechtsverkehr; 2010 ist die Zahl auf ein Drittel gestiegen. Und die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften bei Jugendlichen ist gesunken, das Verhütungsverhalten hat sich verbessert und das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr hat sich etwas erhöht: gaben 2005 noch 12 Prozent der 14-Jährigen Mädchen an, schon mal Sex gehabt zu haben, waren es 2009 sieben Prozent. Generation Porno – ein Mythos? 39. 49:10: (Müller) Ich glaube schon, dass die Mehrheit der Jugendlichen das schon abstrahieren kann. Es wird aber immer ein Teil von Jugendlichen geben, die das nicht können und deswegen kommt es auch (…) zu grenzverletzendem Verhalten von Jugendlichen, da Jugendliche was tun, was über die Grenzen einer anderen Person geht. Und die Ermutigung hat auch damit zu tun, dass Pornographie konsumiert wird. Der Berliner Pfarrer und Leiter der Arche, Bernd Siggelkow, beschreibt das Problem so: 40. 38:15: (Siggelkow)Wir leben in einer Welt, wo so viel ungefiltert auf die Kinder einstürmt und sie es häufig nicht verarbeiten können, und ich glaube, es hat viel damit zu tun, wie Kinder aufgeklärt werden, und ich glaube, das Schlimme heute ist, dass Kinder gar keine Aufklärung mehr erhalten, weil die Eltern denken, in der Schule passiert das, die Kinder wissen sowieso alles. Man redet viel weniger über die Sexualität als man es früher gemacht hat, und das ist schlecht. Man muss viel mehr darüber reden. Viele Eltern sprechen nie oder selten mit ihren Kindern über das Thema Sexualität; die meisten Teenager wollen das offenbar auch nicht: 41. 24:50 (Peter) Als Junge würde ich jetzt nicht unbedingt zu meiner Mutter rennen und mit ihr über das Thema Sexualität sprechen. 11:45: Mit meiner Mama ja, mit meinem Papa nicht. (…) Der lacht mich aus. 50:10 (Jerome) Meine Eltern haben mit mir da nie drüber geredet. Neulich kam mein Vater an und meinte: Ja, ich denke, das Gespräch können wir uns sparen, du weißt das ja alles. Hat er auch Recht mit. Umfragen haben ergeben, dass zwei Drittel der sechsund siebenjährigen Kinder mit ihren Eltern über das Thema Sexualität sprechen; im Alter von zehn bis zwölf ist es nur noch ein Drittel – Tendenz abnehmend. Zahlen, die die Sexualberaterin Susanne van Suntum bestätigt: 42. 30:15(van Suntum) Die trauen sich nicht, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, oder die Eltern reden nicht mit den Kindern darüber, und die Informationen bekommen sie dann über das Internet. Und haben dann so ein selbstgemachtes Halbwissen. Susanne van Suntum spürt bei Jugendlichen geradezu eine Erleichterung, offen mit den Pädagogen über alle Themen der Sexualität sprechen zu können: 43. 34:40: (van Suntum)Die brauchen Erwachsene, mit denen sie darüber reden können. Die brauchen offene Menschen, Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter, die ihre Fragen beantworten und die ihnen zuhören und wo sie sich auch trauen, die Fragen zu stellen, die sie haben. Musik: I will always love you Trotz leichter Zugänglichkeit von Pornographie träumen die meisten Jugendlichen offenbar vor allem von Werten wie Treue und Partnerschaft - und von der großen Liebe. 44. 55:20: (Zoe) Ist natürlich schön, wie meine Oma, die war 50 Jahre mit ihrem Mann zusammen, aber ist halt schwer in der heutigen Zeit, das so hinzukriegen. Zuerst Liebe und Partnerschaft, dann kommt irgendwann der Sex – so die Vorstellung der großen Mehrheit der Jugendlichen: 45. 57:00 (Jerome) da gehört dann schon (…) Liebe dazu, das packe ich schon zusammen. // Für mich gehört das schon zusammen – zumindest im Moment. // Sexualität ohne Liebe? Ist schöner, wenn man sich liebt. Dennoch gibt es bei ihnen eine große Desorientierung zwischen ihren Träumen, der virtuellen Pornographie des Internets und den realen Beziehungsproblemen, wie sie die Jugendlichen zum Beispiel bei Eltern erleben. Teenager wollen gerade in sexuellen Fragen Werte vermittelt bekommen – auch von den Kirchen, sagt der Berliner Pastor Bernd Siggelkow. Doch dafür müsste sich die evangelische Kirche erst einmal über ihre sexualethischen Essentials verständigen. Wenn nicht mehr – wie vor 40, 50 Jahren - die Ehe der einzige Ort für Sex ist, worauf kann man sich dann einigen? Musik Angesichts des vielstimmigen protestantischen Chors - eine einheitliche Sexualethik zu entwickeln, ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. Das meint auch die Bochumer Theologin Isolde Karle, die sich in dem Buch „Liebe in der Moderne“ intensiv mit dem Thema befasst hat: 46. 39:30: (Karle) Aber ich glaube, durch eine behutsame Argumentation kommt man schon dahin zu sagen: Sexualität ist nicht so gefährlich, wie ihr denkt, und es ist auch nicht so schlimm, wenn man zu mehreren Personen sexuelle Beziehungen in seinem Leben hatte. Das kann sogar wichtig sein und gut sein für die eigene Entwicklung, aber die Sache darf auch nicht überreizt werden. Die Wuppertaler Theologieprofessorin Andrea Bieler sieht ihre Kirche auf einem guten Weg. So haben sich bei den Protestanten nicht nur die ethischen Grundwerte verändert, sondern auch die theologischen Begründungen. 47. O-Ton: 1:16:25 Es ist eine größere Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, die jetzt stattfinden, wahrzunehmen, und auch theologisch wird ein Wandel vollzogen von einer Schöpfungsordnungstheologie, die doch immer sehr rigide festgeschrieben hat die Komplementarität und Exklusivität von Mann und Frau, dass das absolut normative Leitbild ist, (….) das hat sich verändert und zwar in Richtung eines eher funktional verstandenen Familienbegriffes, (..) wo jetzt das Augenmerk mehr auf die qualitativen Aspektes der Beziehung gelegt wird, auf die ethischen Kriterien, und das finde ich sehr begrüßenswert. In diesem Zusammenhang plädiert Andrea Bieler für mehr Toleranz ihrer Kirche, für eine so genannte Ambiguitätstoleranz, die vermeintliche Widersprüche aushält. 48. O-Ton: 1:20:10 Damit meine ich, dass es gute und schlechte Formen der Sexualität schlechte Formen des Sexes, sondern dass hingucken muss, was Menschen tun und wie verhalten, und das dann bewerten muss. nicht per se gibt, gute und man genau sie sich Theologen und Ethiker wie Andrea Bieler und Isolde Karle sprechen sich für eine Änderung des Blickwinkels aus: Weg von der Ehefixierung der christlichen Sexualethik hin zu einem Kriterienkatalog, der bestimmte Inhalte in den Fokus rückt. Sprecher: Verbindlichkeit und Treue, Verlässlichkeit und gegenseitige Verantwortung, Freiwilligkeit, Einvernehmen und Selbstbestimmung, Achtung vor den Verwirklichungschancen des anderen und seiner Andersheit, Schutz des je Schwächeren, Bereitschaft zum Verzeihen und zum Neuanfang. Mit diesen Kriterien könnte sich die Kirche auch ernsthaft und glaubwürdig in eine Debatte um eine zeitgemäße Sexualethik einschalten. Eine Sexualethik, die Menschen helfen könnte, zwischen rigiden Moralvorstellungen und dem anythinggoes einen eigenen Weg zu finden.