Die theologische Aufgabe im Anschluss an Luthers Judenfeindschaft – einige Aspekte aus dem jüdisch-christlichen Dialog Der christliche Antijudaismus ist als Problem lange nicht erkannt worden. Er hat Verfolgungen der Juden immer wieder vorbereitet und mit verursacht. Und er ist auch ein Wegbereiter des rassischen Antisemitismus der Nazis im Dritten Reich. In dieser Zeit waren Stimmen wie die Dietrich Bonhoeffers die seltene Ausnahme. Man kennt den Ausspruch Bonhoeffers: „Wer nicht für die Juden schreit soll auch nicht gregorianisch singen.“ - Ein Satz, der allzu oft dazu verleitet hat, zu glauben, dass die innerkirchliche Gruppierung, zu der Bonhoeffer gehörte - die Bekennende Kirche (BK) - solche judenfreundlichen Auffassungen geteilt hätte. Das ist weithin nicht der Fall. Wie gering das Problembewusstsein oder gar ein Gefühl der Mitschuld auch innerhalb der BK ausgeprägt war, mag daraus hervorgehen, dass der „Lutherische Zentralverein für Mission unter Israel“ im Oktober 1945 wiedergegründet wurde, als gäbe es keinen Grund zum Zögern. Er war ursprünglich eine Gründung des 19. Jahrhunderts und war unter den Nazis aufgelöst worden. Denn nun ging es nicht mehr um die Bekehrung, sondern um die Vertreibung und später um die Vernichtung der Juden. Auch der sog. „Reichsbruderrat“ der BK vertrat im Jahre 1948, drei Jahre nach Ende der Naziherrschaft, die Auffassung, der Holocaust sei die Strafe Gottes an den Juden (für deren Fehlverhalten!). Erst 1950 gab es seitens der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die 1945 in Treysa gegründet wurde, eine erste Distanzierung von den bis dahin gewohnten Denkschemata. Sie besagten, dass das Volk Israel verworfen sei, da es ja den Messias, Jesus, nicht anerkannt habe. Gott habe sich ein neues Volk, die Christen, erwählt. Diese Enterbungstheologie wird also 1950 erstmals kriti1 siert. Der Impuls bekommt dann 10 Jahre später Konjunktur: 1959 wird auf dem Kirchentag eine Arbeitsgemeinschaft ‚Juden und Christen’ gegründet, der neben Schalom Ben Chorin die protestantischen Theologen Helmut Gollwitzer und Hans-Joachim Kraus und andere angehörten. Für deren Arbeit wurde ein Vers aus dem Römerbrief im 11. Kapitel maßgeblich, der bisher zugunsten anderer Verse aus diesem Kapitel überlesen worden war. In Vers 2 heißt es: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor ersehen hat.“ Die Arbeitgemeinschaft ging die Aufgabe an zu durchdenken, was die Einsicht der ungekündigten Erwählung des Volkes Israel theologisch bedeutet. Gollwitzer und Kraus waren Barthianer. In der Linie von dessen Theologie lehnten sie die Judenmission ab. Andererseits hingen sie sozusagen fest in Barths Überzeugung, dass der einzige Weg zur Erkenntnis Gottes über die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus führe. Barth selbst hatte die klassische lutherische Reihenfolge von Gesetz und Evangelium umgekehrt und sich damit von der Lehre distanziert, die besagt, dass die Torah, das jüdische Gesetz, im wesentlichen die Aufgabe habe, den Sünder seiner Sünde zu überführen. Als unmittelbarer Weg zu Gott tauge das Gesetz aber nicht, sondern ausschließlich das Evangelium, die gute Botschaft von der Gnade Gottes, die erst in Christus erscheine. Durch Christus sei der Irrweg, durch Gesetzesgehorsam einen gnädigen Gott gewinnen zu wollen, überwunden. Je mehr dieser meist als Werkgerechtigkeit apostrophierte Weg als typisch jüdisch gekennzeichnet wurde, wurde der Antijudaismus befördert. Dagegen erhob Barth Einspruch: Er kehrte die klassische Reihenfolge um und stellt das Evangelium vor das Gesetz. Gott sei in der Tat der liebende, sich erbarmende Gott, wie er sich in Jesus Christus zeigt. Indem die Glaubenden das begreifen, erkennen sie auch, dass die Torah keine andere Intention als das Evangelium habe. Etwas vereinfacht gesagt: Wer die 10 Gebote richtig lese, erkenne in ihnen jenen Willen Gottes, den er in Jesus Christus offenbart hat. Um es an einem Beispiel zu sagen: In dem Satz der Torah „Auge um 2 Auge, Zahn um Zahn“ offenbart sich, entgegen der traditionellen Sichtweise, eben nicht ein rachsüchtiger Gott. Sondern diese Rechtsbestimmung kann und muss verstanden werden als Bollwerk gegen unkonditionierte Rache. Kurzum, auch in dieser dem sogenannten Talionsrecht zugehörigen Rechtsbestimmung zeigt sich der Gott, der eben nicht Rache will, sondern letztlich Versöhnung und Vergebung. Jesus greift den Satz bekanntlich in der Bergpredigt auf und spitzt dessen Anliegen im Sinne eines vollständigen Verzichts auf Vergeltung zu. Barth konnte in diesem Sinn durchaus von der Torah, also dem alttestamentlichen Gesetz, dem Gesetz der hebräischen Bibel, als dem „materialen Gehalt des Evangeliums“ reden. Die Sache hat aber zwei ‚Haken‘. Zum einen sind da einige Dinge doch nicht ganz passgenau, wie das gewählte Beispiel schon deutlich gemacht hat. Begrenzung von Rache und Vergebung sind eben doch nicht ohne weiteres ineins zu setzen, was die Behauptung von der Torah als materialem Gehalt des Evangeliums zweifelhaft macht. Zum anderen wird aber die Torah, die zum Alten Testament gehört, vom Neuen Testament her interpretiert. Jesus Christus, seine Deutung, sein Handeln, sind in dieser Theologie der hermeneutische Schlüssel, von dem her das Testament der Juden verstanden werden muss. Dennoch bleibt es, gerade innerhalb der evangelischen Kirche und unter vielen am jüdisch-christlichen Dialog interessierten Theologen lange bei dieser von Barth inspirierten Position. Sie scheint auch noch durch, als 1980 die Rheinische Kirche eine Erklärung zum Verhältnis der Christen und Christinnen zu Israel und den Juden formuliert, die als Meilenstein gilt. Dort heißt es: „Der Jude Jesus hat den Bund Gottes mit Israel durch sein stellvertretendes Sterben am Kreuz endgültig erfüllt und so zugleich alle Völker in ihn einbezogen.“ Neu ist in dieser Stellungnahme, dass Jesus klar als Jude beschrieben wird. In Aufnahme von Röm 11 wird festgehalten, dass der in der Hebräischen Bibel beschriebene Bund Gottes mit Israel ungekündigt ist. Er weise aber auf den Messias voraus, 3 der kommen sollte und der in Jesus Christus gekommen sei. Damit habe sich eine Universalisierung vollzogen: Der Bund mit Israel wird zum Bund mit den Völkern. Der alte Bund bildet also den Rahmen, in den etwas Neues aufgenommen wird. Die Rheinische Kirche kommt von daher zu der Überzeugung, dass alle Völker missioniert werden müssen, aber eben nicht die Juden, da sie ja die ursprünglichen Adressaten der Bundeszusage sind. Die Rheinische Kirche ist mit dieser Position im Jahr 1980 die Erste, die offiziell den Gedanken der Judenmission verwirft - was übrigens den damaligen Braunschweiger Bischof dazu verführt hat, in einer Tagung mit den zu ordinierenden Pfarrern und Pfarrerinnen darauf zu bestehen, dass lutherische Pfarrer und Pfarrerinnen aber bitteschön für die Judenmission einzutreten hätten. Wenn man genau hinschaut, ist auch die Rheinische Position problematisch. Denn die durch Karl Barth vorformulierte Fixierung auf das Christusgeschehen taucht auch hier wieder auf. Kurz gesagt: Die Hebräische Bibel redet nach dieser Auffassung bereits von Jesus, was erstens historisch falsch ist und zweitens eben auch nicht die Überzeugung der Juden. Für einen echten dialog sind das schwierige Voraussetzungen. 1998, also nochmal nahezu zwanzig Jahre später, gibt es dann eine Erklärung der EKD zur Judenmission, mit folgenden Grundpositionen: - Israel ist bleibend das erwählte Volk. - Jeder Form von Judenfeindschaft ist eine Absage zu erteilen. - Es gibt eine Mitschuld des christlichen Antijudaismus am Holocaust. - Die Kirche ist in den Bund Gottes mit Israel mit hineingenommen. - Die Torah, das Gesetz, ist unmittelbar als Stimme Gottes aufzufassen. - Juden und Christen haben eine gemeinsame eschatologische Erwartung. Die letztgenannte Überzeugung kann man, etwas vereinfachend, folgendermaßen erläutern: Juden und Christen teilen eine gemeinsame Hoffnung. Bei den 4 Juden ist es ja so, dass sie das Kommen des Messias als ausstehend betrachten, was bei den Christen nicht der Fall ist. Aber sie glauben an Wiederkunft Christi, d. h., man betont nicht mehr so sehr das „schon jetzt“, sondern das „noch nicht“ hinsichtlich der Erwartung des kommenden Gottesreiches. Auch da bleibt insoweit eine Differenz zwischen Juden und Christen, als Kreuz und Auferstehung Jesu so etwas wie die Vorwegnahme des noch Ausstehenden sind, aber man bewegt sich gemeinsam in Richtung auf die eschatologische, also endzeitliche Erwartung des Heils. Man kann, glaube ich, allgemein sagen, dass besonders die Exegese (Wissenschaft von der Auslegung der Bibel) der letzten zwanzig, dreißig Jahre viel zum besseren Verständnis zwischen Juden und Christen beigetragen hat. Dabei spielt eine Rolle, dass man nach einer Phase der Abstinenz sich wieder vermehrt für den historischen Jesus interessiert hat. Gerd Theißen aus Heidelberg ist einer der maßgeblichen Verfechter dieser Linie. Zuvor war man der Meinung, dass die Evangelien als Quellen für den historischen Jesus kaum in Betracht kommen und dass die historische Figur gar nicht so interessant sei, weil der Christus, der im Bekenntnis der urchristlichen Gemeinde und damit in den Evangelien in Erscheinung tritt, viel wichtiger sei als die historische Gestalt, die im Dunkeln bleiben müsse. Diese Rückkehr zur Frage nach dem historischen Jesus führt dazu, dass man nun deutlich markiert, dass Jesus ein Jude war und sich an Juden gewandt hat. Damit wird seine Haltung nicht mehr im Modus der Differenz zum Bisherigen - also einer jüdischen Interpretation dessen, was wir das Alte Testament nennen - verstanden, sondern im Modus der Kontinuität: Jesus positioniert sich als Jude unter Juden, er nimmt auf und spitzt zu, was jüdische Lehre auch zuvor schon sagen und denken konnte. Damit können sich jüdische und christliche Exegese vorurteilsfreier begegnen. 5 Auch die „Lehrhäuser“, die nun auch im christlichen Raum entstehen nach Vorbild jüdischer Lehrhäuser, sind solche Orte, in denen sich jüdische Auslegung der hebräischen Bibel und christliche Exegese nahe kommen. Erstaunlich wenig wird im jüdisch-christlichen Dialog, sofern mir da nicht etwas entgangen ist, die Debatte aufgenommen, die unter der Überschrift „Interreligiöser Dialog“ in den letzten Jahren firmiert. Dort unterscheidet man zwischen verschiedenen Arten des Verständnisses von Religionen, nämlich - einem exklusivistischen Verständnis, zu dem letztendlich auch die Theologie Karl Barths gehört: Es gibt einen Zugang zur göttlichen Wahrheit und nur diesen einen unter lauter Irrtümern drumherum. - und dann einem inklusivistischen Verständnis, wie es besonders für bestimmte katholische Theologen typisch ist, aber auch für manche evangelische Theologen wie z. B. Paul Tillich, die der Überzeugung sind, dass es sozusagen Vorformen wahrer Gotteserkenntnis gleichsam auch außerhalb der Mauern der Kirche, also außerhalb des rechten christlichen Verständnisses von Gott geben kann. Neben diesen beiden Formen - inklusivistisches und exklusivistisches Religionsverständnis - tritt dann als dritte Möglichkeit das pluralistische Verständnis, das von den Religionsgemeinschaften bisher weitgehend als relativierend aufgefasst wird, also als ein Verständnis von Religion, dass deren Anspruch, die Wahrheit zu kennen, aufgibt. Dagegen grenzen sich einige Vertreter dieser Schule, insbesondere einige amerikanische Theologen, aber auch ein deutscher Theologe - Perry Schmidt-Leukel - ab. Letzterer war Professor für Fundamentaltheologie, also katholischer Theologe, und ist nach dem Entzug der Lehrbefugnis durch seine Kirche Anglikaner geworden. Dort geht es darum, zunächst allen Religionen zuzubilligen, dass sie einen Weg zur Wahrheit markieren und insoweit gleichwertig seien, aber Schmidt-Leukel versucht den Dialog gleichwohl 6 aus einer christlichen Perspektive zu führen und dabei Kriterien zu entwickeln, die wahre und falsche Religion voneinander unterscheiden. Dabei spielen Gesichtspunkte wie Widerspruchfreiheit gegenüber dem Weltbild der Naturwissenschaften eine Rolle und ähnliche rationale Kriterien der Beurteilung religiöser Phänomene. Inwieweit ein solches pluralistisches Religionsverständnis neue Perspektiven auch für den jüdisch-christlichen Dialog eröffnet, wird man abwarten müssen. Th. Gunkel, Vortrag vor der Propsteisynode im Anschluss an einen Vortrag von Dr. Hans Schünemann zum Thema „Luther und die Juden“. 7 Zitate Verlautbarung der Rheinischen Kirche von 1980: Der Jude Jesus hat den Bund Gottes mit Israel durch sein stellvertretendes Sterben endgültig erfüllt und so zugleich alle Völker in ihn einbezogen. Berthold Klappert, Erwählung und Rechtfertigung - Martin Luther und die Juden in Miterben der Verheißung, 2000 Martin Luther hat mit der geheimnisvollen Verheißung, Gott werde ganz Israel retten und so sein Erwählungsversprechen gegenüber ganz Israel erfüllen, seine Schwierigkeiten gehabt (...). Luther hatte vom Ansatz seiner Rechtsfertigungslehre her für die Israelverheißung des Paulus keine Erklärung und keinen Raum (...). Das die Verweigerung gegenüber dem Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen die Erwählung Israels nicht aufhebt (Röm. 11,28), das war für Luther ein unfasslicher Gedanke. Franz Mußner, Geleitwort zu Berthold Klappert, Miterben der Verheißung, 1999 Durch den Juden Jesus und die Mission der Kirche werden in der Völkerwelt „die Jüdischen Kategorien“ (Gershom Scholem) bekannt gemacht. Gewiss ist durch Jesus von Nazareth Neues in die Welt gekommen (z. B. die Kirche, das „Neue Testament“, die Sakramente, speziell die Eucharistie an Stelle der Pessachfeier, die Rechtfertigung des Sünders sola fide, sola gratia et solo christo). Aber die Völker lernen zugleich durch die Mission der Kirche in den jüdischen Kategorien, wie sie uns z. B. im „Vaterunser“ begegnen, „jüdisch“ beten, sprechen und denken. Die Welt wird dadurch „jüdisch“, was für die christliche Missionstheologie von großer, kaum bedachter Bedeutung ist. Gerd Theißen, Der Historische Jesus, 1996 Im Zentrum der Botschaft Jesu stand der jüdische Gottesglaube. Gott war für ihn eine ungeheuere ethische Energie, die bald zur Rettung der Armen, Schwachen und Kranken die Welt verwandeln werde, die aber für alle, die sich nicht von ihr ergreifen ließen, zum „Höllenfeuer“ des Gerichts werden konnte (...). Jesu ethische Lehre war der Entwurf eines ganz vom göttlichen Willen bestimmten Menschen. Er verschärfte die universalen Aspekte der jüdischen Tora und ging „liberal“ mit jenen rituellen Aspekten um, die Juden von Heiden unterschieden. Aber er blieb mit alle seinen Lehren auf dem Boden der Tora. Ins Zentrum seiner Ethik rückte er das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, radikalisierte es jedoch zur Verpflichtung, auch die Feinde, die Fremden und die religiös Deklassierten zu lieben. Hans Küng, Das Judentum, 2007 Jesus aus Nazareth, der Zimmermannssohn - die zweite Person der göttlichen Trinität? Unakzeptabel, sagen glaubende Juden, unakzeptabel gerade deshalb, weil der Nazarener ein Jude war. Die Deutsche Bischofkonferenz bestätigt in ihrer Erklärung überraschenderweise diese Schwierigkeiten: „Der wesensgleiche Sohn Gottes“, lesen wir, erscheine „vielen“ (besser müsste es heißen: allen) Juden „als etwas radikal Unjüdisches“, „etwas mit dem strengen Monotheismus, wie er besonders im ‚Schema Israel‘ für den frommen Juden täglich zur Sprache kommt, absolut Widersprechendes, wenn nicht gar als Blasphemie“. Wahrhaftig: was hätte wohl der Jude Jesus zu all dem gesagt, der Jude Jesus, von dem der Satz überliefert ist: „Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen“. 8 Hans Küng, Das Judentum, 2007 Schon Jahre vor dieser Erklärung [Erklärung der deutschen katholischen Bischöfe zum Verhältnis der Kirche zum Judentum] hatte ich im Gespräch mit dem jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide (...) vorgeschlagen, den jüdisch-christlichen Dialog nicht „von oben“, sozusagen vom Himmel her (...) zu beginnen, sondern in „von unten“. Die zugespitzte Antwort meines jüdischen Gesprächspartners lautete damals: „Wir können von unten theologisierend 33 Jahre lang zusammen gehen, die ganze Zeitspanne des irdischen Lebens Jesu, und das ist beim weitem nicht wenig. Was uns letztlich trennt, sind die letzten 48 Stunden vom Nachmittag des ersten Karfreitags an. Das sind knappe zwei Tage, aber natürlich die ausschlaggebenden Tage, auf denen so gut wie die ganze Christologie beruht“. 9