EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE PASTOR MARTIN KLATT 1. Advent 30. November 2014 Predigt: Offenbarung 5, 1-6.10-14 Ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. … Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an. Liebe Gemeinde! Es ist Advent. Wir treten ein in eine neue Zeit. Wir schmücken die Kirche und unser Zuhause. Wir zünden die erste Kerze an. 1. Advent – Lichtblick im dunklen November. Wir stellen uns ein auf die neue Zeit. Wir versuchen es jedenfalls. Wie schon so oft. Alle Jahre wieder… Mit Erwartungen, mit Hoffnungen; den immer gleichen und den immer neuen. Wir möchten angerührt werden – auch die Skeptischen unter uns. Wie schon oft, so wie vor langer Zeit, so wie noch nie. Wir möchten nicht draußen vor bleiben. Wege nach innen gehen, Wege zum anderen, Wege zur Krippe – wie der Andere Advent die Adventszeit gliedert. Und mit dem allen dem Himmel ein wenig näher als sonst. Wir singen. „Macht hoch die Tür…“ Und hinter der Tür sehen wir einen Menschen, der weint. Und ich weinte sehr… So steht es da. Die Tränen laufen ihr über’s Gesicht. Sie ist untröstlich. In ihren Armen ihr Kind. Es ist gestorben. In ihren Armen gestorben. Sie ist tagelang durch den Busch gelaufen, aber als sie zum Krankenhaus kam, war es voll. Kein Platz für ihr Kind und für sie. Kein Arzt, der helfen konnte. Ihr Kind ist tot. Nachher werden sie es begraben. Ein Mensch weint. Er sitzt vor den Trümmern seines Hauses. Eine Rakete hat es zerstört. Kein Stein mehr auf dem anderen. In den Trümmern hat er nach ein paar Habseligkeiten gesucht. In seiner Hand hält er nicht mehr als einen zerbrochenen Fotorahmen. Alles verloren. Sein Gesicht hat er in den Händen vergraben. 2 Ein Mensch weint. Zwei Menschen weinen. Ein Vater und eine Mutter. Sie halten das Bild ihrer Töchter in die Kamera. Sie wissen nicht, wo sie sind. Sie wissen nicht, ob sie noch leben. Sie wissen nicht, was sie mit ihnen gemacht haben – nach der Entführung. Ein Mensch weint. Tränen der Trauer. Tränen der Verzweiflung. Tränen des Zorns. Tränen, weil die Schmerzen so groß sind. Tränen aus Angst. Nicht nur weit weg. Wie kommt’s, dass du so traurig bist, Da alles froh erscheint? Man sieht dir’s an den Augen an; Gewiss! Du hast geweint. (J. W. von Goethe, Trost der Tränen) Es wird so viel geweint. Überall auf der Erde. Wohin man auch schaut. Auch damals, als Johannes auf die Insel Patmos verbannt ist und dort seine Visionen hat und niederschreibt. Die kleinen christlichen Gemeinden, die es in Kleinasien gibt, sind in Gefahr. Verfolgung erwartet sie. Menschen sind gestorben, weil sie sich dem Kaiserkult verweigert haben. Und andere weinen um sie. Schlimmeres droht. Keiner weiß, was wird. Angst ist nahe. Die Unsicherheit ist groß. Der Seher Johannes sieht bis in den Himmel. Er sieht den Thronsaal Gottes. Die himmlische Ordnung und Schönheit. Ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. In diesem Buch – sieben ineinander gerollte Schriftrollen – ist alles aufgeschrieben. Was war und was ist und was wird. Jetzt hofft er, dass sich ihm alles aufschließt; all die Fragen, all die Rätsel der Weltgeschichte: Wie geht es weiter mit der Welt? Wo steuert alles hin? Welcher Zukunft geht die Welt entgegen? Was wird – auch mit den Gemeinden, um die er sich sorgt? Und nicht zuletzt – was wird mit der eigenen Lebensgeschichte? In wessen Händen liegt die Welt? Jetzt möchte er Antwort auf so viele Fragen, die das große Buch der Menschheitsgeschichte aufwirft: Warum so viele Tränen? Warum müssen die Gerechten leiden? Warum trifft das Unglück die Unschuldigen? Warum die Kinder? Welchen Sinn hat das alles? Hat es denn überhaupt einen? Wird einmal alles Weinen ein Ende haben? Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Wer gibt Antwort auf die quälenden Fragen der Menschen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Die Toten können die Rätsel nicht lösen. Auch nicht die Genies unter ihnen in all ihrer Weisheit und Klugheit. Und „die da oben“ heute können es auch nicht. Die Politiker können es nicht richten. Sie haben das menschliche Genom entschlüsselt, aber die Naturwissenschaftler können es nicht erklären. In den verspiegelten Konzernzentralen herrscht Ratlosigkeit. Die Suchmaschinen zeigen keine Ergebnisse. Kein Code, kein Passwort für die Lösung der großen Fragen. Auch die Pastoren können es nicht erklären. Irgendwie haben wir das ja immer schon gewusst, oder zumindest geahnt. Alle menschliche Weisheit und alle Macht, aller Reichtum und alle Stärke bleiben Stückwerk. Aber auch im Himmel ruft der Engel ins Leere. Das Buch bleibt verschlossen und unzugänglich. Auch im Himmel weiß niemand eine Antwort auf die großen Rätsel der Welt. Auf ewig ungelöst. Das Leben, mein Leben – kein offenes Buch vor mir, eher wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Keine Deutung funktioniert. Die Welt ist wirr und unübersichtlich. Tohuwabohu, Chaos. (Gen. 1) Es ist Advent. Wir treten ein in eine neue Zeit. Wirklich? Wenn doch alles beim Alten bliebe, ohne Aussicht, einmal zu verstehen, dann wäre das wirklich zum Weinen. Und es hätte diejenigen Recht, die darauf setzen, die Tore nicht hoch und weit, sondern zuzumachen. Die Tränen von denen draußen nicht sehen, den Unfrieden draußen lassen und auf ein wenig besinnlichen Frieden im eigenen Warmen zu hoffen. (Ist manchmal schwer genug, das hinzukriegen.) Und ich weinte sehr. … Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Ein Wechsel der Zeiten. Von der Vergangenheitsform ins Präsens. 3 Die Tränen des Einen werden im Himmel wahrgenommen. Das Weinen all derer, die ganz unten sind und ganz „down“ wird ganz oben bemerkt. Kein Einzelschicksal, das man übergehen könnte, nicht ein einziges. Das ist doch anders, als wir es kennen. Das ist himmlisch, jedenfalls ein bisschen. Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. … Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. In der Bildersprache des Alten Testaments spricht die Johannesoffenbarung von Christus. Er ist gekommen mit Macht, aber seine Macht ist der Verzicht auf Macht. Er kommt als ein Starker, aber seine Stärke ist der Verzicht auf Stärke. Und seine Ehre ist der Verzicht auf alle Ehrungen. (K. Oxen) Er kommt nicht hoch zu Ross, er zieht auf einem Esel ein. Er wird geboren als ein Mensch in der Krippe im Stall. Er kannte den Himmel und kam, um bei den Menschen zu sein als ein Mensch. Als er rief, ganz am Ende: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, gab es keine Stimme vom Himmel, die ihm antwortete. Das Buch mit den sieben Siegeln liegt in seiner Hand. Antwort geben auf aller Menschen Fragen wird allein er, der teilgenommen hat an der Ratlosigkeit der Menschen. Als der, der unschuldig gelitten hat, wird er das letzte Wort haben über Menschenleid und -schuld. Es ist Advent. Wir treten ein in eine neue Zeit. Sie hat längst begonnen. Wir wissen um unsere eigene Ratlosigkeit, was die Lösung der großen Fragen und Probleme dieser Welt angeht. Auch wir Christen haben nicht den Schlüssel, um alles wirklich zu verstehen. Oft genug verstehen wir uns nicht einmal selbst. Und das ist manchmal wirklich zum Weinen. Aber wir wissen, in wessen Hand alle Fragen und alle Rätsel gehalten und geborgen sind. Wir können die Welt nicht retten. Aber wir zünden die erste Kerze an – und am kommenden Sonntag eine dazu und noch eine und noch eine. Advent – Lichtblick im dunklen November und in dunkler Zeit. Denn in seinen Händen liegt alle Zeit. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern! So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein. Wir stellen uns ein auf die neue Zeit. Wir versuchen es jedenfalls. Wie schon so oft. Alle Jahre wieder… Mit Erwartungen, mit Hoffnungen; den immer gleichen und den immer neuen. Und wir richten sie aus an ihm. Tränen sollen getrocknet werden. Die Tränen derer, die unter Krieg und Gewalt und Flüchtlingselend leiden. Die Tränen der Männer, Frauen und Kinder, die unter die Räder der großen Interessen geraten. Die Tränen derer, die umsonst auf Hilfe warten oder denen niemand helfen kann. Alles Leid zu beenden, liegt nicht in unserer Hand, aber dass das Leid aller geachtet wird und wir das Menschenmögliche tun, ist unsere alte und immer neue Aufgabe. Er lehrt uns, menschlich zu werden. Er lehrt uns, die Welt mit den Augen der Leidenden zu sehen. Den König auf dem Esel, das Kind in der Krippe, das Lamm Gottes anzubeten, heißt den ohnmächtigen Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Nur wer wie er Tränen trocknet, wird dem Geheimnis der Geschichte auf die Spur kommen. (C. Coenen-Marx) Wir möchten angerührt werden – auch die Skeptischen unter uns. Wir sollen es. Wir sollen nicht draußen vor bleiben in dieser Zeit. Die Wege, die wir nach innen gehen, um uns dem Geheimnis Gottes zu nähern, werden zu Wegen, die wir zum anderen gehen – und umgekehrt. Es sind die Wege, die uns hinführen zur Krippe. Und mit dem allen kommen wir dem Himmel ein wenig näher. Wir singen. „Macht hoch die Tür…“ Wir bleiben nicht hinter geschlossenen Türen und nicht unter uns. Denn es kommt ein Trost – nicht nur für unsere kleine Welt, sondern für alle Welt. Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her. AMEN.