Gebiete in der komplexen Ebene, holomorphe

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Vorlesung:
Funktionentheorie und Vektoranalysis
Annette A’Campo–Neuen
Universität Basel, Herbstsemester 2015
Inhaltsverzeichnis zur Vorlesung Funktionentheorie und
Vektoranalysis
1 Differential- und Integralrechnung im Komplexen
1.1 Gebiete in der komplexen Zahlenebene . . .
1.2 Komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . .
1.3 Umkehrfunktionen . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Komplexe Wegintegrale . . . . . . . . . . . .
1.5 Cauchyscher Integralsatz . . . . . . . . . . .
1.6 Cauchyformel . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Holomorphe Funktionen
2.1 Exkurs: Konvergenz von Reihen . .
2.2 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . .
2.3 Komplexe Taylorentwicklung . . . .
2.4 Nullstellen holomorpher Funktionen
2.5 Singularitäten . . . . . . . . . . . .
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3 Meromorphe Funktionen
53
3.1 Riemannsche Zahlenkugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
3.2 Möbiustransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4 Residuen
4.1 Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Umlaufzahlversion des Residuensatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Residuenkalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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60
63
5 Fouriertheorie
70
5.1 Fourierreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.2 Fouriertransformation und Faltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5.3 Diracsche Deltafunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
6 Vektoranalysis
6.1 Glatte Kurven und Flächen in R3 . . . . .
6.2 Extremwertaufgaben mit Nebenbedingung
6.3 Integration auf Flächen . . . . . . . . . . .
6.4 Vektorfelder im Raum . . . . . . . . . . .
6.5 Satz von Gauss . . . . . . . . . . . . . . .
6.6 Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis zur Vorlesung Funktionentheorie und Vektoranalysis
3
Einführung
Unter “Funktionentheorie” versteht man die Theorie der Funktionen in einer komplexen Variablen. Im englischen Sprachraum wird dafür der Begriff “Complex Analysis” verwendet. Ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der Theorie war die Fortsetzung reell-analytischer Funktionen ins Komplexe, indem man in die lokale Reihenentwicklung jeweils komplexe Werte einsetzt. So kann man zum Beispiel einen
Zusammenhang zwischen den trigonometrischen Funktionen und der komplexen Exponentialfunktion herstellen, der bereits von Euler entdeckt wurde. Dabei stellt sich
heraus, dass durch den Übergang ins Komplexe die Dinge erstaunlicherweise sogar
einfacher werden. Hier ein Auszug aus einem Text von Gauss, der im Faksimile im
Buch von Remmert und Schumacher (siehe Literaturverzeichnis) abgedruckt ist:
Die vollständige Erkenntniß der Natur einer analytischen Function muß auch
die Einsicht in ihr Verhalten bei den imaginären Werthen des Arguments in sich
schließen, und oft ist sogar letztere unentbehrlich zu einer richtigen Beurtheilung
der Gebarung der Function im Gebiete der reellen Argumente. Unerläßlich ist es
daher auch, daß die ursprüngliche Festsetzung des Begriffs der Function sich mit
gleicher Bündigkeit über das ganze Größengebiet erstrecke, welches die reellen und
die imaginären Größen unter dem gemeinschaftlichen Namen der complexen Größen
in sich begreift.
Eine komplex differenzierbare Funktion mit stetiger Ableitung wird als holomorphe Funktion bezeichnet. Es stellt sich heraus, dass eine solche Funktion bereits
beliebig oft komplex differenzierbar ist und sich sogar in eine komplexe Taylorreihe
entwickeln lässt, also automatisch komplex-analytisch ist. Dieser Standpunkt wurde
vor allem von Weierstrass ins Zentrum der Untersuchungen gestellt. Es gibt aber
auch eine Charakterisierung holomorpher Funktionen über Wegintegrale, die auf
Cauchy zurückgeht, und eine rein geometrische Beschreibung als konforme Abbildungen, die bei Riemann die Hauptrolle spielt. Jede dieser Aspekte hat physikalische
Interpretationen und trägt zu dem reichen Gesamtbild bei.
Hier dazu noch ein Zitat von C.L.Siegel, das ebenfalls in dem Buch von Remmert und Schumacher erwähnt wird: Die Funktionentheorie mit ihrem schier unerschöpflichen Reichtum an schönen und tiefen Sätzen ist ein einmaliges Geschenk
an die Mathematiker.
Kapitel 1
Differential- und Integralrechnung im Komplexen
1.1
Gebiete in der komplexen Zahlenebene
Erinnern wir zunächst an die Konstruktion der komplexen Zahlen. Die Menge C :=
{a + ib | a, b ∈ R} wird zu einem Körper, indem man Addition und Multiplikation
folgendermassen erklärt:
(a + ib) + (c + id) := (a + c) + i(b + d) und (a + ib)(c + id) := (ac − bd) + i(ad + bc) .
Diese Regeln ergeben sich zwangsläufig, wenn man verlangt, dass i2 = −1 sein
soll und ausserdem alle üblichen Körperrechenregeln gelten. Wir können die reellen
Zahlen als Teilmenge von C auffassen, indem wir a ∈ R als Zahl a + i · 0 auffassen.
Das Nullelement in C ist die Zahl 0 + i0, die wir mit 0 ∈ R identifizieren, und das
multiplikative Inverse einer Zahl z = a + ib 6= 0 lautet, wie man direkt nachrechnen
kann,
a
b
(a + ib)−1 = 2
−i 2
.
2
a +b
a + b2
Der Körper C hat einen wichtigen Automorphismus über R, nämlich die komplexe
Konjugation
z = a + ib 7→ z := a − ib .
Damit ist gemeint, dass diese Zuordnung mit Addition und Multiplikation verträglich ist. Gleichzeitig ist dies (ausser der identischen Abbildung) der einzige
Körperautomorphismus von C, der alle reellen Zahlen festhält.
Wir können die komplexen Zahlen mit den Punkten einer Ebene identifizieren, indem wir Real- bzw. Imaginärteil als kartesische Koordinaten verwenden. Man spricht
deshalb auch von der komplexen Zahlenebene. Bei der Beschreibung in Polarkoordinaten wird zur Festlegung eines Punktes z = x + iy 6= 0 in der Ebene R2 sein
Abstand r zum Nullpunkt und der Winkel ϕ, den der Ortsvektor mit der positiven
x-Achse einschliesst, verwendet. Es gelten die folgenden Beziehungen:
x = r cos ϕ und y = r sin ϕ .
Auf Euler geht die folgende Schreibweise zurück:
z = r(cos ϕ + i sin ϕ) = reiϕ .
Diese Schreibweise wird in Analogie zur reellen Exponentialfunktion verwendet, weil
auch hier wieder das charakteristische Gesetz der Exponentialfunktion gilt, nämlich:
ei(ϕ+ψ) = eiϕ · eiψ .
1.1. Gebiete in der komplexen Zahlenebene
5
Hinter dieser Kompaktschreibweise verbergen sich die Additionstheoreme von Sinus
und Cosinus.
Die Addition und Multiplikation von komplexen Zahlen lässt sich mithilfe der
Zahlenebene nun folgendermassen geometrisch deuten: die Addition entspricht der
Vektoraddition und man multipliziert zwei komplexe Zahlen, indem man die Längen
der entsprechenden Ortsvektoren multipliziert und die Winkel, die sie mit der positiven x-Achse einschliessen, addiert. Die komplexe Konjugation entspricht einer
Spiegelung an der reellen Achse.
Eine der wichtigsten Aussagen über komplexe Zahlen ist der Fundamentalsatz
der Algebra:
1.1.1 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + · · · + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N
mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es eine komplexe Zahl z0 ∈ C mit p(z0 ) = 0.
Durch vollständige Induktion kann man hieraus schliessen, dass p sogar (mit
Vielfachheit gezählt) genau n komplexe Nullstellen besitzt. Genauer gilt folgendes:
1.1.2 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N
mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es komplexe Zahlen z1 , . . . , zn ∈ C mit
z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ) .
Die Liste der zj besteht aus sämtlichen Nullstellen des Polynoms p, dabei können
Nullstellen auch mehrfach aufgelistet sein. Die Häufigkeit, mit der eine bestimmte
Nullstelle in der Liste vorkommt, bezeichnet man als Vielfachheit der Nullstelle.
Hat das Polynom p reelle Koeffizienten, so besteht die Nullstellenmenge in C aus
reellen Zahlen und Paaren von zueinander konjugierten “echt” komplexen Zahlen.
Denn wir können folgendes festhalten:
1.1.3 Bemerkung Sind alle Koeffizienten des Polynoms p reell, und ist w eine
Nullstelle, so ist auch w eine Nullstelle und zwar von derselben Vielfachheit.
Beweis. Sind alle Koeffizienten ak des Polynoms p reell, so folgt mit den Rechenregeln für die komplexe Konjugation aus p(w) = 0:
0 = p(w) = w n + an−1 w n−1 + . . . + a1 w + a0 = wn +an−1 w n−1 +. . .+a1 w+a0 = p(w) .
Das bedeutet: Ist w eine Nullstelle von p, so auch w. Ist ausserdem w 6= w, so können
wir p durch das quadratische Polynom q := (z−w)(z−w) = z 2 −(w+w)z+w·w teilen.
Da w + w = 2 Re(w) und w · w = |w|2 reelle Zahlen sind, ist q ein reelles Polynom.
Nach Teilung von p durch q bleibt also ein reelles Polynom kleineren Grades übrig.
Per Induktion über den Grad kann man nun schliessen, dass die Vielfachheiten der
q.e.d.
Nullstelle w und der Nullstelle w miteinander übereinstimmen.
6
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
1.1.4 Folgerung Hat ein reelles Polynom p eine Nullstelle w ∈ C \ R, so kann
man, wie eben gezeigt, über den reellen Zahlen einen quadratischen Faktor von p
abspalten, nämlich q := (z − w)(z − w) = z 2 − (w + w)z + w · w. Durch vollständige
Induktion folgt hieraus, dass jedes Polynom mit reellen Koeffizienten sich vollständig
in ein Produkt aus linearen oder quadratischen Polynomfaktoren zerlegen lässt.
1.1.5 Beispiel Das Polynom f (x) = x4 + 5x2 + 4 lässt sich schreiben als f (x) =
(x2 + 1)(x2 + 4) und hat die komplexen Nullstellen ±i und ±2i.
Wenden wir uns nun Teilmengen der komplexen Zahlenebene zu. Wir wollen eine
Teilmenge U ⊂ C offen nennen, wenn die entsprechende Teilmenge in R2 offen ist.
Wir übernehmen also die Topologie von R2 .
1.1.6 Definition Eine Teilmenge G ⊂ C heisst Gebiet, wenn G offen und zusammenhängend ist. Letzteres bedeutet, dass G nicht als disjunkte Vereinigung von zwei
in G abgeschlossenen Teilmengen dargestellt werden kann.
Hier eine Reihe von häufig vorkommenden Beispielen.
1.1.7 Beispiele
• C oder C∗ := C \ {0};
• die obere Halbebene H := {z ∈ C | Im(z) > 0};
• die geschlitzte Ebene {z ∈ C | z ∈
/ R<0 };
• die Einheitskreisscheibe E := {z ∈ C | |z| < 1};
• eine Kreisscheibe Kr (z0 ) := {z ∈ C | |z − z0 | < r} von Radius r > 0 um den
Punkt z0 ;
• ein Kreisring {z ∈ C | r < |z − z0 | < R} (0 < r < R fest gewählt) um den
Punkt z0 ;
• ein horizontaler Streifen {z ∈ C | y1 < Im(z) < y2 }.
Betrachten wir jetzt komplexwertige Funktionen, definiert auf Gebieten der komplexen Ebene.
Sei dazu G ⊂ C ein Gebiet und f : G → C eine Zuordnung. Die Funktion f ist
stetig im Punkt z0 ∈ G, wenn für jede gegen z0 konvergierende Folge von Punkten
zn ∈ G gilt:
lim f (zn ) = f (z0 ) .
n→∞
Wie im reellen Fall kann man einsehen, dass zum Beispiel alle komplexen Polynomfunktionen stetig sind. Auch jede Funktion der Form f (z) = p(z)
(wobei p, q
q(z)
komplexe Polynome sind und z ∈ C, q(z) 6= 0), ist stetig.
Um sich eine solche Funktion zu veranschaulichen, gibt es mehrere Möglichkeiten.
Man kann die (dreidimensionalen) Graphen des Realteils und des Imaginärteils der
Funktion betrachten, oder die Funktion als Transformation eines Teils der Ebene
auffassen. Schauen wir uns einige Beispiele genauer an.
1.1. Gebiete in der komplexen Zahlenebene
7
1. Sei z0 ∈ C fest gewählt. Die Funktion f : C → C, z 7→ z + z0 , beschreibt eine
Parallelverschiebung der Ebene um den Vektor z0 .
2. Die Multiplikation mit der komplexen Zahl i bewirkt eine Drehung der komplexen Ebene um 90◦ .
3. Sei jetzt allgemeiner a > 0, ψ ∈ R fest gewählt und w = aeiψ . Die Multiplikationsabbildung f : C → C, z = reiϕ 7→ w · z = arei(ϕ+ψ) , beschreibt eine
Drehung um den Nullpunkt um den Winkel ψ, gefolgt von einer Streckung um
den Faktor a. Man spricht hier von einer Drehstreckung.
4. Die komplexe Konjugation C → C, z 7→ z entspricht der Spiegelung an der
reellen Achse. Und die Funktion z 7→ i · z beschreibt die Spiegelung an der
Winkelhalbierenden.
5. Die Abbildung f : C → C, z 7→ z 2 schreibt sich in Polarkoordinaten so: reiϕ 7→
r 2 ei2ϕ . Auf dem Einheitskreis zum Beispiel bewirkt diese Abbildung also jeweils
eine Verdopplung des Winkels. Stellen wir uns vor, eine Schlange winde sich
um die rechte Hälfte des Einheitskreises (von −i nach i). Nach Anwendung
von f erhalten wir folgendes Bild: die Schlange windet sich nun um den ganzen
Einheitskreis und beisst sich in den Schwanz.
Die rechte Halbebene G = {z ∈ C | Re(z) > 0} wird von f bijektiv auf
die geschlitzte Ebene abgebildet. Denn mit Polarkoordinaten können wir die
rechte Halbebene so beschreiben: G = {reiϕ | r > 0, − π2 < ϕ < π2 }, also ist
f (G) = {reiϕ | r > 0, −π < ϕ < π} .
Und dies ist nichts anderes als die oben beschriebene längs der negativen xAchse geschlitzte Ebene.
6. Die Zuordnung
f : z 7→
z−i
z+i
definiert eine Bijektion von der oberen Halbebene H auf die Einheitskreisscheibe E.
Denn diejenigen Punkte der komplexen Zahlenebene, die von i und −i gleich
weit entfernt sind, bilden gerade die reelle Achse, während sämtliche Punkte
oberhalb der reellen Achse näher an i als an −i liegen. Sämtliche Punkte unterhalb der reellen Achse sind von i weiter entfernt also von −i. Das bedeutet
für z ∈ C \ {i}:
f (z) ∈ E
⇔
|z − i| < |z + i|
⇔
z ∈ H = {z ∈ C | Im(z) > 0} .
Ausserdem ist die Zuordnung umkehrbar und daher bijektiv, denn aus f (z) =
w folgt z = i · 1+w
.
1−w
8
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
1.1.8 Bemerkung Fassen wir C als komplexen Vektorraum auf, handelt es sich um
einen eindimensionalen Vektorraum, und daher ist jede (über C) lineare Abbildung
L: C → C nichts anderes als eine Multiplikation mit einer festen komplexen Zahl,
bewirkt also eine Drehstreckung der komplexen Ebene, so wie gerade beschrieben.
Als reeller Vektorraum dagegen ist C zweidimensional. Wenn wir C mit R2 identifizieren, indem wir z = x + iy ∈ C durch (x, y) ∈ R2 ersetzen, können wir jede
(über R) lineare Abbildung
L: C → C als Multiplikation mit einer festen reellen
a b
beschreiben:
2 × 2-Matrix A =
c d
L(x + iy) =
a b
c d
x
·
.
y
1.1.9 Beispiel Die C-lineare Abbildung von C nach C, gegeben durch Multiplikation mit der komplexen Zahl w = a + ib, ist natürlich
auch
R-linear und entspricht
a
−b
auf R2 der Multiplikation mit der Matrix A =
. Konkret entspricht die
b a
0 −1
Multiplikation mit der Zahl i der Multiplikation mit der Drehmatrix
.
1 0
1.1.10 Folgerung Eine R-lineare Abbildung L: C → C ist genau dann C-linear,
wenn L(iz) = i L(z) für alle z ∈ C gilt. Dies ist äquivalent
dazu, dass die zugehörige
a −b
reelle 2 × 2-Matrix von der Form A =
und L(z) = (a + ib)z ist. Geomeb a
trisch bedeutet dies, dass die lineare Abbildung eine Drehstreckung der Gaussschen
Ebene ist.
Die komplexe Exponentialfunktion kann man folgendermassen definieren. Für
z = x + iy (x, y ∈ R) setzen wir
exp(z) = ez := ex · eiy = ex (cos y + i sin y) .
Diese Vorschrift garantiert, dass auch für die komplexe Exponentialfunktion die bekannten Potenzrechenregeln gelten, und sie definiert eine stetige Funktion. Weil die
reelle Exponentialfunktion nur positive Werte annimmt, ist das Bild der komplexen
Exponentialfunktion die punktierte Ebene C \ {0}. Die Funktion exp ist periodisch
in y mit Periode 2π, wenn wir sie aber einschränken, zum Beispiel auf den horizontalen Streifen zwischen −π und π, erhalten wir eine Bijektion mit der geschlitzten
Ebene:
exp: S = {z ∈ C | −π < Im(z) < π} → G = {z ∈ C | z ∈
/ R≤0 } .
Dabei werden Parallelen zur x-Achse auf Halbstrahlen in der geschlitzten Ebene
abgebildet, und senkrechte Abschnitte der Form {a + iy | y ∈ R, −π < y < π}
(a ∈ R fest) gehen über in Kreislinien um den Nullpunkt von Radius ea , denen der
Schnittpunkt mit der negativen reellen Achse fehlt.
1.1. Gebiete in der komplexen Zahlenebene
9
Da die Exponentialfunktion als Abbildung von S nach G bijektiv ist, können
wir sie dort umkehren und erhalten so den sogenannten Hauptzweig des komplexen
Logarithmus, nämlich:
ln: G = {reiϕ | −π < ϕ < π} → S,
ln(reiϕ ) = ln(r) + iϕ .
10
1.2
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
Komplexe Differenzierbarkeit
Analog zum reellen Fall definiert man komplexe Differenzierbarkeit folgendermassen:
1.2.1 Definition Sei G ⊂ C ein Gebiet und f : G → C eine komplexwertige Funktion. Die Funktion f ist komplex differenzierbar an der Stelle z0 ∈ G, falls der
Grenzwert
f (z0 + z) − f (z0 )
lim
= f ′ (z0 )
z→0
z
existiert. Ist dies der Fall, bezeichnet man f ′ (z0 ) als die komplexe Ableitung von
f an der Stelle z0 . Ist f auf ganz G komplex differenzierbar, nennt man f auch
holomorph auf G.
Äquivalent dazu ist die schon aus der reellen Situation bekannte Dreigliedentwicklung:
1.2.2 Bemerkung Die komplexe Funktion f : G → C ist genau dann an der Stelle
z0 ∈ G komplex differenzierbar, wenn es eine Zahl w ∈ C, eine Kreisscheibe Kǫ (z0 ) ⊂
G und eine Funktion r: K := Kǫ (0) → C gibt, so dass für alle z ∈ K gilt:
f (z0 + z) = f (z0 ) + w · z + r(z) ,
= 0. Ist dies der Fall, so ist w = f ′ (z0 ).
wobei limz→0 r(z)
z
1.2.3 Folgerung Ist eine komplexe Funktion komplex differenzierbar, so ist sie
auch stetig. Für die komplexe Ableitung gelten analoge Rechenregeln wie für die
reelle Ableitung von reellwertigen Funktionen in einer reellen Variablen, nämlich
die Summenregel, die Produktregel, die Quotientenregel und die Kettenregel. Die
Beweise lassen sich wörtlich übertragen.
Zum Beispiel ist die Ableitung der Funktion f (z) = z n (n ∈ N, z ∈ C) wie erwartet f ′ (z) = nz n−1 für alle z ∈ C. Dies ergibt sich durch vollständige Induktion aus
der Produktregel. Mithilfe der Quotientenregel kann man zeigen, dass die Ableitung
der Funktion g: C∗ → C, definiert durch g(z) = z1 , lautet: g ′(z) = − z12 . Ist p eine
Polynomfunktion von Grad n der Form p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 , dann
gilt wegen der elementaren Rechenregeln für Ableitungen analog zum reellen Fall:
p′ (z) = nz n−1 + an−1 (n − 1)z n−2 + . . . + a1 .
Die Ableitung p′ ist also eine Polynomfunktion von Grad n − 1. Auch sämtliche
rationalen Funktionen in einer komplexen Variablen sind komplex differenzierbar.
Die komplexe Ableitung können wir mithilfe der Quotientenregel bestimmen.
1.2.4 Bemerkung Die komplexe Konjugation ist an keiner Stelle komplex differenzierbar. Denn sei z0 ∈ C fest gewählt. Dann ist
z0 + ti − z0
z0 + t − z0
= −1 6= 1 = lim
.
t∈R,t→0
t∈R,t→0
ti
t
lim
Die komplexe Ableitung an der Stelle z0 kann also nicht existieren.
1.2. Komplexe Differenzierbarkeit
11
Kommen wir nun zu einer weiteren Charakterisierung der komplexen Differenzierbarkeit. Dazu werden wir komplexwertige Funktionen in einer komplexen Variablen als Funktionen in zwei reellen Variablen mit Werten in R2 interpretieren. Ein
vorgegebenes Gebiet G ⊂ C können wir natürlich als Teilmenge D des R2 auffassen,
indem wir setzen D := {(x, y) ∈ R2 | x + iy ∈ G}. Ist f : G → C eine komplexwertige
Funktion, so können wir die Bilder von f jeweils in Real- und Imaginärteil zerlegen,
und erhalten so reellwertige Funktionen u, v auf D:
f (x + iy) = u(x, y) + iv(x, y).
Der komplexen Funktion f entspricht also die reelle Abbildung
u(x, y)
2
F : D → R , (x, y) 7→
.
v(x, y)
1.2.5 Beispiele
• Die Multiplikation mit der Zahl i liefert die Abbildung f : C →
C, gegeben durch f (x + iy) = i(x + iy) = −y + ix. Real- und Imaginärteil
lauten also hier u(x, y) = −y und v(x, y) = x. Die entsprechende reelle Abbildung ist gegeben durch die Multiplikation mit der Drehmatrix zum Winkel
90◦ :
−y
0 −1
x
2
2
F : R → R , F (x, y) =
=
.
x
1 0
y
• Zu der Funktion f (z) = z 2 auf G = C gehört die Abbildung
2
x − y2
2
2
.
F : R → R , F (x, y) =
2xy
Denn hier ist f (x + iy) = (x + iy)2 = (x2 − y 2) + i(2xy).
Erinnern wir nun zunächst an die Definition der Differenzierbarkeit einer reellen
Transformation F : D ⊂ R2 → R2 .
1.2.6 Definition Die Funktion F heisst reell differenzierbar an der Stelle p ∈ D,
wenn es eine R-lineare Abbildung L: R2 → R2 gibt derart, dass
lim
h→0
|F (p + h) − F (p) − L(h)|
= 0.
|h|
Ist dies der Fall, so ist die lineare Abbildung L eindeutig bestimmt und wird als
Differential DFp von F an der Stelle p bezeichnet.
Die reelle Differenzierbarkeit bedeutet, dass sich die Transformation F lokal in
der Nähe von p gut durch eine konstante plus eine lineare Transformation approximieren lässt. Denn es gilt für alle (betragsmässig genügend kleine) v ∈ R2 :
F (p + v) = F (p) + DFp (v) + R(v) · |v| ,
wobei der “Rest” R eine reelle Funktion nach R2 ist mit lim|v|→0 |R(v)| = 0.
Vergleichen wir jetzt komplexe und reelle Differenzierbarkeit, stellen wir folgendes fest:
12
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
1.2.7 Satz Die Funktion f : G → C ist genau dann im Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ G
komplex differenzierbar, wenn die entsprechende Abbildung F : D → R2 im Punkt
(x0 , y0) reell differenzierbar ist und das Differential DF(x0 ,y0 ) von F an dieser Stelle
C-linear ist. Das bedeutet, dass die lineare Abbildung DF(x0 ,y0 ) eine Drehstreckung
ist und sich daher als Multiplikation mit einer komplexen Zahl auffassen lässt. Diese
komplexe Zahl wiederum ist nichts anderes als die komplexe Ableitung von f bei z0 .
1.2.8 Beispiele
• Die Funktion f (z) = z 2 (z ∈ C) hat die komplexe Ableitung
f ′ (z) = 2z. Es ist also f ′ (x + iy) = (2x)+ i(2y). Die f entsprechende reelle
x2 − y 2
, hat an der Stelle (x, y)
Abbildung F , gegeben durch F (x, y) =
2xy
die Jacobimatrix
2x −2y
.
2y 2x
Die Einträge in der ersten Spalte der Jacobimatrix stimmen also wie erwartet
mit dem Real- bzw. Imaginärteil von f ′ überein.
• Die komplexe Konjugation C → C, z 7→ z ist zwar überall reell differenzierbar.
Denn die entsprechende reelle Abbildung von R2 nach R2 ist die Spiegelung
an der reellen Achse. Da es sich bereits um eine lineare Abbildung handelt,
stimmt das Differential anjeder Stelle
mit dieser Spiegelung überein. Die ent1 0
sprechende Matrix lautet
, es ist also keine Drehstreckung! Deshalb
0 −1
lässt sich das Differential nicht als Multiplikation mit einer komplexen Zahl
auffassen. Und, wie oben bereits auf andere Weise gezeigt, ist die komplexe
Konjugation ja auch an keiner Stelle komplex differentierbar.
Wir können die Drehstreckungen auch als diejenigen linearen Abbildungen von
R2 nach R2 charakterisieren, die winkeltreu und orientierungserhaltend sind (siehe
Übungsaufgabe). Daraus ergibt sich folgende Umformulierung des Satzes:
1.2.9 Folgerung Die Funktion f : G → C ist genau dann im Punkt z0 = x0 +iy0 ∈
G komplex differenzierbar, wenn die entsprechende Abbildung F : D → R2 im Punkt
(x0 , y0) reell differenzierbar ist und das Differential DF(x0 ,y0 ) von F an der Stelle
(x0 , y0) winkeltreu und orientierungserhaltend oder die Nullabbildung ist.
Ist f auf G holomorph und f ′ (z) 6= 0 für alle z ∈ G, so nennt man deshalb f
auch lokal konform. Das bedeutet genauer folgendes: Sind γ1 und γ2 parametrisierte
Kurven im Gebiet G, die sich im Punkt z0 unter dem Winkel α schneiden, so werden
sie von f in ein Kurvenpaar überführt, das sich im Punkt f (z0 ) ebenfalls unter dem
Winkel α schneidet.
1.2. Komplexe Differenzierbarkeit
13
γ1
z0
b
f
α
f (z0 )
b
α
f (γ1 )
f (γ2 )
γ2
Beweis. Denn ist γj : (−ǫ, ǫ) → G mit γj (0) = z0 , folgt aus der Kettenregel
d
(F (γj (t)) = DFz0 (γ̇j (0)) .
dt
t=0
Das Differential DFz0 bildet also den Tangentialvektor der Kurve γj bei z0 auf den
Tangentialvektor der Kurve f ◦ γj an der Stelle f (z0 ) ab. q.e.d.
Bezeichnen wieder u und v den Realteil bzw. den Imaginärteil von f , und verwenden wir für die partiellen Ableitung von u die Schreibweise ux := ∂u
, uy := ∂u
∂x
∂y
(und entsprechend für v), so lautet die Jacobimatrix von F an der Stelle (x0 , y0 ):
ux (x0 , y0) uy (x0 , y0)
JF (x0 , y0) =
.
vx (x0 , y0 ) vy (x0 , y0 )
Das Differential DFx0 ,y0 ist also genau dann eine Drehstreckung (oder die Nullmatrix), wenn
ux (x0 , y0 ) = vy (x0 , y0) und uy (x0 , y0) = −vx (x0 , y0 ) .
Diese Beobachtung liefert folgendes Kriterium:
1.2.10 Satz Eine Funktion f : G → C ist genau dann holomorph auf G, wenn die
entsprechende Abbildung F : D → R2 auf ganz D reell differenzierbar ist und die
sogenannten Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt sind, nämlich:
ux = vy
und uy = −vx
auf ganz D.
Ist dies der Fall, so ist f ′ (x + iy) = ux (x, y) + ivx (x, y) für alle x + iy ∈ G.
Wenden wir dies Kriterium nun an, um die Ableitung der komplexen Exponentialfunktion zu bestimmen.
1.2.11 Beispiel Die komplexe Exponentialfunktion ist gegeben durch ez = ex eiy
für z = x + iy. Hier lautet also der Realteil u(x, y) = ex cos(y) und der Imaginärteil
v(x, y) = ex sin(y). Die partiellen Ableitungen sind ux (x, y) = ex cos(y) = u(x, y),
uy (x, y) = −ex sin(y), vx (x, y) = ex sin(y) = v(x, y), vy (x, y) = ex cos(y). Also sind
die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen hier erfüllt, und die komplexe Exponentialfunktion ist holomorph. Ausserdem stimmt die Ableitung der komplexen
Exponentialfunktion (wie schon im reellen Fall) mit sich selbst überein.
14
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
Hier sind noch zwei weitere Beispiele:
1.2.12 Beispiele Die Funktion f : C → C, definiert durch f (x+iy) = (x2 −y 2 +x)+
i(y+2xy) hat den Realteil u(x, y) = x2 −y 2 +x und den Imaginärteil v(x, y) = y+2xy.
Berechnet man die partiellen Ableitungen von u und v erhält man
ux (x, y) = 2x + 1 = vy (x, y) und uy (x, y) = −2y = −vx (x, y) .
Die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen sind also erfüllt und das heisst,
f ist holomorph. Ausserdem ist f ′ (x + iy) = ux (x, y) + ivx (x, y) = 1 + 2x + i2y.
Man hätte dies auch direkt sehen können, denn tatsächlich ist f (z) = z + z 2 , also
holomorph mit f ′ (z) = 1 + 2z.
Die Funktion g: C → C mit Realteil u(x, y) = x2 − y 2 + x und Imaginärteil
v(x, y) = 2xy − y ist dagegen nicht holomorph, denn hier gilt ux (x, y) = 2x + 1 6=
vy (x, y) = 2x − 1. Die Cauchy-Riemann-Bedingung ist also sogar an keiner einzigen
Stelle des Definitionsbereiches erfüllt.
Wir können ausserdem festhalten, dass eine holomorphe Funktion durch ihren Realteil bereits bis auf Konstante eindeutig festgelegt ist. Denn der dazu passende Imaginärteil muss ja dann die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen
erfüllen.
1.2.13 Beispiel Nehmen wir an, der Realteil u(x, y) = xy + 2x für (x, y) ∈ R2 sei
vorgegeben und v bezeichne einen dazu passenden Imaginärteil, so dass u + iv = f
holomorph ist. Versuchen wir v aus u zu rekonstruieren. Es muss gelten
ux (x, y) = y + 2 = vy (x, y) .
Daraus ergibt sich durch Integration über y:
Z
Z
y2
v(x, y) = vy (x, y)dy + C(x) = (y + 2)dy + C(x) =
+ 2y + C(x) ,
2
wobei C: R → R eine Funktion ist, die nur von x abhängt. Setzt man nun in die
zweite Cauchy-Riemann-Gleichung ein, erhält man die Bedingung:
−uy (x, y) = −x = vx (x, y) = C ′ (x) .
R
2
Also ist C(x) = − x dx + c = − x2 + c für eine geeignete Konstante c ∈ R. Das
bedeutet:
y2
x2
v(x, y) =
+ 2y −
+ c.
2
2
Die sich daraus ergebende Funktion
y 2 − x2
+ 2y + c) (c ∈ R konstant)
f (x + iy) = xy + 2x + i(
2
ist nach Konstruktion tatsächlich holomorph. Es ist nichts anderes als die Funktion
f (z) = 2z − 12 iz 2 + ic.
1.2. Komplexe Differenzierbarkeit
15
1.2.14 Bemerkung Eine Funktion u ∈ C 2 (G) kommt nur dann als Realteil einer
holomorphen Funktion auf G in Frage, wenn gilt ∆u = 0.
Wie wir gesehen haben, lässt sich die Exponentialfunktion vom Reellen ins Komplexe fortsetzen. Auch die trigonometrischen Funktionen haben komplexe Entsprechungen, die man mithilfe der Exponentialfunktion definieren kann, indem man festsetzt:
1
cos(z) := (eiz + e−iz ) und
2
sin(z) :=
1 iz
(e − e−iz ) für z ∈ C.
2i
Real- und Imaginärteil der komplexen Cosinusfunktion lauten Re cos(x + iy) =
cos(x) cosh(y) und Im cos(x + iy) = − sin(x) sinh(y).
Die so definierten komplexen Funktionen sind holomorph und es gilt:
d
sin(z) = cos(z),
dz
d
cos(z) = − sin(z) für z ∈ C.
dz
Ausserdem bleiben die bekannten Identitäten auch im Komplexen gültig. Zum Beispiel kann man durch Nachrechnen überprüfen, dass
sin2 (z) + cos2 (z) = 1 für alle z ∈ C.
Kommen wir nun noch einmal auf Polynomfunktionen zurück. Sei p eine Polynomfunktion von Grad n > 1 der Form p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 . Dann
gilt wie schon bemerkt:
p′ (z) = nz n−1 + an−1 (n − 1)z n−2 + . . . + a1 .
Die Ableitung p′ ist also eine Polynomfunktion von Grad n − 1. In der reellen Situation sagt der Satz von Rolle, dass zwischen je zwei benachbarten Nullstellen eines
Polynoms mindestens eine Nullstelle der Ableitung des Polynoms zu finden ist. Die
komplexe Entsprechung dieser Aussage lautet folgendermassen:
1.2.15 Satz Seien z1 , . . . , zn die komplexen Nullstellen des Polynoms p, und bezeichne K die konvexe Hülle von z1 , . . . , zn , das heisst
K := {
n
X
j=1
tj zj | tj ∈ R≥0 ,
n
X
tj = 1} .
j=1
Dann liegt jede Nullstelle des Polynoms p′ in K.
1.2.16 Beispiele
• Ist p(z) = z n − 1, so sind die Nullstellen von p gerade die
n-ten Einheitswurzeln und ihre konvexe Hülle K ist ein regelmässiges n-Eck
in der komplexen Ebene mit dem Nullpunkt im Zentrum. Die Ableitung von
p lautet p′ (z) = nz n−1 , hat also 0 als (n − 1)-fache Nullstelle. Also liegt hier
die Nullstelle von p′ sogar im Zentrum von K.
16
Kapitel 1. Differential- und Integralrechnung im Komplexen
• Sei jetzt p(z) = (z 2 − 1)(z − i) = z 3 − iz 2 − z + i. Die Nullstellen −1, 1, i von
p erzeugen ein rechtwinkliges Dreieck K in der komplexen Ebene. Man
√ kann
1
′
2
ausrechnen, dass p (z) = 3z − 2iz − 1 die Nullstellen z1 = 3 (i + 2) und
√
z2 = 13 (i − 2) hat. Diese beiden Punkte befinden sich tatsächlich im Innern
des Dreiecks.
• Die Nullstellen des Polynoms p(z) = z 3 − z 2 + z − 1 sind z =√ ±i und z = 1.
Das Polynom p′ (z) = 3z 2 − 2z + 1 hat die Nullstellen z = 1±i3 2 .
Hier nun die Begündung des Satzes:
Beweis. Sei ohne Einschränkung p normiert. Nehmen wir an, mindestens eine Nullstelle z0 von p′ liege nicht in der konvexen Hülle K der Nullstellen von p, sondern
ausserhalb. Weil die Menge K kompakt ist, gibt es einen Punkt w auf dem Rand
−w
von K, in dem der Abstand zu z0 minimal wird. Die komplexe Zahl v := |zz00 −w|
entspricht demjenigen Vektor in R2 , der von w aus in Richtung von z0 zeigt und
Länge 1 hat. Sei jetzt ǫ > 0 klein genug gewählt, so dass z0 − ǫv noch ausserhalb
von K ist, und schauen wir uns folgende Funktion an:
g: (−ǫ, ǫ) → R>0 ,
g(t) = |p(z0 + tv)| .
Weil |p(z)| = |z − z1 | · |z − z2 | . . . |z − zn | ist, gibt g(t) das Produkt der Abstände
von z0 + tv zu den Punkten z1 , . . . , zn an. Mit wachsendem t entfernen wir uns von
der Menge K, die Funktion g ist also streng monoton wachsend. Ausserdem ist g
als Produkt der konvexen Funktionen gj (t) = |z0 + tv − zj | ebenfalls konvex. Daraus
folgt g ′ (0) > 0. Andererseits können wir die Ableitung von g mit der Kettenregel
berechnen. Denn g ist zusammengesetzt aus der Abbildung g1 : t 7→ z0 + tv ∈ R2 ,
der Abbildung P : R2 → R2 , die der komplexen Polynomfunktion p entspricht, und
schliesslich der Längenfunktion B = | · |: R2 → R. Weil p′ (z0 ) = 0 ist, muss die
Jacobimatrix von P an der Stelle z0 die Nullmatrix sein. Aus der Kettenregel folgt
jetzt:
g ′(0) = DBp(z0 ) · DPz0 · v = 0 .
Man beachte, dass die Längenfunktion B bei p(z0 ) differenzierbar ist, weil p(z0 ) 6= 0
ist. Dies ist aber ein Widerspruch.
q.e.d.
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