Lukas Richterich Glücklich ± auch nach sieben Jahren

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Lukas Richterich
Glücklich ± auch nach sieben Jahren
Band 5066
Das Buch
Vieles, wovon der Autor in diesem Taschenbuch spricht,
klingt fast banal. Vielleicht wird es deswegen zu wenig
ernst genommen; vielleicht ist dies der Grund, weshalb
immer noch so viele Paare im Alltag scheitern. Da ist
zum Beispiel die Rede davon, dass es bei dauerhaften Beziehungen einen Ausgleich geben muss zwischen Geben
und Nehmen; dass zu einem gelungenen Gespräch nicht
nur das Reden, sondern auch das beiderseitige Zuhören
gehört; dass jeder auch seinen Freiraum für sich braucht
und dass dieser bei verschiedenen Menschen verschieden
groû sein kann; dass es auch nach Jahren des Zusammenlebens Umgangsformen der Höflichkeit und gegenseitigen Wertschätzung geben muss; dass auch Erotik und Sexualität nach Jahren bewusst gepflegt werden und man,
ohne verletzend zu sein, darüber reden kann ± und vieles
andere. Natürlich darf und muss es auch kleine und groûe
Probleme geben. Die Frage ist nur, ob man um jede Kleinigkeit streiten muss und wie man verhindern kann, dass
aus jeder Mücke gleich ein Elefant wird. ± Ein praktisches, anschauliches, hilfreiches Buch für Paare, die es
miteinander ernst meinen. Ein unentbehrlicher Ratgeber
für das dauerhafte Glück zu zweit.
Der Autor
Dr. Lukas Richterich ist Fachpsychologefür Psychotherapie FSP mit eigener Praxis für Einzel- und Paartherapie in
Basel. Er ist zudem als Supervisor und Dozent tätig u. a.
bei der Ausbildung von Psychotherapeuten an der Universität Basel.
Lukas Richterich
Glücklich ± auch nach
sieben Jahren
Das Geheimnis einer guten Partnerschaft
Herder
Freiburg ´ Basel ´ Wien
Gedruckt auf umweltfreundlichem,
chlorfrei gebleichtem Papier
Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten ± Printed in Germany
Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2001
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe 2001
Umschlaggestaltung und Konzeption:
R´M´E München / Roland Eschelbeck, Liana Tuchel
Umschlagmotiv: Image Bank
ISBN 3 - 451- 05066 - 8
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der lange Weg zu zweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
¹Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inneª ±
Der Anfangstraum der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
¹Wie war das noch mal?ª ± Geschichte in Variationen
¹So weit ists mit uns gekommen!ª . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tief im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wie kommen wir hier raus? ±
Im Kreis haben wir uns genug gedreht! . . . . . . . . . . . . . . . .
¹Hörst du mir überhaupt zu?ª ±
Vom guten Reden und vom guten Schweigen . . . . . . . . .
¹Doch nicht zu einer Gartenschau!ª ±
Von gemeinsamen und andern Interessen . . . . . . . . . . . . .
¹Typisch!ª ±
Von Vorurteilen und dem groûen kleinen Unterschied
¹ Nur das eine im Kopf!ª ±
Von der Freude und dem Leiden an der Lust . . . . . . . . . .
¹Du willst alleine verreisen?ª ±
Von der notwendigen Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
¹Du behandelst mich wie den letzten Dreckª ±
Von der Höflichkeit zwischen Partnern . . . . . . . . . . . . . . .
¹Groûeltern werden wir nie sein!ª ±
Auch Paare ohne Kinder brauchen Zukunft . . . . . . . . . . .
7
9
13
13
20
32
41
41
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81
5
¹Du hast eine andere, gibs zu!ª ±
Von Untreue und Ehebruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
¹Was ist das für ein Knoten?ª ± Diagnose: Krebs . . . . . . 91
¹Es ist so schwer!ª ± Glück wird Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
¹Ich glaube du brauchst einen Psychiater!ª ±
Vom guten Umgang mit psychischen Problemen . . . . . 102
¹Jetzt lass doch die Kinder aus dem Spiel!ª ±
Als Paar (wieder) alleine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
¹Sprich jetzt nicht davon!ª ±
Von Krankheit, Alter und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Ratschläge und Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Was weiû die Psychologie vom Leben? . . . . . . . . . . . . . . . .
Alles nur Kommunikation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anstelle einer Zusammenfassung ± 10 Tipps . . . . . . . . .
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121
122
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Schluss ± Ist Glück Zufall?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
Literatur
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Vorwort
Dieses Buch ist aus meiner jahrelangen Beschäftigung mit
dem Thema Partnerschaft hervorgegangen.
Das Buch beruht in erster Linie auf meinen Erfahrungen
als Psychologe mit dem Schwerpunkt Paartherapie. Von den
vielen Paaren, die ich in meiner Praxis kennen gelernt habe,
habe ich am meisten über Partnerschaft gelernt. Die Beispiele im Text stammen denn auch zum gröûten Teil von
Patienten. Selbstverständlich sind alle Namen und wichtigen Lebensumstände so verändert, dass die Anonymität geschützt bleibt. Allen diesen Menschen bin ich zu Dank verpflichtet.
Über Paarbeziehung kann man nicht schreiben, ohne die
eigenen Lebenserfahrungen als Partner mit einzubeziehen.
Mein gröûter Dank gilt meiner Frau und Berufskollegin Vreni. Ohne sie hätte ich das Buch nicht schreiben können.
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Einleitung
Haben sie noch im Ohr, wie die Beatles sangen: ¹Its getting
better all the timeª? Das waren noch Zeiten, werden sie
vielleicht seufzen. ¹Its getting better all the time ¼ since
youve been mine.ª So geht das Lied weiter.
Wer möchte das nicht zu seinem Partner oder seiner
Partnerin sagen können: Es wird immer besser, seit wir zusammen sind! Das klingt wie im Märchen: ¹Und sie lebten
glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben
sind ¼ª
Doch die Realität sieht nicht so rosig aus. Der Anfangstraum der Liebe weicht dem mühsamen und beschwerlichen Alltag. Auf die Traumhochzeit folgt oft der Albtraum.
Die gemeinsame Reise führt jedes Paar auch durch entbehrungsreiche Wüsten. Das Leben stellt Anforderungen, die
Kraft und Mut kosten. Enttäuschung macht sich breit, der
Traum verblasst. In der psychologischen Sprechstunde begegne ich Paaren, die auf ihrem Weg in Sackgassen geraten
sind. Verzweiflung und Verbitterung sind um solche Paare
beinahe körperlich zu spüren. Ich vergleiche diese Stimmung dann oft für mich mit der abgestandenen Luft, die einem in einem alten, schäbigen Hotelzimmer entgegenschlägt. Die Luft von Einsamkeit und Sorge. Sogar der kalte
Wind der Feindschaft weht zwischen Menschen, die sich
einmal geliebt haben.
Ich treffe aber auch auf Paare, die von gegenseitiger Wertschätzung, von Verständnis und Liebe berichten und die die9
se Haltung auch ausstrahlen. Solche glücklichen Paare machen keine Schlagzeilen. Für sie mag der Beatles-Text sogar
stimmen: Ihr Glück wächst und wächst. Zwischen ihnen
strahlt ein Licht, das wärmt und erfreut.
Wie kommt es, dass die einen so unglücklich werden, die
andern aber miteinander und aneinander wachsen? Die
Partner eines glücklichen und eines unglücklichen Paares
unterscheiden sich als Personen nicht grundlegend. Es sind
Frauen und Männer mit den gleichen Wünschen, den gleichen ¾ngsten und den gleichen Lebensproblemen. Es
scheint mir oft, wie wenn die unglücklichen Paare blind geworden wären für das Gute, das sie in sich tragen. Sie haben
sich in Muster verstrickt, aus denen sie nicht mehr herausfinden und über die die Umwelt nur noch den Kopf schütteln mag.
Wie lässt sich etwa anders reagieren als mit bedauerndem Staunen, Mitgefühl ± und Kopfschütteln, wenn ein
Paar erzählt, in ihrer gemeinsamen Küche stünden zwei
mit Schloss gesicherte Kühlschränke? Der eine für die Frau,
der andere für den Mann. Da leben zwei Menschen über
Jahrzehnte auf engstem Raum, verstrickt in einen Kampf,
gefangen in Leid und Hass.
Zerstörerische Muster in Paarbeziehungen verwandeln
Menschen in Karikaturen ihrer selbst: Frauen und Männer,
die von sich selber sagen, sie seien ¹eigentlichª freundliche
Menschen, verhalten sich hässlich und gemein.
Mir fällt das vor allem dann auf, wenn ich jemanden, den
ich aus Paargesprächen kenne, im Einzelkontakt erlebe. Die
Wahrheit, wie sie der Einzelne erlebt, ist oft ganz anders als
diejenige des Partners und nochmals verschieden von der
gemeinsamen Wahrheit des Paares.
10
Das erinnert mich an eine Anekdote, die aus der jüdischen
Kultur überliefert ist:
Ein Mann kommt zum Rabbi und beschwert sich über
seinen Nachbarn. Er legt seinen Fall dar und der Rabbi sagt
zu ihm: ¹Du hast Recht!ª Da kommt der Nachbar, erzählt
seine Geschichte und der Rabbi sagt auch zu ihm: ¹Du
hast Recht!ª Der Gehilfe des Rabbi sagt zu seinem Meister:
¹Aber Rabbi, du kannst doch nicht zuerst dem einen und
dann dem andern Recht geben.ª Der Rabbi streicht sich seinen Bart und sagt: ¹Auch du hast Recht.ª
Paare die sich um ihre Beziehung bemühen, sind jedoch
nicht hilflos den Schlingen und Fallen der Beziehung ausgeliefert. Es ist möglich, gemeinsam die Beziehung zu gestalten und zu verändern.
Dieses Buch will Mut dazu machen, ohne zu beschönigen. Es will die Augen öffnen für Chancen, die am Wege liegen. Ein gelassener Blick auf Grenzen und Möglichkeiten
der eigenen Situation hilft oft weiter als der Ruf nach radikaler Veränderung.
Vor kurzem stand ich an einer Bushaltestelle, neben mir
warteten zwei Frauen, Freundinnen auf dem Weg in die
Stadt. Sie sprachen offenbar über ihre Männer. Ich schnappte aus ihrem vertraulichen Gespräch nur den Satz auf: ¹Ja,
was soll ich machen, ich sag mir halt dann, ich bin zufrieden damit, was ich habe, es kommt eh nichts Besseres
nach.ª Hat diese Frau resigniert? Ist sie unglücklich in ihrer
Ehe? Oder spricht aus ihr ein nachsichtiges Verständnis für
die Unzulänglichkeiten und Schwachstellen des geliebten
Partners? Ist sie in ihrer Ehe etwa sogar zufrieden?
11
Wer weiû! Die Bemerkung ist mir vermutlich nur im Gedächtnis geblieben wegen ihres Tonfalls. Ich spürte darin etwas von einer Lebenserfahrung, die gelassen und heiter
macht. Diese Haltung tut Paarbeziehungen gut!
Meine Frau und ich leben nun schon seit über zwanzig Jahren zusammen. Auch wir sind in dieser Zeit durch unterschiedliche Entwicklungen gegangen. Für viele Paare, die
wie wir ohne Kinder älter werden, stellt sich die Frage nach
dem Sinn und der Qualität ihrer Beziehung ganz besonders.
Der Reichtum unserer Beziehung ist auch eine Quelle für
meine professionelle Paararbeit geworden.
Genauso lang wie ich verheiratet bin, habe ich beruflich mit
Paaren zu tun. Von all den ratsuchenden Menschen habe ich
viel über die alltägliche Wirklichkeit in Paarbeziehungen
erfahren. Immer wieder bin ich beeindruckt vom Leiden,
das Menschen in ihren Partnerschaften erleben, aber auch
vom Mut, mit dem sie ihre ganz persönlichen Herausforderungen angehen ± und natürlich von den Lösungen, die sie
finden, um ihre Beziehung zu verbessern. Von all dem soll
hier die Rede sein.
Dieses Buch ist ein Lesebuch, kein Lehrbuch. Lesen sie darin, was sie interessiert. Die einzelnen Kapitel sind in sich
abgeschlossen und können je für sich gelesen werden. Vielleicht lesen sie dieses Buch alleine? Vielleicht bitten sie ihren Partner, es auch zu lesen? Vielleicht lesen sie ihm oder
ihr daraus vor? Oder sie lassen ihn einfach die positiven
Auswirkungen ihrer Lektüre spüren? Wie sie dieses Buch
auch immer lesen mögen: Tun sie es mit der neugierigen
Frage: ¹Was mache ich aus dem, was das Leben aus mir gemacht hat?ª Meine Antwort ist klar: ¹Das Beste!ª
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Der lange Weg zu zweit
¹Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inneª ±
Der Anfangstraum der Liebe
¹Meine Tochter ist verliebtª, erzählt Marion ihren Arbeitskolleginnen. Die Frauen stehen zusammen beim Kaffee. Es
ist Büropause, morgens um neun Uhr dreiûig. ¹Also wisst
ihr, sie ist ja jetzt erst siebzehn, aber diesmal scheint es
wirklich ernst zu sein. Und ihr Lover gefällt mir auch gut.
So ein süûer Junge!ª Die Frauen kichern verhalten. Sie freuen sich über die Geschichte. Und jede hängt einen Moment
ihren Gedanken nach. Schlieûlich bringt es Judith, eine
stämmige Mitvierzigerin, auf den Punkt. Sie seufzt: ¹Ja das
wäre schön! Sich wieder mal verlieben, wieder einmal dieses besondere Gefühl hier drin spüren.ª Judith legt sich
leicht ihre Hand auf eine Stelle zwischen Brust und Bauch.
Ich spreche mit Erich und Denise, einem in Ehren ergrautem
Ehepaar, seit vielen Jahren verheiratet. Von Verliebtheit ist
bei ihnen beim besten Willen nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: In der gleichen leicht zusammengesunkenen Körperhaltung sitzen sie mir gegenüber, resigniert, ohne Hoffnung auf Verbesserung ihres stummen Unglücks. Doch ich
staune nicht schlecht über ihre Verwandlung, als wir uns,
kaum zehn Minuten später, über die Umstände ihrer ersten
Begegnung unterhalten. Denise, eine kleine, etwas füllige
Frau, beginnt zu erzählen, wie das war, an jenem fernen Tag
im Juni 1978, als sie sich im Personalrestaurant der Post zufällig gegenübersaûen. Sie beschreibt ihre Nervosität, er13
zählt, wie sie gekleidet gewesen war, über was sie gesprochen haben. Erich fällt ihr ins Wort, und gemeinsam versuchen sie, jenen Moment zu rekonstruieren. Sie lächeln
sich sogar kurz zu, als sie über eine besonders schöne Erinnerung sprechen. Der Zauber ihres gemeinsamen Anfangs
erfasst sie von neuem, wenn sie ihn in Gedanken wiederbeleben.
Das Gefühl des Verliebtseins steht als groûes Versprechen
am Beginn von Paarbeziehungen. Unzählige Dichter und
Schriftsteller haben diese Liebessituation beschrieben und
besungen. Zwei Menschen werden füreinander einzigartig.
Das Herz schlägt schneller, wenn der Geliebte oder die Geliebte erscheint. Er oder sie wird zum Schönsten und zur
Einzigen. Um das Paar bildet sich eine Wolke von Begehren
und Wünschen, von Sehnsucht und Erfüllung, sie treibt die
beiden zueinander und spinnt sie ein. Nähe und Liebe, sexuelles Begehren und romantische Zärtlichkeit verschmelzen
in einem Taumel von Gefühlen und Wärme. Muss ich diesen Zustand noch weiter beschreiben? Wer ihn nicht als Erfüllung kennt, kennt ihn als Wunsch. Es ist der Wunsch, das
Alleinsein aufheben zu können, eins zu werden mit einem
andern Menschen. Und dabei ganz zu sich zu kommen.
Und wer kennt nicht die andere Seite: ¹Ich weiû selber
nicht, was ich in ihr gesehen habe. Jetzt ist sie mir nur
noch lästig. Wie ich sie wohl wieder loswerde?ª Oder: ¹Zu
Beginn, ja da war vielleicht schon so etwas wie Verliebtheit
da, aber das war rasch vorüber. Schon nach ein zwei Wochen
hat das ganz anders ausgesehen. Da habe ich angefangen,
mich über ihn aufzuregen, wenn er mich nicht ausreden
lieû. Immer wollte er bestimmen. Doch, eigentlich war das
schon damals so, und ich wusste immer schon, das kann
nicht gut gehen mit uns.ª Unschöne Worte, doch unbekannt sind solche Gedanken und Gefühle kaum.
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Viele Liebesbeziehungen kommen nicht über das Stadium der Verliebtheit hinaus. Sie lösen sich bald wieder auf,
bleiben Episoden im Leben der Beteiligten. Andere Beziehungen verändern und entwickeln sich. Sie werden verbindlicher.
Aber Verliebtheit, der Anfangstraum der Liebe, hält nicht
ein Leben lang. Zwar können zwei Menschen auch nach
Jahrzehnten immer neu füreinander verliebte Gefühle und
erotische Anziehung empfinden, doch Verliebtheit ist nicht
alles. Martin, seit über dreiûig Jahren verheiratet, drückt
sich so aus: ¹Da gibt es noch anderes als Verliebtheit. Es ist
nicht Verliebtheit, die uns seit Jahrzehnten ein glückliches
Paar sein lässt. Und schon gar nicht Sex. Ich nenne das ¹Liebeª, nicht Verliebtheit. Das fühlt sich anders an, wärmer
und voller.ª Doch davon später. Bleiben wir zunächst noch
etwas beim Anfangstraum, bei der Verliebtheit.
Was steckt denn eigentlich hinter diesem Gefühl? Wie
funktioniert Verliebtheit? Lohnt es sich, über das Verliebtsein nachzudenken?
Ich meine, ja! Mehr Wissen über sich und die andern
trägt zu mehr Autonomie bei. Es vergröûert die Möglichkeiten, ein befriedigendes Leben aktiv zu gestalten. Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis sind schon seit jeher
zentrale Elemente der Lebensschulung. Es macht Sinn,
auch intime und sehr persönliche Erfahrungen zu hinterfragen und die Ideen kennen zu lernen, mit denen die wissenschaftliche Psychologie menschliches Erleben und Verhalten erklärt. Psychologie hat nichts mit esoterischem oder
schöngeistigem Zeitvertreib zu tun. Sie liefert handfeste Erklärungen für wichtige Zusammenhänge in unserem Leben.
Betrachten wir also das Phänomen des Verliebtseins. In der
Sozialpsychologie spricht man von ¹romantischer Liebeª,
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mit einem interessierten, aber auch etwas distanzierten
Blick: Wieso sind wir Menschen so gebaut, dass wir uns in
einer Weise verlieben und verlieren können, ¹die uns den
Kopf verdrehtª? Wieso stimmt der Satz von der Liebe ¹die
blind machtª so oft?
In allen Kulturen und zu allen Zeiten bilden Familien als intime Beziehungssysteme die Grundlage für die Lebensgemeinschaft von Menschen. Menschen wachsen in Familien auf, mit Vater, Mutter, Geschwistern, aber auch mit
andern Erwachsenen, z. B. Stiefvater oder Groûeltern und
mit weiteren Kindern wie Stief- oder Halbgeschwistern.
In der Familie erlebt das Kind Schutz und Bindung.
Durch eine stabile Bindung zu einem oder mehreren Menschen erwerben wir Vertrauen in uns und in die Welt. Dieses Vertrauen bildet die Grundlage für den nächsten Entwicklungsschritt: Kinder sind neugierig, sie erforschen und
erobern ihre Umgebung. Sie fragen, sie spielen, sie probieren. Wächst das Kind zum Jugendlichen heran, werden
Freundinnen und Freunde zunehmend wichtiger. Die
Gleichaltrigen, die Clique oder die beste Freundin, sind
nun zentrale Orientierungsgröûen auûerhalb der Familie.
Die Familie ist nicht mehr der alleinige Mittelpunkt der
persönlichen Beziehungen. Die Orientierung an der Kultur
der Peer-group ergänzt und konkurrenziert die Werte der Familie.
In der Peer-group lernen junge Menschen Beziehungen
knüpfen und selber gestalten. Freundschaften entstehen
und vergehen. Solidarität, Treue und Verrat, Ausgeschlossensein und Zugehörigkeit: das sind Themen, die junge
Menschen wirklich bewegen. Oft braucht der oder die Jugendliche zum ¾rger der Eltern mehr Energie für die Gestaltung seines/ihres Soziallebens als für Schule und Familie.
Eine weitere mächtige Kraft tritt auf im Gefüge der Motive und Motivationen des Menschen: die Sexualität. Das
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Erregende, die Sehnsucht nach den Gefühlen der Verliebtheit und der mehr oder weniger direkte Wunsch nach Sexualität treiben den Menschen hinaus aus der vertrauten Familie. In der Familie gilt das biologisch verankerte
Inzesttabu. Die erotischen Wünsche richten sich im Normalfall nicht auf die Menschen der Herkunftsfamilie. Der
oder die Jugendliche muss sich innerlich von Vater und
Mutter distanzieren, um seine/ihre Energie auf die Liebe
zu einem neuen Partner richten zu können. In diesem Licht
betrachtet wird verständlich, wie wunderbar und höchst
kunstvoll unsere psychischen Programme organisiert sind,
ohne dass wir uns dessen bewusst werden: Es braucht einen
neuen, starken Antrieb, damit Menschen ihre Herkunftsfamilie verlassen, den Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlen. Dieser starke Antrieb ist, allgemein ausgedrückt, der Wunsch nach Erregung, im Speziellen ist es
der Wunsch nach Sexualität und nach der Nähe zu einem
noch unbekannten andern Menschen.
Der ¹Anfangstraum der Liebeª, der Rausch der Verliebtheit
bringt Menschen zueinander. Aber damit nicht genug: Dieser Rausch, dieser Traum allein bietet keine Konstanz, keine Dauerhaftigkeit. Wenn die Verliebtheit abflaut, muss sie
ersetzt und ergänzt werden durch Bindung. Die gefühlsmäûige Bindung wird von den Personen der Herkunftsfamilie auf den neuen Partner übertragen.
Bei der Entstehung von Paarbeziehungen sind also zwei
Kräfte im Spiel: das Bedürfnis nach Bindung und das Bedürfnis nach Sexualität. In unserer psychischen Ausstattung
sind das zwei verschiedene ¹Programmeª. Sie sind zwar
miteinander gekoppelt, doch es gibt auch Spannungen und
Gegensätze. Wünsche nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit und Wünsche nach Erotik, Erregung und Sexualität liegen oft miteinander im Widerstreit.
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Menschen sehnen sich, in der Fachsprache ausgedrückt,
nach einem ¹intimen Bindungsobjektª. Das gilt für das
Kleinkind, das ohne eine Mutter oder eine andere Person
nicht überleben könnte, es gilt aber auch für Erwachsene.
Die meisten Menschen haben oder wünschen sich einen intimen Partner, der mit ihnen Freude und Leid teilt. Dadurch
entstehen sowohl Nähe als auch Abhängigkeit. Hat jemand
in seiner Kindheit unsichere Bindungen erlebt, z. B. durch
unzuverlässige Betreuung, Beziehungsabbrüche oder stark
schwankende Zuneigung, kann das Auswirkungen haben.
Menschen mit unsicheren Bindungserfahrungen geraten
leicht in innere Not: Sie streben nach Nähe zu einem geliebten Partner, aber sie haben auch groûe Angst davor, verletzt
und verlassen zu werden. Oft vermeiden sie deshalb genau
das, was sie gleichzeitig so dringend brauchen.
Reto ist ein solcher Mensch. Er ist fünfundreiûig Jahre alt,
braungebrannt, sportlich, mit langen blonden Haaren. Sowohl im Sommer als im Winter arbeitet er als Skilehrer.
¹Ein Traum von einem Mann.ª Reto hat viele Liebesbeziehungen. Sie enden immer wieder in Abbrüchen, die ihm selber unerklärlich bleiben. Je älter er wird, desto schwieriger
wird es für ihn, dieses Leben weiterzuführen.
Sein Wunsch nach einer nahen Beziehung prallt mit seiner inneren Überzeugung zusammen: ¹Wenn ich mich zeige, bin ich verloren. Ich habe keine Kontrolle mehr, werde
abhängig und genau dann fallen gelassen, wenn ich es nicht
erwarte.ª Reto ¹schafftª es jeweils schon nach kurzer Bekanntschaft, jede neue Freundin zu verletzen und zu entwerten. Er fühlt sich dann weniger ausgeliefert. Aber sein
Leben hinterlässt ihn immer unzufriedener. Je älter er wird,
desto mehr verspürt er das Bedürfnis nach Ruhe und Beständigkeit. Bis jetzt hat er allerdings noch keinen Weg gefunden, diesem Bedürfnis gemäû zu leben.
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Keine Mühe hatte er bis jetzt, seine sexuellen Wünsche auszuleben. Sexuelle Wünsche sind Ausdruck unseres Bedürfnisses nach Lust. Diese richten sich auf das Erregende, das
Neue und das Unbekannte im andern Menschen. Wir suchen uns einen fremden Menschen, lassen uns von ihm
oder ihr verzaubern und verlieben uns. Dann wird das Fremde vertraut, Liebe und Bindung können wachsen.
All diese Vorgänge spielen sich nicht so schematisch und
nüchtern ab, wie ich das hier darstelle. Jede Liebesgeschichte ist einzigartig, in allen steckt ein Teil der widersprüchlich angelegten Dramatik der beiden Beziehungskräfte.
Ein junger Mann auf der Schwelle zum Erwachsenwerden sagte mir vor kurzem: ¹Ich möchte so gerne eine Freundin, ich hätte so gerne einen Menschen ganz für mich. Aber
gleichzeitig genieûe ich es auch ungemein, keine Freundin
zu haben. Alles ist jetzt möglich. Auf jede Gelegenheit
könnte ich eingehen. Das ist so reizvoll. Wenn ich eine
Freundin hätte, würde ich diese Möglichkeit verlieren.ª
Spricht aus solchen ¾uûerungen die berüchtigte ¹Bindungsscheuª der Männer, wie sie im Bild des einzufangenden Junggesellen karikiert wird?
Es gibt Hinweise, dass zwischen Männern und Frauen gerade in der Art, wie sie mit Bindung und Sexualität umgehen,
deutliche Unterschiede bestehen. Damit werden wir uns
näher im Kapitel ¹Typisch! ± Von Vorurteilen und dem groûen kleinen Unterschiedª beschäftigen.
Im ersten Rausch der Liebe gibt es keine Gradwanderung
zwischen gegensätzlichen Wünschen: Bindungswunsch
und erotische Anziehung verschmelzen zu einer starken
Kraft, die alle bestehenden Beziehungen sprengt und den
Grundstein für eine neue Partnerschaft legt. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die Bedeutung dieses Anfangstraums:
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Im Jugendalter tritt zu unserem Bindungsbedürfnis das Bedürfnis nach Sexualität und nach dem andern, der uns ¹verzaubertª. Der Anfangstraum der Liebe schafft den Keim für
eine neue Einheit. Den Anfangstraum braucht es, damit die
neue Beziehung genügend stark wird, um bisherige Bindungen, sei es zu der Herkunftsfamilie oder zu einem andern
Partner, zu überwinden.
Und dann? Die Kunst, als Paar zu leben, besteht darin,
geborgenheitsspendende Vertrautheit und aufregende
Fremdheit immer wieder neu ins Gleichgewicht zu bringen.
Das ist einfacher gesagt als getan.
¹Wie war das noch mal?ª ±
Geschichte in Variationen
Der Liebesfilm ¹The Last Tango in Parisª wurde wegen seiner erotischen Szenen berühmt. Er ist jedoch vielschichtiger. Er zeichnet nach, wie ein Paar versucht, eine Liebe auûerhalb des Alltags, auûerhalb der Lebensgeschichte zu
leben. Das ist eine Illusion, die irgendwann zerplatzen
muss.
Paarbeziehungen spielen sich nicht in einem luftleeren
Raum ab. Sie sind Teil von Lebensgeschichten und entwickeln selber eine ¹historischeª Dimension. Die Geschichte prägt die Gegenwart. Sie ist ein Schatz, aus dem gelebt wird, aber auch eine belastende Vergangenheit, deren
Schatten sich auf das Heute legen kann. Die Geschichte eines Paares ist wie die einzigartige Choreographie eines Tanzes, in die zwei Biografien miteinander verwoben sind. Aus
zwei unterschiedlichen Familien entsteht ein Paar und allenfalls eine neue Familie. Persönlichkeitsentwicklung und
Paarbeziehung oder Paarbeziehungen sind im Verlauf des Lebens eng miteinander verbunden. Die gemeinsame Geschichte wird in zwei Versionen erzählt, oft in zwei sehr ver20
schiedenen Versionen. Können sie sich den folgenden Dialog
zwischen einem Paar vorstellen, das schon Jahrzehnte verheiratet ist?
¹Bei mir hat sich immer mehr Unzufriedenheit und Bitterkeit angesammelt. Über all die Jahre habe ich geschwiegen und nichts gesagt. Ich habe geschluckt und geschluckt
und dem Frieden zuliebe gute Miene zum bösen Spiel gemacht.ª
¹Es war doch immer alles in Ordnung. Wir hatten es
doch immer gut. Jetzt plötzlich soll nichts mehr Recht gewesen sein.ª Das erinnert an die erwähnte Anekdote des
Rabbi, auch hier fehlt die gemeinsame dritte Geschichte,
in der beide Wahrheiten aufgehoben werden können.
Oft gelingt es im Rückblick, mit oder ohne fachliche Hilfe,
Phasen und Entwicklungen zu erkennen, zu verstehen und
an bestimmten Ereignissen festzumachen. ¹Nach dem
zweiten Kind war unsere Ehe nie mehr gleichª, ¹Seit wir
von deinen Eltern weggezogen sind, geht es viel besserª,
¹Ich war so depressiv, bevor ich wieder begonnen habe zu
arbeiten, jetzt haben wir dafür mehr Streit.ª
Der Blick in die Geschichte ermöglicht es, Stärken und
Schwächen besser einzuschätzen. Anregungen dazu erhalten Paare in Paarseminaren oder Paartherapien.
Paare werden dort beispielsweise dazu angeleitet, eine
Art Diagramm, eine Befindlichkeitskurve ihrer Beziehung
zu zeichnen. Sie kennzeichnen darin etwa gute Zeiten und
Perioden groûer Entfremdung. Es ist aufschlussreich, das eigene Panorama der Paarbeziehung mit dem Partner auszutauschen. Ganz ähnliche Erfahrungen lassen sich machen, wenn man sich die eigene Paargeschichte aufschreibt.
Wie wohl die Erzählung ihres Partners über ihre gemeinsame Geschichte aussehen würde? Und was, wenn sie sich
gegenseitig ihre Geschichten zum Lesen gäben?
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Jede Paarbeziehung ist einzigartig. Und doch stellen sich
Paaren in der Regel ähnliche Aufgaben. Paarbeziehungen
sind eingebettet in familiäre Lebenszyklen und in die groûen Entwicklungslinien des Lebens. Allzu oft vergessen
wir heute, in einer Zeit, in der starre Rollenmuster aufgelöst
werden, dass unsere Entwicklung in Stadien und Phasen
verläuft, die unser Leben und auch unsere Perspektive mitprägen. Wer denkt schon noch so, wie er oder sie mit zwanzig gedacht hat?
Betrachten wir die Paarbeziehung in ihrem Entwicklungszyklus:
In der ersten Zeit der Paarbeziehung ist die Bindung zwischen dem Paar noch schwach. Verliebtheit und der Reiz des
Neuen mögen das Paar zueinander treiben, doch Bindung im
eigentlichen Sinne hat noch nicht entstehen können. Das
braucht Zeit. Ein schönes Bild für die Bindungskräfte in der
Ehe habe ich bei dem antiken Philosophen und Schriftsteller
Plutarch gefunden. Er schreibt: ¹Zu Beginn der Ehe sollten
sich die Jungverheirateten ganz besonders vor Streit und
Kränkungen hüten. Sie sehen ja, dass auch Gerätschaften,
die aus Einzelteilen zusammengefügt wurden, zu Anfang
bei einem beliebigen Anlass leicht auseinander brechen;
nach einiger Zeit aber, wenn die Fügung Festigkeit gewonnen hat, können sie kaum durch Feuer und Eisen auseinander gebracht werden.ª
Wir leben in einer Zeit der Unverbindlichkeit: Viele Beziehungen bleiben in einem merkwürdigen Schwebezustand.
Sind die beiden ein Paar? Das wissen sie oft selber nicht genau. Jasmin, 28, arbeitet als Sachbearbeiterin in einem groûen Werbebüro. Sie liebt ihre Arbeit, hat einen groûen Bekanntenkreis und ist mit Peter, 33, zusammen. ¹Also,
verliebt würde ich uns nicht nennen. Das war nach einem
knappen Jahr vorbei. Wir haben es gut miteinander, ja, aber
22
eigentlich warte ich nur darauf, dass wieder jemand auftaucht. So war es die letzten Jahre immer: Kaum war ich
ein Jahr mit einem Mann zusammen, entwickelte sich
eine Routine und es war sozusagen die Luft raus. Nach spätestens zwei Jahren haben wir uns getrennt.ª Andere junge
Paare bleiben zwar zusammen, doch ohne dass sie ein überzeugendes Ja für ihre Bindung aufgebracht hätten.
Unsere Gesellschaft ist nur schwach durch Rituale
strukturiert. Die Eheschlieûung als Ritual der Bindung, die
z. B. auch durch das Symbol des Ringes ¹markiertª wird,
zeigt zwar diese Bindung immer noch. Doch das ¹Drum
prüfe wer sich ewig bindetª ist oft zu einem Dauerprovisorium erstarrt. Die althergebrachte Vorstellung eines Paares,
das in Liebe zueinander findet und das aus dieser Liebe dann
das Kind als Frucht der Liebe hervorbringt, verwischt sich,
kehrt sich sogar um. ¹Wenn ich zurückblickeª, erinnert
sich eine Frau Jahre später, hat eigentlich die Schwangerschaft entschieden, dass wir zusammenbleiben. Es war gar
nicht so, dass wir als Paar ein Kind geschaffen hatten, vielmehr hat unsere Tochter uns zum Paar gemacht.ª
Verbindlichkeit zeigt sich nicht nur durch Eheschlieûung
oder Elternschaft, sondern auch in der emotionalen Beziehungsqualität. Dabei schaffen gerade die Aufgaben der Familie ständige Herausforderungen und Bedrohungen für die
Qualität die Paarbeziehung. Das ¹freudige Ereignisª, wie
die Geburt des Kindes gerne genannt wird, wird oft zur Zerreiûprobe für die Paarbeziehung. Das ist nur auf den ersten
Blick erstaunlich. Vera Müller meldet sich verzweifelt in
der psychologischen Sprechstunde: ¹Unser erstes Kind ist
jetzt gerade erst ein Jahr alt geworden. Ich habe mir von ganzem Herzen ein Kind gewünscht, aber hie und da schaffe ich
es einfach nicht mehr. Der Alltag überfordert mich, und dabei fühle ich mich gleichzeitig so nutzlos. Mein Mann hat
kein Verständnis. Auûer Vorwürfen höre ich bald nichts
23
mehr von ihm. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, er gehe
mir mehr und mehr aus dem Weg.ª
Vera und ihr Mann Hansjörg haben sich beide Kinder gewünscht. Sie haben sich nur nicht klar gemacht, wie sehr
sich dadurch ihre Beziehung verändern würde. Vera war vor
der Geburt ihres Kindes berufstätig. Nun ist sie den ganzen
Tag zu Hause, gefangen in einem Alltag, der nicht mehr aufhören will. Die Bedürfnisse des Säuglings belasten ihren
Schlafrhythmus, sie ist körperlich erschöpft. Psychisch ist
sie ausgelaugt, ihr fehlt der Kontakt zu Erwachsenen, die Bestätigung für ihre Leistung als Berufskraft. Die Liebesbeziehung zu ihrem Mann hat sich verändert. Auch für ihn. Die
frühere Intimität ist gefährdet, er hat das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, Vera scheint ihm gefühlsmäûig weit
weg zu sein. Das allerdings glaubt sie umgekehrt auch von
ihm. Das Paar gerät in einen Teufelskreis. Aus Enttäuschung
über die fehlende Unterstützung und Zuneigung ihres Mannes wendet sich Vera umso mehr ihrem Kind zu. Aus dem
Gefühl der Zurücksetzung heraus, vor allem im sexuellen
Bereich ± denn dazu hat Vera im Moment sehr selten Lust! ±
verschlieût sich Hansjörg innerlich mehr und mehr vor seiner Frau. Dies wiederum lässt Vera noch distanzierter reagieren, und sie wendet sich wieder ihrem Kind zu.
Die meisten Paare schaffen es, sich Freiräume zu erhalten
und ihre Paarbeziehung durch diese schwierige Zeit zu retten. Dazu braucht es aber bewusste Auseinandersetzung.
Für viele Menschen folgt nach den Stürmen der Familiengründung und der Kleinkinderzeit eine Phase, in der der Familienverbund ganz im Zentrum steht. Es ist die Zeit der
Familienferien, der gemeinsamen Wanderungen, der Mahlzeiten am Familientisch, der Sportvereine, Schularbeiten
und Haustiere. ¹Wir fahren gerne zusammen im Auto in
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Urlaubª, berichtet Familie Huber, und alle nicken. ¹Ja, da
sind wir unter uns und haben Zeit füreinander, und es ist
so gemütlich im Auto.ª
Das Familienauto wird zur schützenden Hülle, in der
sich alle Mitglieder der Familie geborgen fühlen. Mit ¹wirª
bezeichnen die Mitglieder der Familie ihre Kernfamilie. Die
Abgrenzung von der Herkunftsfamilie ist gelungen, alle
Mitglieder der Familie sind geboren, noch keines ist ausgezogen. Im günstigen Fall eine stabile Zeit für alle.
Allerdings: Auch in dieser Phase braucht die Beziehung
des Paares einen geschützten Raum, in den die Kinder nicht
eindringen können. ¹Wirª soll auch weiterhin heiûen können: ¹Wir beide!ª Schwierig und problematisch wird es,
wenn ¹wirª plötzlich nicht die Familie oder das Paar bezeichnet, sondern wenn Hansjörg mit ¹wirª sich und seine
Tochter Vivian meint oder wenn Vera sagt: ¹Also wir haben
es eigentlich ganz gut miteinander, aber wenn er (Hansjörg)
dann nach Hause kommt, dann geht der Stress los.ª Dieser
Gebrauch von ¹wirª zeigt an, dass in dieser Familie die Ordnung durcheinander geraten ist. Geordnet und daher auch
stabil ist eine Familie, wenn Eltern und Kinder zu zwei
klar getrennten Untergruppen gehören, wenn also klar ist,
wer die Rolle eines Elternteils oder die Kinderrolle in der Familie innehat. Ist dies nicht gewährleistet, kann es zu einer
Vielzahl von Störungen und Problemen kommen. Wir werden uns später die Auswirkungen dieser familiären ¹Unordnungª noch genauer anschauen.
Die Familienphase dauert nicht ewig. Die heranwachsenden Kinder beginnen, sich von der Familie abzusetzen. Sie
machen sich, wie eingangs angedeutet, auf ihren eigenen
Weg hinaus aus ihrer Herkunftsfamilie. Wenn Menschen
flügge werden, fliegen sie aus wie Vögel. Sie verlassen das
Nest der Familie und bauen sich ein eigenes Leben auf.
Nicht immer geht dieser Vorgang ohne Stürme und Krisen
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bei Eltern und Kindern ab. Kinder die ausziehen, markieren
damit das Ende einer wichtigen Entwicklungsphase einer
Familie.
Wenn Mitglieder in Familien dazukommen oder weggehen,
sei es durch Geburt, Tod, Scheidung oder Auszug, gerät das
Beziehungsgefüge ins Wanken: Die aufeinander bezogenen
Elemente des Familiensystems müssen in ein neues Gleichgewicht finden. Wie ein Mobile neu ausgerichtet werden
muss, wenn ein Teil weggenommen oder hinzugefügt wird,
so müssen auch Beziehungen neu ¹eingestelltª werden.
Das geht nicht ohne Spannungen. Veränderungen um Autonomie und Bindung werden emotional als Schmerz und
Angst erlebt. Schmerz deshalb, weil die Lösung emotionaler
Bindungen nicht ohne erheblichen psychischen Aufwand
geschehen kann. Wenn Menschen Beziehungen einseitig
auflösen, erleben die Zurückbleibenden Trauer und
Schmerz. Diese Gefühle sind umso stärker, je weniger jemand innerlich für eine Trennung bereit ist. Aber der
Schritt in die Unabhängigkeit macht auch Angst, so sehr er
auch ersehnt wird.
Ohne es zu merken, kann eine Familie in eine Krise geraten,
in der die Entwicklung gestaut und blockiert wird. Familie
Zanetti hat drei Kinder im Alter von 33, 28 und 23 Jahren.
Das besondere an Familie Zanetti ist, das alle drei Kinder,
zwei Söhne und eine Tochter, noch zu Hause wohnen und
keine dauerhaften Liebesbeziehungen eingegangen sind.
Wie lässt sich das erklären? Fragt man Mario, 35, und Maurizio, 33, so zucken sie lächelnd die Schultern und murmeln,
¹Es gefällt uns gut zu Hause, und die Richtige ist noch nicht
gekommen!ª Auch den andern Familienmitgliedern ist
kaum bewusst, dass ihre Familie etwas Besonderes darstellt.
Und doch kann man vermuten, dass der familiäre Entwick26
lungsprozess in diesem Fall ins Stocken geraten ist: Eltern
und Kinder sind aus den gleichen Motiven in ein unbewusstes Zusammenspiel verstrickt. Alle haben Angst vor dem
nächsten Schritt. Eine Zeit lang scheint es möglich, so Trennungen zu vermeiden und sich von anstehenden Entwicklungsaufgaben zurückzuziehen. Doch das nicht ohne Nachteile: Die Familienmitglieder blockieren sich gegenseitig in
ihrer Neuorientierung. Sie sind zwar zusammen, aber
auch ± oft ± zunehmend feindselig und unglücklich. Licht
auf die Hintergründe der Schwierigkeiten von Familie Zanetti wirft ein Gespräch mit der 28 -jährigen Livia. Sie erzählt, dass die Eltern seit Jahren davon sprächen, nach dem
Auszug der Kinder wieder in ihr Heimatland Italien zurückziehen zu wollen. Das heiût, bei genauerem Hinhören wird
deutlich, dass nur der Vater, Herr Zanetti, in sein Heimatdorf zurück möchte. Frau Zanetti will lieber hier bleiben.
Es gibt in der Familie demnach ein ¹heiûes Eisenª, das solange nicht angefasst werden muss, als die ¹Zeit noch nicht
gekommen istª.
Nur kann es leicht geschehen, dass die Zeit nie kommt:
dass alle in einem Zustand der Erstarrung bleiben und dafür
einen hohen Preis zahlen: Unzufriedenheit und eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten.
Oft flattern die heranwachsenden Kinder, bildlich gesprochen, wie wild mit ihren Flügeln ± und sind doch noch nicht
bereit zu fliegen. Hin und hergerissen zwischen dem
Wunsch nach Selbständigkeit und der Angst vor der damit
verbundenen Verantwortung treten sie auf der Stelle, proben die Unabhängigkeit und kehren immer wieder zurück.
Für einige junge Erwachsene scheint es besonders schwierig
zu sein, den Ablösungsprozess erfolgreich zu schaffen. Verletzbarer als andere zögern und zaudern sie, machen einen
Schritt vorwärts und gleich wieder einen zurück.
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Noch vor einigen Jahrzehnten war es, speziell für Frauen,
die Regel, dass sie erst mit der Heirat von zu Hause auszogen. Seitdem hat sich viel verändert. Die meisten Menschen leben heute mehr oder weniger lang in einer Phase
des ¹Ausprobierensª von Beziehungen und Lebensweisen,
bis sie sich zu einer definitiven Nestgründung, oft erst mit
dreiûig oder mehr Jahren, entscheiden. Lange Ausbildungszeiten verzögern den definitiven Schritt in die Unabhängigkeit zudem. Viele junge Erwachsene nutzen die Vielzahl
von Möglichkeiten, ihr Leben unverbindlich zu gestalten,
ohne sich definitiv festlegen zu müssen. Sie leben zunächst
allein oder in Wohngemeinschaften, dann mit einem Partner. Vielleicht wechseln Liebespartner und Wohnform einoder mehrmals. Auch Kinder, ob geplant oder nicht, führen
nicht mehr zwingend zu einer einzig möglichen Lebensform. Die traditionelle Kleinfamilie ist nur noch eine von
vielen Varianten, sich das Leben mit Kindern einzurichten.
Zwischen Elternhaus und eigener Familie leben heute viele
junge Menschen als moderne ¹Nomadenª. Aus einem
Übergangsstadium wir eine Lebensform, die unter Umständen erst im mittleren Erwachsenenalter ± oder gar nie ± zu
einer Familiengründung führt.
Zwischen Familienmitgliedern bestehen auch im Erwachsenenalter Bindungen in veränderter Form weiter. Ablösung
ist ein ungenaues Wort. Es suggeriert, dass mit dem Verlassen der Herkunftsfamilie die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern ¹gelöstª seien. Man würde besser von Veränderung statt von Ablösung sprechen. Die Eltern bleiben
Eltern, werden aber in der Regel als wichtigste und intimste
Bezugspersonen von (Ehe-)partnern und/oder eigenen Kindern abgelöst. Bleibt ein Mensch lebenslang an seine Eltern
oder einen Elternteil ¹gebundenª, bleibt kein Raum für eine
tiefe und verbindliche Paarbeziehung.
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Die meisten Menschen erleben ihr Bindungsbedürfnis im
Gleichgewicht, wenn sie eine verbindliche Beziehung zu einem Partner eingehen und gleichzeitig die Beziehungen zu
ihrer Herkunftsfamilie in klarer Distanz und gewandelter
Form aufrecht erhalten können.
Das Paar nach der Familienphase oder allgemeiner: das Paar
in der Lebensmitte steht vor der Herausforderung, seine Liebe
lebendig zu erhalten oder wieder neu zu beleben. Nicht alle
Menschen erleben das mit demselben Partner. Es gibt zwei
besonders anfällige Zeiten für Trennungen: die ersten
Ehejahre ± nicht das siebte! ± und die Zeit nach fünfzehn bis
zwanzig Ehejahren. Ob nach einer Familienphase, ob mit oder
ohne Kinder, ob mit demselben oder einem neuen Partner:
Menschen, die älter werden, Paare, die sich miteinander auf
den Weg zum Alter machen, richten sich ein. Sie haben ihre
Gewohnheiten und ihre Rituale. Berufliche Herausforderungen sind gemeistert, Kinder stehen nicht mehr im Zentrum
des Lebens, man hat etwas erreicht und möchte sich etwas
gönnen.
In dieser Situation spielt die Paarbeziehung wieder eine
entscheidende Rolle. Hass, Distanz und Langeweile können
eine Situation bedrohen, die alle Voraussetzungen für ein
schönes Leben böte. Dank der gestiegenen Lebenserwartung
haben Menschen heute Aussicht auf viele Jahre und Jahrzehnte Lebenszeit und eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten für den Lebensabend.
Leid bedroht diesen Weg zwar in jedem Abschnitt des Lebens: Niemand ist dagegen gefeit, schon mit fünfzig an einer Krebserkrankung zu sterben oder durch einen Unfall
von einer Sekunde auf die andere umzukommen. Doch wir
gehen von einer Perspektive aus, die es uns ermöglicht, bis
ins hohe Alter ein selbst gestaltetes Leben zu führen. Alter
hat Zukunft! Das gilt wenigstens für Europa. ¹Wir haben al29
lesª, bilanziert Heinz, ¹und doch geht es uns schlecht. Ich
arbeite weniger, habe zwei, drei unangenehme Tätigkeiten
abgeben können, meine Frau hat viel Zeit für sich. Sie
müsste ja nicht arbeiten, aber es macht ihr Spaû, den Mittagstisch mit den alten Leuten in der Alterssiedlung zu gestalten. Wir können uns einiges leisten, die Kinder sind aus
dem Haus und doch: Sobald wir alleine sind, fängt das Elend
an. Wir haben nur wenig gemeinsame Interessen, meine
Frau ist äuûerst empfindlich bei ungeschickten Bemerkungen meinerseits. Sie nimmt alles so schwer, jedes Wort,
jede Geste, jeder Blick von mir kann eine Verstimmung auslösen. Sie fühlt sich dann gedemütigt, herabgesetzt, der Tag
ist verdorben.ª
Solche Schilderungen, und ganz sicher sieht diejenige
von Heinz Frau Erika ganz anders aus, solche Schilderungen sind es, die mich beschäftigen und die mir auch Anstoû
sind, über Paare zu schreiben.
Paare wie Heinz und Erika erscheinen mir wie Menschen, die sich in eine Falle verstricken, die sie zuvor selbst
gestellt haben. Jeder sieht nur den eigenen Teil, jeder sieht
nur seine Sichtweise, und das hält die Falle aufrecht, die
sich enger und enger um die zappelnden Partner schlieût.
Menschen in und nach der Lebensmitte sind in ihren Eigenheiten und ihrem Charakter gefestigt. Das ist positiv ausgedrückt. Man könnte auch sagen, sie seien weniger flexibel
geworden. Persönliche Muster, persönliche Schwächen und
Neigungen haben sich verfestigt, Persönlichkeitszüge treten schärfer zutage.
Es gibt Menschen, die sich nach der Phase einer rasanten
Entwicklung in Beruf und Privatleben nun in einer Art
gleich bleibendem Paartrott finden, der Jahr für Jahr zu den
gleichen Ferienzielen, zum Warten auf die Rente, zu den
immergleichen Sonntagsausflügen führt.
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Spannungsvoll werden solche Verhältnisse dann, wenn der
eine Partner eher aufbrechen, der andere eher ausruhen will:
¹Ja, mein Mann ist ja sechzehn Jahre älter. Früher hat mir
das gefallen. Und wie. Aber jetzt fängt es an, mich zu stören.
Ich möchte noch etwas haben vom Leben. Ich möchte mit
dem Kamel durch die Wüste, er schlägt vor, eine Kreuzfahrt
durchs Mittelmeer zu machen, das sei doch viel bequemer.
Kreuzfahrt. Das ist der endgültige Horror für mich. Wenn
ich mal auf der Kreuzfahrt bin, dann trennt mich nur noch
ein Schritt vom Pflegeheim.ª Isabelle ist noch keine fünfzig.
Eine attraktive, schlanke Frau mit pechschwarzen Haaren.
Sie hat ihren Mann, der sich vor zehn Jahren von seiner
Frau scheiden lieû, bei der Arbeit kennen gelernt. Dieses
Paar hat nicht nur verschiedene Interessen, zwischen ihnen
gibt es auch einen Altersunterschied, der mit dem ¾lterwerden an Bedeutung gewinnt.
Im fortgeschrittenen Lebensalter sehen sich Paare oft vor
ganz neue Aufgaben gestellt. Jeder Mensch muss sich auf
der Schwelle zum Alter mit seiner Geschichte versöhnen,
wenn er Ruhe und inneren Frieden finden will. Ich muss akzeptieren, dass mein Leben so und nicht anders verlaufen
ist. Ich muss für mich eine Bilanz ziehen, die Gewinn und
Verlust in ein Maû bringt, mit dem ich leben kann. Was
habe ich erreicht? Was bin ich mir und andern schuldig geblieben? Vor was bin ich ausgewichen? Was habe ich versäumt?
Es liegt nahe, dem Partner für derartige Fragen die Funktion
eines Sündenbocks zu übertragen: ¹Wegen dir konnte ich damals nicht Karriere machen. Wegen dir habe ich alles aufgegeben.ª Damit macht man sich die Sache zu einfach. Aber die
Frage nach der Bilanz von Geben und Nehmen bleibt für jede
Partnerschaft brisant. Ausgeglichene ¹Beziehungskontenª
machen Paarbeziehungen stabil und befriedigend. Ausgegli31
chen sind die Beziehungskonten dann, wenn beide das Gefühl
haben, gleichviel zu geben wie zu bekommen.
Je älter Paare werden, desto unausweichlicher wird die Beschäftigung mit Krankheit, allenfalls mit Pflegebedürftigkeit und dem Näherrücken der Trennung durch den Tod.
Das ¾lterwerden bietet für viele Paarbeziehungen aber
auch wiederum Chancen und neue Zweisamkeit. Nach einer Phase des Auseinanderlebens durch Familie, Beruf und
die Anforderungen des Lebens erleben viele Paare eine Art
¹zweiten Frühlingª. Sie haben Zeit füreinander, werden unter Umständen durch Enkel ganz neu gefordert und beglückt, rücken wieder näher durch Pensionierung und neue
Aktivitäten.
Irgendwann, dank unserem hohen Lebensstandard und
unserer guten medizinischen Versorgung immer später,
wird sich das hohe Alter dann doch einschränkend bemerkbar machen, und die Beziehung neigt sich dem Ende zu.
Überblickt man das Leben in dieser Langzeitperspektive,
wird besonders deutlich, wie wichtig die Paarbeziehung für
die Lebensqualität ist. Ob ein Paar jahrzehntelang im stillen
Elend aneinander gebunden bleibt oder miteinander ein
wachsendes Glück erlebt, beeinflusst die Lebenszufriedenheit ganz erheblich.
¹So weit ists mit uns gekommen!ª
Menschen werden älter, Paarbeziehungen auch. Partnerschaften wachsen, sie werden tiefer und reifen, sie können
sich aber auch verflachen, totlaufen oder verschlechtern.
Eine Bestandesaufnahme lohnt sich in jedem Fall. Dazu bietet sich an, sich über das eigene Beziehungskonzept klar zu
werden.
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Mit ¹Beziehungskonzeptª ist das innere Bild einer Paarbeziehung gemeint. Jeder Mensch trägt die Vorstellung einer
¹richtigenª Paarbeziehung in sich. Dieses Paarkonzept ist
Menschen oft nicht bewusst, sie haben noch nie versucht,
es für sich zu beschreiben. Es ist spannend, der Frage nach
dem eigenen Paarkonzept nachzugehen und darüber mit
dem Partner in einen Dialog zu treten.
¹Meine Eltern haben eine schöne Beziehung miteinander gehabtª, berichtet Hedi, 54. ¹Sie haben Rücksicht aufeinander
genommen, von Streit war nichts zu sehen. Aber nicht, dass
sie um des lieben Frieden willens dem Streit ausgewichen
wären: Nein, es war einfach spürbar, dass sie einander
schätzten und achteten. Ich war völlig unvorbereitet, als
ich in den jungen Jahren meiner Ehe entdecken musste, wie
mein Mann mich behandelte.ª Was Hedi dann aus ihrer Ehe
berichtet, ist ein Leidensweg. Das Verhalten ihres Mannes
war geprägt durch Entwertung und Rücksichtslosigkeit.
Nur wenn er psychisch krank war und er wie oft an einer depressiven Störung litt, war seine Frau für ihn wichtig. In solchen Momenten flehte er sie an, ihn nicht im Stich zu lassen. Hedi ist Jahrzehnte später dabei, sich über ihre Ehe und
das zugrunde liegende Beziehungskonzept Klarheit zu verschaffen. ¹Es wurde mir klar, dass ich einfach meine Erwartungen von der Ehe meiner Eltern auf meine Paarbeziehung
übertragen hatte. Ich hatte ganz einfach die Vorstellung,
mein Mann wäre ebenso groûzügig, anständig und liebevoll,
wie es mein Vater gewesen war. Oderª, fügt sie nachdenklich hinzu: ¹wie ich mir meinen Vater immer gedacht hatte.
Ob er wirklich so gewesen ist, wie ich ihn wahrgenommen
habe, ist eine andere Frage. Denn meine Mutter war sicher
auch bei uns diejenige, die für seine gute Laune und sein
Wohlergehen Verantwortung trug.ª
33
Vergleichen sie nun mal das Bild Hedis mit demjenigen von
Constanze, die von ihrer Mutter nur wenig über deren Ehe
erfahren hatte: ¹Wir durften nicht einmal nach unserem Vater fragen. Schon das machte Mutter wütend, wenn wir fragten, wieso sie sich von ihm getrennt hatte. Unsere Familie
waren einfach wir vier, sie und die drei Kinder, das wars.
Als ich als Erwachsene meinen Vater kennen lernte, fand
ich den Grund für ihre Trennung auch nicht. Sie hatten
sich wohl einfach nicht verstanden, aber da war ein Groll
in meiner Mutter, den ich mir bis heute nicht erklären
kann. Irgendwie machte dieser Groll auch mir alle Männer
verdächtig.ª
¹Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen. Natürlich
wollte ich nicht wie mein Vater werden, wie alle Söhne
in einem gewissen Alter. Ich wollte vor allem nicht in der
gleichen Art über meine Partnerin dominieren. Ich sah
mich immer als derjenige, der Partei für die Frauen ergreift. Das habe ich alles für meine Mutter gemacht, der
ich gegen Vater einfach nicht helfen konnte. Erst mit der
Zeit wurde mir deutlich und auch erst nach langer Auseinandersetzung mit meiner Frau, dass ich kein so idealer
Ehemann geworden war, dass hinter meiner aufgeklärten
Haltung das gleiche Gespenst drohte, das auch schon meinen Vater, seinen Vater und viele andere Männer plagte:
die Vorstellung, die Frau dominieren zu müssen, um sie
halten zu können. Das ist die Idee der Frau im goldenen
Käfig, die mit Schmuck und Liebe überhäuft wird, dafür
aber auf ihre Freiheit verzichtet. Der schöne Paradiesvogel,
der nicht mehr herumfliegt, vor allem nicht von einem
zum andern, sondern zu Hause bleibt.ª
Horst, der sich so über sein Paarkonzept äuûert, hat von
seiner Frau in bestimmten Momenten auch schon den Vorwurf hören müssen: ¹Du wirst immer mehr wie dein Vater!ª Das Paar hat dafür sogar ein Codewort: Constanze
34
muss nur sagen ¹Egon!ª, und Horst hat verstanden. Egon
hieû ihr Schwiegervater.
Woher stammt das Bild, das ich als Ideal einer Paarbeziehung in mir trage?
In der Regel hat dieses Bild mit den eigenen Eltern zu tun.
Entweder es gleicht dem Beziehungsbild, wie es meine Eltern mir vorgelebt haben, oder ich setze diesem negativen
Bild der elterlichen Beziehung einen ganz anderen Entwurf
entgegen. Mütter und Väter leben nicht nur eine Paarbeziehung vor, sie äuûern sich auch über Partnerschaften und vermitteln so die Grundlagen für das Paarkonzept ihrer Kinder.
Oft merken Menschen erst bei der Frage nach ihrem Paarkonzept, dass sie kein gutes Bild einer Beziehung in sich tragen. Das ist ein wichtiger Moment, um die eigene Partnerschaft zu überdenken. Es ist sinnvoll, mit dem Partner über
die Fragen des Beziehungskonzepts ins Gespräch zu kommen. Gewinne ich mehr Verständnis für das Beziehungskonzept und die Erfahrungen meines Partners, lerne ich auch
seine Schwachstellen kennen. Diese Schwachstellen zu
kennen und zu respektieren fördert die Sorgfalt und das Vertrauen. Sie auszunutzen zerstört die Grundlage der Liebe.
¹Es läuft nichts mehrª
Das Ehepaar Winter, Hanni, 53, und Robert, 55, ist seit 30
Jahren verheiratet. Sie haben drei Kinder groûgezogen und
miteinander viel durchgemacht. Nun bilanziert Hanni
nüchtern: ¹Bei uns läuft nichts mehr! Wir schlafen nicht
mehr miteinander, wir tauschen uns nicht mehr aus über
die wichtigsten Dinge, wir streiten uns nicht einmal mehr.
Wir haben uns aneinander gewöhnt und leben schlecht und
recht unter dem gleichen Dach. Den Spaziergang am Sonn35
tag, immer den gleichen, möchten wir beide nicht missen,
aber sonst, sonst läuft wirklich nichts mehr zwischen uns.ª
Dieses Paar ist kein Einzelfall. Solche Paare sind allgegenwärtig. Verstummte, beziehungslos wirkende Menschen, die miteinander, aber nicht gemeinsam durchs Leben
gehen.
Bei Winters ist, wie Robert es ausdrückt, ¹tote Hoseª. Das
ist nicht aggressiv gemeint, aber auch nicht freundlich, nur
resigniert. Hie und da lehnt sich Robert zwar gegen dieses
Gefühl auf, wenn er etwa sagt: ¹Es gibt schon Momente, wo
ich zu mir sage: Das soll jetzt alles gewesen sein? Kein Sex
mehr für mich? Ja, genau so denke ich, vor allem, wenn ich
ein junges, schönes Mädchen vorbeispazieren sehe. Ich gebe
es ja zu. Aber das mit Hanni besprechen? Nie. Sehen sie,
wenn ich nur sowas sagen würde, das Wort Sex oder gar etwas über die jungen Frauen, die mir gefallen, das geht einfach nicht. Wir können nicht reden, also versuche ich es gar
nicht mal. ¹ Robert hat wahrscheinlich recht. Wenn er Hanni mit der bitteren Bilanz seines Männerlebens konfrontiert,
wird sie starr vor Ablehnung und Unverständnis.
¹Wir haben Freude aneinander!ª
Ganz anders verläuft die Ehe des Ehepaars Sommer, Monika,
47, und Stefan, 48. Monika hat einen erwachsenen Sohn aus
einer früheren Beziehung, Stefan war lange Zeit alleine und
hat keine eigenen Kinder. Seit mehr als 15 Jahren sind Stefan
und Monika ein Paar. Wenn man die beiden zusammen
sieht, merkt man sofort, dass es da zwei gut miteinander haben. Es ist nicht schwer zu sagen, woran sich dieses Gefühl
festmachen lässt. Da ist nichts zu spüren von liebloser Gewohnheit. Sie wenden sich einander zu, sie lächeln sich an,
sie fassen sich an und vor allem: Sie sind im Gespräch. Ihre
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Vertrautheit strahlt Glück aus. Stefan meint denn auch:
¹Wir sagen oft zueinander, dass wir füreinander ein Geschenk sind. Wir staunen und freuen uns darüber, dass wir
zusammen sind. Und hie und da haben wir auch die Angst,
dass uns etwas zustöût, jemand von uns krank wird oder
stirbt. Aber sonst: Es ist immer interessant mit Monika,
wir interessieren uns für vieles, und sie ist auch eine Frau,
die mich körperlich immer wieder anzieht ± und ich sie glaube ich auch.ª
Würde man die beiden Paare je fünf Minuten filmen und die
Filme dann vergleichen, würden die meisten Zuschauer
auch ohne Ton spüren, welches das glückliche Paar ist. Die
positive Beziehung drückt sich im Verhalten zueinander
aus, und das positive Verhalten schafft seinerseits die liebevolle Beziehung.
Vermeider, Engagierte und Feindselige
Stefan und Monika sind sich gefühlsmäûig sehr nahe, sie
suchen die gefühlsmäûige Intimität. Robert und Hanni
Winter sind sich fremd geworden, sie vermeiden emotionale
Nähe, auch wenn sie aneinander gewöhnt sind. Doch sie
denken genauso wenig an Trennung wie das Ehepaar Sommer. In einer Hinsicht gleichen sich die beiden Paare: Sie
streiten wenig. Bei beiden gibt es dadurch nur wenig negativ
geprägte Spannungszustände.
Das Ehepaar Winter gibt und bekommt allerdings viel weniger voneinander.
Sie sind in einer Routine erstarrt, vereint, aber leblos,
ohne innere Beteiligung. Ihr Beziehungsleben, ja ihr Leben
überhaupt, brennt auf Sparflamme. Roberts Lebensbilanz
ist negativ: ¹Das soll jetzt alles gewesen sein!ª ist sein Le37
bensgefühl. Hanni ist stur und unflexibel. Sie weiû es
selbst. Das Leben ist ihr zur Pflicht geworden, zur Last. Sie
sagt: ¹Ich habe halt das Gefühl, meine Sache machen zu
müssen. Ich glaube gar nicht mehr, dass ich dafür was bekomme. Aber ich mache was ich muss und schicke mich
drein.ª
Hanni und Robert sind ein ¹Vermeiderpaarª. Vermeiderpaare vermeiden sowohl positive als auch negative Intensität.
Die Vorteile liegen auf der Hand. Solche Beziehungen sind
stabil, die Partner gehen nicht unfreundlich miteinander
um, aber das ist schon alles. Menschen in derartigen Paarbeziehungen bezahlen für die Ruhe einen hohen Preis. Sie leben nur einen Teil ihrer Möglichkeiten, da brennt kein Feuer, höchstens ein Flämmchen.
Stefan und Monika bezeichnen sich demgegenüber als ¹Paar
im Glückª. Sie lieben sich und geben einander viele positive
Botschaften. Stefans Bemerkung, sie seien füreinander ein
Geschenk, ist so ein Beispiel. Wenn man sich solche Dinge
immer wieder sagt, erzeugt das eine positive Eigendynamik
und wachsendes Vertrauen. Positive Gegenseitigkeit ist entscheidend. Sie zeigt sich in liebevollen Gesten und Blicken,
in Worten und in Taten.
Das Paar weiû um die Gefahren für ihre Beziehung: Für Monika ist die Ehe mit Stefan die wichtigste Lebensquelle. Sie
sagt aber auch: ¹Klar, unsere Ehe ist für mich der Mittelpunkt meines Lebens. Ich könnte mir ein Leben ohne Stefan
nicht vorstellen. Ich weiû aber auch, wir wissen beide, dass
wir trotzdem Einzelwesen bleiben und auch aus uns selber
Kraft schöpfen müssen. Paare, die alles miteinander tun,
sind mir ein Gräuel. Sie wirken nicht wie zwei Menschen,
sondern wie ein klebriges Ungeheuer auf mich.ª
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Monika übertreibt. Aber gerade in der positiven Entwicklung eines Paares liegt eine gewisse Gefahr: Jeder Mensch
ist letztlich mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens alleine. Die glückliche Paarbeziehung kann nicht die Antwort auf alle Fragen sein, denen sich der Mensch zu stellen
hat. Auch durch die überwertige Gewichtung der Paarbeziehung wird das Leben flach und hohl. Werden zudem die Unterschiede zwischen den Personen zu stark eingeebnet,
weicht die positive Spannung. Paare, die immer der gleichen
Meinung sind und alles gemeinsam anpacken, entwickeln
eine seltsame Dynamik. Um derartige Paare verbreitet sich
dann eine Atmosphäre der Abgeschlossenheit, eine Art hermetische Grenze, über die niemand mehr vordringen kann.
Gleichzeitig wird die Luft in diesem hermetischen Innenraum stickig und stumpf. Zuviel Harmonie, Glück und Einvernehmen kann unmerklich und lautlos der Beziehung den
lebenswichtigen Sauerstoff entziehen.
Wir haben bis jetzt nur von zwei Typen von Paaren gesprochen, von ¹Vermeidernª und von ¹Engagiertenª, wenn wir
sie mal so nennen wollen. Es gibt aber noch eine dritte groûe Gruppe, die ¹Feindseligenª.
Im Gegensatz zu den beiden bisher geschilderten Arten
sind feindselige Paare in einer negativen Spirale gefangen.
Nicht der Streit an sich ist ihr Problem. Auch ¹Engagierteª
können streitlustig sein. Dem Ehepaar Sommer würde es
geradezu gut tun, wenn sie etwas mehr streiten würden.
Aber ¹Engagierteª streiten nicht feindselig, sie streiten aggressiv, aber fair. Sie streiten und finden Lösungen.
Ganz anders bei ¹Feindseligenª. Da gibt es böse Worte und
unterschwellige Gemeinheiten. ¹Schon wiederª, ¹Nieª,
und ¹Wenn du nurª, das sind typische Wörter für den negativen Kommunikationsstil der Feindseligen.
Feindselige Paare sind unstabil. Stehen sie sich emotional
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nah, so entwickelt sich ein rasantes Auf und Ab von Tränen
und Geschrei, von Krach und Versöhnung. Das zerrt an den
Kräften. Emotional distanzierte Streitpaare sind besonders
gefährdet. Im negativen Strudel wirbeln gegenseitige Abwertung, sadistische Abnützungskämpfe, zermürbendes
Schweigen und giftige Worte immer schneller durcheinander. Menschen in solchen Paarbeziehungen beschäftigen
sich dann jahrelang mit der Frage, ob sie zusammenbleiben
oder auseinander gehen sollen. Oft hält die Paare nur die
Angst vor dem Alleinsein zusammen. Oder es sind finanzielle Überlegungen und Befürchtungen, die die beiden aneinander ketten.
Ein Experiment
Die drei Typen von Paarbeziehungen im mittleren Lebensalter sind nur in der Theorie so klar voneinander abtrennbar. Jedes Paar weist eine eigene Mischung der drei Beziehungsformen in ihrer Dynamik auf.
Vielleicht versuchen Sie bei Gelegenheit für ihre eigene
Beziehung einzuschätzen, zu wieviel Prozent Sie ¹Vermeiderª, ¹Engagierteª und ¹Feindseligeª sind. Vergleichen Sie
Ihre Schätzungen mit derjenigen Ihres Partners oder Ihrer
Partnerin! Das gibt Gesprächsstoff!
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Tief im Alltag
Wie kommen wir hier raus? ±
Im Kreis haben wir uns genug gedreht!
Viele Paare in der Lebensmitte haben das Gefühl, sich im
Kreis zu drehen, über die immergleichen Steine zu stolpern.
Es ist die fortwährende Wiederholung der gleichen negativen
Erfahrungen, die es für die Betroffenen in lang dauernden
Paarbeziehung so aussichtslos erscheinen lässt, dass sich je
etwas ändern könnte. So vertiefen sich Elend und Unglück.
¹Wenn sie so schaut, dann weiû ich schon ganz genau, was
sie sagen wirdª, meint Hubert über seine Frau Mollie. Und
dann ergänzt er noch: ¹Das Verrückte ist nur, ich weiû auch
genau, was ich dann sagen werde. Ich weiû sogar, dass meine
Reaktion ihre Reaktion noch heftiger werden lässt und dass
wir uns dann immer schneller im Kreis drehen. Trotzdem
bringe ich es nicht fertig, mich anders zu verhalten.ª
¹Du änderst dich nie!ª ± ¹Ich habs dir schon tausend Mal
gesagt.ª Kennen sie solche Sätze? Streit zwischen nahe stehenden Menschen ist oft chronisch: Er läuft wie ein Drehbuch nach immer dem gleichen Muster ab. Wieso ist das
so? Was tun bei derartigen Konflikten in Partnerschaft und
Familie?
Ein Ehepaar streitet seit dreiûig Jahren. Beide fordern vom
andern mehr Liebe. Die Frau beklagt sich: ¹Seit Jahrzehnten
wünsche ich mir, dass mir mein Mann einmal Rosen mit
nach Hause bringt. Seit Jahren warte ich vergeblich.ª ±
41
¹Wenn du etwas weniger keifen würdest, käme ich auch
eher auf die Idee, dir etwas mitzubringenª, sagt ihr Mann
dazu. ± Darauf ist ihre Antwort: ¹Wenn du nur einmal auf
meine Bedürfnisse eingehen würdest, wäre ich auch netter
zu dir.ª Und so geht das weiter im Kreis. Seit dreiûig Jahren.
Ein Einzelfall? Leider nicht.
Streit zwischen nahe stehenden Menschen ist normal
und unvermeidlich. Dabei wiederholt sich der gleiche Streit
oft mit einer derartigen Genauigkeit, dass der Ablauf einem
unsichtbaren Drehbuch zu folgen scheint. Wenn ich in der
Paartherapie Frauen und Männern gegenüber diesen Vergleich mache, stimmen sie meistens mit einem mehr oder
weniger schmerzlichen Lächeln zu. ¹Genauso ist es. Ich
weiû immer schon genau zum Voraus, was er sagen wird.
Haargenau weiû ich es.ª ± ¹Wir wissen beide, wie es ausgehen wird.ª Umso gröûer wird für Auûenstehende das Rätsel, wieso die Betroffenen mit der fruchtlosen Wiederholung
nicht aufhören.
Ein Teufelskreis entsteht
Interaktionsmuster zwischen nahe stehenden Personen bilden eine besondere Struktur. Hier ist ein weiteres Beispiel:
¹Je mehr er sich an sie klammerte, um so mehr machte sie
sich von ihm los, und je mehr sie sich losmachte und ihre
Freiheit suchte, um so anhänglicher wurde er und kämpfte
um die Gemeinsamkeit.ª So beschreibt ein Mann resigniert
die Ehe seiner Freunde, die er in die Brüche gehen sah. Zum
Schluss habe er sie nur noch festhalten wollen, und sie hätte nur noch weggewollt. So sei es zur Explosion und letztlich zur Scheidung gekommen. Das Beispiel beschreibt
eine Konfliktstruktur, die man als Teufelskreis bezeichnen
kann. ¹Teufelskreiseª gibt es überall: in und zwischen Menschen, zwischen Völkern und in der Natur. Zwei Beispiele
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aus ganz unterschiedlichen Bereichen verdeutlichen die
Funktionsweise von Teufelskreisen:
Heroin erzeugt eine mit keiner anderen Droge erzielbare
Euphorie. Nach den ersten Injektionen besteht bereits akute
Suchtgefahr. Dann beginnt der Teufelskreis von Entzugserscheinungen (u. a. Schweiûausbrüche, Magen-Darm-Störungen, Hautausschläge und Angina-pectoris-Anfälle), die
ständige Dosissteigerungen erforderlich machen.
Die Nutzung von Brennholz für menschliche Grundbedürfnisse (ca. 80 % werden fürs Kochen gebraucht) führt
in vielen Ländern zu erheblichen Problemen, da der natürliche Holznachwuchs dort mit dem Abholzen nicht standhält. Ein Teufelskreis entsteht: Die Menschen müssen
immer weitere Wege zurücklegen, um Holz zu finden. Dadurch wird auch Holz gebraucht, bevor es genügend gewachsen ist, um reichen Ertrag zu liefern. Es wächst weniger Holz, ganz Lebensräume veröden.
¼ und verfestigt sich
Kehren wir zur menschlichen Kommunikation zurück: Je
öfter eine Handlung wiederholt wird, desto ähnlicher läuft
sie ab. Das gilt auch für Beziehungsmuster. ¹Du lässt mich
ja nie ausreden.ª ± ¹Ich muss ja immer anfangen, sonst
kommt ja gar nichts von dir.ª Mit der Zeit wird der eine
Partner immer ruhiger, der andere immer lauter. Die Rollen
der beiden Beteiligten verfestigen sich. Zwar ist auch ein ruhiger Mensch nicht immer still, auch ein aktiver redet nicht
immer. Doch das wird mit der Zeit vergessen: ¹Immerª und
¹Nieª sind Wörter, die anzeigen, dass ein Muster chronisch
geworden ist.
Für beide Teilnehmer eines Teufelskreises ist das ¹Problemª meistens klar: ¹Ich sage nichts, weil sie mich ständig
bedrängtª, meint er. Sie aber meint: ¹Ich frage ihn nur, weil
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er ja nie etwas von sich sagt.ª Beide sind der Überzeugung,
mit ihrer Erklärung im Recht zu sein. Beide glauben, dass
ihre linienförmige Erklärung von Ursache und Wirkung
stimmt.
Nur von auûen ist sichtbar, dass sich beide ohne Anfang
und Ende im Kreis drehen: Ihre Erklärung bestätigt ihn in
seiner ± gegenteiligen ± Erklärung, dies führt zur Bestätigung ihrer Erklärung, was wiederum ihn in seiner Erklärung
bestärkt usw. Ein Kreis ohne Ende ist entstanden, der sich
schneller und schneller dreht: So verfestigt sich ein Teufelskreis. Freunde und Verwandte sind vielleicht resigniert oder
verärgert, die Betroffenen drehen sich weiter und weiter.
Teufelskreise können sich aus einer einmaligen Begebenheit entwickeln. Häufiger beruhen sie aber auf vorhandenen
Persönlichkeitseigenschaften, die sich im Alltag immer
wieder neu zeigen. Unterschiede im persönlichen Stil (z. B.
Pünktlichkeit, Aktivität, Ordentlichkeit etc.) werden aufgeblasen und ins Groteske verzerrt. Der Schweigsame wird
zum ¹Stockfischª, die Redefreudige zur ¹Klatschbaseª.
Der Teufelskreis heizt sich auf und dreht sich schneller,
bis er sozusagen in die Luft fliegt.
Wege aus dem Teufelskreis
Ein wichtiger Schritt ist gemacht, wenn sich beide bewusst
werden, dass sie in einem gemeinsamen Teufelskreis stecken.
Lösungsversuche wie Appelle, Hoffnung, sich Mühe geben
führen oft zu neuen Enttäuschungen und treiben den Teufelskreis zusätzlich an. Wenn beiden klar ist, dass ein Teufelskreis keinen Ausweg bietet, es also wichtig ist, gar nicht erst
einzusteigen, wird Platz frei für Alternativen. Ein Teufelskreis wuchert und nimmt in der Beziehung mehr und mehr
Raum ein. Er trocknet die Beziehung aus, indem er es ver44
unmöglicht, dass das Paar positive Erfahrungen miteinander
machen kann.
Bereits zu Beginn einer Paartherapie stellt sich oft eine
positive Veränderung ein, weil bereits der gemeinsame Entschluss, etwas an der Beziehung zu ändern, Hoffnung und
guten Willen erzeugt. Diese Hoffnung ist aber auch ¹gefährlichª, wie das nachfolgende Beispiel zeigt: Ein Paar sucht
Hilfe, weil sie immer Streit haben. In der zweiten Sitzung
berichten beide auf meine Nachfrage, dass sie in der Zwischenzeit zum ersten Mal seit Jahren wieder einmal ein
schönes gemeinsames Wochenende ohne die Kinder verbracht hätten. Der Mann erzählt das nicht etwa begeistert,
sondern bedrückt und ängstlich. Er ist verunsichert und
gibt das auch zu. ¹Ich weiû nicht, ob ich dem trauen kann.
Wie kann ich darauf einsteigen, nachdem ich so oft abgewiesen wurde?ª
Veränderungen haben es schwer: Der Sog der Enttäuschung ist groû. Dauert ein Teufelskreis bereits lange Zeit,
ist der emotionale Aufwand für eine positive Bewegung besonders hoch. Dahinter steckt die Angst, dass erst recht alles in einer neuen Enttäuschung münden könnte. So paradox es klingen mag: Hoffnung ist riskant. Es ist sicherer ±
wenn auch leidvoll ± sich im alten Elend weiter zu drehen.
Ich habe von der Frau erzählt, die gerne einen Blumenstrauû
hätte. Nehmen wir an, nach vielen Jahren erfüllt sich ihr
Wunsch und ihr Mann bringt ihr einen Strauû roter Rosen.
Wie soll sie reagieren? Es ist leicht zu verstehen, wenn sie
den Impuls verspürt, den Strauû zu packen, ihrem Mann an
den Kopf zu werfen und ihn anzuschreien: ¹Jetzt brauchst du
mir deine blöden Blumen nicht mehr zu bringen.ª Aber vermutlich würde sie dann zukünftig erst recht weniger Blumen erhalten. Wenigstens Blumen von diesem Mann.
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Der Ausstieg aus dem Teufelskreis ist schwer. Und oft geschieht er beinahe beiläufig und unbemerkt. Er gelingt, wenn
Alternativen aufgebaut werden, sei es alleine oder mit fachkundiger Hilfe; Alternativen, die das entwürdigende Leben
nach dem immer gleichen Drehbuch aufbrechen.
Glücklicherweise gibt es zwischen Menschen nicht nur negative Formen von kreisförmigen Abläufen. Auch positive
Muster entwickeln eine Eigendynamik. Allerdings in die gewünschte Richtung. Paare mit liebevollen Beziehung geben
sich viel Zuneigung. Zuneigung bringt Zuneigung zurück
und setzt einen Kreis in Schwung, der auch durch unvermeidliche Enttäuschungen und kleineren ¾rger nicht so
leicht zu stoppen ist. Aber, und das ist die wichtigste Aussage in aller Kürze: Einer muss beginnen.
¹Hörst du mir überhaupt zu?ª ±
Vom guten Reden und vom guten Schweigen
Die Ehe wird oft als ein langes Gespräch bezeichnet. Viele
Paare beklagen sich allerdings, dass sie sich nicht verstehen,
dass sie nicht miteinander reden können. Andere reden
zwar ohne Unterlass miteinander, ohne jedes positive Ergebnis. Der Appell: ¹Man muss halt reden miteinander!ª
ist zu pauschal. Es kommt darauf an, wie und wann miteinander geredet wird. Reden hilft, aber Reden hilft nicht
immer. Es gibt Situationen, in denen Schweigen besser ist.
Nutzloses Reden
¹Wir reden und reden! Doch das nützt uns absolut nichts!
Alles wird nur noch schlimmer.ª Wer sich da so resigniert
äuûert, ist Sonia, 35. Sie kennt ihren Partner Adrian, 36,
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seit sechs Jahren. Sie leben zusammen, sind nicht verheiratet und haben keine Kinder. Sonia fährt fort: ¹ Ich habe
schon viele Bücher über Paarbeziehungen und Paarprobleme
gelesen. Überall steht, man müsse halt reden miteinander.
Aber unser Reden bringt uns gar nichts. Es ist buchstäblich
das Gegenteil: Wenn wir zwei oder drei Stunden in einer
schlaflosen Nacht geredet haben, sind wir für eine Woche erledigt. Wir denken beide ständig an Trennung und doch wollen wir zusammenbleiben.ª
Adrian und Sonia können kaum sagen, über was sie eigentlich in all den Stunden reden. Sie wissen nur, dass es ihnen
damit nicht gut geht. Adrian meint: ¹Wir haben dann beide
das Gefühl, der andere verstehe einfach überhaupt nichts.ª
Als wir die Situation etwas genauer betrachten, entdecken
wir, dass es oft um Banalitäten geht. ¹Ist doch wahrª, meint
Sonia. ¹Ich sage ihm, er soll die Senftube verschlieûen und
wegräumen, und er lässt den Senf offen herumliegen. Ich
weiû, das klingt kleinlich und pingelig, aber ich denke mir
halt, wenn er mich wirklich liebt, dann lässt er den Senf nicht
herumliegen. Er weiû ja, wie sehr mich das stört.ª Adrian
kann beinahe nicht warten, bis er zu Wort kommt: ¹Ja aber
das ist es ja gerade. Immer fühle ich mich kritisiert und bevormundet. Schlimmer als der kleine Junge vor der strengen
Haushälterin. Da sträubt sich bei mir alles dagegen.ª
Die beiden unglücklichen Streithähne entdecken noch eine
ganze Reihe solcher trivialer, aber doch kräftezehrender
Konflikte. Vor lauter Erschöpfung enden solche Streitereien
dann oft mit Tränen und einer verzweifelten Versöhnung.
Bald aber beginnt das Ganze von vorne.
Die Beziehung der beiden ist ein Auf und Ab, es gibt in ihr
aber genau das nicht, was beide eigentlich möchten: eine ruhige und stabile Verbindung. In den Hintergrund getreten
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sind die Frage nach Familiengründung und der Kinderwunsch, obwohl Sonia, wie sie sagt: ¹die biologische Uhr
immer lauter ticken hörtª.
¹Man muss halt reden miteinander!ª Mit diesem Rat allein
ist häufig nicht viel gewonnen. Sonia und Adrian können
nur noch bitter darüber lachen. Und doch stimmt die Empfehlung genau. Allerdings kommt es sehr darauf an, wie
miteinander geredet wird. Das Gespräch erfüllt zwischen
Menschen ganz verschiedene Funktionen. Schauen wir uns
etwas näher an, welche Möglichkeiten des Redens es zwischen Paaren gibt:
Reden als Erzählen
Stellen sie sich vor: Sie treffen auf dem Nachhauseweg einen
alten Freund, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben.
Sie freuen sich, ihn zu sehen und erfahren, dass er seit zehn
Jahren im Ausland lebt und jetzt zum ersten Mal wieder in
der Heimatstadt ist. Kurz darauf sehen sie zu Hause ihre
Partnerin oder ihren Partner: Können sie sich vorstellen,
dass sie ihm oder ihr diese kleine Begegnung nicht erzählen?
Die meisten Menschen haben in so einer Situation das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Einander Dinge zu erzählen, banale oder alltägliche, erfüllt verschiedene Funktionen. Nicht
zuletzt schwingt dabei mit: ¹Du bist es mir wert, dass ich
dir diese Dinge berichte.ª
Reden als Konfliktlösung
Eine ganz andere Art des Redens ist der folgende Ausschnitt
aus dem Dialog eines Paares: ¹Jetzt fängst du schon wieder
damit an. Und ich sage dir, wir können uns das einfach
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nicht leisten!ª ± ¹Nein, nein mein Lieber. Mit diesem Argument blockierst du die Diskussion jedes Mal. Ich kann einfach nicht mehr die ganze Woche bei den Kindern sein. Ich
finde, wenigstens einen Tag weniger könntest du arbeiten.
Dann könnte ich einen Tag raus und die Weiterbildung machen, die ich schon so lange im Sinne habe.ª ± ¹Du weiût
genau, dass das einfach nicht geht. Ich mache mich lächerlich im Geschäft, wenn ich sage, ich müsse einen Tag zu
Hause bleiben, und finanziell kommen wir einfach nicht
mehr durch.ª ± ¹Du nimmst mich einfach nicht ernst.ª
Dieses Paar erzählt nicht. Sie haben einen Konflikt und führen darüber ein wahrscheinlich aufreibendes Streitgespräch.
Die Regeln für ein gutes Konfliktgespräch kann man lernen.
Ganz einfach gesagt geht es darum, die verschiedenen
Standpunkte herauszuarbeiten, dann möglichst viele Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und den geeigneten auszuwählen. Wie man das macht, werde ich im Kapitel ¹Zauberwort Kommunikationª näher darstellen. Das Paar in
unserem Beispiel ist nicht sehr gut darin: Sie verstricken
sich in argumentative Schleifen, die unendlich werden und
sich zu persönlichen Verletzungen ausweiten.
Reden als Zwiegespräch
Die dritte Art von Gespräch ist für Paarbeziehungen besonders wichtig. Auch dafür ein Beispiel: ¹Ich möchte dir sagen, wie es für mich ist. Wenn ich einen solchen Tag gehabt
habe wie heute, dann fühle ich mich so fertig, so völlig zerbrechlich, dass ich den Eindruck habe, einfach gar nichts
mehr ertragen zu können. Ich weiû, dass ich dann vielleicht
merkwürdig reagiere, aber wenn ich dann nur ein böses
Wort höre, ertrage ich das einfach nicht.ª ± ¹Ja, es ist dann,
wie wenn das Fass überläuft, das verstehe ich. Aber ich füh49
le mich dann auch so hilflos, habe das Gefühl, ich müsse jedes Wort auf die Goldwaage legen.ª
Dieses Paar bemüht sich, dem andern gegenüber zu zeigen, wie es im jeweiligen Innern aussieht. Solche Gespräche
sind sehr wichtig, sehr schwierig und sehr heilsam. Sie folgen einer ganz einfachen Regel: Hör mal, ich sage dir, wie es
in mir aussieht, und du zeigst mir, dass du mich verstanden
hast. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Die Regel heiût
ganz einfach: Ich rede nur über mich, nicht über dich!
Diese Art von Reden ist hilfreich. Sie ist lernbar und sie verhindert, dass Situationen im Streit eskalieren. Für Paare ist
es wichtig, dass sie nicht nur miteinander reden lernen,
sondern auch lernen, darüber zu reden, wie sie miteinander
reden. Wenn ein Paar darauf achtet, kann es die Notbremse
ziehen, wenn eine Situation zu eskalieren beginnt. ¹Wir
machen uns wieder nichts als Vorwürfe. Lass uns aufhören
damit. Reden wir beide wieder jeweils nur von uns selber.ª
Und Schweigen
Sonia berichtet über das neueste Abenteuer mit der Senftube: ¹Gestern Abend habe ich ihn beobachtet. Ich gebe zu,
ich bin eigens nochmals in die Küche und sah die offene
Senftube tatsächlich wieder da liegen. Ich wollte schon losbrüllen, als ich blitzartig sah, wie dann der Abend wieder
verlaufen würde in stundenlangem Streit. Und da habe ich
einfach die Tube genommen und sie versorgt. Und kein
Wort dazu gesagt. Ich war richtig stolz, und wir hatten einen
schönen Abend.ª
Schweigen um des Friedens willen? Das kann keine Lösung
sein, denn dann wächst der Groll, der irgendwann die Beziehung erst recht gefährdet. Sonia will nicht einfach alles ak50
zeptieren. Ihr Schweigen ist strategisch. Sie hat sich vorgenommen, sich anders zu verhalten und dadurch Adrian
einzuladen, das auch zu tun. Ohne zu reden. ¹Ich achte jetzt
sehr genau darauf, wann Adrian das nächste Mal die Senftube nicht liegen lässt, sie also von sich aus versorgt. Dann
gebe ich ihm einen sehr liebevollen Kuss, an den er noch
lange denken wird. Und ich werde gar nichts dazu sagen
und keinerlei zynische Bemerkung machen.ª
Sonia gibt sich einen Monat als Testphase. In diesem Monat
wird sie zählen, wie erfolgreich ihre Strategie ist. Sie hat
sich gesagt: Wenn er in mehr als 80 % der Fälle die Tube
versorgt, werde ich sie von jetzt an kommentarlos wegräumen, sollte sie doch einmal liegen bleiben. Sonias strategisches Schweigen hat gute Chancen auf Erfolg. Jeder Mensch
kann jederzeit beschlieûen, den Teufelskreis des Streits zu
durchbrechen und sich anders zu verhalten.
Es gibt noch eine zweite Art des Schweigens: Dieses
Schweigen ist ein Stillschweigen. Es heiût, dass beide übereinkommen, Schwächen und unlösbare Themen in der
Partnerschaft zu akzeptieren und die Liebe nicht durch Aufreiûen alter Wunden zu zerstören. Das könnte z. B. dann der
Fall sein, wenn eine Ehe durch die Auûenbeziehung eines
Partners an den Rand des Scheiterns gebracht worden war.
Beide können sich im Anschluss an eine Versöhnung darüber verständigt haben, das schwierige Thema als erledigt zu
betrachten und nicht mehr aufzuwühlen.
Wann soll man schweigen, wann reden? Ein Patentrezept
dafür gibt es nicht. Aber im Zweifelsfall ist es besser, Positives nicht zu verschweigen. Sonia ist auch hier für ein Beispiel gut. Sie berichtet. ¹Ich habe mir halt gedacht: Wenigstens raucht er nicht mehr! Wenn jetzt die Senftube wieder
herumliegt, sage ich mir diesen Satz vor und bin sofort we51
niger wütend.ª Und Adrian ist ganz erfreut, weil er in letzter Zeit ein paar Mal das Kompliment bekommen hat: ¹Bin
ich froh, dass du nicht mehr rauchst!ª
Ob er wohl die Senftube regelmäûiger versorgt? Ich glaube schon.
¹Doch nicht zu einer Gartenschau!ª ±
Von gemeinsamen und andern Interessen
Gemeinsame Interessen sind für eine gute Paarbeziehung
wichtig. Sie nähren das Gefühl von Verbundenheit. Gemeinsame Interessen müssen gepflegt und entwickelt werden.
Was teilen Sie mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin? Das
Leben, Tisch und Bett?
Wie steht es aber mit Interessen? Viele Paare haben ein
gemeinsames Hobby, sei es Wandern oder Hunde züchten.
Andere jedoch können kaum ein Gebiet aufzählen, das sie
beide interessiert. Dadurch wird die Verständigung erschwert.
¹Zum Glück haben wir die Kinder!ª, meint Marlies, ¹so haben wir etwas zum Redenª.
Das klingt nicht ganz glücklich. Marlies ist nicht zufrieden. Tatsächlich unterhalten sich sie und ihr Mann vorwiegend über die Kinder. Die beiden haben eine groûe Familie.
Bei fünf Kindern, drei Mädchen und zwei Buben, gibt es immer genügend Gesprächsstoff. Aber Marlies weiû, dass in
ihrer Ehe etwas nicht stimmt, dass es im Untergrund ihres
Lebensfundaments rumort. Kinder sind für Paare in der Familienphase ein unerschöpfliches Thema und naturgemäû
ein ganz starkes gemeinsames Interesse. Bilden aber Kinder
das einzige Bindeglied zwischen einem Paar, geht etwas ver52
loren. Das merken Paare spätestens dann, wenn die Kinder
erwachsen werden.
¹Das war ja so merkwürdig, als wir uns gestern Abend am
Tisch anschauten und meine Frau zu mir sagte, ist denn niemand zu Hause? Zum ersten Mal waren alle unsere Kinder
am Samstagabend ausgegangen. Es war völlig ungewohnt
für uns, alleine zu essen. Wir kamen uns beide wahrscheinlich etwas verloren vor.ª So berichteten Heinz und Barbara,
deren Kinder schon älter sind. Sie wissen, dass sie jetzt für
ihre Beziehung sorgen müssen, damit sie auch nach den Kindern eine Zukunft hat. Heinz meint: ¹In gewisser Weise
müssen wir uns jetzt zum zweiten Mal daran machen, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Wie das aussieht, weiû ich
noch nicht. Ich weiû nur, dass es viel schwieriger ist als damals, als wir uns kennen lernten und Hals über Kopf geheiratet haben. Wir sind beide reifer geworden, aber wir sind
auch ausgeprägtere Persönlichkeiten. Wir haben Ecken und
Kanten.ª
Männerwelten und Frauenwelten
Heinz und Barbara haben erkannt, was ihnen fehlt und was
sie jetzt zu tun haben. Ihre Suche nach Gemeinsamkeit ist
nicht für jedermann gleich einfach. Es gibt Menschen, für
die ist die Welt klar aufgeteilt in Frauen- und Männerangelegenheiten. Kurt erklärt lakonisch: ¹Bei uns ist das ganz
eindeutig. Fuûball, Computer und Börse für mich, Mode,
Freundinnen und Pferde für Claire, meine Frau. Bei den Leuten, die wir kennen, ist das ganz ähnlich. Ich rede mit den
Männern, Claire mit den Frauen. Probleme haben wir damit
überhaupt nicht.ª Diese Aufteilung von Freizeitinteressen
geht von einer traditionellen Trennung in Frauen- und Männerwelten aus. In gewissen Kulturen ist das die gängige Le53
bensform: Mann und Frau begegnen sich als Liebes- oder als
Elternpaar, aber nicht als Menschen mit Interessen. Dafür
hat der Mann die Männer-, die Frau die Frauengruppe.
Bei uns leben mehr und mehr Menschen mit der Erwartung,
dass der Partner auch Gesprächspartner ist und dass gemeinsame Interessen und Inhalte das Leben als Paar ausmachen und bereichern. Sind die Interessen sehr gegensätzlich oder sogar unvereinbar, kann das eine Beziehung auf die
Dauer belasten.
Das ist besonders dann der Fall, wenn hinter den Unterschieden gegensätzliche Weltbilder und Werthaltungen stecken. Markus arbeitet bei einer Groûbank. Er ist ein Banker,
der sich viele Gedanken über die Richtung macht, in der
sich unsere Gesellschaft entwickelt. Für ihn sind Themen
wie Globalisierung, New Economy und die Zukunft der Arbeit Dinge, mit denen er sich täglich engagiert auseinander
setzt. Er ist im Gemeinderat seiner Heimatgemeinde und
beschäftigt sich dort mit dem Finanzhaushalt der Gemeinde. Eveline hält sich die Ohren zu, wenn Markus damit anfängt. Für sie ist Geld nicht wichtig. Sagt sie. Und Banken
sind für sie sowieso gewissenlose Organisationen. Sie
macht die Banken mitverantwortlich für die Naturzerstörung. Eveline unterstützt Greenpeace und WWF und ist
misstrauisch, wenn sie nur schon das Wort IWF hört, obwohl sie sich darunter wenig vorstellen kann.
Die beiden können kaum zusammen eine Nachrichtensendung anschauen, ohne in Streit zu geraten. Zu allem
Überfluss wird die Situation in der Familie Rohrer noch dadurch kompliziert, dass der 15 -jährige Kevin, wie seine
Mutter, ein glühender Naturschützer ist. Mutter und Sohn
gegen den ¹spieûigenª Vater, das ist die explosive Konstellation in der Familie.
54
Gleich und gleich gesellt sich gern
Es gibt zwei Sprichwörter, die sich direkt auf die Partnerwahl anwenden lassen. Beide stimmen in gewisser Hinsicht
und sagen doch das genaue Gegenteil aus: ¹Gegensätze ziehen sich anª ist die eine Behauptung. Wer würde das abstreiten wollen? Faszinierend ist das Fremde an der andern
Person, das, was ich selber nicht bin und habe. Aber es gibt
ein zweites gegensätzliches Sprichwort, das genauso
stimmt: ¹Gleich und gleich gesellt sich gern.ª Niemand
wird das in Frage stellen! Für stabile und glückliche Liebesbeziehungen braucht es beides! Es braucht die Spannung,
die aus der Verschiedenheit kommt. Erotik entsteht im
Zwischenraum von Fremdheit und Anziehung, und die
fremde Person mit ihren Eigenheiten, ihrer fremden Lebensgeschichte und den neuen Ansichten und Gewohnheiten
fasziniert. Auf die Dauer reicht das allerdings nicht. ¾hnlichkeiten und Gemeinsamkeiten verbinden, schaffen Geborgenheit und Heimat. Auf die Dauer werden es mehr die
Gemeinsamkeiten und ¾hnlichkeiten sein, die die Partnerschaft stabil und glücklich machen. Zu groûe Unterschiede,
seien es solche der Persönlichkeit, des Alters, der Kultur
etc. sind für eine Paarbeziehung insofern belastend, als sie
den Bereich vergröûern, den das Paar verhandeln muss. Das
setzt hohe Anforderungen an die beteiligten Partner.
Hausbau und Scheidung
¹Erst bauen sie ± dann scheiden sie!ª Kuno ist ein Spötter. Er
kommentiert gerne, wenn in seiner Umgebung jemand mit
glühenden Augen Pläne wälzt und sich mit der Gestaltung
von Bad und Küche beschäftigt. ¹Ist doch wahrª, meint er
nur. ¹Jetzt kenne ich schon drei Paare, die zuerst gebaut haben
und dann, kaum war das Haus fertig, sich getrennt haben.ª
55
In gewisser Weise ist die Zweierbeziehung oder Dyade
auf ein Drittes hin angelegt: Aus der Zweiheit wird eine
Dreiheit. Das gemeinsam geschaffene Dritte sind die Kinder, aber auch ein gemeinsames Geschäft oder eben ein
Haus.
Dieses gemeinsame Schaffen gibt Sinn und Identität: Es
hält zusammen ± solange es das Dritte gibt. Und wenn das
Haus fertig gebaut ist? Dann muss etwas an seine Stelle treten, etwas Gemeinsames, das das Paar belebt. Sonst entstehen Leere und Fremdheit. Viele Paare spüren solche Gefahren intuitiv. Sie beginnen aktiv ein gemeinsames Hobby,
machen zum Beispiel Bike-Touren, lernen Golf spielen
oder besuchen Kunstmessen.
Eine lebendige Beziehung braucht eine gute Mischung von
gemeinsamen Interessen und eigenen, privaten Bereichen,
die dem andern fremd bleiben ± und ihn oder sie faszinieren.
Rita erzählt zum Beispiel: ¹Wir haben beide unseren Beruf,
den wir sehr lieben. Ich bin Physiotherapeutin und arbeite
in einem Team, in dem es mir sehr gefällt. Mein Mann Bruno hat ein Büro für Kommunikation, er macht vorwiegend
Werbung. Er hat eine eigene Firma, die ihn voll ausfüllt.
Ich habe nichts mit seinem Geschäft zu tun, er nichts mit
meinem. Aber wir sind sehr interessiert daran, wie es läuft
und erzählen einander viel. Wir lieben beide unsere Arbeit
und sind sehr ehrgeizig. Ich kann es nicht anders erklären,
aber ich finde, wenn wir beide begeistert von unserer Arbeit
berichten, hat das durchaus etwas Erotisches.ª
Am schwierigsten ist es, wenn dasjenige, was das Paar wirklich verbindet, das gemeinsame Unglück ist. Nicht selten
leiden beide an der Beziehung, an ihrer Lieblosigkeit und
Kälte. Die Einsamkeit und Verbitterung ist dann ± zynischerweise ± das Verbindende, das Gemeinsame. Das ist tragisch. Aber wahr!
56
Und die Gartenschau? ¹Doch nicht zu einer Gartenschau!ª,
so heiût diese Kapitelüberschrift. Und das war der verzweifelte, aber nicht ernst gemeinte Ausruf von Heinz, als ihm
Barbara vorschlug, mal was gemeinsam zu machen, was sie
interessiert. Heinz ging mit und fand in der Gartenschau
eine Sonderausstellung über Kakteen, die ihn wirklich faszinierte. Und letzthin, auf einer Reise durch Arizona, spürten
sie begeistert blühenden Kakteen nach, um sie zu photographieren. Alleine zu einer Gartenschau wäre Heinz nie gegangen. Zum Glück hat er seine Barbara!
¹Typisch!ª ± Von Vorurteilen und dem
groûen kleinen Unterschied
Mann und Frau im Clinch
Zwischen den Geschlechtern gibt es nicht nur Liebe, Erotik
und Lust. Es herrschen auch Ressentiments, Vorurteile und
Hass. Negative Gefühle verstellen den Blick auf den seelischen Reichtum zwischen Mann und Frau. Es hilft, sich
über die eigenen Einstellungen klar zu werden. Aufschlussreich ist ein Blick in die Forschung.
Soll das ein Witz sein?
¹Wie der da vorne fährt! Das ist sicher eine Frau?ª Kurt
überholt. Er und seine Beifahrerin schauen beim Vorbeifahren ins andere Auto. Ein Mann sitzt am Steuer. ¹Es ist ein
Mann!ª, sagt Sabine mit einem deutlichen Unterton. ±
¹Aber er fährt wie eine Frau!ª
Nur wenige Frauen, die ich kenne, finden das lustig, und
auch Männern wird das Lachen im Halse stecken bleiben.
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Die Geschichte disqualifiziert Frauen als schlechtere Autofahrerinnen, sie spricht ihnen eine Fähigkeit ab, die (richtige) Männer haben. Sie spielt mit der Differenz der Geschlechter.
Die Logik der Differenz
Seit jeher haben sich Menschen mit diesen Unterschieden
beschäftigt. Sie taten und tun dies mit logischen Irrtümern,
Kurzschlüssen und Fehlern. Von was reden wir, wenn wir
von der Geschlechtsdifferenz reden? Geht es um die Verschiedenheit, die in unserer biologischen Struktur angelegt
ist, etwa um die Fähigkeit zu gebären, oder die physische
Kraft? Reden wir von Unterschieden, die durch kulturelle
Faktoren oder durch gesellschaftliche Rollen und Zwänge
gemacht wurden? Oder meinen wir etwa Unterschiede zwischen diesem Mann und jener Frau, verwechseln wir individuelle Unterschiede mit Geschlechtsdifferenz?
Es ist falsch, von wahrgenommenen Unterschieden reflexartig auf biologisch angelegte und damit unveränderbare
Differenzen zu schlieûen: Viele Unterschiede sind keineswegs unveränderbar. Wenn Mädchen schlechte Schülerinnen in Mathematik sind, heiût das noch nicht, dass Frauen
nicht rechnen können. Es kann durchaus sein, dass sie in
Mathematik zuwenig gefördert wurden bzw. sich aufgrund
eigener Vorurteile in diesem Fach wenig zutrauen. Vorhandene Unterschiede aus ideologischen Gründen abzulehnen,
ist allerdings genauso problematisch. Es gibt eine ganze Reihe von biologisch angelegten Geschlechtsdifferenzen. Es ist
ein logischer Irrtum zu glauben, eine unhaltbare gesellschaftliche Dominanz der Männer würde durch die Anerkennung biologischer Unterschiede gut geheiûen.
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Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind für viele
schöne Momente im Leben verantwortlich, aber auch für
schmerzliche Situationen und für groûes Leid. ¹Objektiveª
Differenzen, Meinungen und Vorurteile spielen in Paarbeziehungen eine Rolle, ohne dass die Betreffenden sich dessen immer bewusst sind.
RenØ und Chantal waren ein Traumpaar. Die beiden
schwammen als gut aussehende und privilegierte Dreiûiger
auf einer Welle des Erfolgs und des gegenseitigen Respekts.
Sie fanden sich und den andern unwiderstehlich.
Sie hätten sich nie träumen lassen, in welche hässlichen
Streits sie sich ein paar Jahre nach der Hochzeit verwickeln
würden.
¹Du nimmst dir einfach was du willst, das tust du!
Nichts anderes! So seid ihr alle. Respekt und Fürsorge sind
schöne Wörter, aber wenn es dann darauf ankommt, zählt
einfach dein Job, deine Freizeit und deine Hobbys.ª
RenØ bleibt solchen Vorurteilen nichts schuldig: ¹Ja, die
Prinzessin muss natürlich speziell umsorgt werden. Zufrieden ist sie ja nie. Aber meckern: jederzeit! Ich schufte mich
für dich und das Kind halb krank und du wirfst mir vor, ich
würde nicht genug leisten.ª ± ¹So habe ich mir das jedenfalls nicht vorgestellt, so nicht! Ich werde meinen Vater bitten, mir zu helfen.ª ¹Genau, genau! Haben wir es doch: Zurück zu Papi, der wirds schon richten.ª ¹Ha, wenn der Herr
nicht mehr weiter weiû, hackt er auf meinem Vater rum,
das kennen wir ja. Heul dich doch bei deiner Mutter aus,
die wird dich verstehen ¼ª
Chantal und RenØ werfen sich gegenseitig zu groûe Abhängigkeit vom gegengeschlechtlichen Elternteil vor. Vater und
Mutter sind für die meisten Menschen die ersten Vorbilder
für Frau und Mann. Die Art der Beziehung zu ihnen formt
Einstellungen und Erwartungen.
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Ich treffe oft Menschen, in denen ein Groll gegen das andere
Geschlecht steckt. Groll entsteht nicht ohne Hintergrund.
Er beruht auf prägenden Erfahrungen. Nur sind dies oft
nicht Erfahrungen mit dem jetzigen Partner, sondern mit
Eltern, mit Geschwistern oder andern Personen aus der Vergangenheit.
Viele Frauen hegen ein Ressentiment, ein Gemisch aus Wut
und Neid gegenüber Männern, denen scheinbar immer alles
leichter fällt. Sich selber sehen sie als schwach und benachteiligt. ¹Ich trete ihn ± bildlich gesprochen ± immer stärker
gegen das Schienbein. Bis er endlich sagt, es tue ihm weh!ª
Dass ihr Tritt jetzt schon höllisch schmerzt, vermag diese
Frau nicht zu sehen. Natürlich leidet der Mann schon lange.
Aber er wäre in seinen Augen kein Mann, wenn er das so
leicht eingestehen würde!
Viele Männer verachten Frauen. Sie erniedrigen sie und fühlen sich nur wohl, wenn sie sie entwerten. Sie verachten in
Frauen oft Eigenschaften, die sie auch bei sich kennen, aber
nicht annehmen, wie Schwäche, Unentschiedenheit oder
¾ngstlichkeit.
Das Erbe der Evolution
In uns wirkt die blinde Kraft der Evolution. Sie fragt nur
nach den Vorteilen für die Weitergabe unserer Gene. Es würde zu weit führen, die Theorie hier im Einzelnen darzulegen.
Ihr Kernpunkt liegt im Umstand, dass sich Mann und
Frau bei der Sexualität unterschiedlich stark engagieren.
Das mag auf den ersten Blick absurd klingen, aber es ist
leicht verständlich, hält man sich vor Augen, dass die Evolution nur die Weiterexistenz der eigenen Gene des Lebewe60
sens sichern will. Genau in diesem Punkt sind Mann und
Frau gegensätzlich. Der Mann vergröûert die Chance für seine Gene, wenn er Sex mit möglichst vielen Partnerinnen
hat. Auûer einem kurzen Moment der Begegnung ¹kostetª
ihn das nichts. Seine Investition ist gering. Die Frau geht
mit der Sexualität die Möglichkeit einer Schwangerschaft
ein, was für sie sehr weitreichende Folgen hat. Sie muss genau auswählen, mit wem sie sich einlässt, um ihre eigene
Sicherheit und die Zukunft ihrer Nachkommen zu gewährleisten.
Ausgehend von diesen fundamentalen Sachverhalten gibt
die biologische Psychologie eine ganze Reihe von Erklärungen für Unterschiede im Verhalten der beiden Geschlechter.
Sie zeigen sich bei der Partnerwahl, beim Kommunikationsverhalten, bei der Sexualität und auf weiteren Gebieten.
Die Unterschiede sind kein Freipass für gesellschaftliche
oder politische Diskriminierung eines Geschlechts. ¹Männer/Frauen sind halt soª heiût nicht, dass ich als Person
nicht für mein Handeln verantwortlich bin. Die biologischen Programme kennen heiût nicht, ihnen blind folgen
zu müssen. ¹Männer müssen untreu seinª zählt nicht. Anstand schon. Für Männer und für Frauen.
Statt nach den Ursachen von Unterschieden zu fragen, kann
man einfach lernen, damit zu leben. Ein ganzer Zweig von
Ratgeberliteratur berät uns im Umgang mit dem andern Geschlecht. Der Bestsellerautor John Gray braucht als griffiges
Bild die Vorstellung, Männer und Frauen stammten sozusagen von verschiedenen Planeten, von der Venus und vom
Mars. Er stellt in seinen Büchern die Erkenntnisse von Psychologen und Biologen in vereinfachter Form dar.
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Unterschiede im Sprachverhalten
Männer und Frauen verwenden Sprache oft unterschiedlich.
Männer beziehen Position, sie kämpfen mit Sprache, sie argumentieren, sie suchen Lösungen und setzen sich durch.
Frauen verwenden Sprache, um ihre Beziehungen zu pflegen, um Kontakte aufrechterhalten, um sich mit Worten
zu streicheln, zu trösten und zu lieben.
Lesen sie den folgenden kurzen Dialog:
Sie: ¹Ich bin fix und fertig. War das ein Tag! Ich habe einfach zu viele Termine!ª
Er: ¹Kauf dir doch eine Agenda, mit der du wirklich planen kannst. Weiût du, mit einem Wochen- und Monatsplan.ª
Sie: ¹Du mit deinen blöden Ratschlägen!ª
Er: ¹Was hast du den jetzt schon wieder?ª
Verstehen sie, wieso die Kommunikation zwischen den beiden trotz guten Absichten missrät? Er wollte vermutlich
nur helfen, suchte sofort nach einer (vielleicht genau richtigen!) Lösung. Sie wollte aber keine Lösung. Sie hätte vermutlich nur hören wollen: ¹Ja, du hast wirklich sehr streng!
Du hast es nicht leicht. Komm her und lass dich trösten!ª
Jede Paarbeziehung lebt von dem, was die Psychologen im
Jargon ¹positive Reziprozitätª nennen. Damit ist gemeint,
dass man sich gegenseitig beständig Zuneigung und Liebe
ausdrückt. So wird das ¹Reservoirª an Wohlwollen und Zuneigung gefüllt. Bei den unvermeidlichen Streit- und Konfliktsituationen trocknet die Beziehung dann nicht aus, sie
zehrt sozusagen vom Schatz der gespeicherten Liebe. Besonders Frauen brauchen solche Zuneigung ganz direkt: Sie wollen hören, dass man sie liebt. Viele Männer wollen eher für
ihre Leistungen gelobt werden.
62
Voneinander lernen
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Männer und
Frauen zunehmend in den gleichen Welten bewegen. Sei es
in Beruf, Familie oder Freizeit.
Um unser Leben gestalten zu können, brauchen wir ein
breites Repertoire an Verhaltensweisen. Alte biologische
Programme, ¹das Recht des Stärkerenª etwa, zählen nicht
mehr. Gefragt ist, um nochmals den Psychologen-Jargon zu
zitieren: ¹Soziale Kompetenzª, die Fähigkeit also, mit zwischenmenschlichen Situationen geschickt und für alle
nutzbringend umzugehen. In den Stelleninseraten wird
Teamfähigkeit und Durchsetzungsvermögen verlangt. Beides ist wichtig.
Männer und Frauen sind sich nicht so fremd wie Wesen von
verschiedenen Planeten. Wir stammen schlieûlich alle von
der Erde. Wir können bei der Gestaltung unserer Lebensräume sehr wohl voneinander lernen. Wir müssen das sogar,
wenn wir unsere Chancen wahren wollen.
Frauen können etwa von Männern lernen, wie man Position
bezieht, wie man sagt, was man will, wie man sich durchsetzt und seine Argumente verteidigt. Männer können von
Frauen lernen, wie man Beziehungen pflegt, wie man eine
zwischenmenschliche Atmosphäre gestaltet, wie man eine
Situation entspannt.
Und Autofahren? Ich gebe zu, ich habe mich auch schon
über die übervorsichtige Fahrweise gewisser Frauen geärgert. Aber die Versicherungsgesellschaften sagen uns klar
und deutlich: Frauen sind die besseren Autofahrer. Sie verursachen viel weniger Schäden. Also?
63
¹ Nur das eine im Kopf!ª ±
Von der Freude und dem Leiden an der Lust
Jeder Mensch ist in seiner sexuellen Identität zutiefst verletzlich. Oft verbergen sich unausgesprochene sexuelle
Konflikte hinter vordergründigen Problemen von Paaren.
Paare können sich im intimen Bereich schleichend fremd
werden. Unzufriedenheit und Sprachlosigkeit schaffen tiefe
Gräben. Wie bleibt eine sexuelle Beziehung lebendig? Wie
kann Sexualität gepflegt werden? Und wie kann man darüber sprechen, ohne verletzend zu sein?
Über Sex reden? ± Doch nicht mit meiner Frau!
Sex ist ein besonderer und meistens ¹störungsanfälligerª
Bereich einer Paarbeziehung. Verständigung und das Gespräch über sexuelle Themen wären gerade bei Schwierigkeiten dringend nötig. Oft ist aber gerade dann auch beim
Reden ¹Funkstilleª.
Guido, 44, und Andrea, 40, sind seit vierzehn Jahren verheiratet und haben zwei Kinder im Jugendalter. Nach auûen
hin ist die Familie in bester Ordnung, doch zwischen dem
Paar rumort es. Guido beklagt sich massiv über seine Frau:
¹Sie ist einfach unzufrieden, nörgelt an allem rum. Komme
ich ihr mal nahe, weist sie mich zurück.ª
Andrea ihrerseits ist genauso enttäuscht: ¹Er hat kein
liebes Wort für uns. Seine Familie ist für ihn ein Pflichtprogramm. Seine Geschäftsreisen dauern immer länger. Für die
Kinder ist er bereits ein Gast geworden.ª ± ¹Wieso soll ich
heimgehen, wenn sie doch nur an mir rumnörgelt. So bleibe
ich halt lieber noch eine Nacht im Hotel, statt nach Hause
zu hetzen.ª
Kein Wunder haben die beiden auch im Bett keine gute
64
Beziehung. Ihre sexuellen Begegnungen sind langsam seltener geworden und seit einiger Zeit ganz eingeschlafen.
Dabei war gerade die Erotik zu Beginn ihrer Liebe eine
ganz starke Kraft. Andrea erinnert sich später in einer Paartherapie lachend. ¹Ja auf unserer ersten gemeinsamen Zeltreise waren wir richtig wild aufeinander. Unser Zelt war ein
richtiges Liebesnest.ª Seitdem hat das Paar einen weiten
Weg miteinander zurückgelegt. In der Therapie versuchen
sie zu rekonstruieren, wie ihnen die erotische Lebendigkeit
abhanden kommen konnte.
Über Sexualität wurde früher nicht geredet, eine Aura der
Heimlichkeit und Verbotenheit umgab das Thema. Es ist
noch nicht so lange her, dass Mütter ihre Töchter warnten:
¹Und sag nein, wenn er etwas von dir will!ª Das hat sich geändert. Heute machen junge Menschen beiderlei Geschlechts
leichter und selbstverständlicher sexuelle Erfahrungen. Auch
Frauen stehen heute zu ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen.
Aber Menschen wollen nicht nur Sex. Sie sehnen sich in einer
Beziehung auch nach Schutz, Geborgenheit, Zärtlichkeit und
Verständnis. Ich habe schon im ersten Kapitel auf die Bindungstheorie hingewiesen. Vergegenwärtigen wir uns nochmals: Das Bedürfnis nach Bindung kennen alle Menschen
aus der Kindheit. Als Erwachsene erwarten wir von unserem
Partner, dass er auch diese Bindungswünsche erfüllt. In jeder
Paarbeziehung geht es demnach um Sexualität und um Bindung. Je nach Persönlichkeit und eigener Entwicklung steht
vielleicht für den einen Partner mehr die Sexualität im Vordergrund, für den andern mehr die Bindung. Das kann sich
im Verlauf einer langjährigen Beziehung durchaus ändern! Jedes Paar muss deshalb immer wieder neu das Gleichgewicht
zwischen sexuellen Wünschen und Bindungsbedürfnis herstellen, so dass beide auf ihre Kosten kommen. Das geht nicht
ohne Konflikte.
65
Männer und Frauen
Seit es Männer und Frauen gibt, rätseln Menschen über Verschiedenheit und ¾hnlichkeit der Geschlechter. Gerade
auch in sexueller Hinsicht gibt es vermutlich Unterschiede,
die nicht nur mit der Einzigartigkeit jeder Person erklärt
werden können. Sie haben eine geschlechtsspezifische Komponente. Woody Allen hat mit einem scherzhaften Ausdruck die sexuellen Geschlechtsunterschiede so illustriert:
¹Männer reden mit Frauen, damit sie mit ihnen schlafen ±
Frauen schlafen mit Männern, damit sie mit ihnen reden.ª
Passt das zu den oben erwähnten Bedürfnissen nach Sexualität und Bindung? Ja, denn viele Männer stellen über sexuelle
Beziehungen Nähe her. Erst durch die Sexualität entsteht für
sie Offenheit und Vertrauen, so dass Bindungswünsche geweckt werden. Sexualität ist sozusagen Vorbedingung für
emotionale Nähe. Frauen erleben das häufig umgekehrt: Liebe, Bindung und emotionale Nähe führen zu mehr sexuellen
Bedürfnissen. Es ist gut zu wissen, dass solche Unterschiede
im Hintergrund wirksam sein können, wenn sich Paare auf
den komplizierten Weg machen, sich näher zu kommen.
Andrea und Guido nützen solche Überlegungen im Moment
wenig. Ihre Beziehung ist zwar im sexuellen Bereich gestört,
aber in allen andern Bereichen erst recht. Bei Beziehungen
ist es wichtig, sich zu fragen, ob der Schwerpunkt der Störung im sexuellen Bereich liegt und sich sozusagen auf den
nicht-sexuellen Bereich ausgeweitet hat oder umgekehrt. In
der Psychologie spricht man von ¹sexuellen Funktionsstörungenª, wenn man im engeren Sinne davon ausgeht, dass
das sexuelle Erleben oder Verhalten einer Person gestört
ist. Damit sind z. B. Erektionsstörungen beim Mann oder
Störung der sexuellen Erregung bei der Frau gemeint. Bei
Andrea und Guido sind es nicht sexuelle, sondern emotionale Faktoren, die zur sexuellen Entfremdung geführt ha66
ben. Sexuelle Begegnungen wurden seltener, weil die Beziehung mehr und mehr belastet war. In der Paartherapie fanden die beiden heraus, dass dies schon bald nach der Geburt
der beiden Kinder begonnen hatte. Damals hatten Andrea
und Guido mitten im Kinderstress versucht, sich immer
wieder ein freies Wochenende zu stehlen, an dem sie sich
gegenseitig so richtig verwöhnt hatten. Nicht nur im Bett,
aber auch. Aber diese speziellen Momente wurden seltener,
die Stimmung zwischen ihnen wurde kühler. Für beide wurde es immer schwieriger, die Initiative zu ergreifen, für beide stiegen Enttäuschung und Angst, noch mehr verletzt zu
werden. So trocknete ihre Beziehung langsam aus.
Wege aus der Lieblosigkeit
Paare ohne sexuelle Beziehung werden sich oft körperlich
fremd. Sie vermeiden Berührungen, da sie zur Quelle von
Enttäuschung und ¾rger geworden sind. Daraus entsteht
ein Teufelskreis. Weil beide vom andern den ersten Schritt
erwarten, steigt das Frustrationsniveau an und verstärkt die
Sprachlosigkeit. In solchen Situationen lohnt es sich, einen
Psychologen oder eine Psychologin beizuziehen. In einer
Paartherapie über Sex zu sprechen ist besonders heikel.
Alle Menschen sind bei diesem Thema besonders verletzlich. Für viele ist es einfacher, darüber in Anwesenheit
mit einem respektvollen Auûenstehenden zu sprechen als
alleine mit dem eigenen ± aber fremd gewordenen ± Partner.
Sowohl für Funktionsstörungen im engeren Sinn als auch
für Beziehungsprobleme im sexuellen Bereich wurden Behandlungsformen entwickelt, die ein behutsames Aufeinanderzugehen ermöglichen. Dabei wird auch mit Übungsprogrammen und ganz konkreten Aufgaben gearbeitet, die das
Paar in der geschützten Umgebung zu Hause durchführen
67
kann. In der Therapie können die neuen Erfahrungen vorund nachbesprochen werden.
Andrea und Guido haben zunächst lange mit ihrer Therapeutin über andere Themen gearbeitet. Erst als ihnen
deutlicher wurde, wie ähnlich sie sich mit ihren Gefühlen
von Bitterkeit und Enttäuschung im intimen Bereich waren,
wuchs das Vertrauen, so dass sie sich Wünsche nach einer
Verbesserung gegenseitig eingestehen konnten. Sie wagten
neue Schritte aufeinander zu, nicht im Bett zunächst, sondern in Form eines gemeinsamen Abendessens mit Kerzenlicht im Restaurant, bei dem sie ± wie sie nachher gestanden ± richtig nervös waren. Als nächsten Schritt lernten
sie, einander den Rücken zu massieren und sich dabei über
ihre Wünsche und Bedürfnisse sprachlich zu äuûern. So
wurde ihre Beziehung gleichzeitig wieder körperlicher und
tragfähiger. Rückblickend sagte Guido erstaunt, dass er es
sich zunächst nicht hätte vorstellen können, mit seiner
Frau über Sexualität zu reden. Als Einstieg dazu hatte die
Therapeutin Guido ein Buch über die sexuellen Phantasien
der Männer, Andrea aber eines über die sexuellen Phantasien der Frauen empfohlen und ihnen die Aufgabe gegeben,
sich mit Rotstift zu markieren, was sie besonders ansprach.
Dann mussten sie die Bücher ihrem Partner zum Lesen geben, der seinerseits mit einer andern Farbe seine Lieblingsstellen markierte. ¹Eine ganz schön aufregende Erfahrungª,
bekannte Andrea.
Sexualität ist für Andrea und Guido wieder zu einer
Quelle der Freude geworden. Aber nicht, ohne dass sich die
Beziehung auch sonst grundlegend geändert hätte. Beide
mussten einen neuen Weg für sich und ihr gemeinsames Leben finden. Andrea leistete sich in dieser Zeit etwas ganz
Besonderes. Für zwei Monate besuchte sie in den USA einen
Sprachkurs. ¹Das war ganz entscheidend für michª, meinte
sie. ¹Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich wieder alleine
und auf mich gestellt. Ich musste mich auch als Frau, nicht
68
in der Rolle als Hausfrau und Mutter, mit andern Menschen
auseinander setzen. Es hat mir solchen Spaû gemacht! Es tat
gut, zu spüren, dass ich als Frau immer noch wahrgenommen werde. ¹Guido hieû das zunächst überhaupt nicht gut.
Er konnte immerhin eingestehen, dass ihm seine lebenslustige Andrea ganz schön Angst einflöûte. ¹Ich sah sie schon
mit ganz Boston flirtenª, bemerkte er nur halb scherzhaft.
Allerdings: Als er sie nach einem Monat in den USA besuchte, da war für beide wieder so etwas spürbar wie in einer Zeltnacht vor langen Jahren.
¹Du willst alleine verreisen?ª ±
Von der notwendigen Einsamkeit
Die beste Partnerschaft kann nicht verdecken, dass jeder
Mensch alleine ist und bleibt. Die Fähigkeit allein zu sein,
ist eine wichtige Grundlage für psychische Gesundheit und
für eine gute Paarbeziehung. Die Paarbeziehung ¹erlöstª
nicht von existentiellen Fragen, vor die wir uns alle gestellt
sehen. Abschied und Wiederbegegnung schaffen Lebendigkeit. Nähe und Distanz gehören zusammen.
Die Fähigkeit, allein zu sein, ist eine wichtige Grundlage
für die psychische Gesundheit. Auch eine gute Paarbeziehung braucht Trennung. Abschied und Wiederbegegnung
schaffen Lebendigkeit. Nähe und Distanz gehören zusammen.
Renate, 54, ist Mutter, Hausfrau und Krankenschwester.
Seit einigen Jahren arbeitet sie wieder halbtags in ihrem Beruf. Mit ihrem Mann Rolf, 58, hat sie es nach langen Krisenjahren wieder gut. ¹Ich bin ganz erstauntª, sagt sie, ¹dass wir
noch zusammen sind. Als die Kinder im Schulalter waren,
waren wir uns so fremd geworden, dass wir wahrscheinlich
beide nur noch aus Gewohnheit zusammenblieben.
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Wir waren kein Paar mehr. Das hat sich wieder verändert. Die Kinder sind jetzt erwachsen, wir sind beide gesund und haben wieder viel mehr Nähe und Spaû miteinander. Auch sexuell ist unsere Beziehung zu neuem Leben
erwacht. Mir kommt es vor, wie wenn ein Flämmchen, das
um ein Haar ausgelöscht wäre, nun wieder ruhig und kräftig
brennt.ª Doch Renate spürt, dass ihr zweites Glück von einer neuen Seite her bedroht ist: ¹Ja, was jetzt geschieht, hätte ich nicht vorausgeahnt: Wir haben es gut miteinander,
aber wir kleben nun pausenlos zusammen. Mir wird es zu
eng und doch finde ich es schwer, alleine etwas zu unternehmen. Mir macht das Angst. Wie soll das erst im Alter
werden?ª Rolf und Renate erkennen, dass ihrer Beziehung
eine Gefahr droht, die sie vor einigen Jahren noch belächelt
hätten: Die Gefahr, einander zu nahe zu sein.
Nähe und Distanz
Eine Paarbeziehung ist ein kunstvoller Tanz zwischen Nähe
und Distanz.
Eigentlich ist leicht einsehbar, dass ohne Distanz keine
wirkliche Intimität entstehen kann. Nur die Schlagerschnulzen jaulen davon, dass man nie mehr auseinander gehen wolle. Im alten China habe es, wird berichtet, eine besondere Bestrafung für verbotene Liebe gegeben. Das
fehlbare Paar wurde eng aneinander gefesselt und musste
so monatelang ausharren. Wurden die Fesseln endlich gelöst, war die Liebe endgültig gestorben. Wie ohne Luft die
Flamme keine Nahrung findet, wird auch ohne Distanz keine Paarbeziehung überleben. Selbstverständlich braucht
eine Paarbeziehung auch Nähe, viel Nähe, unheimliche
Nähe sogar, die die Grenzen zwischen Ich und Du aufzulösen scheint. Distanz und Nähe in der Paarbeziehung lassen
sich nicht in Metern oder Kilometern messen. Gefühls70
mäûig waren Rolf und Renate über Jahre hinweg weit weg
voneinander, obwohl sie im Alltag Bett und Tisch teilten.
Bewusstes Alleinsein
Die beiden haben sich vor kurzem ausgesprochen. Renate
hat Rolf gegenüber das Thema angeschnitten: ¹Wir sind einfach zuviel zusammen. Ich finde es sehr schön mit dir, aber
ich will nicht, dass ich das Alleinsein nicht mehr erleben
kann. Mir ist es wichtig, alleine durch eine Stadt zu gehen
oder in einer geselligen Runde als Renate wahrgenommen
zu werden, nicht als Teil von ¹Rolf und Renate.ª
Rolf war zuerst ganz erstaunt. Es war ihm unangenehm, als
Renate vorschlug, dass sie eine Woche alleine wegfahren
wolle. Sie würde eine Freundin in Wien besuchen, die hätte
sie schon lange eingeladen. Für beide war es nicht leicht,
voneinander Abschied zu nehmen. Und dabei haben sie Zeiten erlebt, in denen Rolf fast nie zu Hause war. ¹Aber da war
ich ja mit den Kindern zusammenª, erinnert sich Renate.
¹Das war sowieso eine Zeit, als ich viel mehr die Kinder
meinte, wenn ich ¸wir sagte. Ich spürte damals, dass ich zu
den Kindern, vor allem zu Christian, unserem Jüngsten,
eine Bindung hatte, die mir ganz wichtig war. Von ihm getrennt zu sein, das war wirklich schwer.ª
Rolf, ein sonst eher wortkarger Mann mit einem grauen
Vollbart, entgegnet lachend: ¹Ja, jetzt kann ich darüber lachen. Aber damals war das sehr ärgerlich und verletzend.
Du warst unerreichbar, du und dein Christian!ª
Rolf gibt heute zu, dass ihm die bevorstehende Trennung
von Renate nicht leicht fällt. ¹Um ganz ehrlich zu sein, mir
macht das viel aus. Ich fürchte mich davor. Ich habe Angst
um Renate, denk an Zugunglücke und Überfälle. Es ist unangenehm zu wissen, dass sie eine Woche wegfahren wird.
71
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass das für mich einmal
ein Problem werden würde.ª
In unserer Zeit des Individualismus ist das Streben nach
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sichtbarer als
dasjenige nach Bindung und Verbindlichkeit. Doch das Bindungsbedürfnis gehört genauso zu unserer psychischen
Grundausstattung und lässt sich nicht ohne Schaden über
Bord werfen.
Die Stärke dieses Bedürfnisses und die Macht der Bindungskräfte zwischen Menschen zeigen sich in den intensiven Gefühlen, mit denen Bindungen einhergehen. Unsere
stärksten Emotionen erleben wir bei der Herstellung und
der Auflösung von Bindungen: das Glück uns zu verlieben,
die Erfüllung der Nähe, die Angst bei Trennung, die Trauer
beim Verlust, die Wut und der Hass bei Verrat und Täuschung.
Auch der einsame Mensch spürt sein Bindungsbedürfnis:
als brennende Sehnsucht nach einem fehlenden Gegenüber
etwa oder als intensive Bindung an Gott oder an eine Aufgabe.
Vielen Menschen bleibt verborgen, was da in ihnen
wirkt. Wir verstehen mehr, wenn wir uns über die Bindungskräfte in uns im Klaren sind. Deshalb schreibe ich so
oft davon. Die Psychologie hat das Bindungsbedürfnis gut
untersucht. Das Bindungsbedürfnis erlebt das Kind als drängende Sehnsucht nach der Nähe einer Bezugsperson. Wir
alle haben das erlebt. Die kindlichen Bindungserfahrungen
prägen die Bindungsmuster des Erwachsenen. Empfinde ich
beispielsweise jede Trennung als Gefahr, auf die ich mit
Angst und Panik reagiere? Kann ich darauf vertrauen, dass
die geliebte Person mich nicht einfach verlässt?
Die Grundlagen für das Vertrauen erwerben wir als Kind,
auch die Grundlagen für das Selbstvertrauen. Aus der guten
Bindung erwächst das gute Alleinsein. Auf eine gute Art al72
leine zu sein, lernt ein Mensch nicht alleine, sondern in der
Anwesenheit des vertrauten Wesens, der geliebten Mutter
zum Beispiel. Das ins Spiel versunkene Kleinkind, das
weiû, dass es gehalten ist, sich aber im Moment alleine erlebt, erwirbt die Basis für Kreativität und Schöpfertum. Dies
hat Pablo Picasso wohl gemeint, wenn er sagte: ¹Nichts
kann ohne Einsamkeit entstehen. Ich habe mir eine Einsamkeit geschaffen, die niemand ahnt.ª
Was hat das alles mit Ehe zu tun? Sehr viel. In unseren Liebesbeziehungen als Erwachsene werden die Spuren unserer
Bindungserfahrungen wieder sichtbar. Ein Mensch, der
Nähe nicht aushält und sie meidet, tut das auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit Bindung, genauso wie wenn
ein Mensch, der sich aus Angst vor dem Verlassenwerden
an den Partner klammert. Jedes Paar reguliert auf seine Weise Nähe und Distanz. Leicht entsteht dabei ein Teufelskreis
nach folgendem Beispiel: Klammert sich der eine Partner an
den andern (¹Bleib doch da, sei ganz nahe, mach was mit
mir!ª) geht der andere auf Distanz (¹Hilfe, mir wird es zu
eng! Luft! Ich möchte nur einen Moment alleine sein, aber
ohne die Vorwürfe!ª). Verfolger und Verfolgter jagen sich in
einem ausweglosen Kreislauf: Je mehr der eine für Nähe
kämpft, desto eher wird der andere die Distanz verteidigen.
Aufgeheizt wird ein solcher Teufelskreis durch ungünstige
frühe Bindungserfahrungen. Man kann sich das dann so vorstellen: Gerät ein Paar in eine derartige Streitsituation von
Nähe und Distanz, werden alte, halb vergessene Bindungserfahrungen wieder geweckt. Die Heftigkeit der beteiligten
Gefühle nimmt dadurch zu und das Ganze eskaliert.
Renate hat angedeutet, dass sie während ihrer ¹Familienphaseª Bindung viel stärker zu ihrem Sohn als zu ihrem
Mann erlebt hatte. Zum Glück für sie und für Christian
hat sich dieser Zustand nicht erhalten. Das wäre für beide
73
ungesund gewesen. Kein Kind kann auf die Dauer unbeschadet Partner für die Mutter sein, keine Mutter kann auf
die Dauer die Beziehungsbedürfnisse des Kindes stillen. Im
Gegensatz zu einer Paarbeziehung ist die Mutter-Kind-Beziehung nicht auf unbegrenzte Lebensgemeinschaft angelegt.
Rolf und Renate haben in verschiedener Hinsicht Glück: Sie
haben sich in einer Art ¹Nachsommerª zu einem zweiten
Glück gefunden. Sie spüren, dass sie sorgsam damit umgehen müssen, damit ihrem neuen Feuer nicht die Luft ausgeht. Es braucht Raum und frischen Wind, damit nicht
durch zuviel erstickt, was einmal durch zuwenig bedroht
gewesen war. Beide sind noch in anderer Hinsicht vom
Glück begünstigt: Sie haben in ihrer Kindheit keine derart
verletzenden Erfahrungen mit Bindung gemacht, dass ihre
Liebe als Erwachsene durch zuviel Angst und Panik bedroht
wäre.
Damit es ihnen als Menschen und als Teile eines Paares gut
geht, müssen Menschen einander immer wieder fremd werden. Nur so ist Wiederbegegnung, Wahrnehmung und
Lebendigkeit möglich. Es entsteht dann eine Auseinandersetzung zweier Personen und nicht eine hermetische Glasglocke, unter der das Paar abgeschlossen lebt und unter der
sich Rachsucht, Streitlust und Bitterkeit breit machen.
Rolf und Renate haben die Woche Trennung genossen. Sie
haben sich beide Zeit für sich genommen und Raum für vieles gefunden, was sie schon lange machen wollten. Am
Ende haben sie sich so richtig wieder aufeinander gefreut.
Sie haben sich versprochen, diese Erfahrung bald zu wiederholen. Sie wissen aber, dass das nicht so einfach ist: ¹Es
braucht schon Überwindung. Und es ist einfacher, sicherer
und gemütlicher, einfach immer zusammen zu bleiben.ª
74
Rolf ergänzt schelmisch: ¹Aber das Wiedersehen ist sehr attraktiv!ª Attraktiv heiût anziehend. Und eigentlich kann
uns nur anziehen, was sich in einer gewissen Distanz befindet. Denken sie beim nächsten muffigen Streit an Rolf und
Renate: Vielleicht brauchen sie ein paar Tage ohne ihren
Partner!
¹Du behandelst mich wie den letzten Dreckª ±
Von der Höflichkeit zwischen Partnern
Wir alle verhalten uns in der Öffentlichkeit anders als zu
Hause. Auch Paare zeigen sozusagen öffentliche Umgangsformen, die sie fallen lassen, wenn sie alleine sind. Aber
auch und gerade mit dem nächsten Menschen sind Anstand, Höflichkeit und Wertschätzung zentral. Geht bei
Paaren der Anstand verloren, sind die Folgen verheerend.
Vielleicht haben sie auch schon Paare wie dieses beobachtet: Verdrossen sitzen sie sich im Eisenbahnabteil gegenüber. Die unfreundliche Spannung ist sogar für den Fremden
zu spüren. Sie geben einander Zeichen mit wortlosen, ungeduldigen Gebärden. Der Mann bellt hie und da mürrisch einen unverständlichen Befehl, die Frau sagt gar nichts.
Eine alltägliche Begegnung
Vor kurzem bin ich, ebenfalls im Zug, dem folgenden Paar
begegnet: Mir gegenüber sitzen ein Mann und eine Frau.
Beide nicht mehr jung, beide nicht ganz schlank, offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt. ¹Schau mal die beiden
Schwäne!ª Die Frau berührt ihn kurz am Arm und zeigt
ihm zwei Schwäne, die ganz niedrig einem Fluss entlang
fliegen, den der Zug soeben überquert. ± ¹Mhm, sieht schön
aus, so elegantª, meint er nur. Kurz darauf bringt die Mini75
bar Getränke. Der Mann fragt: ¹Möchtest du auch einen
Kaffee?ª, und sie antwortet: ¹Nein, aber ganz gerne ein
Wasser.ª Sie kann die Flasche nicht gleich öffnen, er hilft
ihr dabei. Als sie aussteigen, hält er ihr den Mantel, sie
sagt danke. Sie verabschieden sich freundlich von mir und
machen sich auf den Weg. Die alltäglichste Geschichte der
Welt! Nicht einmal eine Geschichte, eine unwichtige Begebenheit. Trotzdem finde ich sie erzählenswert. Sehen sie
das Paar aus dem Zug vor sich? Es hat mich gefreut, ihnen
zu begegnen. Vielleicht war meine Freude verwandt mit
der Freude, die das Paar empfand, als es das Schwänepaar
vorbeifliegen sah. Die Freude über das Gefühl von Verbundenheit, Wertschätzung und Gefährtenschaft, das Paare ausstrahlen, die es gut haben miteinander. Sogar Schwäne!
Höflichkeit ist wichtig
Höflichkeit zwischen Partnern ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Sie drückt eine Haltung von Respekt und Wertschätzung aus. Das ist Lebensenergie für lang dauernde Liebe.
Höflichkeit ist ein vieldeutiger Begriff. Er meinte ursprünglich ¹so wie es am Hofe Sitte istª, bezog sich also
stark auf die äuûere Etikette, nicht auf den privaten Beziehungsraum. Aber auch bei Personen, die sich nahe stehen,
braucht es Umgangsformen. Nicht die eisige distanzierte
Höflichkeit, wie es sie auf dem diplomatischen Parkett
auch zwischen Feinden geben mag. Bei Paaren wäre eine solche Form der Höflichkeit äuûerst destruktiv.
Die kalte Höflichkeit des Sich-Arrangierens kann dann zu
einer lebenswerten Lösung führen, wenn sich beide Partner
im Gleichgewicht befinden. Doch sobald dieses Gleichgewicht kippt, tun sich Abgründe auf. Das war auch bei Ri76
chard und Sibylle der Fall. Als junges Paar haben sie ein erfolgreiches eigenes Fitnessstudio aufgebaut. Beide arbeiteten Tag und Nacht für ihren Betrieb, dessen Ruf als seriöses
Trainingslokal sich bald weit herum verbreitete. Ihr
¹Health Clubª wurde zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt, den man nicht nur zum Schwitzen, sondern auch
zum Flirten aufsuchte. Das Paar hatte zwei Kinder, viel Arbeit und daneben wenig Zeit füreinander. Richard, ein gut
aussehender Mann, war vor allem bei den Frauen beliebt
und bald für seine Affären bekannt. Sibylle lieû sich nichts
anmerken, aber sie litt. Besonders schlimm fand sie die Blicke der anderen Frauen, mitleidige, hochmütige oder verachtende Blicke.
Die Kinder wurden älter, das Paar war sich fremd geworden, begegnete sich aber in den öffentlichen Räumen genauso, wie wenn sie alleine waren, mit ausgesuchter Höflichkeit.
Als sich Sibylle dann in einen etwas jüngeren Mann verliebte und mit ihm die lang entbehrte Nähe genoss, schien
alles im Gleichgewicht. Bis zu jenem Tag, als Richard, mittlerweile 53 Jahre alt und körperlich deutlich auûer Form geraten, sich mit Sibylle auszusprechen suchte. Er sprach von
Neuanfang, von ihr als einziger wichtiger Frau für ihn und
vielem mehr. Sibylle blieb ganz ruhig, aber auch ganz klar:
In ihr gäbe es keine Gefühle mehr, die Jahre der Fremdheit
und der distanzierten Höflichkeit hätten jeden Rest von
Nähe zerstört. Sie könne sich nur eine Fortführung der jetzigen Situation oder eine Trennung vorstellen. Am nächsten
Tag verunfallte Richard mit seinem Auto tödlich. Es wurde
nie geklärt, ob er absichtlich in den Baum gefahren war.
Ganz im Gegensatz zur kalten und feindseligen Höflichkeit
meint die gewissermaûen ¹intime Höflichkeitª eine Haltung, in der Wertschätzung an erster Stelle steht. Was man
schätzt, ist ein ¹Schatzª. Nicht jedes Mal, wenn jemand so
77
genannt wird, scheint der Sprecher oder die Sprecherin sich
dessen bewusst zu sein.
Wie so oft bei Abläufen der Kommunikation zwischen Menschen lassen sich Ursache und Wirkung auch beim Thema
Höflichkeit nur schwer voneinander trennen: Es ist genauso
richtig zu sagen, dass ein Paar sich höflich zueinander verhält, weil es sich gut verträgt, wie umgekehrt, dass sich das
Paar gut verträgt, weil es so höflich miteinander umgeht.
Zur Höflichkeit gehört es, die Privatsphäre des andern zu
respektieren. Der Hinweis auf die unbedingte Offenheit
(¹Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander!ª) ist
fehl am Platz. Es geht nicht um Geheimnisse, es geht um
Grenzen zwischen Menschen und den Respekt vor diesen
Grenzen. Öffnen sie ungefragt die Post ihres Partners? Platzen sie ins Badezimmer ohne anzuklopfen? Sagen sie danke?
Von fehlender Höflichkeit zu Feindseligkeit
Zwischen fehlender Höflichkeit und offener Feindseligkeit
ist ein kurzer Weg. Betty Fischer ist eine elegante Frau mit
kurzen blonden Haaren. Niemand sieht ihr ihre 52 Jahre an.
Es war für sie schon immer wichtig, sich geschmackvoll zu
kleiden. Sie ist dezent geschminkt und trägt ein buntes
Sommerkleid. Zögernd berichtet sie über ihren Mann: ¹Er
lässt sich einfach gehen. Ich ertrage das immer weniger.
Nach auûen ist er ganz scharf darauf, dass ihn alle nett finden und bewundern. Vor allem bei den Frauen schafft er das
auch. Immer wieder höre ich, was ich doch für einen charmanten Mann hätte. Die sollten ihn mal zu Hause erleben.
Ich weiss, dass ich jetzt so richtig über ihn herziehe, aber sie
sollten ihn sehen, wie er isst. Ich ekle mich richtig davor.
Und sein Verhalten mir gegenüber ist einfach undiskutabel.
78
Er ist kurz angebunden, macht sich lächerlich über mich,
putzt mich runter.ª ± ¹Und sie? Wie verhalten sie sich
denn in so einem Moment?ª Frau Fischer stutzt und sieht
mich erstaunt an: ¹Ich? Ja, was soll ich schon machen. (¼)
Moment mal! Ja, ich versuche natürlich, mich zu rechtfertigen. Z. B. gestern Abend, da hat er gesagt, ich sei doch die
letzte Schlampe, nur weil ich die schmutzige Wäsche oben
an der Treppe liegen lieû. Dabei wollte ich doch nur ganz sicher sein, dass ich sie heute morgen gleich nach dem Aufstehen in die Maschine gebe, verstehen sie.ª Hilft das ihnen
weiter? Ich meine, bringt das ihnen etwas?ª ¹Überhaupt
nicht! Im Gegenteil, hie und da habe ich das Gefühl, es
macht ihn nur noch wütender und verletzender, wenn ich
mich rechtfertige, sogar dann, wenn ich versuche, seinen
Forderungen nachzukommen.ª
Wir wollen uns hier gar nicht damit befassen, ob Bettys
Annahmen über die Motive ihres Mannes stimmen oder
nicht. Viel wichtiger ist es zu sehen, welche Auswirkungen
ihr eigenes Verhalten auf ihren Mann hat. Offenbar nicht
die gewünschten.
¹Was geht denn in ihnen vor, wenn er so mit ihnen
redet?ª ± ¹Ich fühle mich wie der letzte Dreck. Es geht mir
schlecht. Gleichzeitig spüre ich auch eine groûe Wut in
mir.ª ± ¹Was möchte die Wut denn sagen?ª Jetzt ist Betty
Fischer unruhig geworden. Sie schaut mich an, ihr Blick
scheint mir zu bedeuten: ¹Muss das sein? Geben sie mir
doch die Antwort. Sagen sie mir doch, was ich tun soll!ª
Ich weiû, dass Frau Fischer ihre eigene Stimme finden
muss.
Ihr Beitrag zum Verhalten ihres Mannes ist es, dass sie es
akzeptiert hat, Opfer seiner Angriffe und Entwertungen zu
sein. Opfer erwarten die Hilfe von auûen. Die gibt es nicht,
wenn zwei Menschen alleine sind.
Betty Fischer muss ihre eigene Stimme hören. Ich frage
sie nochmals: ¹Was sagt denn ihre Wut in einem solchen
79
Moment?ª Sie nimmt sich Zeit, atmet dann tief durch und
sagt mit fester Stimme: ¹Ich will nicht, dass du so mit mir
redest. Du hast nicht das Recht dazu, und ich lasse es nicht
mehr zu!ª Stille. Auf ihrem Gesicht sind wechselnde Gefühle zu lesen. Ich sage nichts, denn sie ist jetzt dabei, zu
einem Entschluss zu kommen. ± Schlieûlich schaut sie
mich direkt an und sagt: ¹Das ist die Antwort oder? Das
muss ich ihm sagen. Und mich dann auch danach richten.ª
Ich nicke nur!
Wie du mir so ich dir?
Ist das höflich? Ich glaube schon, aber nicht unbedingt sehr
freundlich!
Dazu fällt mir ein Cartoon ein, den ich in einer Illustrierten gezeichnet gesehen habe: Ein Mann und eine Frau sitzen
auf einer Parkbank. Die Sterne funkeln. Der Mann
schwärmt: ¹Die Liebe ist ein Geben und Nehmen!ª ± ¹Wie
meinst du das?ª, fragt ihn die Frau. ¹Ganz einfach: Du gibst
mir deine Liebe und ich nehme sie.ª Wenn ich in Paarseminaren dieses Bild zeige, geht meistens ein Lachen durch den
Raum. Aber oft genug schwingt ein bitterer Ton in diesem
Lachen mit. Frau Fischer würde nicht einmal Lächeln über
diese Geschichte! Vielleicht ist sie in Zukunft weniger
freundlich zu ihrem Mann. Freundlichkeit ist auch nur dort
angebracht, wo Freundlichkeit zurückkommt. Selbstaufgabe ist schädlich.
Zu sich stehen heiût, die eigenen Grenzen zu respektieren. Nur dann kann ich von meinem Partner verlangen, dass
er das auch tut. In aller Höflichkeit!
Natürlich gibt es stabile Beziehungen von Dominanz und
Unterwerfung, sich gut ergänzende Positionen von Herrschen und Dienen. Doch auûer in einem Cartoon wird heu80
te kein Paar bewusst eine Beziehung auf einer derartigen
Konstellation aufbauen wollen. Das Prinzip des Ausgleichs
von Geben und Nehmens ist die Grundlage für eine Paarbeziehung, die wächst und gedeiht.
Es ist keine Basis für eine gesunde Beziehung, wenn nur
einer der beiden davon profitiert. Erinnern sie sich an den
Begriff der ¹Beziehungskontenª? Die Bilanz von Geben
und Nehmen muss stimmen, damit wirklich beide auf ihre
Rechnung kommen.
¹Groûeltern werden wir nie sein!ª ±
Auch Paare ohne Kinder brauchen Zukunft
Die Freude an den heranwachsenden Kindern und an ihrem
Weg zu Erwachsenheit und eigener Elternschaft bereichert
Paarbeziehungen. Enkelkinder schaffen oft für Paare ein besonderes spätes Glück. Mit Kindern und Enkeln ist viel Zukunft verbunden. Paare ohne Kinder müssen sich auf andere
Weise mit Zukunft befassen.
¹Groûeltern werden wir nie seinª
Paare ohne Kinder haben andere Perspektiven als Eltern. Erfüllung und Lebenssinn liegen für sie nicht in der Elternschaft. Und doch stellen sich ihnen die gleichen Lebensaufgaben.
¹Immer wenn ich spät von der Arbeit heimkomme, gehe
ich in die Zimmer der Kinder, sehe, wie sie schlafen und
gebe ihnen einen Kuss.ª Wenn Brigitte, 44, hört, wie ihr Arbeitskollege Robert, zehn Jahre jünger als sie und begeisterter Vater, von seinen Kindern erzählt, spürt sie jedes Mal einen Stich. Sie hat keine Kinder und wird wohl nie welche
81
haben. ¹Es war schon sehr schwierig für mich zu sehen, wie
eine nach der andern meiner Freundinnen schwanger wurde, Kinder hatte und sich durch Babyphase, Windeln und
Kindergarten kämpfte. Jetzt sind die Kinder überall schon
gröûer und gehören so selbstverständlich zum Leben, ja sie
bilden seinen Mittelpunkt. Und ich? Ich habe das alles
nicht mitbekommen. Ich habe vergeblich auf Kinder gehofft.ª Brigitte hadert mit ihrem Leben. Sie hat sich noch
nicht damit abgefunden, keine Mutter zu sein.
Ein Leben ohne Kinder können sich die wenigsten Eltern
vorstellen. Auch wenn sie wissen, dass die Kinder eines Tages ausfliegen werden.
Während der Familienphase, wenn Eltern und Kinder zusammenleben, entsteht eine Lebensgemeinschaft, die Nähe
und Intimität schafft. ¹Das schönste für mich sind lange
Autofahrten in den Ferien, meint die 13 -jährige Vanessa.
Dann sind wir alle zusammen und haben viel Zeit. Nur
wir.ª
Die meisten Menschen wollen Kinder. Das ist eine Binsenwahrheit. Und doch lohnt es sich, einen Moment nachzudenken, wie sich dieser Wunsch für uns darstellt. In der
Psychologie wird die Dauer des Erwachsenenlebens in drei
Stadien eingeteilt, die stark mit dem Thema Kinder verbunden sind. Ein Mensch an der Schwelle zum Erwachsensein
steht zunächst vor der Aufgabe, eine intime Beziehung zu
einem andern Menschen herzustellen. Er oder sie muss
Nähe und Liebe in einer Beziehung auûerhalb seiner Herkunftsfamilie zulassen. Schafft er oder sie das nicht, bleibt
eine unter Umständen als quälend erlebte Selbstbezogenheit zurück. Die erfüllte Sexualität in einer stabilen Zweierbeziehung ist Ausdruck erwachsener Intimität.
Aus der erfüllten Nähe eines Paares entsteht der Wunsch
nach einem Dritten, nach dem gemeinsam Geschaffenen.
82
Dieses ¹Generativitätª genannte Bedürfnis zeigt sich etwa
im Kinderwunsch. Die Zweiheit drängt zur Dreiheit. Dadurch entsteht ein gemeinsamer Sinn und eine gemeinsame
Aufgabe. ¹Seit ich Kinder habe, weiû ich, für was ich da bin.
Ich habe einen Sinn gefunden, der mich erfüllt. Meine Kinder sollen es gut haben, ich will für sie sorgen, sie erziehen
und für ihre Zukunft da sein. Das Leben erscheint mir dadurch erst recht wertvoll und kostbar.ª So fasst es Norbert,
31, Vater zweier Kleinkinder, zusammen, und Ingrid, 30,
seine Frau bestätigt: ¹Das gilt absolut gleich auch für mich.
Und das verbindet uns in einer ganz andern Art, als wir uns
als Paar verbunden fühlen. Vielleicht so: Als Liebespaar sehen wir uns gegenseitig an, als Elternpaar schauen wir gemeinsam zu unseren Kindern.ª
Während der dritten Entwicklungsphase des Erwachsenenalters steht ¹Integritätª im Zentrum: Wenn wir älter werden, müssen wir lernen, unseren eigenen Lebensweg als derjenige, der ich geworden bin, als das Eigene anzunehmen und
zu bejahen. ¹Lange habe ich mir als Kind andere Eltern gewünscht, als Mutter dann nahm ich mir vor, es mit meinen
Kindern ganz anders zu machen als ich es erlebt hatte. Jetzt,
als Mutter, verstehe ich meine Eltern viel besser, und ich
kann auch akzeptieren, dass ich in vielem als Mutter doch
meiner eigenen Mutter sehr ähnlich wurde. Das ist gut so.ª
Kinder geben dem Leben Inhalt und Sinn. Es ist deshalb verständlich, dass Menschen in Krisen geraten können, wenn
ihr Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Sie müssen andere
Wege finden, den Bereich in ihrem Leben mit Inhalt zu füllen, den Kinder für Eltern ausfüllen. Kinder sind für Eltern
Herausforderung, Aufgabe und Glück, ihnen kann man Liebe schenken, und mütterliche oder väterliche Gefühle werden geweckt. Über die Kinder fühlt sich der Mensch eingewoben in die Kette von Generationen, von seiner Kindheit
bis zu seinen Eltern und Groûeltern.
83
Medizinische Hilfen
Seit einigen Jahren hat die Medizin im Bereich der Fortpflanzung ungeahnte Möglichkeiten geschaffen. Vielen Paaren
kann durch diese neuen Methoden zum lang ersehnten Kind
verholfen werden. Allerdings schaffte das Potential der modernen Medizin auch Stress und psychische Belastung: Die
aufwändigen technischen Prozeduren nähren immer wieder
Hoffnung, die tiefer Enttäuschung weicht, wenn die Schwangerschaft ausbleibt. Alles dreht sich um den Kinderwunsch,
ein Leben ohne Kinder scheint nicht mehr denkbar.
¼ und ihre Grenzen
Viele Frauen und Männer müssen sich trotz alledem mit der
Tatsache auseinander setzen, dass sie nie Kinder haben werden. Das kann schmerzlich sein, schafft aber gleichzeitig
neue Möglichkeiten und Perspektiven. Auch Menschen
ohne Kinder müssen die Entwicklungsschritte von Intimität, Generativität und Integrität bewältigen. Aber sie tun
das auf anderem Wege.
Ein Paar mit einer gemeinsamen Vision, einem gemeinsamen Traum, sei es ein Haus, ein Geschäft oder eine soziale oder kulturelle Aufgabe, braucht dafür von der generativen Kraft, die sonst Kindern zukommt. Natürlich
entwickeln auch Eltern gemeinsame Ideen und Entwürfe
und auch Alleinstehende haben Träume und Visionen.
Aber Paare ohne Kinder sind besonders darauf angewiesen,
Inhalte zu finden und zu gestalten, die Leben, Wachstum
und Zukunft ermöglichen. Frau Seth lebt in Calcutta, ihr
Mann ist dort Direktor bei einer internationalen Firma.
Das Paar hat keine Kinder. Sie erzählt: ¹Ich unterstütze
mit einem Projekt Handwerker, die traditionelle Webtech84
niken verwenden. Für mich, oder besser, für uns ist das eine
Tätigkeit für die Zukunft. Ich mache sie, weil ich keine
Kinder habe. Wir sagen uns, dieses Geld, mit dem wir Menschen Arbeit geben und das Weiterleben schöner und wertvoller Handwerkstechniken sichern, hätten wir für unsere
Kinder investiert. So schaffen wir gemeinsam etwas, was
uns überdauern wird, genauso wie es unsere Kinder getan
hätten.ª
Paare ohne Kinder sind, wenn sie älter werden, besonders in
Gefahr, in einem gemeinsamen Kokon zu leben, selbstgenügsam und abgeschlossen, ohne die Welt drumherum
zu sehen. Das ist nicht Generativität, das ist Stagnation.
Menschen brauchen Hoffnung, sie brauchen Zukunft, die in
Kindern verkörpert ist. Seit jeher haben Menschen ohne
Kinder in Familien wertvolle Funktionen für Kinder übernommen. Sei es etwa als Patin oder Pate, als Onkel oder
Tante. ¹Als mein bester Freund plötzlich bei einem Unfall
gestorben war, wusste ich, dass ich mich um seine Kinder
kümmern musste. Ich richtete jedem ein Konto ein, half ihnen, ihre Ausbildung zu finanzieren und berate sie auch
jetzt als Erwachsene noch. Für mich war dies nie eine
Frage ± das war selbstverständlich, für mich und auch für
die Kinder.ª
Kinder schaffen Kontakt. Das gilt nicht nur für Kinder untereinander, sondern auch für Eltern. Freundschaften und
Bekanntschaften zwischen Müttern, Vätern und Familien
schaffen ein soziales Netz, das Menschen trägt.
Paare ohne Kinder müssen aktiver sein, um in einem sozialen Netz getragen zu sein, insbesondere in dem Netz unterschiedlicher Generationen. Menschen ohne Kinder haben
zudem für ihr Alter eine andere Perspektive: Zwar stellen
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Kinder bei uns nicht mehr die Altersvorsorge dar. Die Sicherung der materiellen Existenzbasis geschieht heute über die
Rente. Doch die Betreuung und Pflege alleinstehender oder
verwitweter Männer und Frauen ist nach wie vor in erster
Linie Familiensache. Und wer übernimmt die Pflege, wenn
keine erwachsenen Kinder da sind?
Kinder erziehen ist schwierig. Kinder machen viele Probleme. Sie machen aber auch viel Freude und geben Sinn
und Halt. Menschen ohne Kinder müssen dafür andere
Wege suchen. Das bietet Chancen für alle. Denn im günstigen Fall sind es ja andere Menschen, andere ¹Kinderª, denen Liebe, Zuneigung und Fürsorglichkeit zukommen, die
nicht für eigene Kinder verbraucht wird.
¹Du hast eine andere, gibs zu!ª ±
Von Untreue und Ehebruch
Sexuelle Auûenbeziehungen sind selten harmlos. Sie verweisen in der Regel auf eine Störung der Partnerschaft. Die
Krise birgt auch Chancen für einen Neuanfang.
¹Frau sucht Mann, der wirklich treu sein kann!ª, so und
ähnlich lauten Inserate, die auf schmerzvolle Erfahrungen
deuten. Treue und Untreue in der Paarbeziehung haben
Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen beschäftigt
und fasziniert.
Die Werke der Weltliteratur sind voll von Geschichten,
die nicht nur von der Sehnsucht nach der dauerhaften Liebe
in der Ehe künden, sondern ebenso vom Reiz des Ausbruchs
und von der bezwingenden erotischen Kraft. Religiöse Vorschriften, Gesetze und Normen verbieten und kontrollieren
diese Kraft, versuchen Ordnung, Familie und Ehe zu schützen. Wir alle wissen, dass dies nur teilweise gelingt.
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Die meisten Menschen wünschen sich einen treuen Partner. Sie sehnen sich nach der unbedingten Nähe und
Vertrautheit mit einer Person, die Sicherheit und Zuverlässigkeit bietet ± und doch sind auûereheliche Liebesgeschichten allgegenwärtig. Es bleibt ein dunkles, ein leidvolles, aber auch faszinierendes Thema, dem mit Verboten
und Vorschriften, mit Vorsätzen und Regeln nicht beizukommen ist.
Zerbrechliche Monogamie
Die lang dauernde Paarbeziehung ist das ¹normaleª Beziehungsmodell überall auf der Welt. Für die Paarbildung sind
nicht nur gesellschaftliche Bräuche und Konventionen verantwortlich, sie beruht auch auf zugrunde liegenden biologischen ¹Programmenª.
Diese sichern den Fortbestand der Menschheit durch
Paarbildung, Elternschaft und Erziehung der nächsten Generation. Aus der biologischen und psychologischen Forschung lässt sich erklären, wieso Paarbeziehungen zwar
dauerhaft, aber auch sehr störungsanfällig sind.
Wieso gehen Menschen überhaupt Paarbeziehungen ein?
Was sind ihre Motive? ¹Als sie mich das gefragt haben,
fand ich die Frage zunächst einfach dummª, meint Hugo,
52, ein frisch geschiedener Arzt, der mich in einer Lebenskrise in meiner Sprechstunde aufsucht. ¹Aber dann fing
ich an nachzudenken. Ich glaube einfach, wir sind nicht für
das Alleinsein gemacht. Wir wollen uns an eine Person binden, eine Gefährtin haben, eine Vertraute. Und dann erst
kommt die Erotik und Sexualität, das, was man so normalerweise unter ¹Liebeª versteht. Und natürlich der Kinderwunsch, der aus der gelungenen Paarbeziehung erwächst.ª
Hugo hat Recht: Es geht nicht nur um Erotik und Sexua87
lität bei der Paarbeziehung des Menschen, es geht um Heimat, um Geborgenheit, um Bindung.
Bindung und Abhängigkeit zu und von den Eltern und
das tiefe Eingewobensein in die Familie kennen wir aus unserer eigenen Kindheit. Der heranwachsende Mensch, getrieben von Lebenslust und erotischen Wünschen, drängt
hinaus, einem neuen Ziel für seine Liebe entgegen. Er oder
sie verlässt ihre Herkunftsfamilie und sucht einen Mann
oder eine Frau, geht eine Ehe ein und gründet eine Familie.
Erotische Liebe und Bindungswunsch verschmelzen in einer glücklichen Paarbeziehung. Nur im Märchen bleibt dieser Zustand lebenslang unverändert. Menschliche Beziehungen wandeln sich, die beiden Beteiligten sind Personen
mit unterschiedlicher eigener innerer und äuûerer Entwicklung. Kinder, Beruf, Freunde und die persönliche Reifung
verändern eine Beziehung. Vielleicht wird die Nähe für den
einen Partner zur Enge, während sich der andere mehr Geborgenheit wünscht. Das Vertraute kann zur Gewohnheit
werden, die Liebe zur Last. Die monogame Beziehung
muss immer wieder neu ins Gleichgewicht gebracht werden, damit sie weiterleben und wachsen kann. Bleibt sie lebendig, ist sie aber auch störungsanfällig. Sicherheit und Lebendigkeit schlieûen sich aus.
Eigentlich ist nicht die sogenannte Untreue erklärungsbedürftig: Erstaunlich ist vielmehr, dass sich Menschen
treu bleiben, immer wieder Nähe und Distanz, Vertrautheit
und Fremdheit so miteinander in einem gemeinsamen Tanz
als Paar ausbalancieren, dass für beide Zufriedenheit und
Treue vereinbar bleiben.
Hugo und seine Frau Therese haben sich getrennt, nachdem
Therese eine sexuelle Beziehung mit einem Arbeitskollegen
eingegangen war. Für Hugo brach eine Welt zusammen. Er
konnte seine Lage nicht fassen und stellte seine Frau vor
88
die Alternative: entweder sie höre sofort auf, den andern
Mann zu treffen, oder er lasse sich scheiden. Und dann ging
alles sehr schnell. Denn Hugo ist ein Mann der Tat. Aber
jetzt? Jetzt sitzt er in den Trümmern seines Lebens und versteht erst langsam, was geschehen ist.
Die Krise ist da: und jetzt?
Hugo beschreibt sehr gut, wie spannungsvoll die Situation
damals war: ¹Ich hielt das einfach nicht aus. Ich fühlte
mich, wie wenn mir der Boden unter den Füûen weggezogen
wurde. Ich war verzweifelt, wütend und musste einfach etwas tun. Meine Frau dagegen lebte auf, sie leuchtete richtig,
doch nur wenn wir nicht allein waren. Es war kein Leuchten für mich.ª
Beide finden sich in zwei gegensätzlichen Situationen: Der
eine Partner erlebt beglückende Liebeserfahrungen, die Erfüllung seiner tiefen geheimen Wünsche und Sehnsüchte, während der andere sich bedroht fühlt, voller Panik über den drohenden Verlust von Nähe und Gemeinsamkeit, hin- und
hergerissen von widersprüchlichen Gefühlen, von Wut, Hass,
Neid, Eifersucht und Angst. Gefühlen, die er vielleicht noch
nie so heftig erlebt hatte. Eine tiefe Lebenskrise kann sich für
den ¹betrogenenª Partner auftun. Sie zeigt, welchen grundlegenden Fragen seines Lebens er oder sie sich zu stellen hat.
Aber auch der scheinbar sorglose Partner erlebt je nachdem
heftige innere Konflikte zwischen Verantwortung, Schuld
und ¹Herzª, denen er oder sie nicht ausweichen kann.
Der Ausdruck ¹Seitensprungª bezeichnet eine kurze sexuelle
Auûenbeziehung. Viel scheint oft nicht dahinter zu stecken:
¹Das war nichts, ein kurzes Abenteuer, rein sexuell.ª Das
gibt es. Bei beiden Geschlechtern, auch wenn Männer eher
zu solchen ¹Ausflügenª neigen mögen.
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Die meisten Auûenbeziehungen sind ernsthafter und
nicht so harmlos. Sie werden auch nicht von gefährlichen
Femmes fatales oder Herzensbrechern ausgelöst. Die Auûenbeziehung hat meistens direkt mit der Qualität der Paarbeziehung zu tun. Die Liebe zum andern oder zu der andern
ist ein Zeichen, ein Symptom dafür, dass etwas nicht mehr
stimmt. Ein Konflikt, eine schwelende Krise bricht auf und
wird sichtbar. Damit entsteht auch die Möglichkeit, dass
aus der Krise ein Neuanfang werden kann. Allerdings nur,
wenn beide auch bereit sind, sich wirklich mit der Störung
ihrer Beziehung auseinander zu setzen. Therese wäre das gewesen, Hugo lehnte es ab. Jetzt ist es zu spät.
Schnell sind in Krisen radikale und simple Lösungen zur
Hand: Moral, Recht und Ordnung werden beschworen,
oder dem Aushalten der Situation wird mit einer vorschnellen Trennung auszuweichen versucht. Die Flucht in eine
neue Bindung oder gekränkte Beziehungsverweigerung sind
beides Wege, mit denen Menschen sich die Chance nehmen, die Paarkrise für ihre Weiterentwicklung zu nutzen.
Auch die gemeinsame Vergangenheit wird in diesem Fall
oft tragischerweise entwertet und beschmutzt.
Eine Krisensituation kann durchgestanden werden: Sie birgt
auch Chancen für eine positive Entwicklung. Ohne Verzweiflung und Schmerz ist dieser Weg selten zu gehen. Vielleicht können nun allerdings Dinge ausgesprochen werden,
die zu lange ungesagt blieben.
Viele Paare suchen dann Hilfe in einer Paartherapie oder
Eheberatung. Auch dort gibt es keine einfachen Lösungen
oder Rezepte. Nur die schmerzvolle Auseinandersetzung
mit dem, was ist, birgt in sich die Möglichkeit für Neues.
Der Ausgang ist offen: Es kann deutlich werden, dass der
Weg in Richtung einer Trennung geht. Eine derartig erarbei90
tete Trennung mündet nicht in Entwertung, sondern in
Wertschätzung für die gemeinsame Geschichte. Das Paar
kann aber auch ein neues Verständnis füreinander entwickeln und gestärkt aus der Krise hervorgehen. Rückblickend wird dann die Krise oft als Auslöser für eine Vertiefung der Beziehung gesehen.
Wie auch immer: Sicher ist nur, dass jedes Festhalten an einem alten Bild, jeder Versuch, die Zeit zurückzudrehen, die
Liebe tötet. Oft genug ist der tragische Ausgang fehlender
Weiterentwicklung die Erstarrung: Die Bindung bleibt bestehen, die Liebe ist gestorben, das Paar bleibt in gegenseitigem stummen Vorwurf vereint.
Damit dies nicht geschieht, lohnt sich eine offene Auseinandersetzung im Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung für die Beziehung.
¹Was ist das für ein Knoten?ª ± Diagnose: Krebs
Unzählige Menschen erhalten jeden Tag die Diagnose
Krebs.
Diese Mitteilung ± und nicht erst die schwere Erkrankung ± verändert das Leben.
Silvia, 43, hat einen Knoten an ihrer Brust entdeckt. Die
Diagnose Krebs bringt ihr Leben und dasjenige ihrer Familie
durcheinander. Sie berichtet: ¹Der Arzt hat mir das einfach
so geradeheraus mitgeteilt. In den ersten Tagen war ich wie
in einem Schockzustand. Ich sah mich schon mit einem
Fuû im Grab. Ich erwachte nachts und geriet in Panik. Gedanken von verstümmelten Körpern und Särgen drängten
sich mir auf. Mit meinem Mann konnte ich nicht darüber
sprechen. Ich spürte, dass er genauso Angst hatte. Den Arzt
wagte ich nicht nach den Details zu fragen. Ich war wütend
91
und hatte das Gefühl, er sage mir nicht alles.ª Derartige Reaktionen sind nicht auûergewöhnlich. Selbstverständliches
wird fremd, z. B. das sich buchstäblich gedankenlos auf den
eigenen Körper verlassen zu können, über sein Leben selber
bestimmen zu können, mitten im Leben zu stehen, ohne an
sein zukünftiges Ende denken zu müssen. Krankheit, Leiden, vielleicht auch Tod sind nicht mehr nur ferne Wörter,
sondern reale Bedrohungen.
Lebensbedrohende Krankheit als seelische Belastung
Die Auseinandersetzung mit der Krebserkrankung verändert
alle Selbstverständlichkeiten. Das Leben erscheint in einem
neuen Licht. Die Lebenszeit ist mit einem Mal nicht mehr
unbegrenzt, sie schrumpft in der Vorstellung oft bis zum Gedanken zusammen, das Leben sei bereits vorbei. Angst und
depressive Störungen sind die Folge. Immer mehr Spitäler
setzen für die Betreuung der Krebspatienten und für die
Schulung des Personals Psychologinnen und Psychologen
ein. Die Psychoonkologie ist ein wichtiges Fachgebiet in
der Psychologie geworden.
Nicht nur Betroffene, auch ihre Angehörigen, insbesondere die Ehepartner, müssen sich mit der neuen Perspektive
auseinandersetzen. Die Kommunikationsfähigkeit des Paares ist besonders gefordert.
Herr M., 50, ging wegen andauernder Verdauungsstörungen
zum Arzt. Die Diagnose lautet Verdacht auf Darmkrebs. Er
geht gelassen damit um. ¹Mir hilft, dass der Arzt mir genau
erklärt hat, was alles gemacht wird. Der nächste Schritt ist
die vorbeugende kleine Operation und dann die Kontrolle
nach drei Monaten. Punkt. Etwas anderes zu denken ist
sinnlos. Meine Chancen sind sehr gut.ª Seine Frau aber reagiert anders: ¹Ich muss immer wieder an meinen Vater den92
ken, der an der gleichen Krankheit gestorben ist. Ich habe
solche Angst, dass es auch bei meinem Mann so endet.
Wenn ich ihm meine Angst aber zeige, wird er wütend.ª
Die beiden Eheleute reagieren unterschiedlich aufgrund ihrer jeweiligen Erfahrungen und Persönlichkeiten. Herr M.
kann die ¾ngste und Zweifel seiner Frau schlecht aushalten.
Er braucht seine psychischen Kräfte, um die Krankheit auf
seine Art zu bewältigen. Frau M. bräuchte dringend jemanden, mit dem sie über ihre eigenen ¾ngste sprechen kann.
Nicht nur Ehepartner, alle Familienangehörigen sind durch
schwere Erkrankungen mitbetroffen: Familie Z. hat zwei
bereits erwachsene Kinder, die teilweise noch zu Hause
wohnen. Die Krebserkrankung der Mutter ängstigt Flora,
21, die in einer andern Stadt Medizin studiert ebenso wie
ihre Schwester Antonia, 18, die noch zur Schule geht. Ihre
Mutter hat ihnen erklärt, sie brauche jetzt viel Zeit für sich,
um ihr Leben zu überdenken und neu zu ordnen. Die beiden
Töchter sind dadurch aber nicht beruhigt, sie sind alarmiert. Sie bestürmen die Mutter, sie doch mit zum Onkologen zu nehmen. Sie wollen informiert werden, sie haben
tausend Fragen und vermuten, dass die Mutter ihnen Dinge
verheimlicht.
Gesprächsführung für ¾rzte
Was können Fachleute in der Medizin tun, um Patientinnen
und Patienten zu helfen, ihre Krankheit psychisch zu bewältigen? Eine ganz wesentliche Möglichkeit ist die Verbesserung des Gesprächs zwischen ¾rzten, Pflegepersonal und
Betroffenen. Die schweizerische Krebsliga meint dazu: ¹Internationale Studien bestätigen, dass die Art und Weise,
wie eine schlechte Diagnose mitgeteilt wird, die Befindlichkeit eines Menschen oft mehr beeinträchtigt als die Diagno93
se an sich. Unbewusste eigene ¾ngste seitens der ¾rzteschaft oder der Pflegenden, das Gefühl, beruflich versagt zu
haben oder die Unfähigkeit, sich allfälligen Gefühlsregungen zu stellen, führen zu Situationen, in denen alle zu Verlierern werden. Statt Anteilnahme, Einfühlungsvermögen
und klare Informationen, wie es weitergehen könnte, stehen
dann Ungeduld, Distanz und Ratlosigkeit im Raum. Je häufiger diese Situation auftritt, desto machtloser fühlen sich
die Überbringer solcher Botschaften. Doch jeder und jede
kann auf verhältnismäûig einfache Art lernen, wie schlechte
Nachrichten überbracht werden können.ª An vielen Orten
ist man dabei, Trainings in Gesprächsführung zu entwickeln.
Erkrankung seelisch bewältigen
Menschen entwickeln unterschiedliche Vorgehensweisen
bei der Bewältigung schwieriger ¹stressigerª Situationen.
Klare Information z. B. reduziert die Unsicherheit und damit die Angst. Herr M. meint dazu: ¹Mir war wichtig, dass
ich zunächst meinen Arzt genau einschätzte. War er glaubwürdig für mich? Als ich zum Schluss kam, dass er kompetent war und mir die Wahrheit sagt, musste ich nicht
mehr über jedes Detail Bescheid wissen. Aber ich wollte
mir ein eigenes Bild machen können. Deshalb war es mir
ganz wichtig, mit ihm über Wahrscheinlichkeiten zu sprechen. Ich wollte genau wissen, wie groû meine Überlebenswahrscheinlichkeit für ein Jahr, für fünf Jahre ist. Das hilft
mir. Ich fühle mich nicht mehr so vollständig im Ungewissen.ª
Nicht jeder Kranke möchte möglichst viel wissen. Auch
Verdrängung und Ablenkung, oft negativ bewertet, können
je nach Person und Situation Sinn machen. Die wichtigste
Möglichkeit zur Angstbewältigung aber ist es, der Angst
94
ins Gesicht zu sehen und darüber zu sprechen. Gesprächsgruppen, seien es Selbsthilfegruppen oder geleitete Therapiegruppen, sind besonders hilfreich.
Psychologische Interventionen
·
·
·
Es gibt eine Reihe psychologischer Interventionen, die
sich bei der Krankheitsbewältigung besonders bewährt
haben. Entspannungstrainings gehören heute zum Standardrepertoire. Obwohl oder vielleicht gerade weil sie in
der Anwendung einfach sind und kein kompliziertes
Glaubensgebäude dahintersteht, bewähren sie sich in
der Praxis zur Bewältigung von Schmerzen, ¾ngsten und
andern Leidenszuständen. Die körperliche Entspannung
vermindert die chronische Anspannung, hilft Nebenwirkungen von Behandlungen besser zu ertragen und hat einen positiven Einfluss auf die Stimmung und letztlich
auch auf das Abwehrsystem des Körpers.
Das ¹Stressimpfungstrainingª ist eine Technik zum besseren Umgang mit unerwünschten Gedanken und Gefühlen, die sich sozusagen selbständig gemacht haben und
das Wohlbefinden bedrohen. Stressimpfungstraining bedeutet, dass die gefürchtete Situation gedanklich durchgespielt wird, aber mit zuversichtlichem inneren Dialog.
Statt zu denken: ¹Ich werde eine Operation haben und die
wird furchtbar seinª, lernt ein Mensch, sich gedanklich
mit einer bevorstehenden Operation auseinander zu setzen und damit Zuversicht zu verbinden, z. B. sich die
Operation vorzustellen und sich dazu zu sagen: ¹Ich werde Schmerzen haben, aber es wird mir dann besser gehen.ª
Viele Menschen ändern ihr Gesundheitsverhalten nach
der Diagnosestellung. Eine gesunde Ernährung, Verzicht
auf Alkohol und Nikotin sind für viele Betroffene Mög95
·
lichkeiten, die eigenen Kräfte zu unterstützen und den
Lebenswillen zu aktivieren.
Eine schwere Krankheit verändert die Lebensplanung. Es
entsteht ein neues Verhältnis zur Lebenszeit. Ihre Begrenztheit wird von vielen Kranken auch als Bereicherung erfahren. Gerade die Begrenztheit der Zeit weist auf
die wertvollen Dinge des Lebens und eröffnet neue Sinnperspektiven. Das eigene Leben wird überdacht, Prioritäten neu gesetzt. Im besten Falle entsteht eine Haltung der
Dankbarkeit gegenüber dem bisherigen Lebensweg und
dem gegenüber, was jeder Tag Schönes bietet.
Und der Tod?
Viele schwere Krankheiten können heute geheilt werden.
Allerdings wird es in den meisten Fällen auch um quälende
Sorge um den Ausgang gehen, um Hoffen und Bangen. Denn
bei jeder schweren Erkrankung droht im Hintergrund das
Thema Tod und die Angst davor. Betroffene Patienten, ihre
Angehörigen, ¾rzte und andere Fachleute reden nicht gerne
über Tod und Sterben. Wir alle fühlen uns befangen angesichts des Todes. Es geht um Leiden, Schmerz und Verlust,
aber auch um die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Doch der Tod, sei es der unzeitgemäûe frühe Tod oder
der Tod im Alter, gehört auch zur Paarbeziehung.
Zeichnet sich ab, dass die Heilungschancen gering sind,
muss sich das Paar mit dem möglichen Tod des einen Partners auseinander setzen. Das bringt jede Partnerschaft an
ihre Grenzen. Nicht nur der oder die Kranke, auch der Partner wird durch den Krankheit- und Sterbeprozess gezeichnet.
Lässt sich auch diese Zeit gemeinsam bewältigen? Oder fühlen sich beide schon allein? Wie auch immer: Eine tödliche
Krankheit ist für Paare eine Grenzerfahrung: Beide sind davon betroffen und doch in ganz unterschiedlicher Weise.
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Die Zeit des Abschiednehmens kann aber auch gemeinsame Zeit sein. Es gibt darüber eindrückliche Zeugnisse
und Erfahrungsberichte. Noch weniger als in andern Bereichen kann es dabei darum gehen, dass professionelle Helfer
billige Rezepte und Anleitungen abgeben. Das wäre vermessen. Ich bin gerade in derartigen Fällen immer wieder tief beeindruckt davon, wie Menschen für ihre individuelle Situation ihren richtigen Weg finden. Ich würde mir nicht
anmaûen, sagen zu können, was richtig oder falsch ist. Paartherapeuten sind letztlich oft nicht Anleiter, sondern Begleiter, die Anteil nehmen und einem Paar helfen, selber etwas
zu gestalten.
Nach dem Tod bleibt der eine Partner zurück. Er trauert
und muss gleichzeitig für sein Leben neue Perspektiven finden. Davon mehr im nächsten Kapitel.
¹Es ist so schwer!ª ± Glück wird Leid
Als Rosmarie R. mit vierundvierzig an Krebs erkrankte,
dachte sie zunächst nicht an den Tod. Ihr Mann, Urs, reagierte ¹vernünftigª. Urs und Rosmarie teilten ihren beiden
Kindern mit, die Mama müsse ins Spital. Sie suchten die
besten ¾rzte auf, sie hofften, sie hatten Angst ± doch nach
einem schlimmen Jahr war Rosmarie tot. Urs blieb mit den
beiden Kindern im Teenageralter zurück. Wie betäubt habe
er sich gefühlt, erzählt er rückblickend. Nachts konnte er
nicht schlafen, er hatte plötzlich Angstanfälle, tagsüber
habe er ¹einfach funktioniertª. Das Leben hat sich für ihn
in kurzer Zeit völlig verändert.
Vroni M. hat vor fünfzehn Jahren ihren Mann verloren und
drei Söhne alleine groûgezogen. Ihr Leben hat einen Gang
genommen, den sie sich nie hätte träumen lassen. Vroni
M. ist eine feine Frau, sie ist gescheit und in ihrem Beruf er97
folgreich. Sie hat nie mehr geheiratet und ist alleine geblieben. Der frühe Unfalltod ihres Mannes hat ihr Leben im
wörtlichen Sinne überschattet.
Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, sind wir
traurig. Stirbt jemand, der uns ganz nahe steht, ein Kind,
der Partner oder eine andere Person, zu der wir eine innige
Bindung haben, ist unser Leben erschüttert. Nichts ist
mehr wie vorher.
Niemand denkt gerne an den Tod. Eine merkwürdige Scheu
lässt uns vor diesem Thema zurückweichen. Was Angst
macht, meiden wir. Wenn wir über den Tod reden, scheint
er uns auch schon näher zu rücken. Wir werden daran erinnert, dass wir jederzeit einen geliebten Menschen verlieren
könnten. Wir werden auch an unsere eigene Endlichkeit erinnert. Die Beschäftigung mit dem Tod hat aber viel mit
dem Leben zu tun. Sie bringt auch Gewinn. Der französische
Philosoph Montaigne meinte sogar: ¹Philosophieren heiût
Sterben lernenª. Viele religiöse Ausdrucksformen sind Zeugnis der intensiven Beschäftigung mit dem Tod. Eindruck
macht mir die Bach-Kantate mit dem Titel ¹Ich freue mich
auf meinen Todª. Es wird darin der Versuch deutlich, im religiösen Glauben das Fremdartige und Bedrohliche des Todes
abzustreifen.
Der Umgang mit dem eigenen Sterben ist die eine Seite des
Todes. Wenn wir jemanden verlieren, den wir lieben, sind
wir auf eine andere Weise betroffen. Der Verlust des Partners
oder der Partnerin bedeutet eine tief greifende Krise. Psychologen sprechen von einem massiven ¹psychosozialen Stressorª. Kann sich das Paar auf das Unabweichliche einstellen
und voneinander Abschied nehmen, kann das die Situation
für den Trauernden oder die Trauernde vielleicht später
leichter machen. Aber Trauern ist ein psychischer Vorgang,
98
der nicht umgangen werden kann. Ich betone immer wieder
die Wichtigkeit der Theorie der emotionalen Bindung für das
Verständnis von Paarbeziehungen. Die Auflösung solcher
Bindungen durch den Tod kann nicht ohne groûe Schmerzen
erfolgen. Der geliebte Mensch hinterlässt eine schmerzliche
Lücke. (¹Ich fühle mich wie amputiert, mit einer riesigen offenen Wunde.ª) Der psychische Schmerz ist ein ¹echterª
Schmerz, in Intensität und Leiden sind die Vergleiche mit
ganz massiven körperlichen Schmerzen nicht zufällig. So erlebt es der oder die Betroffene.
Auch wenn die Trauer schmerzt: Die Fachleute sind sich einig, dass Trauern wichtig ist und nicht als Krankheit zu gelten hat. Menschen aller Zeiten und Völker trauern um ihre
Toten. Sie tun das mit Hilfe von Ritualen und Feiern. Das
hilft, den Heilungsprozess des Trauerns erfolgreich zu
durchlaufen. Ein Trauerjahr ist nicht nur eine veraltete Konvention, es ist auch ein Instrument, um dem Schrecklichen,
dem Überwältigenden, eine Form zu geben. Das Gleiche gilt
für die Pflege des Grabes, für Gedenkgottesdienste, Gebete
und persönliche Rituale. Bei uns herrscht ein Mangel an Ritualen für den Umgang mit schwierigen Übergängen. Menschen müssen ihren Trauerprozess oft alleine gestalten. Obwohl der Trauerprozess individuell sehr verschieden ist,
geschieht der Abschied nach einem psychologisch in uns
angelegten Ablauf. Er ist für die Betroffenen anstrengend
und im wirklichen Sinne Arbeit.
Die Forschung über Trauer verdankt ihre entscheidenden
Impulse dem englischen Wissenschaftler John Bowlby. Dieser gewann seine Erkenntnisse über die Trauer Erwachsener
vor allem an Untersuchungen an Witwen und Witwern. Er
versucht, die dabei entstehenden Abläufe in vier Phasen
einzuteilen. Trauer sieht bei jedem Menschen anders aus.
Der Trauerprozess ist zudem abhängig von der Beziehung
99
zum Verstorbenen und von der Art des Sterbens. Ein plötzlicher, blitzartiger Tod lässt keine Sekunde Zeit zur Vorbereitung. Ein langsames Sterben kann zwar einen Abschied vorwegnehmen, lässt den Überlebenden oft aber erschöpft,
geschwächt und verzweifelt zurück.
Einige Stunden bis Tage lang befindet sich der überlebende
Partner im Zustand der Betäubung. ¹Er ist im Schockª,
sagt man dann auch umgangssprachlich. Die Nachricht ist
so überwältigend, dass sie nicht mit den bisherigen Erfahrungen des Menschen verbunden werden kann. ¹Ich kann
es nicht fassenª, ¹das kann nicht seinª, ¹es ist wie ein böser
Traumª. So äuûern sich Betroffene über die neue Situation.
Das gewohnte Bild der Wirklichkeit und der eigenen Person
ist tatsächlich erschüttert. ¹Es ist, wie wenn meine Welt
zersprungen wäreª, sagt jemand. Und doch geht der Alltag
weiter und wird oft mechanisch, wie unbeteiligt, durchlaufen. Unterbrochen wird diese Apathie von Ausbrüchen intensiver Emotionen. Qual, Wut und Angst können plötzlich
über jemanden hereinbrechen.
Nach einiger Zeit, innerhalb von Tagen in der Regel, beginnt der Verlust spürbar zu werden. Der psychische
Schmerz ist intensiv und kann sich in Krämpfen und langem Weinen äuûern. Es ist wichtig, um die Wirklichkeit
des Schmerzes zu wissen. Psychischer Schmerz ist Schmerz
und tut genauso weh wie der Schmerz bei einer physischen
Verletzung. ¹Es war, wie wenn ich eine riesige offene Wunde hätte. Wie wenn eine Hälfte von mir weggetrennt worden wäre, brutal und mit dem Messer.ª Gleichzeitig werden
Menschen in dieser Phase unruhig. Sie beschäftigen sich intensiv in Gedanken mit dem Verstorbenen. Oft entsteht das
Gefühl der Anwesenheit der geliebten Person. Es ist, wie
wenn er oder sie jeden Moment zurückkehren würde, wie
wenn ein Geräusch anzeigte, dass er im Nebenzimmer sich
100
aufhält. Das Lebensgefühl schwankt zwischen Hoffnungslosigkeit und der Hoffnung, irgendetwas machen zu können, was den verloren gegangen Mensch zurückbringt. Der
oder die Tote wird unbewusst gesucht.
Mehr und mehr wird dem Menschen klar, dass der Verstorbene nie, nie mehr wiederkommt. Das Geräusch der Türe
wird nie mehr den geliebten Menschen ankündigen. Intensive Verzweiflung zeigt die Akzeptanz des Verlustes. Damit
braucht es aber auch neue Handlungen und Denkmuster.
Zum ersten Mal macht die Witwe oder der Witwer vielleicht wieder eine Reise und spürt so das Alleinsein erst
recht. Gleichzeitig ist es der Keim für einen Neubeginn. In
dieser Phase sind sich Verzweiflung, Abschied und Neuanfang ganz nah.
Nach einiger Zeit, bemessen in Monaten bis Jahren, werden
neue Perspektiven, neue Gedanken und Handlungen wieder
möglich. Der geliebte Partner ist nicht vergessen, aber ein
Leben ohne ihn ist vorstellbar geworden. Bei den einen gehört dazu auch die Möglichkeit, irgendwann eine neue Partnerschaft einzugehen, bei den andern entwickeln sich neue
berufliche und private Perspektiven. Die Gedanken und Gefühle sind nicht mehr ausschlieûlich auf die Person des Toten konzentriert, neue Verhaltensmuster entstehen und
auch ein neues Bild von sich als alleinstehender Person.
Die Einsamkeit kann zu einem zentralen Thema im Leben
werden.
Trauernde brauchen in erster Linie Verständnis und Unterstützung. Der Tod eines geliebten Menschen macht alle
hilflos. Auch die Fachleute. Eine Phaseneinteilung des
Trauerprozesses ist dem einzelnen Menschen und seiner
Geschichte nicht wirklich angemessen. Menschen sind keine Maschinen. Das Wissen um den Trauerprozess kann
101
aber helfen, besser zu verstehen, was geschieht. Trauernde
dürfen und müssen Platz und Zeit für ihre Trauer finden.
Es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt. Es ist der innere psychische Prozess, für den ein Mensch Monate und Jahre
braucht. ¹Im ersten oder auch noch im zweiten Jahr nach
dem Verlust habe ich von allen Seiten Hilfe und Angebote
erhalten. Damals konnte ich nur wenig auf diese Angebote
eingehen. Aber später, als ich mich einsam fühlte, aber es
nicht mehr sein wollte, da hatten sich alle schon von mir
abgewendet.ª Gerade wenn Menschen, oft nach Jahren, bereit sind, wieder neue Perspektiven zu entwickeln, gerade
dann brauchen sie auch Beziehungsangebote. Es ist deshalb
wichtig, im Umgang mit trauernden Angehörigen viel Geduld und einen langen Atem zu haben. Alarmierend ist
nicht in erster Linie die Intensität der gelebten Trauer, sondern wenn der beschriebene Trauerprozess nicht stattfindet.
Zum Thema Trauern gibt es eine Fülle von Sachbüchern
und Selbstzeugnissen. Sehen sie die entsprechende Abteilung in ihrer Buchhandlung durch, und sie werden sehen,
was sie persönlich davon anspricht.
¹Ich glaube du brauchst einen Psychiater!ª ±
Vom guten Umgang mit psychischen Problemen
Psychisches Leiden bleibt häufig verborgen. Viele Menschen realisieren deshalb nicht, dass sie selbst oder ihr Partner an einer psychischen Störung leiden. Informationen helfen nicht nur den Betroffenen, sondern auch dem Partner.
Psychische Probleme eines Partners dürfen nicht zur
Machtausübung verleiten, weder durch den ¹Patientenª
(¹Tut mir leid, du weiût ich bin krankª) noch durch den
Partner (¹Lass mich das machen, dir gehts zu schlechtª).
102
Leo, ein sechsundfünzigjähriger Straûenbahnfahrer, sieht
nicht gut aus. Aufgedunsen und ungesund ist sein Gesicht,
unförmig aufgeschwemmt scheint auch sein Körper. Leo
trinkt. Arbeiten kann er nicht mehr. Er lebt mit seiner
Frau Dora in einer Dreizimmerwohnung. Dora arbeitet in
einem Kosmetikgeschäft. Sie wirkt gepflegt und sieht auf
den ersten Blick jünger aus. Aber auch Doras Gesundheit
ist schlecht. ¹Ich kann nachts nicht schlafen, esse kaum
mehr etwas und leide an fortwährenden Magenproblemen.ª
Die Alkoholsucht von Leo ist kein Thema zwischen dem
Paar. Auch wenn es klar ist, dass Leo deswegen schon wiederholt Probleme mit der Polizei hatte. Erst nach langem
Zögern hat Dora den Mut gefunden, eine Alkoholberatungsstelle aufzusuchen. Dort kennt man die Probleme der Angehörigen von Alkoholkranken. ¹Er bedroht mich, beschimpft
mich, versäuft unser ganzes Geld. Doch dann kommt er immer wieder reumütig zurück, schwört mir, er könne ohne
mich nicht leben und so weiter. Und ich? Ich arbeite für
ihn, ich lasse mich ausbeuten, ich kaufe ihm sogar den
Schnaps. Aber er wird so wütend, wenn ich ihm keinen Alkohol geben will, da wird mir angst und bange.ª
Auch Frau M. sieht man an, dass es ihr nicht gut geht.
Seltsam genau trifft auf sie zu, wenn man umgangssprachlich sagt, jemand sein ¹abgelöschtª. Ihr Mann ist ungehalten: ¹Kein Wunder geht es ihr schlecht. Sie macht ja
nichts und bleibt nur in der Wohnung. Da würde es mir
auch nicht gut gehen. Ich sag ihr immer wieder: Nimm
dich zusammen, beiû auf die Zähne und tu was. Aber sie
schaut mich nur an und schweigt. Und wenn sie dann
noch anfängt zu heulen, ertrage ich es gar nicht mehr!ª
Herr M. macht so ziemlich alles falsch, was er falsch machen kann. Er und seine Frau wissen zuwenig über depressive Verstimmungen. An denen leidet nämlich Frau M. Im
Alltag spricht man zwar oft von ¹Depressionenª, wenn je103
mand unglücklich scheint. Fachleute haben klare Kriterien
für das Vorliegen einer depressiven Störung. Die Symptome
zeigen sich in drei Bereichen: im psychischen Bereich, im
Bereich der Aktivitäten und im körperlichen Bereich.
Die wichtigsten psychischen Symptome der Depression
sind die depressive Verstimmung, eine niedergedrückte
Grundgestimmtheit, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden,
auch bei Dingen, die sonst Freude machen. Aber nicht nur
die Gefühle sind verändert, auch die Gedanken sind gestört:
Das Denken ist gehemmt, verlangsamt, kreist um die immergleichen Inhalte, ein quälendes Grübeln beherrscht den
Menschen. Jede Entscheidung wird zur unlösbaren Aufgabe.
Im Bereich der Aktivität ist es die Gehemmtheit der Bewegungen, die auffällt. Die Patienten sind müde und verlangsamt. Seltener sind sie nervös und unruhig.
Die körperlichen Symptome sind vom Gefühl der Kraftlosigkeit getragen. Hinzukommen Schlaflosigkeit, Appetitverlust und Gewichtsabnahme.
Bei den Ursachen der Depression spielen verschiedene
Faktoren zusammen. Grundlage bildet vermutlich eine genetische Disposition sowie Persönlichkeitsfaktoren. Dazu
kommen schlecht verarbeitete traumatische Erfahrungen
und Verlusterlebnisse in der Lebensgeschichte. Dies führt
zur so genannten ¹erlernten Hilflosigkeitª. Aktuelle Belastungen und einschneidende Lebensveränderungen sind der
dritte wichtige Faktor.
Bei Frau M., die soeben ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert hat, finden sich viele dieser Auslöser für eine depressive Störung. Schon ihre Mutter, die jetzt in einem Pflegeheim lebt, hat immer wieder unter Depressionen
gelitten, als Kind schon galt Frau M. als ¹Heulsuseª. Vor einigen Jahren hat das Ehepaar M. seinen Sohn verloren. Er
starb bei einem Verkehrsunfall. Zudem machen ihr die biologischen Veränderungen im Klimakterium ganz besonders
zu schaffen.
104
Depressive Störungen sind nicht nur für die Betroffenen,
sondern auch für deren Angehörige eine groûe Belastung.
Nicht selten spielen Störungen im zwischenmenschlichen
Bereich eine Rolle bei der Auslösung depressiver Phasen.
Umgekehrt führt eine Depression auch zu einer Störung
des gewohnten Beziehungsverhaltens und dadurch zu Spannungen und Problemen.
Herr M. etwa ist kein herzloser Mensch. Er ist ganz einfach hilflos, weiû nicht mehr, wie er sich seiner Frau gegenüber verhalten soll. Menschen, die einfach einmal traurig
sind, werden von nahe stehenden Personen zunächst vielleicht einfach getröstet. Im Gegensatz dazu lösen Depressive Ungeduld, ¾rger und auch Verzweiflung bei ihren Mitmenschen aus.
Frau M. braucht für ihre Probleme eine kompetente medizinische Abklärung möglicher organischer Faktoren, dann
vermutlich eine Psychotherapie und eventuell zusätzlich
eine medikamentöse Therapie mit antidepressiven Medikamenten.
Ihr Mann muss je nach Lage in die Therapie mit einbezogen werden, denn ¹richtigesª Verhalten der Angehörigen
spielt bei der Therapie der Depression eine wichtige Rolle.
Dazu gehört in erster Linie, dass Herr M. akzeptiert, dass
seine Frau krank ist und unter einer psychischen Störung
leidet.
Ob jemand an einer manifesten psychischen Störung leidet
oder nicht: Wir haben alle unsere Schwachpunkte. Sie kommen in der Regel aus unserer Kindheit und begleiten uns,
auch wenn wir Lösungen für unsere Lebensthemen gefunden
haben, durch das ganze Leben. Ein solcher Schwachpunkt ist
für Melanie, eine kleine, energische Frau mit einem sportlichen Körper, grünen Augen und kurzen grauen Haaren die
Vorstellung, immer die ¹Kleineª zu sein. ¹Mich hat man
kaum zur Kenntnis genommen. Ich wurde gebraucht und
105
dann vergessen. Das macht mich so rasend, wenn ich dieses
Gefühl wieder vermittelt bekomme. Wenn ich nicht gehört
werde, werde ich laut und verschaffe mir Gehör.ª
RenØ, ihr Partner, gemüthaft und wohlbeleibt, ein Mann,
der seine Vorliebe für gutes Essen und guten Wein zeigt,
meint hilflos: ¹Plötzlich geht sie in die Luft wie eine Rakete. Ich sage dann noch, tu doch nicht so übertrieben, aber
das ist schon zuviel. Im Gegenteil, das macht sie erst recht
wütend.ª
Schwachpunkte aus der Vergangenheit sind wie Brennstoff für einen Konflikt.
Man muss sich das so vorstellen: Der jetzige reale Konflikt zwischen einem Paar stöût an einen heiklen Punkt aus
der Vergangenheit des einen Partners und ¹wecktª sozusagen
einen schlafenden Problemkreis. Dadurch wird der Konflikt
aufgeladen und angeheizt. ¹Ja, der schlafende Hund wird geweckt und beginnt sogleich zu bellenª, witzelt RenØ. Melanie aber ist es nicht ums Lachen. ¹Schon wieder! Genau das
ist es. Nimm mich doch wenigstens jetzt ernst! Ich weiû,
dass ich da einen Schwachpunkt habe. Es stimmt auch, dass
das zum Teil gar nichts mit dir zu tun hat. Aber: sei doch gerade deswegen rücksichtsvoll und sorgfältig damit.ª
Melanie hat natürlich Recht: Die Schwachpunkte des
Partners ändern zu wollen, seine Frau oder seinen Mann erziehen zu wollen, ist fast immer zum Scheitern verurteilt.
Wir sind schon erzogen. Kein Erwachsener will einen Partner, der ihn noch weiter erzieht.
Und auch ganz abgesehen von den Schwachstellen aus unserer Biografie: Es ist kaum denkbar, dass ihnen alle Verhaltensweisen und Eigenschaften ihres Partners gefallen. Neben
den vielen Dingen, die wir an unseren Partnern schätzen, gibt
es solche, die wir nur mit Mühe akzeptieren können.
¹Jetzt sei doch endlich mal pünktlich!ª, ¹Musst du jedes
Mal die Badezimmertüre offen lassen?ª, ¹Begreif doch endlich mal, wie man die Karte richtig liest!ª
106
Appelle dieser Art sind nur selten wirkungsvoll. Niemand lässt sich gerne kritisieren, niemand lässt sich gerne
ändern. Je älter wir werden, desto mehr gehören Schrullen,
Eigenheiten und Vorlieben zu unserer Identität. Erklärte ein
Mann seinem Freund: ¹Ich bin ganz sicher: meine Frau begreift das nie!ª Da antwortet der Freund: ¹Wieso hörst du
dann nicht endlich auf, sie davon überzeugen zu wollen?ª
Das ist in Kürze alles, was es dazu zu sagen gibt.
Es gibt noch einen weiteren Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Paarbeziehung: Menschen mit psychischen Problemen können dazu neigen, in einer Paarbeziehung sozusagen die Therapie für diese Probleme zu
sehen. Gefangen in einem sinnlosen und unglücklichen Leben erscheint dann die neue Liebe als ¹Medikamentª, das
das Leben erträglich macht. Eine solche Haltung findet
sich auch oft bei Suchtproblemen. Auch der Missbrauch einer Substanz kann in gewisser Weise als Selbstbehandlung
einer Störung verstanden werden. Beziehungen, die auf dieser Grundlage entstehen, haftet etwas Verzweifeltes an. Es
ist dann, wie wenn sich ein Schiffbrüchiger, der nicht
schwimmen kann, an einen Schwimmer klammert. Eine
verzweifelte Situation. Irgendwann muss der Schwimmer
Hilfe organisieren können oder sich freistrampeln, um nicht
mit unterzugehen. Partner sind keine Therapeuten.
Noch schlimmer ist die Situation, wenn beide nicht
schwimmen können und sich aneinander klammern. Dann
müssen beide Hilfe bekommen, um Boden unter die Füûe
zu kriegen. Nur wer auf den eigenen beiden Füssen steht,
steht sicher. Wer nur steht, weil er sich an den Partner
lehnt, fällt rasch um.
107
¹Jetzt lass doch die Kinder aus dem Spiel!ª ±
Als Paar (wieder) alleine
Wenn Kinder gröûer werden, gehen sie mehr und mehr ihre
eigenen Wege. Die Eltern sehen sich wieder vermehrt auf
sich gestellt. Das ist nicht immer einfach. In jeder Lebensphase besteht die Gefahr, dass Kinder für die Lösung von
Paarproblemen miteinbezogen werden.
Wir haben schon früher ein Paar kennen gelernt, dass sich
plötzlich ¹wieder alleinª fühlte. Ganz ähnlich erging es Corinne, 51, und Sandro, 51. Sie erzählen von ihrem letzten
Wochenende. ¹Also, das war so. Am Samstagabend um
acht saûen wir wie gewohnt vor dem Fernseher. Plötzlich
haben wir gemerkt, dass keines unserer Kinder zu Hause
ist.ª Meiers haben drei Kinder im Alter von 21 bis 16 Jahren.
Sie sind sich soeben bewusst geworden, dass eine neue Zeit
begonnen hat. ¹Es wurde uns schlagartig klar, dass das vermutlich von jetzt an so bleiben wird. Es wird nie mehr zum
Alltag gehören, dass sich die ganze Familie am Samstagabend zu ¸Wetten dass versammeln wird.ª Mehr als zwanzig Jahre bildeten die Kinder das Zentrum des Familienlebens. Corinne und Sandro wissen, dass sie jetzt eine neue
Welt für sich aufbauen müssen. Sie widmen sich dieser Aufgabe mit leichtem Erstaunen, aber sie beginnen auch, die
¹freienª Wochenenden zu genieûen. Ihre neueste Idee ist
ein Tangokurs.
Nicht immer finden Eltern wieder so leicht zu ihrer Paarbeziehung zurück.
Wenn eines der Kinder zum ¹Dritten im Bundeª wird, ist
die Entwicklung der Familie und ihrer Mitglieder behindert.
Die Ordnung in einer Familie kann man sich vereinfacht
wie folgt vorstellen:
In einer gesunden Familie gibt es eine Struktur, die je108
dem Familienmitglied eine bestimmte Position zumisst.
Eine gesunde Familie besteht also nicht einfach aus einer
Gruppe von Personen wie etwa eine Wohngemeinschaft.
In der Familie gilt es zunächst zwischen der ¹Gruppeª
der Eltern und derjenigen der Kinder zu unterscheiden.
Vater und Mutter das Elternsystem, die Kindergruppe
bildet das Kindersubsystem. Zudem bilden Mann und Frau
noch das Paarsystem der Familie. Das ist einleuchtend und
im Normalfall ist klar, welches Familienmitglied wohin gehört. Doch oft nur scheinbar, wie das folgende Beispiel
zeigt.
Frau F. ist 43 Jahre alt. Sie hat eine 16 -jährige Tochter und
einen 14 -jährigen Sohn. Zusammen mit ihrem Mann und
den Kindern lebt sie in einem Einfamilienhaus. Der 14 -jährige Moritz ist klein und schmächtig. Er sieht aus, als könne
er keiner Fliege was zuleide tun. Während die 16 -jährige
Sara ihre Freizeit vor allem mit ihrem Freund verbringt, ist
Moritz viel mit der Mutter zusammen. Der Vater, Herr F.,
ist in seinem Beruf stark belastet und nimmt nur am Rande
am Familienleben teil. Frau F. sucht Hilfe, weil die Schule
droht, Moritz vom Unterricht auszuschlieûen, da er immer
wieder durch extrem gewalttätiges Verhalten auffalle. Er hat
wiederholt mit Fuûtritten auf ein wehrlos am Boden liegendes Kind eingedroschen. Wie wir sehen werden, hat das Verhalten von Moritz viel mit der Verstrickung mit seiner Mutter zu tun.
Menschen werden als Nesthocker geboren. Sie sind zu Beginn ihres Lebens vollständig abhängig von der richtigen
Pflege durch eine konstante Bezugsperson. Nur so können
sie gesund heranwachsen.
Menschen bleiben aber nicht in dieser Abhängigkeit. Der
Weg durch die Kindheit zum Erwachsensein ist auch ein
Weg, in dem die Bindung an die Eltern schrittweise gelo109
ckert und durch Zuwachs an Autonomie und Eigenverantwortung ersetzt wird. Auch Erwachsene lieben ihre Eltern
noch, aber sie sind in der Regel nicht mehr an sie gebunden.
Wir haben in anderem Zusammenhang schon gesehen, dass
eine richtige Bindung an einen Partner nur dann möglich
wird, wenn die emotionale Bindung zur Herkunftsfamilie
gelöst ist.
Die meisten Frauen möchten eine stabile Liebesbeziehung
zu einem Partner. Die meisten Mütter möchten ihre Kinder
gemeinsam mit dem Vater des Kindes erziehen. Dabei unterstützen sich Mann und Frau und teilen sich ihre Aufgaben. Wenigstens theoretisch. Oft kommt es anders: Liebesbeziehungen gehen auseinander und die Familien
zerbrechen. Ob alleinerziehend oder nicht, faktisch sind es
im Alltag immer noch in erster Linie Mütter, die Kinder erziehen. Für einige Jahre werden die Kinder zum zentralen
Lebensinhalt. Ihre Bedürfnisse als Frau, Bedürfnisse nach
Liebe und Bindung, Erfüllung im Beruf oder im Freundeskreis treten zurück.
Nicht alle Kinder werden von ihren Müttern und Vätern genügend betreut, sie werden vernachlässigt. Von diesen Situationen sehen wir hier ab. Bei unserem Beispiel hat sich
Frau F. intensiv um ihre Kinder gekümmert. Die gesunde
Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung kann aber auch
dann auûer Kontrolle geraten, wenn Frauen zu sehr und
zum falschen Zeitpunkt ausschlieûlich Mütter sind. Unsere
gesellschaftlichen Einrichtungen begünstigen eine Lebensform, in der sich Frauen ausschlieûlich der Erziehung ihrer
Kinder widmen. Das ist oft auch das Erziehungsideal junger
Ehepaare. Daraus kann bei ungünstigen Umständen ein Zuviel an schlecht passender Liebe werden, es entsteht eine
verstrickte Beziehung. Mutter und Kind lösen sich dann
nicht im Verlauf der Kindheit schrittweise und ¹auto110
matischª voneinander, sondern verstricken sich in Nähe,
Zuneigung und Streit. Kein Kind kann auf die Dauer unbeschadet Partner für die Mutter sein, keine Mutter kann auf
die Dauer die Beziehungsbedürfnisse des Kindes stillen. Im
Gegensatz zu einer Paarbeziehung ist die Eltern-Kind-Beziehung nicht auf unbegrenzte Lebensgemeinschaft angelegt.
Frau F. will das nicht wahrhaben. Sie nimmt ihren Sohn gegen alle Vorwürfe in Schutz. Wenn der Druck nicht nachlasse, meint sie, ¹verschwinden wir beide einfachª. ¹Wir beideª sind für Frau F. sie und Moritz. Ihr Mann, so zeigt sich,
hat sowohl als Mann als auch als Vater resigniert. Das
¹Paarª besteht aus Moritz und Frau F. Diese extreme Verstrickung schadet sowohl Moritz als auch seiner Mutter.
Schadet? Ja, Moritz geht es nicht gut. Er lebt mit der Illusion, durch die Mutterliebe sozusagen unzerstörbar zu sein.
Er übernimmt keine Verantwortung für sein Verhalten, seine Mutter schluckt alles und biegt alles für ihn gerade. Frau
F. hält eine Lebenslüge aufrecht, denn sie weiû insgeheim,
dass ihr Sohn eine Lücke füllt, die jemand anders füllen
müsste. Kein Kind braucht eine Mutter, die sich für es aufopfert. Das hilft nicht, im Gegenteil, es belastet. Auch
¹Problemkinderª wie Moritz, chronisch kranke oder behinderte Kinder brauchen Mütter, die nicht mehr geben, als für
sie selbst gut ist. Genügt das nicht, müssen Familien durch
geeignete professionelle Hilfe unterstützt werden.
Also doch: Wieder ist die Mutter schuld?
Nein, darum geht es nicht. Die wenigsten Frauen wollen
absichtlich in eine destruktive Nähespirale mit ihrem Kind
geraten. Durch fehlendes Engagement von Vätern, fehlende
Unterstützung von Müttern im Alltag (Tagesbetreuung,
Schulzeiten etc.) und viele andere Faktoren wird aber die
ungesunde Näheverstrickung oft gefördert.
Kinder brauchen Mütter. Aber sie brauchen sie nicht
dauernd und nicht ausschlieûlich. Tragisch ist es, wenn ge111
rade Mütter, die es besonders gut machen möchten, die
Qualität der Betreuung mit Quantität verwechseln. Heranwachsende Kinder brauchen oft nicht mehr, sondern weniger Nähe zur Mutter. Sie brauchen Mutterliebe in einer
Form, die ihnen Zuneigung, Halt und Nähe in einer altersentsprechenden Form gibt.
Die Paarbeziehung kann in jeder Phase der familiären Entwicklung durch eine Bindung an ein Kind ersetzt oder überlagert werden. Das gilt nicht nur für Mütter. ¹Mein Mann
ist absolut vernarrt in unsere Tochter. Er merkt es gar nicht,
wie sehr sie ihn um den Finger wickelt. Sie bringt ihn dazu,
ihr Geld zu geben, obwohl sie ihr Taschengeld leichtfertig
durchgebracht hat, er holt sie nachts um zwei aus der Disco
ab, nur weil er sich Sorgen um sie macht. Und wehe, ich
mache seiner Prinzessin einmal einen Vorwurf! Das Kind
müsse doch leben können, meint er. Wenn sie meine Kosmetika benützt und im Badezimmer eine Schweinerei hinterlässt, nimmt er sie in Schutz und sagt vor ihr, ich nörgle
nur immer.ª Auch hier ist ein Kind in einer Rolle, die eher
derjenigen eines erwachsenen Familienmitglieds entspricht. Auch diese Familie respektiert die innere Ordnung
der Familie nicht. Die Beziehungen sind belastet.
Nach der Geburt des Kindes sind Mutter und Kind stark aufeinander bezogen. Das ist für das Überleben des Kleinkindes
notwendig und natürlich. Aber bereits nach kurzer Zeit beginnt die Autonomieentwicklung des Kindes, die man sich
auf einer Geraden bis ins Erwachsenenleben vorstellen
kann.
Die schrittweise Loslösung von der Mutter wird durch
die erneute Stärkung der Liebe in der Paarbeziehung unterstützt. Diese Vorgänge bleiben vielen Paaren verborgen, sie
sind heikel und störungsanfällig. In den ersten Ehejahren
kommt es denn auch häufig zur Scheidung.
112
Wie wir gesehen haben, sind die familiären Beziehungen
während der Schuljahre der Kinder oft in einem guten
Gleichgewicht.
Die Familie bildet eine Einheit, in der alle auf ihre Kosten kommen.
Bleibt aber im Verlauf der Entwicklung ein Elternteil
stark an ein Kind gebunden, wird die Ablösung erschwert.
Das Weggehen der Kinder kann ein dramatischer Vorgang sein wie im Beatles Lied mit dem Refrain ¹Shes leaving homeª. Darin wird von einer Tochter erzählt, die sich
frühmorgens aus dem Haus stiehlt und den entsetzten Eltern auf Nimmerwiedersehen entflieht. Vater und Mutter
bleiben ratlos zurück und klagen verzweifelt darüber, wie
undankbar ihr Kind nach so vielen Jahren sei. Das Lied fängt
eine Familiensituation ein, bei der der Auszug von zu Hause
ein Ausbruch aus einer normierten und engen Kleinbürgerwelt darstellt. Die Flucht bricht eine starre Familiensituation auf.
Oft geht es weniger spektakulär zu. Es sind auch nicht immer die Eltern, die Kinder festhalten. Heute müssen Söhne
und Töchter nicht selten sanft darauf aufmerksam gemacht
werden, dass es vielleicht an der Zeit sei, auf den eigenen
Beinen zu stehen.
Sie erinnern sich vielleicht an die Familie Zanetti, deren
Entwicklung durch die ungelöste Frage blockiert war, ob
die Eltern nach Italien zurückkehren würden oder nicht.
Die Zeitperspektive in derartigen Familien ist verzerrt. Es
scheint dann, wie wenn die Zeit angehalten oder eingefroren
wäre. Wir alle leben in Lebensläufen. Wir wissen, dass unerbittlich die Zeit unseres Daseins zerrinnt. Und jedermann
kennt erstaunte Ausrufe wie: ¹Nein, wie groû der Simon
wieder geworden ist!ª Das Entwicklungstempo von Kindern
weist uns unerbittlich wie kaum sonst etwas auf diese Zeit113
perspektive hin. Und doch leben Familien oft so zusammen,
als ob es keine Zeit gäbe. Als ob nicht nach wenigen Jahren
der intensiven Familienphase ein Paar wieder auf sich gestellt zurückbleibt. Auch mit einer beschränkten Zeitperspektive, aber einer, die mit Jahrzehnten rechnen kann,
nicht mit Jahren.
Verstrickungen zwischen einem Elternteil und einem oder
mehreren Kindern kommen nicht nur während der Ablösung vor. Die dramatischen Veränderungen der Familie
während der Babyphase weisen ebenfalls Züge von Verstrickungen auf. Kommt es in der Folge massiver Paarkonflikte
zur Trennung der Eltern, wird die Tendenz zu einer unheilvollen Pseudopaarbeziehung, oft zwischen Mutter und
Sohn, weiter verstärkt.
Anna, 36, lebt seit mehreren Jahren alleine mit ihrem Sohn
Samuel, 11. Samuel hat zwar ein eigenes Zimmer, schläft
aber jeden Abend bei seiner Mutter im Ehebett. Er hat schon
als kleines Kind an Einschlafproblemen gelitten. Anna
bringt ihn nur schwer dazu, ins Bett zu gehen. Sie kann sich
immer weniger gegen ihn durchsetzen. Letzthin hat er ihr
erklärt: ¹Wenn ich ins Bett muss, dann kommst du auch
ins Bett. Das stört mich, wenn du noch fernsiehst. Und überhaupt ist es gemein, wenn du länger aufbleiben darfst.ª
Anna weiû, dass sie darauf nicht eingehen sollte. Aber sie
findet keinen Weg, ihrem Sohn gegenüberzutreten. Die Beziehung wird nicht nur zu einer Pseudopaarbeziehung. Sie
droht sich sogar umzukehren in ein Vater-Tochter-Verhältnis. Etwa dann, wenn Samuel beginnt, seiner Mutter zu verbieten, ins Kino zu gehen.
Solche Konstellationen haben direkt nichts mit Paarbeziehungen zu tun. Und doch sehen sich immer mehr Paare in
der Situation wie Anna und ihr neuer Freund Harald, 41.
114
Anna hat sich der schwierigen Situation zum Trotz weiterentwickelt. Vor einigen Monaten hat sie sich wieder auf
eine verbindlichere Beziehung zu einem Mann eingelassen.
Samuel protestiert vehement. Für Harald ist es sehr schwer,
den Platz an der Seite von Anna einzunehmen. Anna ihrerseits gerät sehr leicht zwischen die Fronten, weiû nicht
mehr, wie sie Sohn und neuem Partner gerecht werden
kann.
In welcher Situation auch immer ein Kind zwischen ein
Paar gerät, es ist unerfreulich, wenn eine Zweierbeziehung
sich auf diese Art in eine Dreiecksbeziehung verwandelt.
¹Lass doch die Kinder aus dem Spiel!ª, ein heilsamer Appell
für Paare.
¹Sprich jetzt nicht davon!ª ±
Von Krankheit, Alter und Tod
Wann ist der richtige Moment, um mit seinem Partner über
die schwersten Dinge zu sprechen, über Krankheit, das Alter und das Sterben?
¹Also ich möchte nicht so alt werden! Hoffentlich sterbe
ich vorher?ª ± Maria, soeben sechzig geworden, eine sportliche und aktive Frau in Turnschuhen und Jeans, kommt soeben von einem Besuch bei ihrer sterbenden Mutter.
Sie wirkt nicht traurig, eher empört. Maria hat das Gefühl, dass ihre Mutter sterben möchte, aber nicht sterben
kann. Maria kann kaum mit ansehen, wie ihre Mutter leidet.
Walter, 66, seit einem Jahr in Pension, hat im Auto gewartet. Er geht selten mit zur Schwiegermutter. Jetzt aber,
als seine Frau ihren Gefühlen Luft macht, schaut er sie an
und meint: ¹Wie und wann möchtest du denn sterben?ª
115
Sie ist verdutzt, schluckt leer und meint nur: ¹Ja, von solchen Dingen reden wir nie, das sollten wir mal miteinander
besprechen.ª
Mit dem eigenen Tod beschäftigen sich Menschen auf unterschiedliche Art. Um gesund leben zu können, müssen
wir den Gedanken an den Tod im Alltag immer wieder auf
die Seite schieben. Für diesen Vorgang hat sich auch in der
Umgangsprache der Begriff des ¹Verdrängensª eingebürgert.
Das ist kein Defekt, sondern eine wichtige Vorbedingung
für unser psychisches Gleichgewicht. Wir können nicht leben, wenn wir fortwährend an den Tod denken. Doch der
Tod lässt sich nicht so einfach abtun. Immer wieder werden
wir mit der Endlichkeit unserer Existenz konfrontiert. Beim
Tod von Angehörigen, in besinnlichen Momenten und in
schlaflosen Nächten. Je älter wir werden, desto sichtbarer
wird der Tod: Freunde und Schulkameraden sterben, der Lebensweg der eigenen Eltern geht zu Ende, Krankheiten bedrohen die Gesundheit.
Wir beginnen darüber nachzudenken, wie wohl unser eigenes Leben enden wird. Fragen um den Tod machen Angst.
Maria meint: ¹Vor dem Tod habe ich keine groûe Angst.
Aber vor dem Leiden. Vor diesem sinnlosen Herumliegen
und Leiden. Vor dem Ausgeliefertsein und dem Verlust der
Menschenwürdeª.
Die meisten älteren Menschen haben mehr Angst vor
Schmerzen und dem Sterben als vor dem Tod. Ganz besonders fürchten viele an einer Demenz zu erkranken. Alzheimer ist ein Schreckenswort. Sich selber verlieren und doch
weiterleben, erscheint als die äuûerste Bedrohung.
Wie geht man als Paar mit Alter, Tod und Krankheit um?
Soll man miteinander über diese Themen reden? Und
wann?
116
¾ltere Menschen reden viel über Krankheit und Gesundheit. Das Reden darüber hat oft etwas Beschwörendes, als ob
damit die Gefährdung unseres Lebens abgewendet werden
könnte.
Deshalb kann ich Menschen wie Lisa gut verstehen, die
mir erklärte: ¹Also mit meinen Freundinnen kann ich nicht
mehr in die Stadt. Die reden jetzt wirklich nur noch über
eines: Über Krankheiten und ¾rzte. Ich werde noch ganz
krank davon und deprimiert.ª
Gesunde Paare im mittleren Lebensalter sollten miteinander nicht so sehr über Krankheit sprechen, sondern sich darüber Gedanken machen, was sie mit den vielen Lebensjahren, die vermutlich noch vor ihnen liegen, anfangen werden.
Gesundheitliche Beschwerden, nachlassende Kräfte und
das Gefühl für die Begrenztheit der Zeit ± das sind Realitäten, die zum Alter gehören. Die meisten alten Menschen leben mit diesen Einschränkungen ein zufriedenes und glückliches Leben. Alter ist keine Krankheit! Es schadet nichts,
sich das immer wieder zu vergegenwärtigen. Zu oft wird in
der Öffentlichkeit und im Bewusstsein älterer Menschen
selbst Alter mit Krankheit in Verbindung gebracht.
Die Bedrohung durch den unausweichlichen Tod soll nicht
davon abhalten, das Alter als aktive Lebensphase zu gestalten. Das tun auch immer mehr ältere Menschen. Paare sollten sich Gedanken machen und darüber sprechen, was sie
im Alter tun werden? Wie werden wir wohnen? Was können wir uns gönnen?
Das Alter kommt bestimmt. Es lohnt sich, frühzeitig miteinander darüber zu sprechen, wie es gestaltet sein soll.
Für berufstätige Menschen ist die Pensionierung ein Einschnitt, der einen gewohnten Lebensrahmen auf einmal
und endgültig verändert.
117
Kein Wunder, dass von Menschen, die sich wenig Gedanken über die Zukunft machen, dieser Einschnitt oft dramatisch erlebt wird. Und nicht nur für die Pensionierten, sondern auch für den Partner.
¹Wie ein kleiner Junge oder ein junger Hund. Er läuft mir
den ganzen Tag nach.ª Lisa redet über ihren Mann. Leicht
belustigt, aber auch verärgert. Seit ihr Mann pensioniert
ist, weiû er nicht, womit er den Tag füllen soll. Plötzlich
sind die beiden Eheleute den ganzen Tag zusammen. Für
Lisa ist das zu viel. Das Paar muss eine neue Lebensform
finden. Rasch. Sonst wird die Unzufriedenheit und der
Stress die Beziehung vergiften.
Ein Paar, das zwischen sechzig und siebzig Jahre alt ist, hat
gute Chancen, miteinander noch lange Jahre gesund leben
zu können.
Die Lebensqualität dieser Jahre wird stark davon abhängen, ob und wie das Paar seine Zeit gestaltet. In einer erstickenden Routine (¹So wie wir es immer schon gemacht haben, am Dienstag gibt es Kartoffelnª) oder im Wissen
darum, dass es nie mehr möglich sein wird, Neues auszuprobieren, Träume zu verwirklichen und das Leben zu genieûen, wenn man jetzt nicht damit anfängt.
¹Wann, wenn nicht jetzt?ª Eine Frage, die für vieles gilt.
Aber im Alter besonders. Wobei nichts gegen lieb gewordene Gewohnheiten gesagt sein soll. Wenn sie bewusst weitergepflegt werden und nicht wie in einer unendlichem
Wiederholung eine leere Zeit füllen.
Irgendwann kommt dann der Tod. Und einer bleibt zurück.
Und ist vor die Frage gestellt, ob er dem Partner auch bald in
den Tod nachfolgt, ob sein Lebenswille erlischt, oder ob
noch ein neuer Lebensabschnitt aufgeht.
¹Wir reden nie davon, was sein wird, wenn einer von uns
stirbt. Wir wissen beide, dass wir uns das einfach nicht vor118
stellen können. Aber als wir das Haus verkauften und in
diese Wohnung zogen, war uns auch so klar, dass einer von
uns einmal vermutlich alleine hier leben wird. Was sollen
wir davon reden?ª
Hugo, der so redet, wird bald achtzig, aber es geht ihm
gut, und er lebt zufrieden und glücklich mit seiner Frau.
Walter und Maria, die beiden Ehepartner, von denen ich
erzählt habe, haben demgegenüber begonnen, über das Sterben und den Tod zu sprechen.
¹Wir haben abgemacht, dass wir es nicht zulassen wollen, dass einer von uns im Spital sinnlos leiden muss. Wir
werden uns über Patientenverfügungen und all die Möglichkeiten beraten lassen, wie man den letzten Lebensabschnitt
würdig gestalten kann.
Und wir haben auch darüber gesprochen, wie es wohl für
denjenigen von uns sein wird, der den andern überlebt. Ein
merkwürdiges, unheimliches Gespräch war das. Es tat weh.
Es wurde mir aber plötzlich klar, dass ich ein richtiges Grab
will und dass ich möchte, dass mich Maria dann oft besucht.
Und wissen sie, was zurückgeblieben ist nach diesem
Gespräch? Wir genieûen die Zeit nun noch viel bewusster,
die wir miteinander verbringen dürfen.ª
Über den Tod reden oder davon schweigen? Wer weiû schon,
was richtig oder was falsch ist? Frau M, noch keine vierzig,
hat ihren Mann bei einem Unfall verloren. Sie wüsste eine
Antwort: ¹Es ist fast das Schlimmste für mich, dass wir nie
über den Tod miteinander gesprochen haben. Dass ich seine
Gedanken darüber nicht kenne, das macht mich fast wahnsinnig. Mein Mann fehlt mir unsäglich. Und besonders
schmerzhaft ist mir, dass ich nicht den Trost habe zu wissen, was er sich für sich gewünscht hätte ± und für mich.ª
119
Versuche ich zusammenfassen, so ergibt sich folgendes Bild:
Über Krankheiten soll man nicht zuviel reden; das Alter
möglichst früh planen und miteinander über den Tod zu
sprechen, macht vielleicht eines Tages etwas weniger einsam. Vielleicht.
120
Ratschläge und Vorschläge
Was weiû die Psychologie vom Leben?
¹Das Leben kann man nur rückwärts erklären, es muss aber
vorwärts gelebt werden.ª Das sagte Sören Kierkegaard, ein
Philosoph, der mit der Bewältigung seines eigenen persönlichen Lebens immer wieder groûe Mühe hatte. Hat er nicht
Recht? Wir sind doch alle Anfänger, die ohne Proben auf der
Bühne des Lebens stehen. Würden wir es nicht alle das
nächste Mal besser machen?
Psychologinnen und Psychologen gelten als Ratgeber für
das richtige Leben. Früher hatten die Philosophen diese Rolle inne. Leben ist immer noch eine Kunst. Lebenskunst
eben. Was kann die Psychologie als Wissenschaft vom
menschlichen Erleben und Verhalten zu einem besseren Leben beitragen? Eine ganze Menge. Aber nicht dann, wenn
sie vorgibt, das Leben in seiner Fülle zu verstehen, nicht
dann, wenn sie glaubt, den Reichtum und die Schönheit,
den Schrecken und die Tragik, aber auch die Komik unseres
Daseins vermessen zu können. Nein, die Aufgabe der Psychologie besteht darin, wissenschaftlich erprobte Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, damit Menschen aus den Bedingungen, in denen sie leben, ihr Leben gestalten und
erleben können. Hüten sie sich vor Psychologen, die Antworten auf die Lebensfragen haben, die jeder Mensch für
sich beantworten muss. Aber vertrauen sie auf Psychologen, die Erkenntnisse über menschliches Funktionieren
so darstellen können, dass sie für andere nutzbar sind.
Leben muss man dann allerdings selber. Und planen lässt
121
sich das Leben ja bekanntlich nicht. So gesehen, lässt sich
auch eine Paarbeziehung nicht einfach ¹aufbauenª oder ¹sanierenª. Aber es lohnt sich trotzdem, sich zu fragen, welches die wichtigsten Ratschläge sind. Was ist also hilfreich
für eine gute Paarbeziehung?
Alles nur Kommunikation?
In modernen zeitgemäûen Lebensentwürfen stehen sich
zwei zentrale Wünsche gegenüber: der Wunsch nach
¹Selbstverwirklichungª und der Wunsch nach Beziehung.
Dieses Gegensatzpaar verweist auf andere, in uns angelegte
gegensätzliche Motive. In der Motivationspsychologie
spricht man von den Gegensätzen zwischen dem Wunsch
nach Erregendem, Neuem und dem Wunsch nach Sicherheit. Vielleicht könnte man solche Gegensätze auch mit
dem ¹zeitlosenª Gegensatz von Sexualität und Bindung in
Paarbeziehungen vergleichen. Jeder Mensch muss mit diesen Gegensätzen und Spannungen selbst umgehen lernen.
Radovan, ein 45 -jähriger Wissenschaftler, erzählt: ¹ Ich bin
glücklich verheiratet. Das kann ich wirklich aus ganzem
Herzen sagen. Letzten Monat, auf einem Kongress in London, lernte ich eine jüngere Kollegin, organische Chemikerin wie ich, kennen. Sie glauben nicht, wie aufgeladen die
Atmosphäre zwischen uns war. Ich wurde mir plötzlich bewusst, dass ich drauf und dran war, mich in ein Abenteuer
zu stürzen, als wir uns für ein Nachtessen zu zweit auûerhalb des Tagungshotels vereinbarten. Ich habe an diesem
Nachmittag einen Spaziergang gemacht und mich ganz
ernsthaft mit meiner Situation auseinander gesetzt. Ich
war so aufgeregt und konnte nicht still sitzen. Im strömenden Regen lief ich durch den Hyde Park und schwankte hin
und her. Klar war mir nur, dass es an diesem Abend nicht
beim Essen bleiben würde. Wollte ich das? Ja, natürlich
122
wollte ich es, sehr sogar. Aber wollte ich meine Frau hintergehen, wollte ich unsere Ehe gefährden? Ganz sicher nicht.
War es nicht feig, einer Neigung nicht nachzugeben, eine
Begegnung nicht zu leben, zu der mich alles zog? War es
auf der andern Seite nicht wichtiger, unsere Bindung als
Verbindung, als verbindliche Beziehung zu erhalten? Jetzt,
einen Monat später weiû ich immer noch nicht, ob ich froh
oder traurig sein soll, dass ich unser Rendezvous absagte
mit einer Ausrede, ohne mich zu erklären.ª
Solche Fragen stellen sich heute für viele Männer und
Frauen. Sie werden nur wenig thematisiert. Denn das sind
Fragen von persönlicher Verantwortung, von Schuld und
von der Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln
zu übernehmen. Oft wird ¹die Liebeª über die Verantwortung gestellt, wie wenn Liebe ein Virus wäre, dem wir ausgesetzt wären. Aber Liebe entbindet nicht von Verantwortung und Last. Im Gegenteil.
¹Autonomeª, wörtlich: eigengesetztliche Menschen
müssen mit inneren Konflikten und Unterschieden leben
lernen. Sie sind sozusagen immer im Dialog mit sich. Und
wenn sich zwei solche Menschen zusammentun? Es ist
klar, dass es dann erst recht Kommunikation, Klärung, und
Austausch braucht, damit beide einen gemeinsamen Lebensentwurf gestalten und umsetzen können.
Liebe allein genügt nicht. Eine gelungene Paarbeziehung
ist ein Dialog, eine Auseinandersetzung mit allen Bedeutungsnuancen dieses Begriffs. Und es ist noch mehr: Die beiden wollen ja nicht nur nebeneinander leben, sondern sie
wollen miteinander ein gemeinsames Leben schaffen. Die
Paarbeziehung schafft sich eine eigene Gestalt, ein von beiden geschaffenes Gemeinsames. Am augenfälligsten wird
das, wenn das gemeinsam Geschaffene ein Kind ist. Aber
auch etwa eine Wohnung oder ein Haus, in dem ein Paar
seit Jahren lebt, zeigt etwas von dieser gemeinsamen Welt.
123
Jedes Paar entwickelt mit der Zeit zudem einen gemeinsamen psychischen Raum. Es ist dann, wie wenn ein Paar zusätzlich zu den beiden Einzelgedächtnissen der Individuen einen ¹externen virtuellen Speicherª (um ein Bild aus der
Computersprache zu brauchen) entwickelt, in dem die gemeinsamen Erinnerungen weiterleben. So entsteht nicht nur
eine gefühlsmäûige Bindung zwischen den Partnern, sondern
ein vielschichtiges Gewebe von Gemeinsamkeit. Trotzdem:
Jede dritte bis jede zweite Ehe wird heute geschieden. Hinter
dieser nüchternen Zahl verbergen sich Geschichten von Enttäuschung und Leid.
Es lohnt sich zu wissen, welche Faktoren die Ehequalität
positiv beeinflussen, auf was es ankommt, um die Gefahr
für eine Scheidung zu vermindern. Ich verwende das Wort
Gefahr, weil ich das Vorurteil nicht teile, dass Scheidungsraten zunehmen, weil die Menschen aus Spaû oder Leichtsinn heiraten und sich scheiden lassen. Niemand heiratet
auf Zeit. Menschen wollen zusammenbleiben. Doch die
Ansprüche an die emotionale Qualität einer Ehe sind gestiegen, und unser Leben ist in vielfacher Hinsicht komplexer
geworden. Das ist der Preis der Freiheit, den wir dafür bezahlen, Entscheide über die Gestaltung unseres Lebens treffen zu können.
Wie so viele andere Paare haben Iris, 34, und Peter, 36, hoffnungsfroh geheiratet. Das war vor sechs Jahren. Nie hätten
sie gedacht, dass sie nur wenige Jahre später von Scheidung
sprechen würden. Was ist nur falsch gelaufen? Beide stellen
sich die Frage. Keiner weiû eine Antwort.
Iris hat seit einigen Monaten eine Beziehung mit einem andern Mann. ¹Mir hat einfach etwas gefehlt in unserer Ehe.
Das Feuer war erloschen. Es ging nur um das Geld, den Alltagsstress und die Erziehungsprobleme. Seit ich Herbert
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kenne, lebe ich wieder, spüre ich wieder, dass ich eine Frau
bin.ª Soll sie auf die Beziehung zu Herbert verzichten?
¹Aber dann verrate ich mich! Ich will auch mir selber treu
bleiben!ª, ruft Iris. Sie wird ihren Mann verlassen und mit
den Kindern zu Herbert ziehen.
Viele Menschen halten die Liebe für eine Zauberkraft, die
kommt und geht, ohne dass sie beeinflussbar wäre. Das ist
eine romantische Vorstellung von Liebe als ¹Amor mit dem
Pfeilª. Nicht ich bestimme, sondern der ¹Liebespfeilª bestimmt über mich. Aber die Liebe ist nicht unabhängig
vom Alltag. Iris und ihr Mann sind beide verantwortlich
für ihre Ehe. Im Moment können sie sich nicht gemeinsam
für eine Trennung entscheiden. ¹Es wäre so viel einfacher
für mich, wenn er einverstanden wäre mit der Trennung.
Aber ich spüre, dass er auch nicht mehr glücklich ist. Und
ich muss es jetzt tun, auch wenn es für ihn schlimm ist
und auch die Kinder darunter leiden werden.ª
Iris sieht, dass ihre Entscheidung Leiden verursacht. Das
ist schwer, heiût aber nicht, dass er oder sie das nicht tun
sollte. Aber sie muss bereit sein, für ihr Handeln gerade zu
stehen. Peters Mutter wüsste, was sie Iris raten würde: ¹Immer das Gerede von der Liebe, die erloschen ist. Wenn ich
das nur schon höre! Ich hatte nie die Möglichkeit, mich zu
fragen, ob ich meinen Mann noch liebte. Wir hatten es
schwierig, aber wir sind zusammengeblieben. Denn es gab
gar nichts anderes. Eine Geschiedene wollte ich nie werden.
Nur das nicht. So haben wir die Zähne zusammengebissen
und haben weitergemacht. Und jetzt: Wir haben es gut miteinander. Die jungen Leute geben zu schnell auf. Sie denken
nur an sich und ihr Vergnügen.ª
So einfach ist es nicht. Niemand trennt sich aus Spaû vom
Partner! Frau M. hat in einem Punkt recht: Menschen leben nicht mehr im Korsett der Rollenerwartungen. Früher
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war die Rolle, die man als Frau oder als Mann zu spielen
hatte, wie eine Schablone oder auch eine Zwangsjacke vorgezeichnet. Das machte vieles schwer, vieles aber auch
einfacher! Die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten für
das Leben sind gröûer geworden. Dadurch ist der Anspruch
gewachsen, etwas aus dem eigenen Leben zu machen. Der
Wunsch nach Selbstverwirklichung und derjenige nach Intimität in einer glücklichen Paarbeziehung können ganz
schön heftig zusammenprallen. Dessen sind wir uns zu
selten bewusst.
Wieso bleiben Menschen denn nicht alleine? Das tun sie
immer öfter. Trotz der Sehnsucht nach einem Partner,
denn jede Paarbeziehung ist eine groûe Hoffnung und ein
groûes Wagnis.
Die Trennung oder Scheidung ist ein Weg, eine ausweglos gewordene Situation zu verändern. Ob dieser Weg Erfolg zeitigt, lässt sich allerdings nicht garantieren. Denn
auch eine Trennung ist ein Risiko. Es braucht Mut, sich
zu trennen. Trennung kann ein Weg sein, eine Beziehungskrise zu lösen. Häufig ist das ein guter Weg, selten ein
schmerzloser.
Kehren wir zu unserem Paar zurück: Das ¹Erlöschen der
Liebeª ist nicht so zufällig, wie Iris das beschreibt. Sie und
Peter haben sich über viele grundlegende Fragen und die Gestaltung ihres Alltags nie einig werden können. Die ungelösten Konflikte untergraben die Liebe, die das Paar verbindet. Forschungsergebnisse zeigen, dass es die Unfähigkeit
ist, Unterschiede miteinander zu klären, Konflikte zu lösen
und Stress gemeinsam zu bewältigen, die schlussendlich zu
Trennung und Scheidung führt. Unterschiedliche Bedürfnisse, Konflikte und Stress sind unvermeidlich. Mit dieser
grundlegenden Tatsache scheinen sich viele Menschen
schwer abfinden zu können. In jeder Beziehung entsteht
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Stress durch innere und äuûere Faktoren. Alltagshektik,
Streit um Haushalt und Geld können die Konfliktfähigkeit
eines Paares unter groûen Druck bringen.
Stress entsteht auch, wenn ein Paar durch einen Schicksalsschlag getroffen wird: Arbeitslosigkeit, Tod eines Angehörigen oder eine psychische Krankheit betreffen nicht nur Einzelpersonen. Auch die Beziehung zum Partner gerät dadurch
in eine kritische Phase. Wird ein überwältigender Stress gemeinsam bewältigt, festigt sich die Beziehung, andernfalls
wird der Graben breiter. Bei der vielleicht schlimmsten Prüfung für ein Paar, dem Verlust eines Kindes, wird dies besonders deutlich. Es gibt Paare, die an einer derartigen Katastrophe als Paar reifen und solche, die sich in Gram und Leid aus
den Augen verlieren.
Wie auch immer, die Forschungsergebnisse der Psychologie
sind eindeutig: Der entscheidende Faktor für die Qualität einer Liebesbeziehung ist die Qualität der Kommunikation.
Paare verstehen sich oft im zweifachen Sinn schlecht: Sie
verstehen sich schlecht, weil sie sich schlecht verstehen,
d. h. schlecht verständigen können, und sie verstehen sich
schlecht, d. h. sie erfahren nur wenig beglückende Erfahrungen miteinander. Es leuchtet ein, dass die Verständigung
umso schwieriger wird, je gröûer die Unterschiede sind.
Ein Paar ohne gemeinsame Interessen, mit groûen Unterschieden von Persönlichkeit, Herkunft und Lebensstil wird
sich beim Aufbau einer guten Kommunikation vor eine ungleich schwierigere Aufgabe gestellt sehen als ein Paar mit
vielen Gemeinsamkeiten.
Harmonie und ¹Gleichklang der Seelenª wünschen sich alle, doch die Sehnsucht nach dem wortlosen Einverständnis
bleibt in der Regel ein Wunschbild. Jedes Paar muss mit Unterschieden zwischen den Partnern umgehen können. Und
127
das heiût: Man muss über diese Unterschiede reden, ja verhandeln können.
Es gibt Regeln für gute Kommunikation. Die wichtigste lautet: ¹Sprich von dir, nicht vom Partner.ª Nur wenn ich etwas von meinem Inneren zeige, mich selber öffne, werde
ich unverzerrt wahrgenommen. Auch wenn Paare oft meinen, sie wüssten genau, wie es im andern aussieht: Jeder
Mensch sieht nur in einen einzigen Menschen hinein: in
sich selbst. Was im andern vor sich geht, muss er oder sie
mir eröffnen. Je mehr Selbstöffnung in einer Partnerschaft
stattfindet, desto zufriedener wird sie erlebt. Man kann lernen, effektiver miteinander zu kommunizieren! Ein Lehrgang für die Ehe? Viele werden die Nase rümpfen und glauben, ¹echteª Liebe mache so was doch überflüssig und lasse
sich sowieso nicht in einem Kurs lernen. Einverstanden!
Liebe kann man so nicht lernen, aber effektive Kommunikation! Und die verbesserte Kommunikation vertieft das gegenseitige Verständnis und führt zu besseren gemeinsamen
Lösungen für Probleme. Damit steigt wiederum die Chance,
dass die zerbrechliche Pflanze ¹Liebeª blüht und gedeiht. Erzwingen kann ich ihr Wachstum nicht. Aber ich kann ihr genügend Wasser geben. Eine gut genährte Pflanze verdorrt
nicht so schnell, auch wenn der Regen einmal ausbleibt!
In Paartrainings und Paartherapien werden heute Veränderungen im Umgang des Paares vor allem auf drei Ebenen
herbeigeführt, die die Ehequalität entscheidend beeinflussen: Reziprozität, Selbstoffenbarende Kommunikation und
Konfliktlösung. Das sind drei nichts sagende technische
Wörter, die doch sehr viel mit unserem Beziehungsleben
zu tun haben. Schauen wir näher, was damit gemeint ist.
Reziprozität beschreibt ein ganz einfaches Prinzip: das Prinzip ¹Wie du mir, so ich dirª. Positive Reziprozität heiût: Ich
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gebe dir Zuneigung, Liebe und Zärtlichkeit, weil ich das von
dir auch so erfahren habe. Ein Kreislauf von Zuneigung hält
den Liebesmotor wach: Beide geben und erhalten.
Das Ehepaar W. ist seit 30 Jahren verheiratet. Sie machen
den Eindruck eines ausgesprochen glücklichen Paares.
Wenn man mit ihnen spricht und auf ¹Reziprozitätª achtet,
wird einem an vielen Kleinigkeiten deutlich, wie allgegenwärtig diese Form des Kontaktes zwischen den beiden ist:
Sie schauen einander an, zeigen in ihrem Umgangston Respekt und Wärme, drücken mit Berührungen und in ihrer
Körpersprache aus, wie sehr sie einander schätzen.
Herr W. ist überrascht, als er auf das Thema angesprochen wird, bestätigt aber, dass es bei ihnen viele solche Dinge gäbe. Als Beispiel kommt ihm als erstes in den Sinn, dass
seine Frau beim Einkaufen die schweren Flaschen unten
stehen lasse. Er trage sie ihr oft hinauf. Darüber reden brauchen sie nicht.
Man könnte die Bedeutung dieser Reziprozität so zusammenfassen. ¹Ich tue dir etwas zuliebe, weil ich auch von dir
erfahre, dass du mir etwas zuliebe tust.ª Je mehr ich empfange, desto eher werde ich geben.
Selbstoffenbarende Kommunikation ist ein komplizierter
Ausdruck für eine einfache Art des Umgangs miteinander.
Sie verbessert nicht nur Ehen und Liebesbeziehungen, sondern alle Formen menschlicher Beziehungen, sei es zwischen Personen, Organisationen und Staaten.
Das Prinzip heiût: ¹Sag wie es in dir aussieht!ª Das klingt
banal und ist doch sehr machtvoll. Wieso? Niemand kann die
Gedanken und Gefühle eines andern Menschen lesen. Wir
haben keine Röntgenaugen. Trotzdem verstehen wir uns, haben Mitgefühl und Verständnis. Das Innere des andern bleibt
für mich für immer und ewig verschlossen. Jeder Mensch ist
in dieser Hinsicht absolut alleine. Einander verstehen geschieht, wenn ich mich selber in seine Situation zu versetzen
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versuche. Ich vollziehe in mir nach, wie es im andern aussieht. Dann erlebe ich auch, wie verzweifelt, wie froh oder
wie wütend er ist. Das ist Mitgefühl. Doch ich kann auch
ganz falsch liegen, wenn ich zu wenige oder falsche Angaben
habe über das Innenleben des andern. Und, hier komme ich
wieder zum Ausgangspunkt: Deshalb ist es so wichtig, dass
der andere sagt, wie es in ihm aussieht. Dann kann ich meinen eigenen Nachvollzug seiner Situation mit dieser Information verbessern. Ich verstehe ihn besser.
Ein Beispiel macht diese etwas theoretische Erklärung
sofort verständlich:
Ich treffe zufällig einen entfernten Bekannten in der Eisenbahn. Wir sitzen uns gegenüber, doch die Atmosphäre
ist gespannt. Mein Bekannter sieht mich grimmig an. Ich
fühle mich unbehaglich. Was hat der gegen mich? Vermutlich ist er auf mich wütend, vielleicht habe ich irgendetwas
vergessen, was ich ihm versprochen habe. Ich werde vorsichtig, bleibe im Gespräch ausweichend, distanziert. Das
sagt mein Bekannter plötzlich: ¹Bitte entschuldigen Sie,
wenn ich etwas merkwürdig wirke, aber mein Zahn bringt
mich um. Ich habe grässliche Schmerzen und bin auf dem
Weg zum Zahnarzt.ª
Ich bin sofort erleichtert: Das ist es! Er hat Schmerzen.
Er ist nicht wütend, sondern er hat Zahnschmerzen. Und
ich stelle mich ganz anders auf unser Gespräch ein.
Erhalte ich Informationen darüber, was im andern vorgeht,
kann ich versuchen, mich in seine Situation zu versetzen.
Das wird mein Verständnis für den andern und die Situation, in der wir uns befinden, erhöhen. Ich weiû, wie sich
Zahnschmerzen anfühlen. Wenn Menschen unter Druck
geraten, verschlieûen sie sich. Das macht sie gegeneinander
unsicher. Sie haben zuwenig Informationen, um zu verstehen, was der andere denkt und fühlt. Sie machen sich ihre
Gedanken. Diesen Ausdruck kann man ruhig wörtlich neh130
men: ¹Ich mache mir meine Gedanken.ª Wer sonst könnte
meine Gedanken machen? Aber diese Gedanken können
ganz falsch sein. Ohne Informationen über den inneren Zustand meines Partners kann ich ihn nur unvollständig verstehen. Diese Informationen bekomme ich nur im vertraulichen Gespräch, in der Selbstoffenbarung. Das ist, was in
intimen Gesprächen geschieht. Nicht in Diskussionen und
Erzählungen, sondern dann, wenn ein Mensch einem andern zeigt, wie es in ihm aussieht. Diese Kommunikationsform ist schwierig. Sie setzt Vertrauen voraus und sie
schafft erst Vertrauen.
¹Wir können nicht mehr sprechen miteinander!ª Das ist die
häufigste Klage, die ich von Paaren in der Sprechstunde höre.
Ein Auûenstehender, ein Kommunikationsexperte kann in
gewissen Situationen als Botschafter und Übersetzer funktionieren. In einer Paartherapie kann die gegenseitige Öffnung wieder in Gang gesetzt werden.
Zum Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt kam einmal ein
Reporter und wollte ein sehr persönliches Interview mit
ihm machen. Obwohl Dürrenmatt als sehr verschlossen bekannt war, gelang es dem Journalisten, den Schriftsteller zu
sehr freimütigen ¾uûerungen über sich zu bewegen. Als er
gefragt wurde, wie er das denn angestellt habe, antwortete
er: ¹Ganz einfach. Ich habe ihm so lange und so intime Details von mir erzählt, dass er mit der Zeit nicht mehr anders
konnte und auch von sich zu erzählen begann.ª
Das ist berechnend und nicht eben sympathisch. Aber es
wirft ein Licht auf die Art, wie menschliche Kommunikation funktioniert: Selbstöffnung regt den Gesprächspartner
an, sich ebenfalls zu öffnen. Das führt zu mehr Kenntnis
voneinander und ± im positiven Fall ± zu mehr Sympathie,
Verständnis und Liebe.
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Wenn zwei gleichberechtigte Menschen das komplexe Vorhaben in Angriff nehmen und ihr Leben miteinander gestalten, kommt es zu Konflikten. Paarbeziehung ist im Alltag
auch Problemlösung. Paare müssen praktische Fragen gemeinsam lösen. Dafür gibt es Regeln, die Paare kennen und
anwenden sollten. Setzt der eine Partner immer nur seine
Lösungen durch, entsteht Groll und Hass.
Ich habe schon im Kapitel über das Reden auf die Techniken zur Problemlösung hingewiesen. Probleme lösen
kann man lernen. In der Psychologie wurden effektive Trainingsmethoden für richtiges Problemlösen entwickelt. Jedes Paar kann davon für den Alltag profitieren.
Was braucht es, damit ein Problem zwischen zwei Menschen effektiv gelöst werden kann? Nun, zunächst muss
das Problem, es mag merkwürdig klingen, aufgebaut werden, bevor es beseitigt werden kann. Das heiût, der erste
Schritt muss es sein, das Problem zu benennen, zu definieren und zu einzugrenzen.
Paare streiten sich oft schon bei diesem Schritt: Gemeinsame Probleme sind einfacher zu lösen, wenn beide vom
gleichen sprechen.
¹Du machst ein riesiges Theater, nur weil ich die Türe
nicht geschlossen habe.ª ± ¹Nein, es geht nicht um die Türe.
Es geht darum, dass du mich nicht respektierst, dass ich dir
völlig egal bin, dass du alles tust, nur um mir zu schaden.ª
Dieses Paar ist in einen Streit verstrickt, bei dem es nicht
um die Lösung geht, sondern um die Konstruktion des Problems.
Als ersten Schritt zur Problemlösung gilt es also, eine gemeinsame Definition des Problems zu finden. Dazu müssen
die Beteiligten einander zuhören und verstehen, was der andere als Problem sieht.
Ein Paar einigt sich zum Beispiel auf das Problem ¹Ordnung in der Wohnungª. Das ist das Feld, innerhalb dessen
132
sich das Konfliktgespräch bewegen soll. In einem zweiten
Schritt wird es dann darum gehen, ein gemeinsames Ziel
zu definieren. Hier etwa: ¹eine Ordnung in der Wohnung,
in der es uns beiden wohl istª.
In der nächsten Phase wird es wichtig, sich nicht vorschnell auf bestimmte Lösungen festzulegen: Zunächst
müssen möglichst viele verschiedene Lösungswege aufgestellt werden, in unserem Beispiel etwa die Anstellung einer Haushalthilfe, ein gemeinsamer Plan für Hausarbeiten,
eine gröûere Wohnung etc. Erst dann kann die beste Strategie ausgewählt, geplant und umgesetzt werden.
Im Alltag halten wir die Reihenfolge für die Problemlösungsschritte selten ein. Wir sind meistens zu schnell mit
spontanen Lösungsvorschlägen oder wechseln von einem
Problem zum nächsten. (¹Und überhaupt geht es ja gar
nicht um die Ordnung. Aber du kommst nie mit mir ins Kino!ª)
Eine Einübung in Problemlösefertigkeiten nach diesem
klaren Schema hilft Paaren, effiziente Lösungen zu finden.
Gerade für Paare, die sich in jahrelangen unfruchtbaren
Konfliktgesprächen gefangen sehen, kann eine solche neue
Struktur eine wertvolle Richtschnur sein, den bekannten
Teufelskreis zu durchbrechen.
Immer wieder höre ich jemanden sagen: ¹Wir streiten nur
über ganz alltägliche Kleinigkeiten. Doch wir streiten nur
noch.ª Wieso streiten Paare über unwichtige Dinge? Weil
sie sie mit viel Bedeutung für die Beziehung aufladen.
¹Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber wir haben
extreme Probleme wegen eines völlig banalen Streits.ª Das
berichtet mir Nelly fast ein wenig beschämt. ¹Also es ist
folgendermaûen: Seit einem Jahr wohne ich jetzt mit meinem Freund Joe zusammen. Wir haben es schön und genieûen unser Zusammensein. Aber ich ertrage es einfach nicht,
wenn man mit den Schuhen in mein Schlafzimmer kommt.
133
Ich habe das noch nie gewollt, ich ziehe die Schuhe aus,
sonst fühle ich mich nicht wohl, wenn ich mit nackten Füssen herumlaufe und dann ins Bett gehe. Er begreift das einfach nicht. Hundert Mal habe ich es ihm schon gesagt, aber
es geht einfach nicht. Ich fühle mich jedes Mal so gedemütigt. Aber er kommt trällernd mit den Schuhen ins Schlafzimmer und vergisst ganz einfach, was ich ihm vor fünf Minuten gesagt habe.ª
Nelly macht etwas zum Test für ihre Beziehung, dass für
ihren Partner völlig nebensächlich ist: ¹Wenn du mich
liebst, ziehst du im Schlafzimmer die Schuhe aus.ª Aber
das ist ihre Logik.
Soll sie für ihr Anliegen kämpfen? Sicher dafür, dass ihr
Respekt entgegengebracht wird. Aber ist dieser Streit der
richtige Schauplatz? Bei jedem Streit gibt es auch die Möglichkeit, die Einschätzung für die Wichtigkeit zu ändern.
Das verändert dann auch die Bedeutung des Problems. Tatsächlich kommt Nelly, eine 43 -jährige Frau, am Abend des
nachfolgenden Sonntags vom Besuch bei ihrer Groûtante Elisabeth zurück, die ± lebenslang alleinstehend und hellwach
im Alter ± pflegebedürftig im Altersheim lebt. Ihr hatte sie
ihr Problem geschildert, und die alte Frau hat zu ihr gesagt:
¹Jetzt überleg mal: Was ist dir wichtiger, dass in deinem
Schlafzimmer niemand mit Schuhen rumläuft oder dass du
eine glückliche Beziehung hast. Und falls du dich für die
glückliche Beziehung entscheidest, dann geh jetzt heim und
schnurstracks in dein Schlafzimmer ± mit den Schuhen. Und
von jetzt an ziehst du selbst deine Schuhe einfach erst aus,
wenn du ins Bett gehst. Fertig. Amen.ª Das tönt gar nicht
nach einem professionellen Rat, aber erstaunlicherweise berichtet Nelly, dass sie genau das gemacht hätte. Und: das
Problem sei einfach verschwunden. Sie denke gar nicht
mehr daran, dass sie ihr Schlafzimmer einmal als schuhfreie
Zone hätte bewahren wollen. Nur: Darüber sprechen würden
sie schon lange nicht mehr, Streit gäbe es deswegen keinen.
134
Das ist keine Problemlösung für alle Situationen. Und es ist
gar nicht immer klüger nachzugeben. Tante Elisabeths Rat
hat Nelly auf die Frage gestoûen, was denn wirklich ¹hinterª dem alltäglichen Streit steht. Und Nelly hat realisiert,
dass sie eigentlich weiû, dass ihr Freund sie liebt. Sie
braucht gar keinen zusätzlichen Beziehungstest. Sobald sie
das Problem nicht mehr im Bedeutungsrahmen ¹Beziehungstestª sieht, schrumpft es zur Bedeutungslosigkeit.
Anstelle einer Zusammenfassung ± 10 Tipps
Es gibt keine einfachen Rezepte für die Lösung von Lebensproblemen! Alle Lösungen sind einfach! Diese Aussagen
stimmen beide. Am Ende unseres Gangs durch das weite
Feld der Paarbeziehung stellt sich die Frage, was denn jeder
und jede tun kann, um die Partnerschaft zu stärken?
Anstelle einer Zusammenfassung und mit einem leichten Augenzwinkern stelle ich hier meine zehn wichtigsten
Ratschläge zusammen. Einführen möchte ich die Ratschläge mit einem Satz der Schriftstellerin Erica Jong, der zeigt,
wie problematisch Ratschläge überhaupt sind.:
¹Rat suchen wir nur, wenn wir die Antwort schon wissen, sie aber nicht wissen wollen.ª
¹Mach was Neues!ª
Viele Probleme bei Paaren sind Wiederholungen des immergleichen Ablaufs. Jedes psychische Muster entwickelt die
Tendenz, sich zu wiederholen, das sind ¹schlechte Gewohnheitenª, negative Gedanken oder Teufelskreise zwischen
Paaren. Im Zweifelsfall ist es deshalb immer besser, etwas
Neues zu machen.
Das scheint ein billiger Rat zu sein. Und doch ist er
135
schwierig zu befolgen. Automatisierte Abläufe brauchen
nämlich weniger Energie, auch wenn sie schädlich sind.
Mitten in einem Streit etwas Neues zu machen, eine eng gewordene Situation zu verändern, das braucht viel Kraft und
Mut. Aber es lohnt sich!
¹Sag, wies dir geht!ª
In einer Paarkrise neigen Menschen dazu, zu verstummen
oder anzugreifen. Beides verstärkt Paarkonflikte. Hingegen
wäre genau in diesem Moment wichtig, dass mehr Verständnis entsteht. Dafür muss ich weder angreifen noch mich verteidigen, ich muss nur sagen, wie es ist. Das ist einfach,
braucht aber Mut. Und es zeigt Wirkung. Es schafft eine
neue Situation. Oder ganz kurz gesagt: Feststellen verändert.
¹Geh weg, damit du zurückkommen kannst!ª
Willst du deinem Partner begegnen, so musst du von ihm
weggehen. Viele Paare mit problematischer Beziehung verbringen zuviel Zeit miteinander. Ein Paar in einem massiven Konflikt braucht ¹Inputª. Neues muss von auûen kommen, damit sich die beiden Partner wieder spüren. Nur
dann können sie sich gegenübertreten und auseinander setzen. Es gibt allerdings auch Paare, die sich zuwenig sehen.
Sie brauchen mehr Gemeinsamkeit.
¹Schaff gemeinsame Erlebnisse!ª
Fehlt einem Paar das gemeinsame Dritte, wird die Beziehung leer. Das kann dann der Fall sein, wenn das Paar keine
Kinder hat, keine gemeinsamen Interessen, nichts, woran
136
¹Herzblutª von beiden Partnern hängt. Dann fehlt eine
zentrale Mitte. Paarbeziehung besteht nicht nur darin, sich
gegenseitig anzublicken, sondern auch darin, gemeinsam
auf ein Drittes hinzusehen. Dazu braucht es gemeinsame
Erlebnisse und bereichernde Erfahrungen.
¹Lobe!ª
¹Natürlich ist das Essen gut, wenn ich nichts sage.ª Menschen, nicht nur Männer!, ¹vergessenª oft, Positives zu
sagen. Alle Menschen, die ich kenne, können positive Bestätigung brauchen. Niemand hat genug davon. Ehrlich gemeintes Lob ist wohltuend. Angefangen von ¹Das ist eine schöne
Farbe, die du trägstª bis zu ¹Gut gemacht!ª Merkwürdigerweise gehen gerade in Paarbeziehungen solche positiven Bestätigungen rasch unter. Das rächt sich.
¹Vergiss nicht: Männer (Frauen) sind auch (nur)
Menschen.ª
Es gibt Männer, die gegen Frauen einen Groll haben, und es
gibt umgekehrt Frauen, die das Gleiche gegenüber Männern
empfinden. Das vergiftet das Klima einer Paarbeziehung.
Bei aller Unterschiedlichkeit und auch Gegensätzlichkeit
zwischen den Geschlechtern gibt es doch viel Gemeinsames. Es hilft allerdings anzuerkennen, dass Männer und
Frauen auch verschieden sein dürfen. Ohne dass daraus ein
Problem entstehen muss. Im Gegenteil.
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¹Es gibt nur einen Menschen, den du ändern kannst.ª
Und das ist nicht dein Partner. Jeder Mensch kann nur sich
selber ändern. Das ist gleichzeitig ernüchternd und hoffnungsvoll: Ich kann den andern nicht erziehen und verändern, aber ich kann sehr wohl mein Verhalten ändern.
Und das hat Konsequenzen. Auch für meinen Partner.
¹Sei anständig! (aber lass dir nicht alles bieten!)ª
Menschen gehen Paarbeziehungen ein, weil sie sich davon
etwas Schönes versprechen. Rücksichtsvolles und respektvolles Verhalten fördert eine gute Beziehung. Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit und Verachtung zerstört sie. Selber
anständig bleiben heiût nicht, Gewalt und Bösartigkeit einfach zu schlucken. Das wäre nur rücksichtslos sich selber
gegenüber.
¹Sex ist doof (das ist ein Witz!)ª
Ein Paar, das an einer sexuellen Beziehungsstörung leidet,
findet im Wartezimmer seiner Paartherapeutin ein Buch
mit Cartoons. Der Titel: ¹Sex ist doof!ª Die beiden müssen
über diesen Spruch und die dazu gehörende Zeichnung sehr
lachen. Das Lachen löst eine Spannung, in der sich das Paar
verfangen hatte.
Damit sind die besten Voraussetzungen geschaffen, dass
sich auch bei ihrem Konflikt etwas bewegt ¼
Sex ist natürlich nicht doof. Aber hie und da lohnt sich
ein respektloser und humorvoller Umgang auch mit ernsten
Themen. Und ein Paar, das miteinander lachen kann, lebt
mit einer reichen Quelle.
138
¹Versuche nur lösbare Probleme zu lösen!ª.
Viele Menschen verwenden einen groûen Teil ihrer Zeit darauf, unlösbare Probleme zu lösen. ¹Ich bin einfach zu klein
gewachsen. Wenn ich nur einen Kopf gröûer wäre, mein Leben würde ganz anders aussehen. Aber so, aus mir wird nie
etwas werden können.ª Hier leidet jemand an einem unlösbaren Problem und hält dieses Leiden aufrecht, indem er
sich mit viel Energie mit eben diesem unlösbaren Problem
beschäftigt. Derartiges Leiden gibt es auch in Paarbeziehungen. Seit der Antike werden Menschen durch Ratgeberliteratur dazu angehalten, lösbare und unlösbare Probleme voneinander zu unterscheiden. Lösbare Probleme soll man mit
Problemlösungsfertigkeiten wie geschildert zu lösen versuchen. Für unlösbare Probleme braucht es eine andere Strategie. Mit unlösbaren Problemen muss man leben lernen.
139
Schluss ± Ist Glück Zufall?
Am Schluss angelangt, stellt sich mir nochmals die Frage
nach der Liebe. Und damit die Frage nach dem Glück. Glück
ist ein merkwürdiges Wort, denn im Deutschen bedeutet es
doch gleichzeitig den Zustand des Glücklichseins (¹happynessª) und des Glückhabens (¹luckª). Ich habe in diesem
Buch die Meinung vertreten, dass erfolgreiche Beziehungen
nicht so zufällig entstehen, wie das vielleicht oft den Anschein hat. Trotzdem ist damit nicht alles gesagt. Denn ist
Glück nicht auch ein groûes Glück?
Etwas, das mir eher zufällt als das ich es herstelle? Auch
da gibt es in der Sprache verschiedene Varianten von ¹Ich
verliebe michª bis zu ¹I am falling in loveª.
Lässt sich Liebe also lernen, lässt sich eine glückliche Partnerschaft herstellen, oder ist es einfach blinder Zufall, der
das eine Paar miteinander glücklich werden lässt, das andere aber nicht?
Die Wahrheit liegt in der Mitte: Dieses Buch wollte Anregungen dafür geben, wie die Bedingungen dafür verbessert
werden können, dass Liebe stattfindet. Glückliche Paare haben aber oft die Empfindung, dass sie bei ihrem Glück auch
Glück haben. ¹Wir sind so glücklich, dass wir uns gefunden
haben. Das ist ein groûes Geschenk, das uns in den Schoû
fällt.ª In diesem doppelten Sinne glücklich sind glückliche
Paare. Und dass man dieses Glück nicht ganz selber bestimmen kann, bleibt vielleicht ein Geheimnis. Kein Geheimnis
mehr dürfte sein, dass sich viel für die Liebe tun lässt. Das
Tätigkeitswort von Liebe heiût lieben.
140
Literatur
Zu jedem Aspekt von Partnerschaft gibt es unzählige Ratgeber. Ich will hier keine Auswahl aus dieser Fülle treffen.
Mein Vorschlag: Gehen sie in ihre Buchhandlung und sehen
sie sich unter den entsprechenden Stichworten um (Mann
und Frau, Partnerschaft, Liebe). Sie werden vermutlich etwas finden, was sie anspricht.
Die folgende kurze Literaturliste umfasst die wichtigste
Fachliteratur, auf die ich mich beziehe. Ich habe vor allem
Standardwerke aufgeführt.
Bischof, N.: Das Rätsel Oedipus. Die biologischen Grundlagen des
Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München: Piper,
1985
Cierpka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familiendiagnostik. Heidelberg:
Springer, 1996
Engl, J., Thurmaier, F.: Wie redest du mit mir? Fehler und Möglichkeiten in der Paarkommunikation. Freiburg: Herder, 1999 (6.
Auflage)
Grawe, K: Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe, 1998
Schindler, L., Hahlweg, K., Revenstorf, D.: Partnerschaftsprobleme: Möglichkeiten zur Bewältigung. Heidelberg: Springer,
1999 (2. Auflage)
Schindler, L., Hahlweg, K., Revenstorf, D.: Partnerschaftsprobleme: Diagnose und Therapie. Therapiemanual. Heidelberg:
Springer, 1998
Schulz von Thun, F.: Miteinander reden. Band 1 und 2, Reinbek:
Rowohlt, 1989
Welter-Enderlin, R.: Paare, Leidenschaft und lange Weile. München: Piper, 1992
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