ST - 11.11.2014 - Annette Widmann-Mauz

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DIE VIERTE SEITE
Dienstag, 11. November 2014
T H E MA D E S TAG E S
B E G R I FF E
Beihilfe zum
Suizid straffrei
STERBEHILFE Am Donnerstag debattiert der Bundestag über die Frage, ob in Deutschland
die Beihilfe zur Selbsttötung gesetzlich erlaubt sein soll. Etwa indem ein Arzt
seinem Patienten auf dessen Wunsch ein tödliches Mittel verschreibt.
Die Debatte um Sterbehilfe und
Beihilfe zum Suizid nimmt an
Fahrt auf. Hier die Erklärung
der wichtigsten Begriffe in der
gegenwärtigen Diskussion.
Jenseits des rituellen Parteienstreits
Bundestag ringt um ein Gesetz für den schwierigen Weg zum Sterben in Würde
Für die Beratungen zur Sterbehilfe nimmt sich der Bundestag
viel Zeit. Am Donnerstag soll in
einer „Orientierungsdebatte“
erst einmal über grundsätzliche
Probleme des „assistierten Freitods“ diskutiert werden.
GUNTHER HARTWIG
Immer wieder in den vergangenen Jahren hat sich das Parlament
mit Grenzfragen der menschlichen
Existenz beschäftigt, mit Spätabtreibung, Stammzellforschung, Organtransplantation,
Patientenverfügung und Gendiagnostik. Stets ging
es einerseits um medizinische oder
naturwissenschaftliche
Erkenntnisse und Optionen, andererseits
um ethische Prinzipien und moralische Bewertungen. Die Politik hat
sich mit ihren Entscheidungen
meist schwer getan, aber durchweg
Lob für eine ernsthafte und sachgerechte Behandlung dieser sensiblen
Themen geerntet – auch von jenen,
die sich am Ende mit ihren Positionen nicht durchsetzen konnten.
Insofern hat der Bundestag inzwischen eine gewisse Übung darin,
sich bei ausgewählten Gewissensfragen, die dem rituellen Parteienstreit
entzogen werden sollten, um einen
Konsens jenseits der ausgetretenen
Pfade zu bemühen. Dieses Verfahren wird auch im aktuellen Fall der
Sterbehilfe wieder angewandt: Es
sieht vor, die bestehenden Fraktionsgrenzen zunächst zu ignorieren,
indem sich einzelne Abgeordnete
verschiedener Parteien zusammenfinden und gemeinsam Gruppenanträge formulieren. Erst ganz am
Diskussion im
Parlament beginnt
nicht bei null
Ende des Beratungsprozesses stehen Abstimmungen, für die alle Lager auf Vorgaben verzichten – ein informeller „Fraktionszwang“ findet
nicht statt.
Nun beginnt die Diskussion zur
Sterbehilfe auch im Parlament
nicht bei null. Es hat bereits in den
zurückliegenden Wochen nicht nur
eine Fülle öffentlicher Stellungnahmen von Ärzten, Moralphilosophen, Theologen, Kirchen und Juristen gegeben. Auch im Bundestag
sind die Vorbereitungen auf die
„Orientierungsdebatte“ längst in
vollem Gange. Eine Gruppe von
sechs Abgeordneten von CDU, CSU
Auf eigenen Wunsch sterben durch ein ärztlich verschriebenes Mittel? Die Bundestagsabgeordneten ringen um eine gesetzliche Regelung.
und SPD hat im Oktober ein erstes
Eckpapier präsentiert, nach dem es
Ärzten erlaubt wird, unheilbar Kranken unter sehr strengen Voraussetzungen beim Suizid zu helfen.
Die Position der Parlamentarier
um Bundestagsvizepräsident Peter
Hintze (CDU) und die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Carola Reimann erscheint auch für Kollegen aus der Opposition kompromissfähig, weil sie einen Mittelweg
zwischen den beiden extremen Positionen einnimmt, nämlich der völligen Liberalisierung der Sterbehilfe
und dem strikten Verbot jeder organisierten Sterbehilfe mit strafrechtlichen Konsequenzen. Es wird erwartet, dass sich außer dem Kreis um
Hintze und Reimann drei oder vier
weitere Gruppen von Abgeordneten
unterschiedlicher Fraktionen zusammentun, um ihre Gesetzentwürfe zur Abstimmung zu stellen.
Einig sind sich viele Parlamentarier, dass in jedem Fall kommerzielle, gewerbsmäßige oder gewinnorientierte Sterbehilfe untersagt
werden soll. Noch nicht entschieden scheint dagegen die Frage, auf
welche Weise es behandelnden Ärzten erlaubt werden darf, ihren Patienten beim Suizid beizustehen.
Schon warnt die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Mediziner vor
der gesetzlichen Zulassung der Sterbehilfe und plädiert stattdessen für
eine Verstärkung der Palliativmedizin. Auch Patientenschützer haben
den Entwurf von Hintze und Co.
scharf kritisiert. Der Vorstand der
Stiftung Patientenschutz, Eugen
Brysch, sagte in einem Interview, damit würden Ärzte pauschal als Suizidhelfer legitimiert, das sei „außerordentlich gefährlich“.
Auch die Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, Annette Widmann-Mauz
(CDU), hat sich gegen eine Legalisie-
rung der ärztlichen Sterbehilfe gewandt. Wenn Sterbende Angst davor hätten, ihren Angehörigen zur
Last zu fallen, könne „die Kultur in
unserer Gesellschaft nicht stimmen“, sagte die Abgeordnete aus Tübingen. Sie empfahl stattdessen, die
geltenden Regeln zum Einsatz
schmerzlindernder medizinischer
Maßnahmen klarer zu fassen, um
Ärzten und Patienten mehr Sicherheit und Verlässlichkeit zu geben.
Ganz auf ein gesondertes Gesetz
zur Sterbehilfe verzichten will die
frühere Verbraucherschutzministerin Renate Künast von den Grünen.
Sie erinnerte daran, dass nach gel-
Breite Spanne in Europa
Tötung auf Verlangen
Das Thema Sterbehilfe ist
europaweit unterschiedlich
geregelt. Tötung auf Verlangen ist nur in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg erlaubt. Unter bestimmten Bedingungen dürfen Ärzte dort eine tödliche
Dosis eines Medikaments
verabreichen. In Belgien ist
seit Februar 2014 aktive
Sterbehilfe auch für Minderjährige per Gesetz erlaubt.
Schweizer Lösung
Spielraum haben Ärzte in
der Schweiz: Hier ist die Beihilfe zum Suizid erlaubt.
Die Ärzte dürfen unheilbar
Kranken eine tödliche Dosis
eines Medikamentes ver-
schreiben. Das Mittel muss
der Patient jedoch eigenhändig einnehmen. Tötung
auf Verlangen ist strafbar.
In Deutschland, Frankreich,
Großbritannien und Österreich wird über Gesetze
debattiert, die allenfalls die
Beihilfe zur Selbsttötung
bedingt zulassen, keine
aktive Sterbehilfe.
epd
Foto: epd
tender Rechtslage die Beihilfe zur
Selbsttötung straffrei bleibe, wenn
„die letzte Handlung vom Betroffenen selber vorgenommen wird“. Daher sehe sie für eine Gesetzesänderung keinen Anlass, erklärte die Vorsitzende des Justizausschusses im
Bundestag. Diese Position wird von
anderen Abgeordneten geteilt. Manche plädieren daher für eine Lösung
ohne gesetzliche Bindung.
Ohnehin wird das Parlament frühestens Ende kommenden Jahres
über konkurrierende Entwürfe abstimmen. Nach der ersten Debatte
am 13. November, für die das Plenum sich vier Stunden Zeit nimmt,
wird es Anfang 2015 eine große
Sachverständigenanhörung im Bundestag geben, danach ausführliche
Beratungen in mehreren Fachausschüssen. Und es ist zu erwarten,
dass die öffentliche Auseinandersetzung über Wege zu einem „Sterben
in Würde“ in den nächsten Monaten an Intensität zunimmt.
Wie schon bei vergleichbaren Entscheidungen zuvor werden die Diskussionsbeiträge aus den Kirchen,
der Wissenschaft und den Verbänden nicht ohne Auswirkung auf die
Meinungsbildung der Volksvertreter bleiben.
Aktive Sterbehilfe: Tötung des
Patienten auf dessen ausdrückliches Verlangen durch Eingreifen
von außen, meist durch einen Arzt.
Gesprochen wird auch von „Tötung
auf Verlangen“. Sie ist in Deutschland verboten, in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg dagegen bedingt erlaubt.
Indirekte Sterbehilfe: Gabe von
Medikamenten,
zum
Beispiel
Schmerzmitteln, bei denen ein vorzeitiger Tod nicht beabsichtigt ist,
aber in Kauf genommen wird. Wegweisend in Deutschland war ein Urteil des Bundesgerichtshofs von
1996: Die Richter stellten klar, dass
es erlaubt oder sogar geboten sei,
schmerzlindernde Medikamente in
einer Dosis zu verabreichen, die als
unbeabsichtigte Nebenwirkung die
Sterbephase verkürzen könnte.
Passive Sterbehilfe: Der Verzicht
auf lebensverlängernde Maßnahmen (auch als „Sterbenlassen“ bezeichnet) oder der Abbruch solcher
Maßnahmen. Das können etwa
künstliche Ernährung und Beatmung oder der Verzicht auf Behandlung mit Antibiotika sein. Passive
Sterbehilfe ist erlaubt, wenn der Patient sich vorab entsprechend geäußert hat oder wenn Maßnahmen
medizinisch
wirkungslos
oder
schädlich sind. Problematisch ist
der Begriff „passive Sterbehilfe“,
weil er Handlungen umfasst, die
nach allgemeinem Verständnis als
aktiv zu bezeichnen sind, wie beispielsweise das Abschalten des Beatmungsgerätes. Mittlerweile ist
durch Gerichte und die Bundesärztekammer klargestellt, dass Tun
und Unterlassen im Rahmen der
passiven Sterbehilfe keinen Unterschied bedeuten. Denn der Arzt
lässt damit nur den natürlichen
Krankheitsverlauf zu.
Beihilfe zur Selbsttötung: Da
eine Selbsttötung in Deutschland
nicht belangt wird, ist auch die Beihilfe zum Suizid straffrei. Allerdings
können Helfer, etwa Ärzte, anschließend wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Auch das
ärztliche Standesrecht untersagt
eine Beteiligung von Ärzten am Suizid. Debattiert wird, ob eine organisierte Sterbehilfe juristisch verfolgt
werden sollte. Besonders durch die
Schweizer Sterbehilfeorganisation
Dignitas ist das Problem der gewerblichen oder geschäftsmäßigen Förderung der Beihilfe zur Selbsttötung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt.
Die Begriffe werden von Experten zum Teil als missverständlich
kritisiert. So beabsichtigten Handlungen der „indirekten Sterbehilfe“
keine Hilfe zum Sterben, hieß es.
Vielmehr gehe es um palliativmedizinische Maßnahmen wie Schmerzbehandlung und Sedierung, die mit
dem Risiko einer Lebensverkürzung verbunden seien. Daher solle
„indirekte Sterbehilfe“ durch „Therapien am Lebensende“ ersetzt werden.
CHRISTOPH ARENS (kna)
„Die Ärzte töten nicht, sie helfen nur“
Interview mit dem Tübinger Medizinethiker Urban Wiesing: Erlaubnis des ärztlich assistierten Freitods führt nicht zum Dammbruch
Der Medizinethiker Urban
Wiesing plädiert für die gesetzliche Zulassung ärztlicher Hilfe
zur Selbsttötung. Es müsse
Klarheit geschaffen werden.
WILHELM HÖLKEMEIER
Herr Professor Wiesing, brauchen
wir eine gesetzliche Regelung der Beihilfe zur Selbsttötung?
URBAN WIESING: Mehrere Gründe
sprechen dafür. Es gibt Suizidtourismus in die Schweiz. Die 17 Ärztekammern haben vier verschiedene
Regelungen zum ärztlich assistierten Suizid in Deutschland. Das
macht keinen Sinn, da müssen wir
Klarheit schaffen. Es gibt derzeit zudem keinerlei Vorsichtsmaßnahmen, um Patienten von einem voreiligen Suizid oder einem Suizid unter Druck abzuhalten. Auch das sollten wir ändern. Darüber hinaus wissen wir, dass in Deutschland mehr
oder weniger offen alles in Sachen
Sterbehilfe geschieht, wir aber keinerlei Auskunft darüber geben kön-
nen. Ein Gesetz sollte zugleich eine
Dokumentation regeln, damit wir
auf der Basis konkreter Zahlen diskutieren können.
Sie haben mit Kollegen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der ärztliche Hilfe
zum Suizid unter bestimmten Umständen zulässt. Ist das nicht eine
Aufweichung des Tötungstabus?
WIESING: Die Ärzte töten nicht bei
der Suizidbeihilfe, sondern sie helfen nur. Wir können auf wissenschaftliche Studien verweisen, dass
in den Ländern, in denen der ärztlich assistierte Suizid erlaubt ist, die
Ärzte Suizide verhindern können
und zudem keinerlei Dammbruch
zu beobachten ist. Im Gegenteil:
Die Zahlen sind relativ stabil über
eine längere Zeit.
Unstrittig ist, dass Sterbehilfe auf
kommerzieller Basis verboten wird?
WIESING: Das ist unstrittig. Die
kommerziellen Anreize, Menschen
zum Suizid zu verleiten, sind zu
groß. Ein strittiger Punkt dagegen
ist, ob und wie wir organisierte Ster-
behilfe zulassen sollen. Durch Vereine etwa oder durch Ärzte.
Philosophie und Medizin
Aktive Sterbehilfe durch einen Arzt
bleibt auf jeden Fall verboten?
WIESING: Keine der politischen Parteien erwägt eine Liberalisierung
der aktiven Sterbehilfe. Wir brauchen sie auch nicht. Durch ärztlich
assistierten Suizid und moderne
Technik können auch Patienten, die
sich nur noch beschränkt bewegen
können, nach ihren Vorstellungen
aus dem Leben scheiden.
Ist es Ärzten ethisch zumutbar, über
den Patientenwunsch nach Beihilfe
zur Selbsttötung zu entscheiden?
WIESING: Wir befinden uns in einer
Situation der Pluralität, auf die wir
reagieren müssen. Die Bürger und
die Ärzte sind sich nicht mehr einig
über die Haltung zum ärztlich assistierten Suizid. 37 Prozent der Ärzte
könnten sich das unter bestimmten
Bedingungen vorstellen. Die Frage
ist nicht mehr ,Was ist die richtige
Art zu sterben und die richtige Art,
dabei zu helfen', sondern ,Wo müs-
Professor Urban Wiesing: Vertrauen zum
Arzt wird nicht beeinträchtigt.
Foto: pr
Info Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing (56) ist
Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind
Philosophie und Medizin, ethische Aspekte
moderner Technologien in der Medizin und
Geschichte der Medizin. Von 2004 bis
2013 war er Vorsitzender der Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer.
sen wir angesichts einer pluralen
Gesellschaft die staatlichen Grenzen setzen?'. Es ist unstrittig, dass jeder Gesetzentwurf ein Verweigerungsrecht vorsehen muss. Wenn
ein Arzt eine Assistenz beim Suizid
mit seinem Glauben oder seinem
Gewissen nicht vereinbaren kann,
hat er das Recht, das zu verweigern.
Aber wir haben in einer modernen,
offenen, säkularen Gesellschaft
nicht mehr genug Gründe dafür, die
wohlüberlegten
Entscheidungen
von Bürgern am Lebensende als
inakzeptabel zu deklarieren.
Droht eine Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient?
WIESING: Dafür gibt es keinen Hinweis. Im Gegenteil: Große Studien
zeigen, dass das Vertrauen zum Arzt
nicht beeinträchtigt wird. Es kann
sogar verbessert werden dadurch.
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland lehnen diese
Haltung ab. Ist sie unvereinbar mit
unseren christlichen Wurzeln?
WIESING: In den offiziellen Stel-
lungnahmen der Kirchen wird der
assistierte Suizid abgelehnt. Unter
den Theologen und erst recht unter
den Gläubigen ist das Thema umstritten. Der katholische Theologe
Hans Küng befürwortet eine sehr
liberale Vorgehensweise ebenso wie
viele evangelische Theologen. Der
christliche Glaube kann in dieser
Frage offensichtlich keine verbindliche Position begründen.
Gegner der Liberalisierung plädieren stattdessen für den Ausbau der
Palliativmedizin und generell des
Strebens nach einer humanen Gesellschaft. Ist das eine Alternative?
WIESING: Es ist unstrittig, dass die
Palliativmedizin in Deutschland verbessert werden muss. Unser Gesetzentwurf beinhaltet das. Aber es ist
auch unstrittig, dass die Palliativmedizin vieles kann, aber nicht alles.
Die Palliativmedizin kann und soll
die Zahl der Sterbeanfragen reduzieren, aber sie kann sie nicht aus der
Welt schaffen. Es ist nicht hilfreich,
Palliativmedizin gegen Sterbehilfe
auszuspielen. Wir brauchen beides.
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