3.5 Riemannsche Zahlenkugel

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3.5
Kapitel 3. Holomorphe Funktionen
Riemannsche Zahlenkugel
Bisher haben wir komplexe Zahlen stets als Punkte in der Zahlenebene aufgefasst.
Wir können die Ebene aber auch als Abbild einer Kugeloberfläche unter stereographischer Projektion verstehen. Die stereographische Projektion der Oberfläche S 2
der Kugel von Radius 1 in R3 auf die Äquatorebene E := {(x, y, 0) | x, y ∈ R2 }
ist folgendermassen definiert: Jeder Punkt P ∈ S 2 , P 6= N = (0, 0, 1)t, wird auf
denjenigen Punkt Q in der Ebene E projiziert, der auf der Verbindungsgerade von
P mit dem Nordpol liegt. In Koordinaten kann man die Projektion so beschreiben:
 
 x1 
x1
1−x3
x2 
Proj: S 2 \ {N} → E, P =  x2  7→ Q =  1−x
.
3
x3
0
Denn weil der Punkt Q der Schnittpunkt der Verbindungsgeraden
N mit
 von P und 
tx1
 und
der Ebene E ist, gibt es ein t ∈ R mit Q = N + t(P − N) = 
tx2
1 + t(x3 − 1)
1
1 + t(x3 − 1) = 0. Daraus folgt t = 1−x
und
durch
Einsetzen
die
behauptete Form.
3
Fassen wir nun die Punkte der Ebene E als komplexe Zahlen auf, so erhalten
wir die Zuordnung
 
x1
x1 + ix2
2

= z.
x2  7→
Φ: S \ {N} → C,
1 − x3
x3
1+x3
, weil x21 + x22 + x23 = 1. Die Projektionsabbildung Proj ist
Dabei ist |z|2 = 1−x
3
bijektiv und in beiden Richtungen stetig. Der Äquator wird auf den Einheitskreis
in E und der Südpol auf den Nullpunkt abgebildet, die Südhalbkugel wird ins Innere des Einheitskreises projiziert, und die Nordhalbkugel in das Gebiet ausserhalb
des Einheitskreises. Dabei gehen Kreise durch den Nordpol über in Geraden, und
Längengrade entsprechen den Geraden durch den Nullpunkt. Die Breitengrade korrespondieren zu konzentrischen Kreisen um den Nullpunkt. Kreise auf S 2 , die nicht
durch den Nordpol gehen, werden wiederum auf Kreise in E projiziert.
Die Projektion hat nur einen Schönheitsfehler, der Nordpol hat kein Abbild in
E bzw. in C. Dies kann man ändern, indem man zur Menge der komplexen Zahlen
einen “unendlich fernen” Punkt {∞} hinzunimmt:
b := C ∪ {∞} .
C
b durch
Wir setzen die Projektion fort zu einer bijektiven Abbildung Φ: S 2 → C
Φ(N) := ∞ .
b als Kugeloberfläche realisiert, man spricht deshalb auch
Auf diese Weise wird C
von der Riemannschen Zahlenkugel . Die ǫ-Umgebungen um den Nordpol in S 2 sind
3.5. Riemannsche Zahlenkugel
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Polkappen von Radius ǫ. Unter der stereographischen Projektion entsprechen sie
den Teilmengen
1
Uǫ (∞) := {z ∈ C | |z| > } ∪ {∞} .
ǫ
b genau dann als ofAlso betrachtet man eine Teilmenge der Form U ∪ {∞} ⊂ C
fene Umgebung von {∞}, wenn U ⊂ C offen ist und Uǫ (∞) ⊂ U ∪ {∞} für ein
ǫ > 0. Durch diese Festlegung wird Φ zu einer auch im Nordpol stetigen Abbildung.
Ausserdem können wir jetzt einer Folge komplexer Zahlen, deren Betrag gegen unendlich geht, tatsächlich einen Grenzwert zuordnen, nämlich den unendlich fernen
Punkt ∞. Das heisst auch, dass jede affine Gerade in der komplexen Zahlenebene
b hat. Denn für alle z, w ∈ C
den unendlich fernen Punkt in ihrem Abschluss in C
gilt:
lim tz + w = ∞ .
t→∞,t∈R
Dies passt dazu, dass die Geraden in C auf der Kugeloberfläche den Kreisen durch
den Nordpol entsprechen.
b
Betrachten wir nun komplexe Funktionen und mögliche Fortsetzungen auf C.
b fort3.5.1 Beispiel Die Funktion κ: z 7→ 1z zum Beispiel lässt sich stetig auf C
setzen durch κ(0) = ∞ und κ(∞) = 0. Die Abbildung κ hat eine sehr einfache
Interpretation als Selbstabbildung von S 2 . Nehmen wir an, die komplexe Zahl z
entspricht unter der stereographischen Projektion dem Punkt (x1 , x2 , x3 ) ∈ S 2 , d.h.
1 +ix2
. Daraus folgt
z = Φ(x1 , x2 , x3 ) = x1−x
3
κ(z) =
1
z
x1 − ix2
= Φ(x1 , −x2 , −x3 ) .
= 2 =
z
|z|
1 + x3
Also entspricht κ der 180◦-Drehung von S 2 um die x1 -Achse. Diese Drehung vertauscht Nord- und Südpol, entsprechend dazu, dass κ den Nullpunkt und ∞ miteinander vertauscht.
a b
b
b
Die Möbiustransformation MA : C → C zur Matrix A =
∈ GL2 (C) ist
c d
MA (z) =
az + b
cz + d
für cz 6= −d ,
d
a
MA (− ) := ∞ und MA (∞) := .
c
c
Ist allgemeiner f : G → C eine meromorphe Funktion mit Polen z1 , . . . , zr , so können
b durch
wir f stetig fortsetzen zu fb: G ∪ {z1 , . . . , zr } → C
fb(zk ) := lim f (z) = ∞ für alle k.
z→zk
Ist eine komplexe Funktion f holomorph auf dem Gebiet D := {z ∈ C | |z| > R}
(für ein R > 0), so ist die zusammengesetzte Funktion f ◦κ holomorph auf U 1 (0)\{0}
R
und hat daher eine Laurententwicklung um 0. Diese Reihenentwicklung betrachtet
man auch als Laurententwicklung von f um den Punkt ∞, und identifiziert den
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Kapitel 3. Holomorphe Funktionen
Typ der Singularität von f im Punkt ∞ mit dem Typ der Singularität von f ◦ κ
im Nullpunkt. Hat f ◦ κ im Nullpunkt eine hebbare Singularität oder einen Pol, so
lässt sich f stetig nach ∞ fortsetzen durch
1
f (∞) := lim f (z) = lim f ( ) .
z→∞
w→0
w
Hat f ◦ κ aber eine wesentliche Singularität im Nullpunkt, so lässt sich f nicht stetig
nach ∞ fortsetzen.
3.5.2 Beispiele
• Die Exponentialfunktion ez hat bei ∞ eine wesentliche Sin1
gularität, denn e z hat eine wesentliche Singularität im Nullpunkt. Dasselbe
gilt für den komplexen Arcustangens.
• Das Polynom f (z) = z m (mit m ∈ N) hat bei ∞ einen m-fachen Pol, denn
f ( 1z ) = z1m .
• Die Funktion f (z) = z1m (m ∈ N) hat bei ∞ eine hebbare Singularität, genauer
gesagt eine m-fache Nullstelle.
• Sind p, q teilerfremde Polynome und hat q die Nullstellen z1 , . . . , zr , so lässt
b →C
b
sich die rationale Funktion f = pq stetig fortsetzen zu einer Abbildung C
durch
p(z)
f (zk ) = ∞ für k = 1, . . . , n und f (∞) = lim
.
z→∞ q(z)
b eine zusammenhängende offene Teilmenge. Unter
3.5.3 Definition Sei G ⊂ C
einer meromorphen Funktion auf G verstehen wir eine meromorphe Funktion auf
G \ {∞}, die bei ∞ entweder eine hebbare Singularität oder einen Pol hat.
b ist eine rationale Funktion.
3.5.4 Satz Jede meromorphe Funktion auf C
b Die Pole von f sind gerade die
Beweis. Sei f eine meromorphe Funktion auf C.
Nullstellen von 1/f , liegen also voneinander isoliert. Nun ist aber Ĉ kompakt, weil
es homöomorph zu S 2 ist. Also hat f höchstens endlich viele Pole in C, etwa z1 , . . . , zr
mit Ordnungen m1 , . . . , mr . Setze
!
r
Y
g(z) :=
(z − zj )mj f (z) für z 6= ∞, z 6= zj ∀j.
j=1
Die Singularitäten von g an den Stellen zj sind alle hebbar. Also ist g auf ganz C
holomorph. In ∞ hat g höchstens einen Pol, die Taylorentwicklung von g um den
Nullpunkt ist also bereits ein Polynom. Also muss f eine rationale Funktion sein.
q.e.d.
b → C ist konstant.
3.5.5 Folgerung Jede holomorphe Funktion f : C
3.5.6 Folgerung Die bijektiven meromorphen Selbstabbildungen von Ĉ sind gerade die Möbiustransformationen.
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