Wollust - Bayerischer Rundfunk

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Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 06.05.2015
09.05 Uhr / B 2
AUFNAHME:
STUDIO:
ETHIK, RELIGION, PHILOSOPHIE
Ab 9. Schuljahr
TITEL:
Wollust
Die schönste Todsünde
AUTOR:
Michael Reitz
REDAKTION:
Bernhard Kastner
REGIE:
Frank Halbach
TECHNIK:
Regina Staerke
PERSONEN:
Sprecherin
Christiane Roßbach
Zitator
Wolfgang Pregler
Zitatorin
Katja Amberger
Zuspielungen
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Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
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Musik F203141007
ZITATOR
Einzig der Mensch ist wirklicher Lust fähig, denn er ist mit der Fähigkeit des
Denkens gesegnet, er nimmt die Lust gedanklich vorweg.
SPRECHERIN
Der italienische Adelige und Philosoph Giacomo Casanova in seinen Memoiren.
ZITATOR
Jedermann sollte wenigstens soviel Philosophie studieren als nötig ist, um sich die
Wollust angenehmer zu machen.
SPRECHERIN
Der Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg.
MUSIK aus
Musik CD44593Z00
SPRECHERIN
Sie gilt seit dem sechsten Jahrhundert als eine der sieben Todsünden: die
Wollust. Sie ist eingereiht in die schweren Irrtümer der Seele, die Papst Johannes
Paul II. auch in der Moderne als Verfehlungen beschrieb, durch die „ein Mensch
bewusst und frei Gott und sein Gesetz, sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm
bietet, zurückweist“.
Doch nicht wenige Schriftsteller und Philosophen haben das Jahrhunderte lang
anders gesehen. Das gierige sexuelle Begehren – denn das ist vor allem nach
katholischer Sicht mit 'Wollust' gemeint – war für viele Denker sogar
gleichbedeutend mit dem philosophischen Erkenntnistrieb. Schon in der Antike
wird das deutlich: Bei den philosophischen Diskussionsrunden, zu denen sich
Sokrates und seine Kollegen trafen, waren oft sogenannte Flötenspielerinnen
anwesend – Prostituierte, mit denen sich die Denker bei Bedarf zurückziehen
konnten, um danach frischer und besser argumentieren zu können. Seelisches
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Begehren nach Wissen und körperliche Lust waren zu dieser Zeit noch ein und
dasselbe. Das änderte sich radikal, als die Wollust in die Schusslinie der
Kirchenväter geriet. Die „Luxuria“, so ihr lateinischer Name, hielt von einem Gott
zugewandten Leben ab, so die Augsburger Philosophin Stefanie Voigt.
Musik aus
O-TON (1) VOIGT
Der Kirchenvater Thomas von Aquin höchstpersönlich redet viel darüber und er
sieht zum Beispiel die zahlreichen Bordelle der damaligen Zeit als ein
gesellschaftlich notwendiges Übel an, vergleicht die mit den Toiletten eines
Palastes, ohne die der ganze Palast stinken würde. Ich finde das relativ
pragmatisch.
SPRECHERIN
Pragmatisch insofern, als ohne sexuelle Lust die Menschheit natürlich aussterben
würde. So schreibt Thomas von Aquin, der von 1200 bis 1280 lebte und einer
anderen Todsünde, nämlich der der Völlerei, so reichlich frönte, dass sein
Leichnam von sechs Männern die Treppe hinuntergetragen werden musste:
Musik F203141007
ZITATOR
Und wie nun die Nahrungsaufnahme ohne Sünde sein kann, wenn sie auf die
rechte Weise geschieht, das heißt zur Förderung der Gesundheit, so kann auch
die geschlechtliche Betätigung ohne jede Sünde sein, falls sie die rechte Weise
und Ordnung wahrt, indem sie dem Zweck der Zeugung dient.
Musik aus
SPRECHERIN
Ganz so ernst, wie die Kirchenoberen das Verbot der Wollust gesehen haben
wollten, nahmen es vor allem die originellsten Denker in den eigenen Reihen
selbst nicht. Bekannt ist vor allem die unglückliche Liebesgeschichte des
französischen Theologen und Philosophen Petrus Abaelardus. Er war der
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Privatlehrer von Heloise, einer Tochter aus gutem Hause. Wie dieser Unterricht im
12. Jahrhundert aussah, beschreibt er selbst so:
Musik Privat Theophanus Tanz
ZITATOR
Meine Hand hatte oft mehr an ihrem Busen zu suchen als im Buch, und statt in
den wissenschaftlichen Textbüchern zu lesen, lasen wir sehnsuchtsvoll eins in des
anderen Auge.
Musik aus
SPRECHERIN
Und auch über eine andere große Kirchenlehrerin dieser Zeit sagt die Philosophin
Stefanie Voigt:
O-TON (2) VOIGT
Bei den Texten von Frau Hildegard von Bingen, da muss man sich vor lauter
Insider-Wissen auch ein bisschen fragen: Woher hat eine Nonne im Kloster dieses
Wissen?
SPRECHERIN
Denn in ihren Schriften über die Heilkunde schreibt Hildegard von Bingen unter
anderem:
Musik CD20951010
ZITATORIN
Ist die Frau mit einem Manne vereint, dann kündigt ein lustvolles Hitzegefühl in
ihrem Gehirn den Genuss dieser Lust und den Samenerguss bei dieser
Vereinigung an. Ist der Samen an die richtige Stelle gefallen, dann zieht ihn die
erwähnte sehr starke Hitze im Gehirn an sich und hält ihn fest.
Musik aus
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SPRECHERIN
Wollust ist nach Hildegard von Bingens Auffassung eine Kraft, die heilt –
vorausgesetzt, sie wird richtig dosiert. Ein Tipp, der angesichts der heutigen
Überschwemmung mit Pornografie und dem modernen Krankheitsbild der
Sexsucht wieder aktuell wird. Hildegard von Bingen sagt auch: Wollust muss nicht
unbedingt etwas mit dem Geschlechtsakt zu tun haben. Für die Münchner
Schriftstellerin und Malerin Mariela Sartorius ist das eine Erfahrung, die nicht nur
Künstler betrifft:
O-TON (3) SARTORIUS
Ich persönlich kann wollüstig an einem Mückenstich kratzen, dass ich gar nicht
mehr aufhören möchte. Oder man kann es ausweiten in ein wunderbares
Körpergefühl. Man kann es aber auch intellektuell ausweiten. Also wenn ich mir
vorstelle, dass ich an einem meiner Bücher schreibe, und bin gerade gut drauf und
will gar nicht mehr aufhören und komme in ein wollüstiges Schreiben hinein, und
vor allem auch beim Malen, dann tauche ich den dicken Pinsel hinein und klatsche
dieses Blau auf die Leinwand, ja, das ist Wollust pur für mich.
SPRECHERIN
Wollust, so Mariela Sartorius, ist immer eine körperliche Empfindung, unabhängig
davon, ob es sich dabei um Sex dreht. Und: Zu ihr gehört eine Begabung, die uns
vollständiger macht.
O-TON (4) SARTORIUS
Ich glaube, man muss sensibel sein. Man muss feinfühlig sein und man muss
auch eine Begabung dazu haben, sich hingeben zu können – ohne ein schlechtes
Gewissen, ohne eine Moralvorstellung oder sonst was. Sich wirklich hineinfallen
lassen können in einen körperlichen Genuss.
Musik F203141007
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6
(ZITATOR
Die Menschen, die zur Wollust neigen, sind milde und barmherzig, die zur Reinheit
neigen, sind es nicht.
SPRECHERIN
Geschrieben im siebten Jahrhundert von dem griechischen Mönch und Heiligen
Johannes Klimakos.)
Musik aus
O-TON (5) SARTORIUS
An manchen Frühlingstagen, wenn es schon nach Sommer riecht und ich ins
Gebirge fahre – in einer Almwiese könnte ich mich suhlen und wälzen vor Wollust.
Aber es gehört Lebensfreude dazu und eine Bejahung.
SPRECHERIN
Die Möglichkeiten des wollüstigen Empfindens im Alltag sind zahlreich, so Mariela
Sartorius:
O-TON (6) SARTORIUS
Man fühlt sich ja dann berauscht, eben auch entgrenzt (…) wo ich dann auch fast
in einen Rausch hineinkomme, ist etwas ganz Banales, das sogenannte
Aufräumen und Ausmisten und Wegwerfen. Da kann ich nicht mehr aufhören. Alte
Schubladen, Keller, Speicher – wunderbar! Ich denke an nichts anderes mehr. Ich
mache nur noch das.
SPRECHERIN
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Bejahung des Lebens, von der
Mariela Sartorius spricht, ist die Figur der christlichen Mystikerin und Heiligen
Teresa von Ávila. Sie reformierte im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht nur den
Nonnenorden der Karmelitinnen. Sondern sie predigte eine geradezu erotisch
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geprägte Hinwendung zu Jesus Christus und sprach von der „Wollust der
Gotteserkenntnis“:
Musik Z9383689011 mit Musik F203141007
ZITATORIN
Du, Herr der Welt, mein wahrer Bräutigam – so könnt ihr ihn anreden, wenn ihr
auch Freude daran habt, ihn mit aus dem Leid eures Herzens kommenden
Gebeten anzureden, denn die schätzt er sehr hoch.
Musiken aus
SPRECHERIN
Gemeint war damit: Trockene Gebete und das Herunterleiern der Liturgie sind
lustfeindliche Übungen, die unmöglich einem Gott gefallen können, der immer auf
der Seite des Lebens stand. Dabei sprach sie oft mit Jesus wie mit einem
verständnisvollen Freund, so ihr Biograf, der Münchner Schriftsteller Alois Prinz:
O-TON (7) PRINZ
Teresa darf man nicht vereinseitigen. Sie war zwar eine Frau, die viel geschrieben
hat, die ein sehr zurückgezogenes Leben oft geführt hat. Aber gleichzeitig war sie
eine Frau, obwohl Nonne, doch sehr weiblich, die ihre erotischen, auch sexuellen
Seiten nicht negiert hat oder nicht abgetötet hat, sondern die auf diese Weise
auch ausgelebt hat. Auch wenn sie jetzt vom Orden her und von ihren Auflagen
her ja nie sexuelle Kontakte zu einem Mann hatte. Trotzdem hat sie sowohl in
ihrer Gottesbegegnung als auch in ihren tatsächlichen Begegnungen mit Männern
die sehr erotische Seite nie abgelegt, sondern sehr wohl ausgelebt.
SPRECHERIN
Als in der Neuzeit, nicht zuletzt durch die Reformation, die ewigen Wahrheiten der
Religion auf den Prüfstand geraten, beginnen sich Schriftsteller und Philosophen
zu fragen, ob sexuelle Lust, Kunst und Erkenntniswille eine Wesensgleichheit
besitzen. Einer der ersten, der in dieser Hinsicht Forschungen betreibt, ist der
französische Denker Michel de Montaigne.
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Musik Privat Barcelona Strings Bolero
Im 16. Jahrhundert unternimmt er eine ausdehnte Reise nach Italien. Was ihn
gleichzeitig schockiert und fasziniert, sind gewisse Damen, die leicht bekleidet und
für jedermann sichtbar hinter Glasscheiben sitzen. Der Philosoph geht der Sache
auf den Grund:
ZITATOR
Ich hörte mir an, was mir irgendeine der öffentlichen Damen zu erzählen wusste,
wobei ich es recht misslich fand, dass sie eine simple Unterhaltung – denn nur die
suchte ich, um sie plaudern zu hören und auf diese Art etwas von ihren raffinierten
Praktiken zu erfahren – genauso teuer verkauften und genauso knauserig damit
umgehen wie mit dem ganzen Geschäft.
Musik aus
SPRECHERIN
Das 18. Jahrhundert bringt mit der Aufklärung nicht nur eine Fülle neuer politischer
Ideen, die die Fürstenherrschaft infrage stellen, sondern auch ein kritisches
Hinterfragen kirchlicher Verbote. Die Philosophin Stefanie Voigt hat mit ihrem
Kollegen Markus Köhlerschmidt ein Buch über die philosophische Wollust
geschrieben. Sie beschreibt diese Aufbruchszeit so:
O-TON (8) VOIGT
Die ganze Welt wird technisch untersucht, wissenschaftlich untersucht und fernab
von theologischen Welterklärungen. Das Denken wird technischer, halt eben auch,
was den Sex angeht. Und dazu kommt, dass das Reden über Sex
gesellschaftsfähiger wird, wenn man sich schon ein bisschen freier mit allen
möglichen Sachen beschäftigen darf (…) Das Motto der Aufklärung ist ja (…)
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (…) Ja, natürlich kommt
dann der eine oder andere auf die Idee, sich noch ganz anderer Organe zu
bedienen (…) damit ist klar, dass dann die erotische Literatur ein
Verkaufsschlager wird.
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SPRECHERIN
Langsam aber sicher wird in diesem Zusammenhang die Wollust rehabilitiert.
Jemand, der gerne denkt und bisher Verbotenes intellektuell durchspielt, so die
Philosophen und Schriftsteller der Aufklärung, kann dies überhaupt nicht, wenn er
nicht gleichzeitig seinem Körper erlaubt, auf eine Erkenntnistour zu gehen. Das gilt
vor allem für die Frauen, die unter dem Regime der Religion am meisten zu leiden
hatten, indem ihnen jede Lust und Selbstbestimmung abgesprochen wurde. In
dieser Hinsicht platzt im Jahr 1748 eine Bombe: Anonym erscheint in Lüttich der
Roman „Thérèse philosophe“, die „Die philosophische Thérèse“. Die Titelheldin, in
prüden Verhältnissen aufgewachsen, begibt sich auf eine philosophische und
sexuelle Forschungsreise. Ihr Fazit:
Musik Privat Barcelona Strings Bolero mit Musik Z9383689011
ZITATORIN
Törichte Sterbliche! Ihr glaubt, es stehe in eurer Macht, die Leidenschaften zu
ersticken, welche die Natur euch eingepflanzt hat? Sie sind das Werk Gottes!
Wollust und Philosophie sind das Glück des sensiblen Menschen. Er umarmt die
Wollust aus Geschmack, die Philosophie aus Vernunft. Das Glück hängt von der
Beschaffenheit unserer Sexualorgane ab.
Musiken aus
O-TON (9) VOIGT
Das ist so eine Art Porno-Philosophie-Roman mit sehr viel mehr Action-Elementen
als heutzutage Shades of Grey. Auf dem Cover der Thérèse Philosophe steht
„Wollust und Philosophie sind das Glück des sensiblen Menschen. Er umarmt die
Wollust aus Geschmack und die Philosophie aus Vernunft.“ Im Detail heißt das
dann in dem Fall, dass die Titelheldin des Buches ja philosophische Erkenntnisse
bekommt (…) mittels von Sex. Sie entwickelt sich von der Unschuld vom Lande zu
einer selbstbestimmten Frau und macht da sehr viele interessante Sachen, die
damals als sehr anrüchig gelten.
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SPRECHERIN
Die Emanzipation der Frau, nicht nur in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung,
sondern auch auf ihr Recht der intellektuellen Entwicklung ist das Thema der
„Philosophischen Thérèse“. Körperliche und geistige Lust sind zwei Seiten einer
Medaille, das eine geht ohne das andere nicht. Etwa zur selben Zeit wie dieser
anonyme Roman, der bis heute als Klassiker der Frauenbefreiung gilt, schreibt der
französische Denker Julien Offray de La Mettrie sein Buch „Die Kunst, Wollust zu
empfinden“. Für ihn ist die sexuelle Lust ebenso wie das freie Spiel der Ideen ein
Menschenrecht. La Mettrie ist dabei einer der ersten männlichen Philosophen, die
die Frau als gleichberechtigte Sexualpartner sehen. Er schreibt:
Musik F203141007
ZITATOR
Allmächtige Götter! Kann es sein, dass diese wenigen Organe des Körpers für
soviel Glück ausreichen? Nein, so große Glücksgefühle können nur zur Seele
gehören, die ich aufgrund ihrer Fähigkeit zur Lust als unsterblich anerkenne.
Musik aus
O-TON (10) VOIGT
Die Menschenwürde besteht in dem Fall für La Mettrie dann darin, dass er sagt,
man soll den Partner immer so behandeln, wie man selbst behandelt werden
wolle. Erlaubt sei, was gefällt. Aber eben nur in der Verbindung mit der Liebe an
sich. Das ist also schon eine große These.
Musik Michael Francis Healey – Bolero
SPRECHERIN
Spricht man über Wollust und Philosophie im 18. Jahrhundert, so kommt man
einem Namen nicht vorbei: Giacomo Casanova. Der italienische Adelige ist zum
Inbegriff des Womanizers geworden, eine Art George Clooney oder James Bond
im Zeitalter der Aufklärung. Doch man tut Giacomo Casanova unrecht, wenn man
ihn nur auf seine zahlreichen sexuellen Abenteuer reduziert.
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Denn erstens sind seine umfangreichen Memoiren eine profunde Sozial- und
Kulturgeschichte der damaligen Zeit. Und zweitens gibt es kaum einen erotischen
Schriftsteller, der die Frauen mit einem so hohen Maß an Verehrung und Respekt
schildert, wie er es tut. Am Beginn seiner Erinnerungen heißt es:
dazu: Musik Barcelona Strings -Bolero
ZITATOR
Der Instinkt der Frauen lehrt größere Geheimnisse als alle Philosophie und
Wissenschaft der Männer. Der Kultus der Sinnenlust war mir immer die
Hauptsache, niemals hat es für mich Wichtigeres gegeben. Ich fühlte mich immer
für das andere Geschlecht geboren, daher habe ich es immer geliebt und mich
von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte.
Musiken aus
SPRECHERIN
Entgegen der landläufigen Meinung ist Casanova kein sexueller Hallodri, der
Frauen wie Gebrauchsgegenstände benutzt. Vielmehr ist er ein geschickter
Verführer, für den jede Pleite in amourösen Dingen Ansporn ist, sich noch mehr in
Philosophie und Literatur zu vertiefen. Denn den philosophischen Dialog
betrachtet Giacomo Casanova als die unabdingbare Voraussetzung für jeden
Liebesakt. Dumme oder oberflächliche Damen interessieren ihn nicht. Und
natürlich ist das Hausieren mit seinen philosophischen Kenntnissen auch ein
Stück weit die Taktik eines gewieften Liebhabers, der nicht nur durch seine
Körperlichkeit beeindrucken will, so Stefanie Voigt.
O-TON (11) VOIGT
Casanova ist der Einzige, der dezidiert die Philosophie so sehr für diese Zwecke
nutzt. Er kann es. Er ist ja auch von Haus aus gelernter Philosoph, studierter Jurist
und Doktor beider Rechte, hat also von daher auch das rhetorische Rüstzeug für
diese Funktionalisierung von Philosophie. Und darum argumentiert er ja (…), dass
der Sex im Kopf beginnt, ebenso wie die Philosophie.
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SPRECHERIN
Neben vielen Episoden im Leben Giacomo Casanovas ist eine besonders kurios:
Vom Papst wird er zum Ritter eines Ordens geschlagen und bekommt dadurch die
Erlaubnis, in Kirchen mit dem Pferd einzureiten – wie übrigens auch zwei
Jahrhunderte später der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer.
Pikanterweise lautete Casanovas Titel fortan: „Ritter vom Goldenen Sporn“.
Musik Barcelona Strings -Bolero
SPRECHERIN
Doch nicht alle Denker sind auf Frauen und die Wollust so gut zu sprechen wie
Giacomo Casanova oder La Mettrie. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard
etwa, immerhin Autor eines „Tagebuchs des Verführers“ ist in dieser Beziehung
ein interessanter Fall. Er war Mitte des 19. Jahrhunderts jahrelang im prüden
Kopenhagen mit einer Frau verlobt und konnte sich einfach nicht entschließen zu
heiraten. Grund dafür war unter anderem seine Ansicht, dass es eine Frau war,
die durch ihre Erkenntnislust das Elend der Menschheit begründet hatte. Nach Art
eines waschechten Machos schreibt Sören Kierkegaard:
dazu: Musik CD 44593Z00
ZITATOR
Der Mensch war kaum erschaffen, da finden wir schon Eva als Zuhörerin bei den
philosophischen Vorlesungen der Schlange. Diese Anlage für das Spekulative und
den damit verbundenen Drang zu tiefer Einsicht hat man im Orient zu befrieden
versucht, denn deshalb sperrte man die Frauen in Serails.
Musiken aus
SPRECHERIN
Sören Kierkegaards höchst merkwürdige Einstellung zu Frauen basiert auch auf
einer Empfindung, die wie kaum eine andere zur Philosophie des dänischen
Denkers gehört: Es ist das existenzielle Gefühl der Angst, das sich bei ihm auch
dann einstellt, wenn er es mit dem weiblichen Geschlecht zu tun bekommt. Die
Augsburger Philosophin Stefanie beschreibt es so:
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O-TON (12) VOIGT
Angst ist für Kierkegaard das Begehren dessen, was man eigentlich fürchtet. Und
Furcht empfindet der rationale Mensch vor allem dann, wenn er irgendwie
überwältigt wird. Also wenn ihn z. B. die Wollust überflutet und
unzurechnungsfähig macht. Das Gleiche gilt dann auch für andere
Problembereiche wie Orgasmus, Empfängnis oder Geburt. Allein schon aber auch
erotische Fantasien machen Kierkegaard Angst, denn die überschreiten
gedankliche Grenzen und damit beherrscht dann das Fleisch den Geist und das
mag Kierkegaard dann irgendwie gar nicht, weil, es macht ihn unfrei.
SPRECHERIN
War Sören Kierkegaard noch relativ moderat, was die Gleichsetzung weiblicher
Sexualität mit der Angst machenden Wollust betrifft, so lesen sich etwa zur
gleichen Zeit einige Passagen des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer
wie das skurrile Gekeife eines eingefleischten Frauenfeinds. Im Zuge seiner
Tiraden behauptete er, dass der einzige Mensch, der nicht ohne Frauen
auskommt, der Frauenarzt sei – wohlgemerkt, Arthur Schopenhauer war nicht
homosexuell. An anderer Stelle schreibt er:
Musik Barcelona Strings -Bolero
ZITATOR
In unserem Weltteile heißt heiraten seine Rechte halbieren und seine Pflichten
verdoppeln. Als die Gesetze den Weibern gleiche Rechte mit den Männern
einräumten, hätten sie ihnen auch eine männliche Vernunft verleihen sollen.
Musik aus
SPRECHERIN
Die Philosophie Arthur Schopenhauers ist pessimistisch. In der Wollust wird dabei
für ihn deutlich, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind. Lange vor Sigmund
Freud untersucht er die instinktgesteuerten Impulse der Wollust. Sie mache uns zu
Sklaven unseres Willens, der uns von intellektuellen Leistungen abhält. Trotzdem
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ist Arthur Schopenhauer kein Kostverächter: Im Laufe seines Lebens war er nie
verheiratet, hatte aber zahlreiche Affären. Den Grund dafür beschreibt er
philosophisch:
Musik CD44593Z00
ZITATOR
Wenn man sich frägt, wo denn die intimste Kenntnis des Wesens der Welt, das ich
den Willen zum Leben genannt habe, zu erlangen sei, oder die reinste
Offenbarung seiner selbst erlangt – so muss ich hinweisen auf die Wollust im Akt
der Kopulation. Das ist es!
Musik aus
O-TON (13) VOIGT
Schopenhauer meint (…) dass die Wollust der stärkste und der tätigste aller
Triebe und Leidenschaften sei. Und damit halt auch unsichtbarer Mittelpunkt alles
Tuns und Treibens, wie er schreibt. Also jeder Witz, jede Anspielung, jeder
Vorgang im Weltgeschehen (…) alles ist für ihn so was wie ein unbewusster
Ausdruck dieses Willens zum Sex (…) am bewusstesten erkennt man laut
Schopenhauer seinen eigentlichen unbewussten Willen dann beim Sex (…)
MUSIK Privat Shutter - Bolero
SPRECHERIN
Die Betrachtung der Wollust mit den Augen der Philosophie ist so alt wie das
menschliche Denken.
Selbst durch die Verbote des Mittelalters und die Prüderie des 19. Jahrhunderts
konnte die intellektuelle Beschäftigung mit der Fleischeslust niemals vollständig
ausgerottet werden. Und heute? Der Verdacht liegt nahe, dass die Wollust auf der
Strecke geblieben ist – so sieht es jedenfalls die Münchner Künstlerin Mariela
Sartorius:
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O-TON (14) SARTORIUS
Warum das heutzutage nicht so gut klappt, mein Gott, schauen Sie sich doch die
jungen Leute an. Junge Frauen vor allem, Karrierefrauen, sie haben nur noch ein
Thema, das ist die körperliche Fitness und die Kontrolle und der berufliche
Aufstieg . Wollüstig kann (…) eigentlich nur jemand sein, der ein ungeheures
Selbstbewusstsein hat, der sich sagt: selbst wenn ich in eine Entgrenzung komme
oder Kontrolle verliere, na und?
SPRECHERIN
Dieses Selbstbewusstsein kann optimistisch stimmen und auch den Menschen
des 21. Jahrhunderts davor bewahren, dass die schönste Todsünde zu einem
Gebrauchsartikel verkommt, der per Mausklick über einschlägige Internet-Portale
zu haben ist. Die unmittelbare Erfahrung, der Kitzel und die Kreativität der
gegenseitigen Verführung werden so schnell nicht aussterben.
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