1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 06.05.2015 09.05 Uhr / B 2 AUFNAHME: STUDIO: ETHIK, RELIGION, PHILOSOPHIE Ab 9. Schuljahr TITEL: Wollust Die schönste Todsünde AUTOR: Michael Reitz REDAKTION: Bernhard Kastner REGIE: Frank Halbach TECHNIK: Regina Staerke PERSONEN: Sprecherin Christiane Roßbach Zitator Wolfgang Pregler Zitatorin Katja Amberger Zuspielungen Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 Musik F203141007 ZITATOR Einzig der Mensch ist wirklicher Lust fähig, denn er ist mit der Fähigkeit des Denkens gesegnet, er nimmt die Lust gedanklich vorweg. SPRECHERIN Der italienische Adelige und Philosoph Giacomo Casanova in seinen Memoiren. ZITATOR Jedermann sollte wenigstens soviel Philosophie studieren als nötig ist, um sich die Wollust angenehmer zu machen. SPRECHERIN Der Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg. MUSIK aus Musik CD44593Z00 SPRECHERIN Sie gilt seit dem sechsten Jahrhundert als eine der sieben Todsünden: die Wollust. Sie ist eingereiht in die schweren Irrtümer der Seele, die Papst Johannes Paul II. auch in der Moderne als Verfehlungen beschrieb, durch die „ein Mensch bewusst und frei Gott und sein Gesetz, sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm bietet, zurückweist“. Doch nicht wenige Schriftsteller und Philosophen haben das Jahrhunderte lang anders gesehen. Das gierige sexuelle Begehren – denn das ist vor allem nach katholischer Sicht mit 'Wollust' gemeint – war für viele Denker sogar gleichbedeutend mit dem philosophischen Erkenntnistrieb. Schon in der Antike wird das deutlich: Bei den philosophischen Diskussionsrunden, zu denen sich Sokrates und seine Kollegen trafen, waren oft sogenannte Flötenspielerinnen anwesend – Prostituierte, mit denen sich die Denker bei Bedarf zurückziehen konnten, um danach frischer und besser argumentieren zu können. Seelisches Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 Begehren nach Wissen und körperliche Lust waren zu dieser Zeit noch ein und dasselbe. Das änderte sich radikal, als die Wollust in die Schusslinie der Kirchenväter geriet. Die „Luxuria“, so ihr lateinischer Name, hielt von einem Gott zugewandten Leben ab, so die Augsburger Philosophin Stefanie Voigt. Musik aus O-TON (1) VOIGT Der Kirchenvater Thomas von Aquin höchstpersönlich redet viel darüber und er sieht zum Beispiel die zahlreichen Bordelle der damaligen Zeit als ein gesellschaftlich notwendiges Übel an, vergleicht die mit den Toiletten eines Palastes, ohne die der ganze Palast stinken würde. Ich finde das relativ pragmatisch. SPRECHERIN Pragmatisch insofern, als ohne sexuelle Lust die Menschheit natürlich aussterben würde. So schreibt Thomas von Aquin, der von 1200 bis 1280 lebte und einer anderen Todsünde, nämlich der der Völlerei, so reichlich frönte, dass sein Leichnam von sechs Männern die Treppe hinuntergetragen werden musste: Musik F203141007 ZITATOR Und wie nun die Nahrungsaufnahme ohne Sünde sein kann, wenn sie auf die rechte Weise geschieht, das heißt zur Förderung der Gesundheit, so kann auch die geschlechtliche Betätigung ohne jede Sünde sein, falls sie die rechte Weise und Ordnung wahrt, indem sie dem Zweck der Zeugung dient. Musik aus SPRECHERIN Ganz so ernst, wie die Kirchenoberen das Verbot der Wollust gesehen haben wollten, nahmen es vor allem die originellsten Denker in den eigenen Reihen selbst nicht. Bekannt ist vor allem die unglückliche Liebesgeschichte des französischen Theologen und Philosophen Petrus Abaelardus. Er war der Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Privatlehrer von Heloise, einer Tochter aus gutem Hause. Wie dieser Unterricht im 12. Jahrhundert aussah, beschreibt er selbst so: Musik Privat Theophanus Tanz ZITATOR Meine Hand hatte oft mehr an ihrem Busen zu suchen als im Buch, und statt in den wissenschaftlichen Textbüchern zu lesen, lasen wir sehnsuchtsvoll eins in des anderen Auge. Musik aus SPRECHERIN Und auch über eine andere große Kirchenlehrerin dieser Zeit sagt die Philosophin Stefanie Voigt: O-TON (2) VOIGT Bei den Texten von Frau Hildegard von Bingen, da muss man sich vor lauter Insider-Wissen auch ein bisschen fragen: Woher hat eine Nonne im Kloster dieses Wissen? SPRECHERIN Denn in ihren Schriften über die Heilkunde schreibt Hildegard von Bingen unter anderem: Musik CD20951010 ZITATORIN Ist die Frau mit einem Manne vereint, dann kündigt ein lustvolles Hitzegefühl in ihrem Gehirn den Genuss dieser Lust und den Samenerguss bei dieser Vereinigung an. Ist der Samen an die richtige Stelle gefallen, dann zieht ihn die erwähnte sehr starke Hitze im Gehirn an sich und hält ihn fest. Musik aus Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 SPRECHERIN Wollust ist nach Hildegard von Bingens Auffassung eine Kraft, die heilt – vorausgesetzt, sie wird richtig dosiert. Ein Tipp, der angesichts der heutigen Überschwemmung mit Pornografie und dem modernen Krankheitsbild der Sexsucht wieder aktuell wird. Hildegard von Bingen sagt auch: Wollust muss nicht unbedingt etwas mit dem Geschlechtsakt zu tun haben. Für die Münchner Schriftstellerin und Malerin Mariela Sartorius ist das eine Erfahrung, die nicht nur Künstler betrifft: O-TON (3) SARTORIUS Ich persönlich kann wollüstig an einem Mückenstich kratzen, dass ich gar nicht mehr aufhören möchte. Oder man kann es ausweiten in ein wunderbares Körpergefühl. Man kann es aber auch intellektuell ausweiten. Also wenn ich mir vorstelle, dass ich an einem meiner Bücher schreibe, und bin gerade gut drauf und will gar nicht mehr aufhören und komme in ein wollüstiges Schreiben hinein, und vor allem auch beim Malen, dann tauche ich den dicken Pinsel hinein und klatsche dieses Blau auf die Leinwand, ja, das ist Wollust pur für mich. SPRECHERIN Wollust, so Mariela Sartorius, ist immer eine körperliche Empfindung, unabhängig davon, ob es sich dabei um Sex dreht. Und: Zu ihr gehört eine Begabung, die uns vollständiger macht. O-TON (4) SARTORIUS Ich glaube, man muss sensibel sein. Man muss feinfühlig sein und man muss auch eine Begabung dazu haben, sich hingeben zu können – ohne ein schlechtes Gewissen, ohne eine Moralvorstellung oder sonst was. Sich wirklich hineinfallen lassen können in einen körperlichen Genuss. Musik F203141007 Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 (ZITATOR Die Menschen, die zur Wollust neigen, sind milde und barmherzig, die zur Reinheit neigen, sind es nicht. SPRECHERIN Geschrieben im siebten Jahrhundert von dem griechischen Mönch und Heiligen Johannes Klimakos.) Musik aus O-TON (5) SARTORIUS An manchen Frühlingstagen, wenn es schon nach Sommer riecht und ich ins Gebirge fahre – in einer Almwiese könnte ich mich suhlen und wälzen vor Wollust. Aber es gehört Lebensfreude dazu und eine Bejahung. SPRECHERIN Die Möglichkeiten des wollüstigen Empfindens im Alltag sind zahlreich, so Mariela Sartorius: O-TON (6) SARTORIUS Man fühlt sich ja dann berauscht, eben auch entgrenzt (…) wo ich dann auch fast in einen Rausch hineinkomme, ist etwas ganz Banales, das sogenannte Aufräumen und Ausmisten und Wegwerfen. Da kann ich nicht mehr aufhören. Alte Schubladen, Keller, Speicher – wunderbar! Ich denke an nichts anderes mehr. Ich mache nur noch das. SPRECHERIN Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Bejahung des Lebens, von der Mariela Sartorius spricht, ist die Figur der christlichen Mystikerin und Heiligen Teresa von Ávila. Sie reformierte im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht nur den Nonnenorden der Karmelitinnen. Sondern sie predigte eine geradezu erotisch Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Dabei sprach sie oft mit Jesus wie mit einem verständnisvollen Freund, so ihr Biograf, der Münchner Schriftsteller Alois Prinz: O-TON (7) PRINZ Teresa darf man nicht vereinseitigen. Sie war zwar eine Frau, die viel geschrieben hat, die ein sehr zurückgezogenes Leben oft geführt hat. Aber gleichzeitig war sie eine Frau, obwohl Nonne, doch sehr weiblich, die ihre erotischen, auch sexuellen Seiten nicht negiert hat oder nicht abgetötet hat, sondern die auf diese Weise auch ausgelebt hat. Auch wenn sie jetzt vom Orden her und von ihren Auflagen her ja nie sexuelle Kontakte zu einem Mann hatte. Trotzdem hat sie sowohl in ihrer Gottesbegegnung als auch in ihren tatsächlichen Begegnungen mit Männern die sehr erotische Seite nie abgelegt, sondern sehr wohl ausgelebt. SPRECHERIN Als in der Neuzeit, nicht zuletzt durch die Reformation, die ewigen Wahrheiten der Religion auf den Prüfstand geraten, beginnen sich Schriftsteller und Philosophen zu fragen, ob sexuelle Lust, Kunst und Erkenntniswille eine Wesensgleichheit besitzen. Einer der ersten, der in dieser Hinsicht Forschungen betreibt, ist der französische Denker Michel de Montaigne. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 8 Musik Privat Barcelona Strings Bolero Im 16. Jahrhundert unternimmt er eine ausdehnte Reise nach Italien. Was ihn gleichzeitig schockiert und fasziniert, sind gewisse Damen, die leicht bekleidet und für jedermann sichtbar hinter Glasscheiben sitzen. Der Philosoph geht der Sache auf den Grund: ZITATOR Ich hörte mir an, was mir irgendeine der öffentlichen Damen zu erzählen wusste, wobei ich es recht misslich fand, dass sie eine simple Unterhaltung – denn nur die suchte ich, um sie plaudern zu hören und auf diese Art etwas von ihren raffinierten Praktiken zu erfahren – genauso teuer verkauften und genauso knauserig damit umgehen wie mit dem ganzen Geschäft. Musik aus SPRECHERIN Das 18. Jahrhundert bringt mit der Aufklärung nicht nur eine Fülle neuer politischer Ideen, die die Fürstenherrschaft infrage stellen, sondern auch ein kritisches Hinterfragen kirchlicher Verbote. Die Philosophin Stefanie Voigt hat mit ihrem Kollegen Markus Köhlerschmidt ein Buch über die philosophische Wollust geschrieben. Sie beschreibt diese Aufbruchszeit so: O-TON (8) VOIGT Die ganze Welt wird technisch untersucht, wissenschaftlich untersucht und fernab von theologischen Welterklärungen. Das Denken wird technischer, halt eben auch, was den Sex angeht. Und dazu kommt, dass das Reden über Sex gesellschaftsfähiger wird, wenn man sich schon ein bisschen freier mit allen möglichen Sachen beschäftigen darf (…) Das Motto der Aufklärung ist ja (…) „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (…) Ja, natürlich kommt dann der eine oder andere auf die Idee, sich noch ganz anderer Organe zu bedienen (…) damit ist klar, dass dann die erotische Literatur ein Verkaufsschlager wird. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Die Titelheldin, in prüden Verhältnissen aufgewachsen, begibt sich auf eine philosophische und sexuelle Forschungsreise. Ihr Fazit: Musik Privat Barcelona Strings Bolero mit Musik Z9383689011 ZITATORIN Törichte Sterbliche! Ihr glaubt, es stehe in eurer Macht, die Leidenschaften zu ersticken, welche die Natur euch eingepflanzt hat? Sie sind das Werk Gottes! Wollust und Philosophie sind das Glück des sensiblen Menschen. Er umarmt die Wollust aus Geschmack, die Philosophie aus Vernunft. Das Glück hängt von der Beschaffenheit unserer Sexualorgane ab. Musiken aus O-TON (9) VOIGT Das ist so eine Art Porno-Philosophie-Roman mit sehr viel mehr Action-Elementen als heutzutage Shades of Grey. Auf dem Cover der Thérèse Philosophe steht „Wollust und Philosophie sind das Glück des sensiblen Menschen. Er umarmt die Wollust aus Geschmack und die Philosophie aus Vernunft.“ Im Detail heißt das dann in dem Fall, dass die Titelheldin des Buches ja philosophische Erkenntnisse bekommt (…) mittels von Sex. Sie entwickelt sich von der Unschuld vom Lande zu einer selbstbestimmten Frau und macht da sehr viele interessante Sachen, die damals als sehr anrüchig gelten. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 SPRECHERIN Die Emanzipation der Frau, nicht nur in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch auf ihr Recht der intellektuellen Entwicklung ist das Thema der „Philosophischen Thérèse“. Körperliche und geistige Lust sind zwei Seiten einer Medaille, das eine geht ohne das andere nicht. Etwa zur selben Zeit wie dieser anonyme Roman, der bis heute als Klassiker der Frauenbefreiung gilt, schreibt der französische Denker Julien Offray de La Mettrie sein Buch „Die Kunst, Wollust zu empfinden“. Für ihn ist die sexuelle Lust ebenso wie das freie Spiel der Ideen ein Menschenrecht. La Mettrie ist dabei einer der ersten männlichen Philosophen, die die Frau als gleichberechtigte Sexualpartner sehen. Er schreibt: Musik F203141007 ZITATOR Allmächtige Götter! Kann es sein, dass diese wenigen Organe des Körpers für soviel Glück ausreichen? Nein, so große Glücksgefühle können nur zur Seele gehören, die ich aufgrund ihrer Fähigkeit zur Lust als unsterblich anerkenne. Musik aus O-TON (10) VOIGT Die Menschenwürde besteht in dem Fall für La Mettrie dann darin, dass er sagt, man soll den Partner immer so behandeln, wie man selbst behandelt werden wolle. Erlaubt sei, was gefällt. Aber eben nur in der Verbindung mit der Liebe an sich. Das ist also schon eine große These. Musik Michael Francis Healey – Bolero SPRECHERIN Spricht man über Wollust und Philosophie im 18. Jahrhundert, so kommt man einem Namen nicht vorbei: Giacomo Casanova. Der italienische Adelige ist zum Inbegriff des Womanizers geworden, eine Art George Clooney oder James Bond im Zeitalter der Aufklärung. Doch man tut Giacomo Casanova unrecht, wenn man ihn nur auf seine zahlreichen sexuellen Abenteuer reduziert. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 Denn erstens sind seine umfangreichen Memoiren eine profunde Sozial- und Kulturgeschichte der damaligen Zeit. Und zweitens gibt es kaum einen erotischen Schriftsteller, der die Frauen mit einem so hohen Maß an Verehrung und Respekt schildert, wie er es tut. Am Beginn seiner Erinnerungen heißt es: dazu: Musik Barcelona Strings -Bolero ZITATOR Der Instinkt der Frauen lehrt größere Geheimnisse als alle Philosophie und Wissenschaft der Männer. Der Kultus der Sinnenlust war mir immer die Hauptsache, niemals hat es für mich Wichtigeres gegeben. Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren, daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte. Musiken aus SPRECHERIN Entgegen der landläufigen Meinung ist Casanova kein sexueller Hallodri, der Frauen wie Gebrauchsgegenstände benutzt. Vielmehr ist er ein geschickter Verführer, für den jede Pleite in amourösen Dingen Ansporn ist, sich noch mehr in Philosophie und Literatur zu vertiefen. Denn den philosophischen Dialog betrachtet Giacomo Casanova als die unabdingbare Voraussetzung für jeden Liebesakt. Dumme oder oberflächliche Damen interessieren ihn nicht. Und natürlich ist das Hausieren mit seinen philosophischen Kenntnissen auch ein Stück weit die Taktik eines gewieften Liebhabers, der nicht nur durch seine Körperlichkeit beeindrucken will, so Stefanie Voigt. O-TON (11) VOIGT Casanova ist der Einzige, der dezidiert die Philosophie so sehr für diese Zwecke nutzt. Er kann es. Er ist ja auch von Haus aus gelernter Philosoph, studierter Jurist und Doktor beider Rechte, hat also von daher auch das rhetorische Rüstzeug für diese Funktionalisierung von Philosophie. Und darum argumentiert er ja (…), dass der Sex im Kopf beginnt, ebenso wie die Philosophie. Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard etwa, immerhin Autor eines „Tagebuchs des Verführers“ ist in dieser Beziehung ein interessanter Fall. Er war Mitte des 19. Jahrhunderts jahrelang im prüden Kopenhagen mit einer Frau verlobt und konnte sich einfach nicht entschließen zu heiraten. Grund dafür war unter anderem seine Ansicht, dass es eine Frau war, die durch ihre Erkenntnislust das Elend der Menschheit begründet hatte. Nach Art eines waschechten Machos schreibt Sören Kierkegaard: dazu: Musik CD 44593Z00 ZITATOR Der Mensch war kaum erschaffen, da finden wir schon Eva als Zuhörerin bei den philosophischen Vorlesungen der Schlange. Diese Anlage für das Spekulative und den damit verbundenen Drang zu tiefer Einsicht hat man im Orient zu befrieden versucht, denn deshalb sperrte man die Frauen in Serails. Musiken aus SPRECHERIN Sören Kierkegaards höchst merkwürdige Einstellung zu Frauen basiert auch auf einer Empfindung, die wie kaum eine andere zur Philosophie des dänischen Denkers gehört: Es ist das existenzielle Gefühl der Angst, das sich bei ihm auch dann einstellt, wenn er es mit dem weiblichen Geschlecht zu tun bekommt. Die Augsburger Philosophin Stefanie beschreibt es so: Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 O-TON (12) VOIGT Angst ist für Kierkegaard das Begehren dessen, was man eigentlich fürchtet. Und Furcht empfindet der rationale Mensch vor allem dann, wenn er irgendwie überwältigt wird. Also wenn ihn z. B. die Wollust überflutet und unzurechnungsfähig macht. Das Gleiche gilt dann auch für andere Problembereiche wie Orgasmus, Empfängnis oder Geburt. Allein schon aber auch erotische Fantasien machen Kierkegaard Angst, denn die überschreiten gedankliche Grenzen und damit beherrscht dann das Fleisch den Geist und das mag Kierkegaard dann irgendwie gar nicht, weil, es macht ihn unfrei. SPRECHERIN War Sören Kierkegaard noch relativ moderat, was die Gleichsetzung weiblicher Sexualität mit der Angst machenden Wollust betrifft, so lesen sich etwa zur gleichen Zeit einige Passagen des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer wie das skurrile Gekeife eines eingefleischten Frauenfeinds. Im Zuge seiner Tiraden behauptete er, dass der einzige Mensch, der nicht ohne Frauen auskommt, der Frauenarzt sei – wohlgemerkt, Arthur Schopenhauer war nicht homosexuell. An anderer Stelle schreibt er: Musik Barcelona Strings -Bolero ZITATOR In unserem Weltteile heißt heiraten seine Rechte halbieren und seine Pflichten verdoppeln. Als die Gesetze den Weibern gleiche Rechte mit den Männern einräumten, hätten sie ihnen auch eine männliche Vernunft verleihen sollen. Musik aus SPRECHERIN Die Philosophie Arthur Schopenhauers ist pessimistisch. In der Wollust wird dabei für ihn deutlich, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind. Lange vor Sigmund Freud untersucht er die instinktgesteuerten Impulse der Wollust. Sie mache uns zu Sklaven unseres Willens, der uns von intellektuellen Leistungen abhält. Trotzdem Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Und damit halt auch unsichtbarer Mittelpunkt alles Tuns und Treibens, wie er schreibt. Also jeder Witz, jede Anspielung, jeder Vorgang im Weltgeschehen (…) alles ist für ihn so was wie ein unbewusster Ausdruck dieses Willens zum Sex (…) am bewusstesten erkennt man laut Schopenhauer seinen eigentlichen unbewussten Willen dann beim Sex (…) MUSIK Privat Shutter - Bolero SPRECHERIN Die Betrachtung der Wollust mit den Augen der Philosophie ist so alt wie das menschliche Denken. Selbst durch die Verbote des Mittelalters und die Prüderie des 19. Jahrhunderts konnte die intellektuelle Beschäftigung mit der Fleischeslust niemals vollständig ausgerottet werden. Und heute? Der Verdacht liegt nahe, dass die Wollust auf der Strecke geblieben ist – so sieht es jedenfalls die Münchner Künstlerin Mariela Sartorius: Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Jahrhunderts davor bewahren, dass die schönste Todsünde zu einem Gebrauchsartikel verkommt, der per Mausklick über einschlägige Internet-Portale zu haben ist. Die unmittelbare Erfahrung, der Kitzel und die Kreativität der gegenseitigen Verführung werden so schnell nicht aussterben. Musik aus Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de