Predigt zu Mt 20, 20 - 28

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Gottesdienst vom 16.3.2014 in der Peterskirche zu Mt 20, 20 - 28
Pfr. Dr. theol. Luzius Müller, reformiertes Pfarramt beider Basel an der Universität
Matthäus 20, 20 – 28
20Da kam die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen zu ihm, fiel vor ihm nieder
und wollte ihn um etwas bitten.
21Er sagte zu ihr: Was willst du? Sie sagt zu ihm: Sag, dass diese meine beiden Söhne in
deinem Reich sitzen werden, einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken. 22Jesus
aber antwortete: Ihr wisst nicht, worum ihr bittet! Könnt ihr den Kelch trinken, den ich
trinken werde? Sie sagen zu ihm: Wir können es. 23Er sagt zu ihnen: Meinen Kelch zwar
werdet ihr trinken, aber über den Platz zu meiner Rechten und Linken zu verfügen, steht mir
nicht zu, sondern er wird denen zuteil, für die er von meinem Vater bereitet ist. 24Als die
zehn das hörten, wurden sie immer unwilliger über die beiden Brüder. 25Jesus aber rief sie zu
sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre
Macht gegen sie einsetzen. 26Unter euch soll es nicht so sein, sondern: Wer unter euch gross
sein will, sei euer Diener, 27und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht, 28so wie
der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und
sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.
Predigt
„Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre Macht gegen sie
einsetzen.“
Liebe Gemeinde,
diese Worte sind beinahe 2000 Jahre alt und scheinen doch in den vergangenen Wochen und
Monaten eine besondere Brisanz erhalten zu haben. Es sind die Nachrichten aus Osteuropa,
welche uns die Aktualität dieses Verses verdeutlichen. Es waren aber auch Meldungen aus
unserer nächsten Umgebung. Sie berichteten zwar von weit geringfügigeren Missständen, die
mich aber dennoch in Verwunderung versetzten.
Das Jesus-Wort aus Vers 25 unseres Predigttextes wundert sich nicht über die Art wie
Herrscher ihre Macht ausüben. Es verweist im Gegenteil auf die Normalität dieser Ereignisse:
Ich wisst, wie es bei den Herrschern der Völker ist.
Das ist eine etwas zu pessimistische Sicht der Dinge: Schon in der Antike existierten
Vorstellungen über den guten Herrscher, der ein Diener und Wohltäter seiner Untertanen ist,
und so auch heute.
Das Interesse unseres Predigttextes liegt aber eigentlich gar nicht bei den politischen
Herrschaftsverhältnissen der Völker. Die Worte Jesu thematisieren vielmehr die Verhältnisse
in der christlichen Gemeinde: „Unter Euch soll es nicht so sein.“, nicht so wie bei den
Herrschern der Völker.
Meine Predigt darf also – will sie den zugrundeliegenden Text ernst nehmen – nicht zu einem
Lamento über die Zustände in der Politik verkommen. Es muss um die Ordnungen in der
christlichen Gemeinde gehen: Wie halten es Christinnen und Christen untereinander?
„ Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, 27und wer unter euch der Erste sein will, sei
euer Knecht.“
Das sind paradoxe Formulierungen, deren Verständnis nicht einfach ist.
Lassen sie uns dem Text Stück für Stück nachgehen und so auch die Vorgeschichte dieser
Aussage Jesu zu Kenntnis nehmen.
„20Da kam die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen zu ihm, fiel vor ihm nieder
und wollte ihn um etwas bitten.“
Im Markusevangelium werden die Söhne des Zebedäus selbst bei Jesus vorstellig. Matthäus
kannte vermutlich das Markusevangelium und hat kleine Änderungen an der Vorlage des
Markus vorgenommen: Er schickt die Mutter von Johannes und Jakobus vor, die Jesus bittet:
„Sag, dass diese meine beiden Söhne in deinem Reich sitzen werden, einer zu deiner Rechten
und einer zu deiner Linken.“ Die Plätze rechts und links neben dem Herrn galten als
Ehrenplätze.
Der Kirchenvater Hieronimus anerkennt in seinem Kommentar dieses Textes den affectus
pietatis (frommen Antrieb) der Frau, tadelt aber zugleich ihren mütterlichen Übereifer. Mit
Hieronimus ahnen wir, dass das Ansinnen der Mutter als anmassendes Streben nach Grösse
und Geltung kein Gehör finden wird.
Wiewohl Matthäus zwar die Mutter als Bittstellerin eingeführt hat, ergeht Jesu Antwort direkt
an die beiden Brüder, als ob diese nun als die eigentlichen Anstifter erkannt würden.
„Ihr wisst nicht, worum ihr bittet! Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?“
Von welchem Kelch ist hier die Rede? Wer im Himmelreich neben dem Herrn sitzt, wird
auch aus seinem Kelch trinken. Dem Bilde folgend geht es hier vorerst um das Ehrenrecht mit
dem Hausherrn an dessen Tafel zu sitzen und aus dem Kelch zu trinken, den dieser seinen
Gästen herumreicht, wie das bei einem Gastmahl, einem Symposion, üblich war.
Das Bild vom Kelch erhält aber in den Worten Jesu zugleich einen ganz anderen Sinn: Der
Kelch steht für das besondere Geschick und Ergehen Jesu. Der Jesus des
Matthäusevangeliums wird im Garten Getsemani kurz vor seiner Festnahme selbst angstvoll
beten: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ (Mt 26, 39)
Der ehrenvolle Kelch des Gastmahles Jesu ist also zugleich der bittere Kelch seines
Leidensweges ans Kreuz. Im Bild des Kelches ist die Paradoxie der Verse 26 und 27 schon
angelegt: Der Kelch ist Zeichen der Ehre und der Erniedrigung zugleich. „Wer unter euch
gross sein will, sei euer Diener.“
Beinahe übereifrig beteuern die beiden Jünger: „Wir können es“, wir können Deinen Kelch
trinken.
Jakobus starb tatsächlich selbst den Märtyrertod vermutlich um 44. n.Chr.; so berichten es die
Überlieferung der alten Kirche. Unser Predigttext wird einige Jahrzehnte nach dem Tod des
Jakobus abgefasst. Wir müssen annehmen, in dieser Antwort der beiden Jünger „Wir können
es“ werde an das Martyrium des Jakobus erinnert.
Der in den vergangenen Jahren zu neuer Bekanntheit gekommene Jakobsweg nach Santiago
de Compostela ehrt eben diesen Jakobus, Sohn des Zebedäus, Jünger Jesu und einer der ersten
Märtyrer des Christentums.
Von seinem Bruder Johannes heisst es in einer Legende aus dem 2. Jh. n. Chr., er wäre zwar
zum Zweck seiner Hinrichtung in siedendes Öl getaucht worden, hätte aber wunderbarerweise
keinen Schaden genommen, sodass er schliesslich in hohem Alter eines natürlichen Todes
gestorben sei.
Kommen wir zurück zu unserem Text: Der Jesus des Matthäusevangeliums antwortet den
Brüdern, die ihre Bereitschaft bekunden:
„Meinen Kelch zwar werdet ihr trinken“ und bestätigt so, dass auch den Söhnen des Zebedäus
– oder zumindest Jakobus – wie ihm selbst der gewaltsame Tod bevorstehe. Er fährt jedoch
fort: „aber über den Platz zu meiner Rechten und Linken zu verfügen, steht mir nicht zu,
sondern er wird denen zuteil, für die er von meinem Vater bereitet ist.“
Dem Vater stehe es zu, über die Plätze an der himmlischen Tafel zu bestimmen, nicht dem
Sohn.
Dieser Satz hat in der alten Kirche einiges Kopfzerbrechen ausgelöst. Es ging dabei um den
sogenannt trinitarischen Streit, um die Frage, wie sich denn eigentlich die göttlichen Figuren
Vater und Sohn zueinander verhielten. Augustinus und andere Theologen wollten den Sohn
auf der gleichen Herrschaftsstufe wie den Vater wissen, um die Einheit von Vater und Sohn
zu sichern und so letztlich den Monotheismus des Christentums, den Glauben an nur einen
Gott, zu retten: Der Vater und der Sohn seien wesensgleich, seien also eins.
Unser Vers deutet eine Subordination, eine Unterordnung des Sohnes unter den Vater an.
Unser Vers bot den Gegnern der Lehre von der Wesensgleichheit von Vater und Sohn ein
starkes Argument.
Diese trinitarischen Fragen sind heute eher von historischem Interesse. Wir können ihre
Bedeutung für den christlichen Glauben wohl nachvollziehen, es sind dennoch nicht mehr
unsere Fragen.
Matthäus seinerseits hatte diese trinitarischen Probleme noch nicht im Blick, weil es die
Trinitätslehre noch gar nicht gab: Er identifizierte zwar Jesus Christus mit Gott, indem er ihn
am Anfang seines Evangeliums als Immanuel – Gott mit uns – einführt. Er ordnet Jesus
Christus aber selbstverständlich dem Vater unter. Der Vater bestimme, wer an der königlichen
Tafel wo sitze, wie auch nur der Vater wisse, wann der grosse Tag des Gottesreiches komme
(Mt 24, 36).
Die Hoheit und Würde Jesu Christi ergibt sich im Matthäusevangelium aus dem Begriff Sohn
Gottes; dieser Begriff begründet aber bei Matthäus zugleich die Unterordnung unter den
Vater.
Das Matthäusevangelium beschäftigte sich nicht so sehr mit den Herrschaftsverhältnisse
zwischen Vater und Sohn, als vielmehr mit jenen unter den Jüngern, den dort scheint sich nun
ein Rangstreit anzubahnen:
„24Als die zehn das hörten, wurden sie immer unwilliger über die beiden Brüder. 25Jesus
aber rief sie zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und
die Grossen ihre Macht gegen sie einsetzen. 26Unter euch soll es nicht so sein, sondern: Wer
unter euch gross sein will, sei euer Diener, 27und wer unter euch der Erste sein will, sei euer
Knecht.“
Die Herrscher und Grossen lassen sich von ihren Völkern bedienen und pressen ihre
Untergebenen mit Steuern und Abgaben. Es sind hier noch nicht einmal besonders
korrumpierte Tyrannen oder grausame Despoten vor Augen. Das Jesus-Wort meint ganz
durchschnittliche Herrschaftsverhältnisse und erachtet diese Situation eben als normal: Ihr
wisst ja, wie das bei den Herrschern so ist. „Unter euch soll es nicht so sein“. Wer sich unter
den Jüngern hervortun wolle, der Erste sein wolle, der lasse sich nicht bedienen, sondern der
diene den Mitjüngern.
In Anlehnung an diese Verse nannten sich beispielsweise die Päpste ab dem 7. Jh. servus
servorum Dei, Diener der Diener Gottes. Ob sie dieser Devotionsformel immer gerecht
wurden, wollen wir Protestanten nun dahin gestellt sein lassen.
Aber ist denn unsere eigene Tradition dem Anspruch dieser Verse, dieser von Jesus
geforderten Dienst-Ordnung gerecht geworden? Karl Barth schrieb Bezug nehmend auf
unseren Predigttext in seiner KD über die Ordnung der (christlichen) Gemeinde:
„Es ist also in der Gemeinde nicht so, dass das in ihr geltende Dienstrecht doch auch noch
allerlei Herrschaftsrecht nach sich zöge (...) – als ob die von ihr (der Gemeinde) und in ihrem
Raum zu tragende Bürde doch auch noch mit allerlei Würde verknüpft wäre, als ob die ihr
und jedem Christen widerfahrende Beanspruchung auch zu allerlei Ansprüchen legitimiere,
als ob die ihr auferlegte und in ihr wirksame Verpflichtung zum Dienst doch auch noch
allerlei Anrechte begründete.“ (KD IV 2, 782f)
Welche konkrete Gemeinschaftsform steht diesem Jesus denn vor Augen, wenn er solche
paradoxen Sätze spricht: „Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener“?
Ich habe mir in den letzten Tagen viel Gedanken über diese Frage gemacht, habe allerlei
Kommentare gelesen, Thesen formuliert und wieder verworfen.
Mein Auslegungsversuch, den ich ihnen gleich präsentieren werde, gewährt ihnen einen Blick
in meine theologische Werkstatt. Gerne hätte ich ihnen eine fertige Lösung präsentiert, aber
fertig bin ich mit diesem Text nicht, wenn man mit diesem Text überhaupt je fertig werden
kann.
Ich bin mir recht sicher, dass unser Text nicht als allgemeine Formel für eine ideale
Gemeinschaft gelesen werden darf. Das Jesu-Wort muss von seinem Ende her verstanden
werden. Dort heisst es:
„28so wie der Menschensohn (Jesus Christus) nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen,
sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“
Jesus Christus selbst sei gekommen, nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen. Nun
erinnere ich sie an die Sache mit dem trinitarischen Streit: Egal ob der Sohn nun als
wesensgleich mit dem Vater gedacht wird, oder dem Vater untergeordnet; auf jeden Fall ist er
der Hohe, der Obere, der Gottessohn, der sich eigentlich dienen lassen sollte. Gottesdienst
nennen wir das. Er fand zur Zeit Jesu in den Synagogen statt durch Gebet und Lobgesänge,
wie auch am Tempel durch Abgaben und Opfer. Nun kommt dieser Hohe, Obere, Gottessohn
zu den Menschen – Immanuel: Gott mit uns – aber statt sich dienen zu lassen, dient er den
Menschen. Er macht, wie es im 11. Kapitel des Matthäusevangeliums zusammenfassende
heisst, dass Blinde sehen und Lahme gehen, dass Aussätzige rein werden und Taube hören,
dass Tote auferweckt werden und Arme die Frohbotschaft vernehmen. Er dient den
Menschen.
In einem Text des jüdischen Theologen Philo von Alexandrien (Über die Opfer Abels und
Kains), der ungefähr zu selben Zeit wie Jesus von Nazareth lebte, heisst es, der Weise sei das
Lösegeld (gr. lütron) des Schlechten. Philo verwendet dasselbe Wort für Lösegeld wie unser
Text. Wenn es in unserem Text heisst, Jesus Christus gebe sein Leben als Lösegeld für viele,
so ist er der Weise Gottes, dessen Dienst, dessen Worte und Taten, die Leiden der Menschen
heilt, ihre Verfehlungen sühnt und ihre Verstrickungen löst. Es ist dabei nicht primär an den
Tod Jesu zu denken, sondern vielmehr an sein Kommen, seine Gegenwart für die Menschen,
sein Heilen, Sühnen und Lösen, sein Dienst. Der Tod ist nur die äusserste Konsequenz dieses
Dienstes, dieser Hingabe Gottes an die Menschen.
Die Frohbotschaft Jesu ist also die Kunde, dass Gottes Sohn nicht gekommen ist, um zu
herrschen, wie die Grossen der Völker, sondern um den Menschen zu dienen, um zu sühnen,
zu heilen und zu lösen.
Es ist selbstredend, dass Jesus Christus, der Weise Gottes hierbei das Ziel und den Zweck
seines Dienstes selbst bestimmt und nicht etwa der Schlechte bzw. der Schlichte, der Mensch.
Es ist eine naive, aber leider gängige religiöse Vorstellung, der Mensch könne Ziel und
Zweck des Dienstes Christi bestimmen, könne mit seiner Wunschliste Gott dies und jenes tun
heissen.
Das Ziel und der Zweck des Dienstes Jesu Christi ist das Reich Gottes, eine Welt des
Friedens, des Schaloms, alles in allem.
Lassen sie mich dies zum Schluss mit einem Vergleich verdeutlichen. Wir sangen im
Anschluss an die Taufe das Lied 531: Weißt Du wieviel Sternlein stehen, an dem blauen
Himmelszelt. Ich sagte, dass unser Lied vom kindlichen Vertrauen erzählt, dass da einer ist,
der jede Wolke gezählt und jedes Mücklein und Fischlein ins Leben gerufen hat und also
keines vergisst, sondern alle hält und erhält.
Unsere reale Welt bietet ein anders Bild: Es herrscht ein grosses Kommen und Gehen. Was
heute blüht, ist morgen welk und bald vergessen. Was kümmern uns die Mücken und die
Fische? Die Mücke machen wir platt. Der Fisch landet auf unserem Teller. Biologen sprechen
nicht zu Unrecht von einem ‚struggle of life’: Die eine Lebensform verdrängt die andere. Das
ist normal. Wir wissen, dass es so ist.
– Bei euch aber soll es nicht so sein! Dieser Jesus Christus erzählt von einer anderen Welt,
einer neuen Schöpfung, dem Reich Gottes, in welchem der Schalom alles in allem ist, so wie
es im Kinderlied heisst, dass Gott sorgt, dass Keines vergessen geht, eine Welt, die nicht
durch den Kampf, sondern durch Frieden und Recht bestimmt ist.
Und die christliche Überlieferung trug diesen Gedanken weiter. Und unsere Vorväter und
Vormütter liessen sich durch diese Vorstellung berühren und begeistern, erzählten die
Geschichte von einer anderen Welt weiter, sangen ihre Lieder, auf dass auch wir und unsere
Kinder uns von der Predigt des Reiches Gotte berühren und begeistern lassen, auf dass es bei
uns anders werde. Amen.
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