Die Fülle des Lebens teilen MISEREOR-Fastenaktion 2006 In vielen Regionen der Erde entscheidet noch immer das Geschlecht darüber, welche Chancen ein Mensch im Leben hat. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist jedoch ein wichtiger Grundstein für eine erfolgreiche Entwicklung und ein Beitrag, um einen Weg aus der Armut zu finden. Grund für das Hilfswerk MISEREOR in der diesjährigen Fastenaktion das Thema aufzugreifen. Armut reduzieren! Kindersterblichkeit senken! Bekämpfung von HIV/Aids und Malaria! Mit diesen und anderen Millennium Development Goals (MDGs) soll binnen 15 Jahren die weltweite Armut um die Hälfte reduziert werden. Zur Erreichung dieses Ziels haben sich die Staats- und Regierungschefs nahezu aller Länder auf dem Millenniumsgipfel auf acht zentrale Entwicklungsziele verständigt – Maßnahmen, die, wie etwa die Hungerbekämpfung, Gesundheitsvorsorge oder auch schulische und berufliche Bildung, von Beginn in der Projektarbeit des bischöflichen Hilfswerks MISEREREOR verankert sind. Kardinal Frings hatte bereits bei seiner legendären Gründungsrede vor der Bischofskonferenz in Fulda 1958 darauf hingewiesen, dass das zu gründende Hilfswerk MISEREOR alles in seinen Kräften stehende unternehmen müsse, um an der Beseitigung von Armut und Krankheit und deren Ursachen weltweit mitzuwirken – ohne Ansehen von Rasse, Religion, Nation oder Geschlecht. Einziges Kriterium für die Arbeit von MISEREOR ist deshalb die Armut von Menschen, und es gilt, diese Armut und vor allem ihre Ursache zu beseitigen, damit Menschen in Würde leben können. Armut ist weiblich Vor diesem Hintergrund gewinnt das Millenniumsziel 3 besondere Bedeutung. Denn die „Förderung und Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen“ gilt als eine Querschnittsaufgabe, die also die Gesamtheit der entwicklungpolitischen Projektarbeit durchzieht. Warum hängt das Ziel der Armutsreduzierung auf der Welt so entscheidend auch von dieser Frage der Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau ab? Unsere Welt ist ungleich verteilt. 70 Prozent der absolut armen Menschen sind weiblich. Und Frauen stellen auch 67 Prozent der Analphabeten. Die Einschulungsrate für Mädchen ist in vielen Ländern erheblich niedriger als die der Jungen. Dagegen verfügen Männer über 90 Prozent der Einkommen, haben 69 Prozent der Arbeitsplätze inne und gar 94 Prozent der Regierungsämter, so weisen es Weltbank und UN-Entwicklungsprogramm aus. Das Recht der Mädchen und Frauen auf körperliche Unversehrtheit wird nicht respektiert, Vergewaltigung von Frauen wird in vielen kriegerischen Konflikten als gezieltes Mittel der Kriegsführung eingesetzt, Mädchen und Frauen werden genital verstümmelt und leiden viel häufiger als Jungen unter Zwangsverheiratung. Geschlecht entscheidet über Lebenschancen Diese Aufzählung zeigt, dass in vielen Regionen unserer Erde noch immer das Geschlecht darüber entscheidet, welche Chancen ein Mensch im Leben hat und – vor allem– welche Überlebenschancen er hat. Denn die Menschenrechte von Frauen werden in vielen Gesellschaften nicht geachtet, Gewalt und sexuelle Ausbeutung sind alltägliche Erfahrungen – bereits in der eigenen Familie. Selbst die Sterberate von Mädchen liegt in den ersten Lebensjahren erheblich höher als bei Jungen – weil Jungen als sozial „höherwertig“ eingestuft werden. Die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern wäre an sich also schon Motivation genug, um eine Fastenaktion auf diesen Aspekt auszurichten. Es gibt aber noch weitere sehr gute Gründe. Denn in der partnerschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit wurde die Gleichberechtigung von Mann und Frau schon vor längerer Zeit als wichtiger Grundstein für eine erfolgreiche Entwicklung erkannt. Nachweislich ist in Staaten, in denen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Erziehung, Beschäftigung und Eigentumsrechten gering sind, die Zahl der Unterernährten und Hungernden geringer und auch die Kindersterblichkeitsrate ist niedriger. Die Wirtschaft dieser Länder wächst schneller und hinterlässt weniger Umweltschäden. Daher prüft Misereor alle Projekte darauf, wie sie sich auf das Verhältnis von Frauen und Männern auswirken und sorgt dafür, dass beide Geschlechter in Planung und Umsetzung einbezogen werden. Damit zielt MISEREOR auf die Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Rahmenbedingungen, damit Frauen und Männer die gleichen Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Neue Ordnung für’s Zusammenleben Ein positives Beispiel ist ein Beispielprojekt der diesjährigen Fastenaktion in Nord-Uganda. In dem ostafrikanischen Land verhindert die traditionelle Rollenverteilung vielfach jede Entwicklung. Denn fast die gesamte Last ruht auf den Schultern der Frauen, die über kilometerlange Entfernungen Wasser und Brennholz holen müssen, den Hauptanteil der Feldarbeit verrichten, und dennoch ein Leben weit unter der Armutsgrenze führen. Dass es auch anders geht, zeigen mehr als 1.000 Familien in den Distrikten Arua und Nebbi, im nordwestlichsten Zipfel von Uganda. Mit Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MISEREOR-Projektpartners PARUDA (Participatory Rural Development Agency) haben ganze Dorfgemeinschaften ihre Lebensgewohnheiten angeschaut, kritisch über festgefahrene Verhaltensmuster nachgedacht und schließlich dem Zusammenleben eine neue Ordnung gegeben. Aus dem traditionellen Nebeneinander von Mann und Frau ist ein Miteinander geworden: Männer teilen die Hausarbeit mit ihren Frauen, kümmern sich mit um die Kinder, treffen wichtige Entscheidungen gemeinsam mit ihren Frauen – und wenden keine Gewalt mehr an. Für die beteiligten Familien ist das gerechte Miteinander der Geschlechter gleichzeitig der Weg aus der Armut. In diesem und vielen anderen Projekten zeigt sich, dass Geschlechtergerechtigkeit viele Aspekte des Lebens berührt. Sie ist der Schlüssel zu besserer Ernährung, Bildung und Gesundheit. Frauen entscheiden mit Die MISEREOR-Fastenaktion 2006 steht unter dem Leitwort „Die Fülle des Lebens teilen“. Auch am Beispiel von Elsa und Valerio, dem auf dem Aktionsplakat abgebildeten Ehepaar aus dem Hochland Boliviens, wird deutlich, worum es MISEREOR geht: Elsa und Valerio sind Kleinbauern, Campesinos, die in mühsamer Arbeit dem kargen Boden die Kartoffelernte abringen. Seit Elsa und Valerio aber gemeinsam die Schulbank drücken, Lesen und Schreiben lernen, Elsa sich in einer Frauengruppe engagiert und mit ihrem neu gewonnen Selbstbewusstsein auch politisch handlungsfähig wird, verbessert sich das Leben in ihrer Familie und im Dorf spürbar. Das Prinzip ist einfach: Wo Wasser holen Frauensache ist, Frauen aber nicht mit entscheiden dürfen z.B. über Investitionen des Dorfes in eine funktionierende Wasserversorgung, ändert sich nichts. Mit Hilfe der MISEREORPartnerorganisation CCIMCAT (Zentrum zur Förderung und Ausbildung von Landfrauen in Tarija) sind aber in den letzten Jahren Frauengruppen entstanden, die ein Trinkwasser-Komitee gebildet und an den richtigen Stellen politischen Druck ausgeübt haben: Nun gibt es in der Region fünf funktionierende Wassersysteme. „Lesen, schreiben und rechnen zu lernen ist für uns kein reiner Selbstzweck, sondern immer praxisbezogen“, erläutert Celinda Sosa das Programm von CCIMCAT. Die frühere Projektleiterin ist heute Wirtschaftsministerin ihres Landes und will vor allem das Kleingewerbe fördern. Auch Elsa und Valerio lernen mit den Alphabetisierungskursen zugleich neue Produktionsmethoden und verkaufen nun ihre landwirtschaftlichen Produkte auch auf den Märkten in der Region – das Familieneinkommen steigt und alle profitieren. MISEREOR geht es mit der Fastenaktion also nicht darum, Fraueninteressen gegen Männerinteressen auszuspielen, sondern um Gerechtigkeit in den Geschlechterbeziehungen von Mann und Frau. Was bedeutet das für die Projektarbeit des Hilfswerkes? Ausgewogene Machtverteilung Bereits im Stadium der Projektplanung wird eine „Genderanalyse“ durchgeführt, um Ungleichheiten sozialer, ökonomischer, oder politischer Art aufzudecken und Mittel und Macht von Beginn an möglichst ausgewogen zwischen Frauen und Männern zu verteilen. Ziel ist es, dass Frauen und Männer gleichberechtigt die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung ihrer Familien, Dörfer, Distrikte, Stadtviertel und Länder mitgestalten. Teilnehmen an den gesellschaftlichen Prozessen als Frau und als Mann zum Wohle aller, und insbesondere der Ärmsten der Armen, - darum geht es. Auch die 48. MISEREOR-Fastenaktion will dazu beitragen, die deutsche Öffentlichkeit über das Problem der Armut in der Welt zu informieren und dazu aufrufen, sich mit den Ärmsten der Armen zu solidarisieren. Mehr Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen – für viele Millionen Notleidender ein wichtiger Beitrag, um einen Weg aus der Armut zu finden. Gottfried Baumann Gottfried Baumann ist Pressereferent bei Misereor