Können wir wissen, was Mission ist?

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Mission und Reflexion
im Kontext
Perspektiven evangelikaler Missionswissenschaft
im 21. Jahrhundert
Festschrift für Klaus W. Müller
zu seinem 65. Geburtstag
edition afem
mission academics 31
Friedemann Walldorf
Lothar Käser, Bernd Brandl (Hg.)
VTR / VKW
edition afem
herausgegeben vom
Arbeitskreis für evangelikale Missiologie
von
Prof. Dr. Klaus W. Müller, Dr. Bernd Brandl,
Prof. Dr. Thomas Schirrmacher und Thomas Mayer
Die edition afem besteht aus fünf Reihen: Mission classics wollen klassische Texte
der Mission wieder neu zugänglich machen; mission academics bietet Forschungsarbeiten zur Missiologie; in mission scripts werden Textsammlungen, Arbeitsmaterialien und kleinere Arbeiten aufgenommen, und in mission reports werden Tagungsberichte veröffentlicht. Daneben gibt es noch die Reihe mission specials, in
der Sonderveröffentlichungen aufgenommen werden.
Bibliografische Information der Deutschen ationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-941750-26-5 (VTR)
ISBN 978-3-938116-92-0 (VKW)
ISSN 0944-1077
© 2010
VTR (Verlag für Theologie und Religionswissenschaft)
Gogolstr. 33, 90475 Nürnberg, http://www.vtr-online.de
VKW (Verlag für Kultur und Wissenschaft)
Friedrichstr. 38, 53111 Bonn, http://www.vkwonline.de
Umschlaggestaltung: VTR
Satz: Friedemann Knödler
Druck: BoD Verlagsservice, Friedensallee 76, 22765 Hamburg
Printed in Germany
Friedemann Walldorf
Können wir wissen, was Mission ist?
Missionswissenschaft im Kontext
wissenschaftstheoretischer Entwicklungen vom
Spätmittelalter bis zur Postmoderne
Können wir wissen, was Mission ist? Während Gustav Warneck im Kontext des
Positivismus des 19. Jahrhunderts diese Frage klar bejahte und eine präzise Definition dessen vorlegte, was christliche Mission sei,1 war David Bosch am Ende
des 20. Jahrhunderts im Kontext der heraufziehenden Postmoderne sehr zurückhaltend. Er schrieb: „Even the attempt to list some dimensions of mission is
fraught with danger, because it suggests that we can define what is indefinite.
Whoever we are, we are tempted to incarcerate the missio Dei in the narrow confines of our own predilections, thereby of necessity reverting to one-sidedness and
reductionism.“2 Was beiden, Bosch und Warneck, gemeinsam war, ist die Überzeugung, dass der biblische Text das erkenntnistheoretische Grunddokument der
Mission Gottes ist und bleibt. Dass Warneck und Bosch dennoch zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, macht deutlich, welche Bedeutung der jeweilige wissenschaftstheoretische und hermeneutische Denkrahmen für die Missionswissenschaft
hat. Wie sich dieser Denkrahmen vom Mittelalter bis zur Postmoderne entwickelt
hat und welche Auswirkungen dies vor allem (aber nicht nur) auf die deutschsprachige protestantische Missionswissenschaft hatte, soll im folgenden Überblick in
großen Linien und anhand exemplarischer Beispiele näher beleuchtet und abschließend für das Selbstverständnis evangelikaler Missionswissenschaft heute
ausgewertet werden. Hinter der Frage nach der Wissenschaftlichkeit steht die
Frage nach der Verständlichkeit, Begründung und Nachvollziehbarkeit der Aussagen im wissenschaftlichen Diskurs. Damit schließt die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Missionswissenschaft letztlich auch die Frage nach der Kommunizierbarkeit des Evangeliums im interkulturellen globalen Kontext von Wissenschaft und Bildung mit ein.
„Unter christlicher Mission verstehen wir die gesamte auf die Pflanzung und Organisation der christlichen Kirche unter Nichtchristen gerichtete Tätigkeit der Christenheit.“ G. Warneck, Evangelische
Missionslehre. Ein missionstheoretischer Versuch, Erste Abteilung: Die Begründung der Sendung,
Gotha: Perthes, 1897 (2. Aufl.), 1.
2
D. Bosch, Transforming Mission: Paradigm shifts in Theology of Mission, Maryknoll/New York:
Orbis Books, 1991, 512.
1
346
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
1. Missionsdenken zwischen kirchlichem Dogma und wissenschaftlicher Freiheit
1.1. Theologie und Wissenschaft im Aufbruch der Universität
Die aufbrechende universitäre Wissenschaft in Europa entfaltete sich im Spannungsfeld zwischen weltlicher Herrschaft und kirchlichen Dogmen. Aus privaten
und städtischen Rechtsschulen entwickelten sich ab Ende des 11. Jahrhunderts
erste Universitäten in Italien (Bologna), Frankreich (Paris) und England (Oxford).
Weitere frühe Universitäten gingen auf Gründungsakte weltlicher Herrscher zurück. Die Universität in Salamanca wurde 1218 von der kastilischen Krone errichtet, Karl IV. gründete 1348 in Prag die erste Universität im Hl. Römischen Reich.3
Inhalt und Methode der Wissenschaft verdankten sich im Wesentlichen dem griechischen Denken und dessen Entdeckung der „Theorieform des Wissens“, die „in
der Formulierung allgemeiner (‚theoretischer‘) Sätze und dem Beweis dieser Sätze
in bestimmten […] axiomatisch wie deduktiv geordneten Zusammenhängen“
bestand.4 Die griechisch geprägte „Theorieform des Wissens“ verband sich in
einer konstruktiven Symbiose mit den theologischen Perspektiven der mittelalterlichen Kirche, die letztlich den Integrationsrahmen des wissenschaftlichen Denkens in diesem Zeitraum bildeten und auf deren Grundlage sich das Verständnis
der Welt vollziehen konnte und musste.5 Die Erkennbarkeit der Welt als Schöpfung und die Lesbarkeit der Bibel als Offenbarung des dreieinigen Gottes bildeten
die Basis sowohl für die „niederen“ artes liberales (philosophischnaturwissenschaftlich-künstlerische Allgemeinbildung) als auch für die höheren
Fakultäten Theologie, Jura und Medizin.6
Für die theologische Verhältnisbestimmung zwischen Glaube und Wissenschaft
war das Denken des Augustinus (354-430) grundlegend.7 In Anlehnung an die
Weisheitsliteratur des Alten Testaments (Spr 3,5; 9,10) und die Theologie des
Paulus (1Kor 1, 18ff) sah Augustinus den Glauben als Grundlage des Verstehens
und formulierte: credidimus ut cognosceremus – wir glauben, damit wir erkennen.8 Auch Anselm von Canterbury (1033-1109), der sich vorgenommen hatte,
den christlichen Glauben weitgehend sola ratione (allein mit Vernunft) einsichtig
zu machen, betonte in seinen Schriften Cur Deus homo und Proslogion den Glau-
Vgl. Ulrich Köpf, „Universitäten. I. Geschichtlich 1. Mittelalter und Reformation“,
(RGG) 4.Auflage, Bd. 8, hg. v. D. Betz, 2005, 779-785: 779. Vgl. Wolfgang
E. Weber,
, Stuttgart: Kohlhammer, 2002.
4
Jürgen Mittelstraß, „Wissenschaft/ Wissenschaftsgeschichte/ Wissenschaftstheorie. I. Philosophisch“,
(TRE), Bd. 24, Berlin/New York: de Gruyter, 2004, 184-200: 185.
Vgl. F. Kambartel, „Wissenschaft“,
, Bd. 4, hg. v.
J. Mittelstraß, Stuttgart/Weimar, 1996, 719-721.
5
J. Mittelstraß spricht von der „faktischen Verbindung von naturwissenschaftlichem und dogmatischtheologischem Denken“, Mittelstraß, Wissenschaft, 190. Vgl. Lutz E. v. Padberg,
, Neuhausen, 1986, 29ff.
6
Vgl. Köpf, Universitäten, 781.
7
Vgl. v. Padberg, Bibel 29-35; Max Seckler, „Credo, ut intelligam“,
, 3.Auflage, Bd. 2 (1994), 1343-1345.
8
Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis 27,9, zit. v. Padberg, 127.
3
Religion in Ge-
schichte und Gegenwart
Geschichte der europäischen Universität
Theologische Realenzyklopädie
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie
Die Bibel: Grundla-
ge für Glauben, Denken und Erkennen
,
che
Lexikon für Theologie und Kir-
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
347
ben als Ausgangspunkt und Motivation des Denkens: fides quaerens intellectum –
„der Glaube auf der Suche nach Verstehen.“9 Nach Anselm wird der Mensch erst
durch den Glauben aus der Finsternis und zur Erkenntnis Gottes und seiner selbst
befreit. Das im Glauben gründende Denken geschieht als dicere in corde (mit dem
Herzen sagen) und sucht in stufenförmigen Aufwärtsbewegungen jeden denkenden Menschen zum Gottesbegriff und damit – in streng realistischer Erkenntnistheorie – zu Gott selbst zu führen.10 Thomas von Aquin (1224-1274) geht unter
dem Einfluss der (über die arabische Philosophie) neu erschlossenen naturwissenschaftlichen und metaphysischen Schriften des Aristoteles einen entscheidenden
Schritt weiter.11 Er relativiert die Bedeutung des Glaubens für das Erkennen Gottes und der Welt, indem er die natürliche Vernunft als eigenständige Ergänzung
hinzufügt. Der damit verbundene Leitgedanke in Thomas’ Summa theologiae
(1266-1273) lautet: gratia non tollat naturam, sed perficiat – Die Gnade (oder der
Glaube) hebt die Natur (oder die natürliche Vernunft) nicht auf, sondern vollendet
sie.12 Immer noch bleibt der Glaube für Theologie und Wissenschaft maßgebend,
doch die Erkenntnis kann nun unmittelbar mit der Erfahrung, Wahrnehmung und
Analyse der konkreten Dinge der Welt beginnen.
1.2. Missionsdenken: das Beispiel von Ramon Llull (1235-1315)
Auf diesem Hintergrund ist nun auch das sich entwickelnde Studium der christlichen Mission zu bedenken, das sich in dieser Phase vor allem auf den Islam bezog, in unmittelbarer Nähe zur missionarischen Praxis konzeptioniert wurde und
in engem Zusammenhang mit wissenschaftlichen und theologischen Diskussionen
stand und diese auch anregte.13 Dies soll exemplarisch am Beispiel des mallorquinischen Missionars und Gelehrten Ramon Llull (Raimundus Lullus) (1235-1315)
geschehen, da in seinem Werk die Spannung zwischen kirchlicher Lehre und interdisziplinärer und interkultureller wissenschaftlich-missiologischer Reflexion
gut deutlich wird.14 Nach seiner Bekehrung im Jahr 1265 widmete Ramon Llull
Proslogion, Vorwort, zit. Martin A. Schmidt, „Anselm von Canterbury“, Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. M. Greschat, Bd. 3: Mittelalter I, Stuttgart: Kohlhammer, 1993 [1984], 123-147: 133.
10
Vgl. A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2: Mittelalter und Reformationszeit, Gütersloh:
9
Mohn, 1981 (4. Aufl.), 66-69.
11
Vgl. Ulrich Kühn, „Thomas von Aquin“, Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. M. Greschat, Bd.
4: Mittelalter II, Stuttgart: Kohlhammer, 1993 [1984], 38-62: 49.
12
Summa theologiae I, 1,8 zit. Adam, Dogmengeschichte, 114.
13
Vgl. Fritz Blanke, „Die Mohammedanermission im Mittelalter“, Missionsprobleme des Mittelalters
und der euzeit, hg. v. F. Blanke, Zürich/Stuttgart: Zwingli, 1966, 77-87; M. Sievernich, Die christliche Mission: Geschichte und Gegenwart, Darmstadt: WBG, 2009, 116ff. Nach Llull ist vor allem der
Beitrag Bartólome de Las Casas´ (1474-1566) im Kontext der Eroberung der Neuen Welt bedeutsam,
der in seinem Werk Die einzige Art der Berufung aller Völker zum Christentum [Del único modo de
atraer a todos los pueplos a la verdadera religión] das Indianerbild der Eroberer sowie die Verbindung
von Mission und Eroberung kritisiert und Mission auf neutestamentlicher Basis als friedliche Einladung zum Glauben begründet. Vgl. B. de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 1: Missionstheologische
Schriften, hg. v. Mariano Delgado, Paderborn: Schöningh, 1994.
14
Vgl. Riedlinger, H., „R. Lullus“, Lexikon des Mittelalters, 7. Bd., Stuttgart/Weimar: Metzler, 1999,
490-494; F. Körner, Kirche im Angesicht des Islam, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, 124ff; Sievernich,
Mission, 116ff. S. Zwemer, Raymundus Lullus – der erste Mohammedaner-Missionar, Wiesbaden:
Verlag der Sudan-Pionier Mission, o.J.
348
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
sein Leben vor allem dem Versuch, Muslimen den christlichen Glauben verständlich und ihren Voraussetzungen gemäß zugänglich zu machen. Ohne jemals einem
Orden beizutreten lernte er gründlich Arabisch und verfasste Bücher und Schriften
auf Arabisch, Lateinisch und Katalanisch. Er reiste mehrfach nach Nordafrika, um
Gespräche mit Muslimen zu führen und hielt Vorlesungen an den Universitäten
von Paris und Montpellier. Eines seiner größten Anliegen war eine sprachliche
Ausbildung für Ordensmissionare. In seinem Liber Contemplationis in Deo (um
1273) schrieb er: „Es erscheint mir zweckmäßig, wenn eine solche Einrichtung
getroffen werden könnte, daß die Mönche fremde Sprachen lernen, damit sie hinausziehen können, um ihr Leben daran zu geben aus Liebe zu Dir.“ 15 Einen ersten Schritt in dieser Richtung bildete das 1276 auf Mallorca gegründete Studienzentrum Miramar, in dem 13 Männer ausgebildet werden sollten. Das Projekt
hatte vermutlich nicht lange Bestand, trug jedoch mit dazu bei, dass auf dem Konzil von Vienne 1315 durch die Fürsprache Llulls der Plan zur Gründung von weiteren Studienhäusern gefasst wurde.16
Im Zentrum des missiologischen Denkens bei Llull stand der brennende Eifer,
Muslime zum christlichen Glauben zu führen, und der Wunsch, dies in einer möglichst friedlichen Art und Weise tun zu können. Ganz im Sinne Aquins begann
Lull seine Missionsstudien mit den vorfindlichen Realitäten von Sprache und
Religion. Er lernte gründlich Arabisch und setzte sich mit den Lehren des Islam
und der islamischen Philosophie (v.a. Averroes) auseinander. Darauf konnte das
Religionsgespräch, Llulls wichtigste Missionsmethode, aufbauen. Wie Lull sich
ein solches Gespräch vorstellte, zeigte er in seinem Buch vom Heiden und den drei
weisen Männern (um 1275) anhand eines typisierten Dialogs auf.17 Ein in seinem
Glauben verunsicherter Heide sucht das Gespräch mit einem Christen, einem
Juden und einem Muslim. Dabei kommt es zu einem respektvollen Dialog, in dem
der jeweilige Glaube erklärt und Argumente ausgetauscht werden, aber das Ende
überraschenderweise offen bleibt. Im Hintergrund steht dabei die Überzeugung
Llulls von der Einheit der Wahrheit und dem „Zusammengehen des erleuchteten
Christseins mit der theologischen Philosophie … und der Gottesmystik.“18 Im
Anschluss an Anselm und Thomas von Aquin geht auch Llull davon aus, dass die
Wahrheit Gottes über den Verstand zugänglich und durch eine dreistufige Beweisführung (positiv, komparativ und superlativ) zu erreichen ist,19 wobei „superlativ“
die theologisch-mystische Meditation der religionsübergreifend wahren Prinzipien
des dreieinigen Gottes (z.B. Schöpfung, Auferstehung, Gericht) mit dem Ziel der
Bekehrung der Andersgläubigen meint.20 Das bemerkenswert Neue bei Llull war
Zit. Zwemer, Raymundus, 51.
Vgl. R. Brummer, „Ramon Lull und das Studium des Arabischen“, Zeitschrift für romanische Philologie 85 (1969) 132-143. B. Altaner, „Raymundus Lullus und der Sprachenkanon (can. 11) des Konzils
von Vienne (1312)“, Historisches Jahrbuch 48 (1933) 190-219.
17
Vgl. R. Lull, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, übers. und hg. v. Theodor Pindl, Stuttgart,
1998 (urspr. katalan. Libre del gentil e los tres savis); Vgl. N. Thomas, Classic Texts in World Christianity, Maryknoll: Orbis, 1995, 26 (Auszug in Englisch).
18
Riedlinger, Lullus, 492.
19
Riedlinger, Lullus, 492.
20
Vgl. Eusebio Colomer, „Raimundus Lullus Stellung zu den Andersgläubigen: Zwischen Zwie- und
Streitgespräch“, Religionsgespräche im Mittelalter, hg. v. B. Lewis u. F. Niewähner, Wiesbaden:
15
16
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
349
die positive Aufnahme interreligiöser Aspekte. Aus seinem missionarischen Anliegen heraus versuchte er in den Traditionen und Philosophien von Islam und
Judentum die allgemeinen Prinzipien der Wahrheit Gottes zu finden, um die Menschen „durch philosophisch-mystische Meditation … bis zur Erkenntnis der notwendigen Gründe für die Anerkennung der Trinität und der Inkarnation“ zu führen.21 In ihrer gewagten missiologischen Synthese von Vernunft, interreligiöser
Philosophie und christlicher Theologie stellte das dialogische Denken Llulls jedoch eine Herausforderung an die kirchliche Autorität dar, so dass 1376 Papst
Gregor XI. viele Lehren Llulls verwarf und 1390 die Theologische Fakultät der
Universität Paris ihre Aufnahme in den Unterricht verbot.22
Für die Frage nach der Beziehung von Missionsstudien und Wissenschaft wird
deutlich, dass Lulls missiologische Studien sich in der Spannung zwischen wissenschaftlich-theologisch-missiologischer Erkenntnissuche einerseits und kirchlicher Lehrnorm andererseits bewegen mussten. Auch wenn man Llulls theologischen Ansichten aus biblischer Sicht nicht immer folgen kann, haben seine Reflexionen zur Mission wesentliche philosophisch-wissenschaftliche Erkenntnisse
seiner Zeit aufgenommen und durch wichtige Ansätze einer respektvollen interreligiösen Hermeneutik weiterentwickelt.
1.3. Konflikt zwischen Kirche und Wissenschaft
Im Lauf der Zeit nahm der Konflikt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnissuche
und kirchlicher Autorität weiter zu. Für den italienischen Ex-Dominikanermönch
Giordano Bruno (1548-1600), der über die Unendlichkeit des Weltalls geforscht
und es (pantheistisch) mit Gott als dem Unendlichen gleichgesetzt hatte, endete
dieser Konflikt schließlich auf dem Scheiterhaufen.23 In Mitteleuropa hingegen
hatten fünfzig Jahre vorher die biblisch-theologischen und missiologisch höchst
folgenreichen Entdeckungen Martin Luthers (1483-1546) zur Heiligen Schrift, zur
Gnade Gottes und der Freiheit des Christenmenschen zum Beginn eines tiefgreifenden Umbruchs in Theologie, Kirche und Gesellschaftsordnung geführt und
trugen wesentlich zur „Emanzipation der Wissenschaften von den Ansprüchen
kirchlicher Lehrautorität“ bei.24 Dennoch gingen bis in die Zeit der lutherischen
Orthodoxie „nicht nur die Kirche, sondern auch der Staat … mit Berufung auf die
Autorität Gottes … gegen Wissenschaftler vor.“25 Auch das täuferische Missionsdenken geriet in diesen Konflikt, da es nicht in das territoriale Denken der Zeit
passte. Die Täufer „radikalisierten Luthers Idee des allgemeinen Priestertums aller
Gläubigen. … und verwarfen die Vorstellung, dass Christen bezüglich ihres Dienstes auf ein bestimmtes Gebiet festgelegt seien. Das ermöglichte ihnen, ganz
Harrassowitz, 1992, 217-236: 228.
21
Riedlinger, Lullus, 493.
22
Riedlinger, Lullus, 494. Papst Martin V. setzte allerdings 1419 die Verurteilung wieder außer Kraft.
23
Vgl. Saverio Ricci, „Bruno, Giordano“, RGG (4. Aufl.), Bd. 1, Tübingen: Mohr-Siebeck, 1998,
1803-1805.
24
Andreas Feldtkeller, Theologie und Religion. Eine Wissenschaft in ihrem Sinnzusammenhang. Forum
Theologische Literaturzeitung, Leipzig: EVA, 2002, 84.
25
Hans Küng, zit. bei H. Hempelmann, Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft: Zur
Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des christlichen Glaubens, Wuppertal: Brockhaus, 1980, 2.
350
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Deutschland sowie die umgebenden Länder als Missionsfelder zu betrachten“.26
Diese Idee und Praxis von Mission brachte ihnen den Zorn der Reformatoren
sowie Verfolgung durch die Regierungen ein.27
Der kirchlich-theologische Realismus dieser ersten beleuchteten Phase stellte
aufgrund seines biblischen Weltbilds einerseits eine hermeneutische Grundlage
und Motivation für das wissenschaftlich-missiologische Denken dar. Wissenschaft
und das Verstehen der Welt wurden gefördert, weil die biblische Lehre „den von
wissenschaftlicher Neugierde ergriffenen Menschen den Rücken davon freigehalten hat, sich zu sehr durch rituelle Tabuvorschriften eingeschränkt zu fühlen oder
den unvorhersehbaren Einwirkungen übermenschlicher Kräfte ausgeliefert.“28 Bei
allen Unterschieden und Gegensätzen zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Schulen bot das mittelalterliche Weltbild eine „relative Sicherheit des Denkens“ durch den Glauben an eine „stabile, durch die Wahrheit Gottes garantierte
Wesensordnung der Dinge.“29 Andererseits jedoch schränkten kirchliche Dogmen
und Machtstrukturen die unverstellte Wahrnehmung und freie Entfaltung wissenschaftlicher und missiologischer Forschung und Theoriebildung ein.
2. Missionsdenken zwischen Rationalismus und Empirismus
In der zu erwartenden extremen Gegenreaktion wendet sich die von der kirchlichen Bevormundung befreite Wissenschaft der Aufklärung nun weithin von der
Theologie als Grundlage und Ausgangspunkt der Erkenntnis ab. Diese Entwicklung kann hier nur überblicksartig in großen Linien skizziert werden. Die verstärkte Durchsetzung eines nicht mehr von kirchlich-theologischen Prämissen bestimmten Weltbildes ist mit Denkern wie René Descartes’ (1596-1650) („cogito,
ergo sum“)30 und dem englischen Empiriker David Hume (1711-1776) verbunden.
Als gesichertes Wissen galt fortan nur, was aufgrund eigenen Nachdenkens und
logischer Ableitungen erkannt (Rationalismus)31 oder was mit den eigenen Sinnen
erfahren (Empirismus) werden konnte. Von Hume aus dem „dogmatischen
Schlummer“ erweckt,32 argumentierte Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Kritik
der reinen Vernunft [1781], dass der Mensch nur die durch seine Erkenntnismöglichkeiten gebrochenen Erscheinungen erfassen könne. Damit ebnete er sowohl
dem Positivismus (Erkenntnismöglichkeit vgl. A. Comte) als auch dem Perspektivismus (Erkenntniskritik) den Weg.33 Gott wird von Kant als angeborene Idee des
Menschen von einem höchsten Wesen verstanden, die als Grundlage für die Ethik
Bosch, Transforming, 246 (Übers. FW).
Vgl. Hans Kasdorf, „Zur Mission der Täufer: Verständnis und Verwirklichung im Reformationsjahrhundert“, Werdet meine Zeugen, hg. v. H. Kasdorf/ F. Walldorf, Neuhausen, 181-200.
28
Feldtkeller, Theologie, 98.
29
Padberg, Bibel, 36.
30
„Je pense, donc je suis“, „Discours de la method IV [1637]“, in: René Descartes, Philosophische
Schriften in einem Band, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1996, S.55. Die lat. Version in Principia
philosophiae [1644], vgl. v. Padberg, Bibel, 39-40.
31
G. Linde, „Wissenschaftstheorie“, RGG, 4.Auflage, Bd. 8, Tübingen, 2005, 1658-1962: 1659.
32
Prolegomena [1783], Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Berlin (Reimer) 1900ff, Bd. IV, S.260.
33
Vgl. Mittelstraß, Wissenschaft, 192f.
26
27
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
351
notwendig sei. Damit wird auch im Blick auf die Gottesfrage die Vernunft und
nicht mehr die biblische Offenbarung zur entscheidenden Kategorie.3 Auf dieser
Basis entwickelten Fichte (1762-1814) und Hegel (1770-1831) den Idealismus als
Positivismus des Geistes, dessen Aufgabe es sei, das Mannigfaltige „mit einem
Blick“ zusammenzufassen und mit Vorstellungskraft zu verbinden. Dieser Vorgang impliziert nach Fichte „absolute Evidenz“ und „Irrtumsfreiheit“. Demgegenüber vertiefte Auguste Comte (1798-1857) den empirischen Ansatz von Hume
und wandte ihn im Sinne einer physique social auf die Erforschung der menschlichen Gesellschaften an, um „durch die Beobachtung objektiver Tatbestände jene
allgemeingültigen sozialen Gesetzmäßigkeiten … zu entdecken, die die soziale
Wirklichkeit bestimmen.“ Für seine Vision vom Fortschritt der Menschheit vom
theologischen über den metaphysischen zum positiven Stadium prägte Comte den
Begriff des Positivismus. Als „positiv“ versteht er „die gegebenen Tatsachen“,
„das gesellschaftlich Nützliche“ und das „sicher Bestimmbare“. Im Zentrum des
positiven Stadiums der Gesellschaft steht die wissenschaftliche Soziologie als
Ersatz der Religion. Erkenntnistheoretisch ist der Positivismus ein unkritischer
Realismus, der zwischen erkennendem Subjekt und objektiver Wirklichkeit unterscheidet und davon ausgeht, dass die Wirklichkeit exakt in den Begriffen menschlichen Erkennens abgebildet wird. Oft war mit diesen Verständnissen der Wissenschaft auch eine kulturelle eurozentrische Sichtweise verbunden, die die europäische Zivilisation als den Höhepunkt der weltgeschichtlichen Entwicklung und als
Ausgangspunkt für die Zivilisierung der Welt ansah.
4
35
36
37
38
39
2.1. Pietistische Missionsforschung: Oldendorp und Ziegenbalg
Auch wenn die frühen pietistischen Missionare und Autoren die Religionskritik
der Aufklärung nicht teilten, kann ihr Interesse an empirischer Religionsforschung
durchaus als parallele Erscheinung im missiologischen Bereich gedeutet werden.
Als herausragende Beispiele dafür sollen hier kurz die umfassenden Feldforschungen des Herrnhuter Historikers C.G.A. Oldendorp sowie die ausführlichen
Religionsbeschreibungen Bartholomäus Ziegenbalgs erwähnt werden.
Christian Oldendorp hielt sich von 1767-1768 auf den Karibikinseln St. Thomas,
St. Croix und St. Jan auf, um die Missionsarbeit der Herrnhuter Brüder unter den
westafrikanischen Sklaven vor Ort zu erforschen. In seiner 1777 erschienenen
über 1000-seitigen Darstellung berichtet er nicht nur über die Entwicklung der
40
Vgl. Padberg, Bibel, 44; K.H. Michel, „Kant, Immanuel“, ELThG, 2.Aufl., Bd. 2, 1998, 1034-1053.
Vgl. Linde, Wissenschaftstheorie, 1660.
36
H. Korte, B. Schäfers, Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen, 1995, 11.
37
Vgl. H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart: Kohlhammer, 1955, 403.
38
Vgl. A. Comte, Abhandlung über die Soziologie, worin die Menschheitsreligion eingesetzt wird
[1851]; Positivistischer Katechismus [1857].
39
Vgl. Bosch, Transforming, 292, der Hegel zitiert: „Europe is the absolute end of history, just as Asia
is the beginning“.
40
Christian Georg Andreas Oldendorp, Geschichte der Mission der evangelischen Brüder auf den
caraibischen Inseln S. Thomas, S. Croix und S. Jan. Herausgegeben durch Johann Jacob Bossart.
Barby 1777. Reprint: Hildesheim: Olms 1995 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und
Dokumente. Reihe 2: N.L. Graf von Zinzendorfs Leben und Werk in Quellen und Darstellungen.
Herausgegeben von Erich Beyreuther und Matthias Meyer. Bände XXVII.1 und 2). Vgl. F. Walldorf,
34
35
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Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Mission, sondern auch detailliert über die Situation der Sklaven und deren westafrikanische Religion, Botanik und Zoologie der Inseln sowie politische und ökonomische Entwicklungen. Seine Mitteilungen „beruhen auf Beobachtungen oder,
modern gesprochen, Interviews. Das Mitgeteilte ist fast überall frei von Deutungen, und wenn diese einfließen, werden sie als solche gekennzeichnet und sehr
vorsichtig […] vorgebracht.“41
Bereits fünfzig Jahre vorher hatte Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719), von
1706 bis 1719 erster pietistischer Missionar der Dänisch-Halleschen Mission in
der dänischen Kolonie Tranquebar in Südostindien,42 sich darum bemüht, die
Religion seines missionarischen Umfelds möglichst genau wahrzunehmen und zu
beschreiben. Nach intensivem Sprach- und Literaturstudium berichtete er bereits
in einem Brief aus dem Jahr 1708 von ausführlichen missionarischen Dialogen mit
tamilischen Hindus:
Sonderlich befleißige ich mich, oftmals in ihre Schule zu gehen und auf die
herumliegenden Städtlein und Dörfer, da ich allenthalben stets eine große
Menge Malabaren und Mohren um mich habe, um ihnen das Evangelium zu
verkündigen. Ungeachtet aber, daß sie beides mit ihrer Lehre und Leben in
großen Irrtümern und starker Finsternis einhergehen, so muß ich doch gestehen, daß ich aus ihren Diskursen als zu einem großen Nachdenken über diese und jene Materie bewogen worden und also allhier unter den Heiden sowohl in Theologicis als auch Philosophicis vieles erfahren habe, woran ich
oder sonsten andere Gelehrten niemals hätten denken können.43
Ziegenbalg sammelte, verzeichnete und übersetzte religiöse und ethische Schriften
des tamilischen Hinduismus.44 Seine „Ausführliche Beschreibung des malabarischen Heidentums“ [1711] sowie die „Genealogie der malabarischen Götter“
[1713] führen den Hinduismus nicht „als exotische Kuriosität einem staunenden
abendländischen Publikum vor“, sondern versuchen die fremde Religion in ihrem
Selbstverständnis ernst zu nehmen.45 Als Ziegenbalg seine Abhandlungen zur
Veröffentlichung nach Halle schickte, hielt August-Hermann Francke, der Leiter
des Missionsunternehmens, die „accurate Erlernung der heidnischen Theologie“
zwar nicht für tadelnswert,46 lehnte aber den Druck und die Veröffentlichung ab,
Rezension, in: Jahrbuch für evangelikale Theologie 10 (1996): 362-367.
41
Rainer Flasche, „Die Bedeutung früher Missionsberichte für die Religionengeschichte und systematische Religionswissenschaft“, in: J. Triebel (Hg.), Der Missionar als Forscher. Beiträge christlicher
Missionare zur Erforschung fremder Kulturen (Missionswissenschaftliche Forschungen 21), Gütersloh: Mohn, 1988, 36-69: 58.
42
Vgl. Peter Zimmerling, Pioniere der Mission im älteren Pietismus, Gießen/Basel: Brunnen, 1985.;
Daniel Jeyaraj, „Mission Reports from South India and Their Impact on the Western Mind: The Tranquebar Mission of the Eighteenth Century“, in: Dana L. Robert (ed), Converting Colonialism: Vission
and Realities in Mission History, 1706-1914 (Studies in the History of Christian Missions), Grand
Rapids: Eerdmans, 21-42.
43
Zit. W. Öhler, Geschichte der Deutschen Evangelischen Mission, Bd. 1, Baden-Baden, 1949, 35.
44
Vgl. H.W. Gensichen, „Der Beitrag christlicher Missionare zur Erforschung des Hinduismus“, in:
Triebel, Der Missionar als Forscher, 70-86: 84 Anm. 21.Sowie: W. Raupp (Hg), Mission in Quellentexten, Erlangen, 1990, 152-153.
45
Gensichen, Der Beitrag, 82.
46
Wilhelm Germann, Ziegenbalg und Plütschau. Die Gründungsjahre der Trankebarschen Mission,
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
353
da man „dergleichen falsche Begriffe … auszurotten, nicht weiterzuverbreiten
[habe].“47 Hier wird deutlich, dass auch gemeinsame pietistische Überzeugungen,
die Francke und Ziegenbalg zweifellos teilten und die sie zu dem bahnbrechenden
missionarischen Unternehmen in Südindien motiviert hatten, aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Voraussetzungen zu unterschiedlichen Interpretationen führen können. Die sich daraus ergebenden Konflikte wurden nun nicht mehr
gesamtgesellschaftlich ausgetragen, sondern verlagerten sich in die Binnenräume
kirchlicher und missionarischer Strukturen.
2.2. Idealistische Missionstheorie: Schleiermacher
Auf ganz andere Weise setzte sich D. F. Schleiermacher (1768-1834) mit den
oben geschilderten religionskritischen Perspektiven der Aufklärung und des rationalistischen Positivismus auseinander. In seinen Reden über die Religion [1799]
versuchte er die Religion als eigenständige Erscheinung mit eigenem Recht zu
verteidigen. Der rationalistischen Verflüchtigung setzt er sein romantisches Verständnis von der Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ entgegen,
das grundlegend mit der menschlichen Existenz verbunden ist und sich zum Gottesbewußtsein und zur Frömmigkeit als „höherem Leben“ entfalten kann.48 Als
solche wiederum ist die Religion für Schleiermacher, der ebenso scharf wie Kant
zwischen Glauben und Denken trennt, ein Gegenstand legitimer wissenschaftlichtheologischer Forschung. In seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums [1811] entfaltet Schleiermacher die Theologie als „positive Wissenschaft“
über die religiösen Erscheinungen Kirche und Glauben.49 In diesen Zusammenhang ordnet er auch eine „Theorie des Missionswesens“ als Teil der Praktischen
Theologie ein.50 In seiner Missionstheorie versteht Schleiermacher Mission „als
prozessuale Durchdringung der Natur mit dem von Christus gestifteten Geist“.51
Die Aufgabe des Missionstheoretikers sieht er in der Reflexion der empirischen
Tatsachen der Mission als der Ausbreitung des christlichen Selbstbewußtseins. In
der Verbindung von Empirie und Idealismus kann Schleiermachers Missionsverständnis als Ausdruck der Epistemologie der Spät-Aufklärung verstanden werden.
Schleiermacher mühte sich, nicht nur die Religion, sondern auch die christliche
Mission für die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ im Kontext der idealistischen
Philosophie nachvollziehbar zu machen. Dieses Bemühen führt dazu, dass biblische Kerninhalte wie die Gottheit und soteriologische Mittlerschaft Christi gegenüber den von historischen und individuellen Umständen geprägten „Auffassungen
der christlich-frommen Gemütszustände“ in den Hintergrund traten. Damit hat
Schleiermacher zwar die Kontextualität christlicher Theologie und Mission er-
Abt. 2: Urkunden, Erlangen, 1968, S.152. Gensichen, Der Beitrag, 71.
47
Zit. Öhler, Geschichte, 34. Vgl. dazu T. Sundermeier, Was ist Religion?, Gütersloh, 1999, 202;
Raupp, Mission in Quellentexten, 151-152; A. Nehring, Orientalismus und Mission, Wiesbaden, 2003,
62.
48
Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich, 19855, 418.
49
Barth, Die protestantische Theologie, 396.
50
D. F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums [1811], vgl. J. Verkuyl, Contemporary Missiology, Grand Rapids: Eerdmans, 1978, 6-7.
51
Raupp, Mission in Quellentexten, 387.
354
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
kannt,52 aber zugleich die epistemologische Priorität53 des biblischen Textes stark
relativiert.
2.3. eue Impulse aus der englischen Erweckungsbewegung
Neue Impulse für die Missionswissenschaft kamen jedoch weniger aus der akademischen Theologie als vielmehr aus der englischen Erweckungsbewegung und
den politischen Entwicklungen der Zeit. Sieben Jahre bevor Schleiermacher seine
Reden formulierte, hatte der englische Laientheologe William Carey (1761-1834)
in seiner Enquiry into the Obligations of Christians to use Means for the Conversion of the Heathens [1792]54 die Idee der Gründung einer Missionsgesellschaft
nach dem Vorbild von Handelsgesellschaften vorgestellt und mit der Gründung
der Baptist Missionary Society (BMS) umgesetzt. Die freiheitlichen Impulse der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der französischen Revolution (1789) sah Carey als Antwort auf die Gebete der Gemeinden und als Signal
für neue missionarische Unternehmungen. Er schrieb: „Ja, eine herrliche Tür wurde geöffnet und wird sich wohl weiter und weiter öffnen, nämlich durch die Ausbreitung der bürgerlichen und religiösen Freiheiten, die von einer Abnahme des
päpstlichen Geistes begleitet wird.“55 Careys Vorbild löste in ganz Europa und den
USA eine Welle von Gründungen weiterer Missionsgesellschaften aus,56 die das
19. Jahrhunderts zum Großen Jahrhundert der Mission (Latourette) und die christliche Kirche zu einer globalen Wirklichkeit machten.57
Die in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende universitäre
Missionswissenschaft58 steht zwar einerseits in Kontinuität zu Schleiermachers
missionstheoretischen Ansätzen, ist aber insgesamt stärker von den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und den ihr nahestehenden Theologen geprägt.59
Bosch, Transforming 422-423
Bosch, Transforming, 187. Vgl. auch K. Barths Urteil: „Das Wort ist hier seiner Selbständigkeit
gegenüber dem Glauben nicht so gesichert, wie es der Fall sein müsste, wenn diese Theologie des
Glaubens eine wirkliche Theologie des Heiligen Geistes wäre. In einer wirklichen Theologie des
Geistes könnte eine Auflösung des Wortes nicht in Betracht kommen.“ Barth,
, 422.
54
Auszüge bei: Raupp, Quellen, 231-235.
55
William Carey,
[1792]. Übersetzt und herausgegeben von Klaus Fiedler und Thomas Schirrmacher
(edition afem – mission classics 1), Bonn: VKW, 1998, 80. Vgl. A. Feldtkeller, „Mission aus der
Perspektive der Religionswissenschaft“, in:
85 (2001), S.99-115: 109.
56
Zum Beispiel: 1797 Nederlands Zendelinggenootschap; 1810 American Board of Commissioners for
Foreign Missions; 1815 Basler Mission; 1821 Det Danske Missionsselskab (Dänische Missionsgesellschaft); 1824 Berliner Mission; 1928 Rheinische Mission; 1835 Svenska Missionssällskapet (Schwedische Missionsgesellschaft), 1942 Det Norske Missionsselskab etc.
57
Vgl. Andrew Walls, „Vom Ursprung der Missionsgesellschaften – oder: Die glückliche Subversion
der Kirchen“,
3-4/1987, 35-40. 56-60.
58
Der Begriff „Missionswissenschaft“ taucht 1832 zum ersten Mal auf. Vgl. Werner Ustorf, „Missionswissenschaft“, RGG4, Bd. 5, 1327.
59
Zum Beispiel: August Tholuck (1799-1877, seit 1826 in Halle), Johann C.K. Hofmann (1810-1877,
seit 1845 Erlangen) und Theodor Christlieb (1833-1889); Vgl. T. Schirrmacher,
, Wuppertal: Brockhaus, 1985.
52
,
53
Protestantische Theolo-
gie
Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekeh-
rung der Heiden
Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissen-
schaft
Evangelikale Missiologie
Theodor Christlieb
und seine Missionstheologie
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
355
In ihren Ansätzen verbinden Karl Graul (1814-1864) und Gustav Warneck (18341910), die Begründer der universitären Missionswissenschaft in Deutschland, die
erwecklich-konfessionelle Prägung mit dem (geistes-)wissenschaftlichen Positivismus und dem nationalen Optimismus des 1871 ausgerufenen deutschen Kaiserreichs.
2.4. Der Aufbruch der Missionswissenschaft
2.4.1. „Gläubige Wissenschaftlichkeit“: Karl Graul
Karl Graul (1814-1864), ehemaliger Direktor der Leipziger Mission, reflektierte in
seiner Habilitationsrede an der Universität Erlangen über die „Stellung und Bedeutung der christlichen Mission im Ganzen der Universitätswissenschaften.“60 Er
setzt sich einerseits vom „Helldunkel sentimentaler Gläubigkeit“ ab, an das ihn
„gewisse Züge jener pietistischen und herrnhutischen Richtung“ erinnern. Andererseits sieht er in einer biblisch verwurzelten Theologie die „königlichste aller
Wissenschaften“. Auf diesem Hintergrund wünscht er sich für die Mission und
ihre Reflexion den Weg einer „gläubigen Wissenschaftlichkeit“.61
Ausgangspunkt seiner missionstheologischen Erkenntnislehre ist „das Schriftwort“, um das „wie um ihre Centralsonne“ die vier theologischen Disziplinen und
auch die Missionswissenschaft kreisen.62 Graul steht mit seiner Betonung der
Bibel (und lutherischem Bekenntnis) als Grundlage missionswissenschaftlicher
Arbeit auf dem Boden der Erlanger Schule mit ihrem Vordenker Johann C.K.
Hofmann, der sich vor allem als Schrifttheologe verstand.63 Wie wichtig Graul die
Erlanger biblisch-theologische Perspektive war, zeigt ein Brief an das Komitee zur
Verleihung eines akademischen Preises für ein Essay über den Hinduismus im
Licht des Evangeliums, in dem er 1856 schrieb: „I am ashamed to say there is only
one learned body in Germany of Importance, all the members of which are believers in the full truth of the Gospel. I speak of the Faculty of Divinity in Erlangen
(Bavaria). This is consequently the only body that might be commissioned to
appoint Examiners.“64
Von hier aus entfaltet Graul sein Programm der Missionswissenschaft, die er auch
„Evangelistik“ nennt und (in Anschluß an Schleiermacher) dem Bereich der Praktischen Theologie zuordnet. Sie soll Wesen, Aufgabe, Arbeitsfelder der Mission
und die „Zurüstung in der Heimath“ durchdenken, eine missionsbezogene Linguistik und Kommunikationslehre („Halieutik“) entwickeln und schließlich auch
Beiträge für die „allgemeine Religionsgeschichte“ und „Mythologik“ (Religions-
K. Graul, „Über Stellung und Bedeutung der christlichen Mission im Ganzen der Universitätswissenschaften. Rede zum Zweck der Habilitation am 1. Juni 1864“, in: W. Raupp (Hg.), Mission in
Quellentexten, Erlangen, 1990, 340-342.
61
Graul, Stellung, bei Raupp, Quellen, 340. Kommt ein versteckter Minderwertigkeitskomplex christlicher Mission und die damit verbundene Gefahr der Anbiederung gegenüber der etablierten Wissenschaft zum Ausdruck, wenn Graul sagt: „die gesamte Wissenschaft, wie immer sie zum Christentum
stehe, ist, auch wenn sie’s wollte, nicht länger im Stande, die Mission zu ignorieren, seit diese eine
Macht geworden ist, die in die edelsten Gebiete des Lebens hineingreift“?
62
Graul, Stellung, 341.
63
Barth, Protestantische Theologie, 557-558.
64
Zit. bei A. Nehring, Orientalismus und Mission, Wiesbaden: Harrassowitz, 2003, 82-83.
60
356
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
phänomenologie), die „historische Theologie“ und die „kirchliche Statistik“ erarbeiten.65
2.4.2. Im Labor der Missionsgeschichte: Gustav Warneck
Gustav Warneck (1834-1910), seit 1896 Honorarprofessor für Missionsgeschichte
und Missionskunde an der Theologischen Fakultät der Universität Halle,66 sah
zwischen empirischer und theologischer Wissenschaft keinen unversöhnlichen
Gegensatz. Für Warneck sind die „Erfahrungen“ der Mission „für eine werdende
Wissenschaft der Mission, was die Experimente und Beobachtungen für die Naturwissenschaft sind“.67 Diese Erfahrungen will Warneck in seiner Missionsgeschichte beschreiben und analysieren.68 Davon unterscheidet er als zweiten
Schwerpunkt der Missionswissenschaft die „Theorie“ oder auch die „Missionstheologie“, d.h. die wissenschaftliche „Rechtfertigung und Darstellung“ der komplexen Missionspraxis,69 die er in Begründung, Organe und Betrieb der Sendung
unterteilt.70 Wie bei Graul steht auch bei Warneck die biblische Begründung der
Missionswissenschaft im Mittelpunkt und nimmt „den größten Raum in Anspruch“.71 In ihr sieht er „ein theoretisches Bedürfnis, zumal angesichts des heutige übermächtigen, alles zersetzenden Kriticismus. Wir brauchen einen festen
Grund unter den Füssen … Und dieser Grund kann kein anderer sein, als der göttliche Heilswille, wie er in That und Wort kundgethan und in der Schrift fixiert ist.
Es ist der Bibelglaube der alten Schule, auf welchen diese Missionslehre sich
gründet.“72 Neben den Bibeltext als grundlegende Missionsbegründung stellt
Warneck die Empirie als Erkenntnisquelle der Missionswissenschaft. So nennt er
beispielsweise vier empirische Gründe für die christliche Mission: (1) die Überlegenheit und Absolutheit des Christentums im Vergleich zu anderen Religionen,
(2) die Anpassungsfähigkeit des Christentums an alle kulturellen Gegebenheiten,
(3) die großen Leistungen der Missionen auf den Missionsfeldern und (4) die
historische Entwicklung, die auf die Universalisierung des Evangeliums und der
Kirche Jesu Christi hinausläuft: „Denn diese großartige Weltöffnung ist nicht bloß
geschehen, daß unsere geographische, ethnologische und linguistische Kenntnis
Graul, Stellung, 341.
Vgl. Arno Sames, „Die ‘öffentliche Nobilitierung der Missionssache’: Gustav Warneck und die
Begründung der Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Halle“, in: D. Becker, A.
Feldtkeller (Hg.), Es begann in Halle … Misssionswissenschaft von Gustav Warneck bis heute, Missionswissenschaftliche Forschungen Neue Folge 5, Erlangen, 1997, 15-17.
67
G. Warneck, Evangelische Missionslehre: Ein missionstheoretischer Versuch, Erste Abteilung: Die
Begründung der Sendung, Gotha, 18972, 9.
68
Vgl. Warneck, Gustav, Abriss einer Geschichte der protestantischen Missionen von der Reformation
bis auf die Gegenwart. Mit einem Anhang über die katholischen Missionen, 9. neu bearbeitete und
vermehrte Auflage, Berlin: Martin Warneck, 1910.
69
Warneck, Missionslehre, 17-18.
70
Warneck, Missionslehre, 22-23.
71
Warneck, Missionslehre, 22.
72
Warneck, Missionslehre, VIII. Vgl. P. Beyerhaus, Er sandte sein Wort. Theologie der christlichen
Mission, Wuppertal, 1996, 125. Vgl. Sames, Nobilitierung, 19-20.
65
66
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
357
wachse, daß der Handel uns Reichtümer zuführe und die europäischen Staaten
Kolonien erwerben, sondern‚ daß der König der Ehren einziehe‘.“ 73
Obwohl sich auch Warneck der kolonialen Bewegung in Deutschland nicht entziehen wollte, war sein Urteil doch deutlich nüchterner und kritischer als das mancher politischer und kirchlicher Zeitgenossen. Warneck schrieb 1885: „Das koloniale Besitz- und Herrschaftsrecht ist wesentlich das Recht des Stärkeren … .
Dafür gibt es keine sittliche Rechtfertigung […] Die Kolonialgeschichte bildet
eines der schwärzesten, wenn nicht das schwärzeste im Buch der Weltgeschichte.“74 Hier war Warnecks Denken stärker von der biblisch und philanthropisch
geprägten Erweckungsbewegung als von zeitgenössischen philosophischen oder
politischen Strömungen geprägt.
2.4.3. Biblisch-missiologischer Positivismus
Während in der Prämoderne (missions)wissenschaftliches Denken um Freiräume
angesichts dogmatisch-machtpolitischer Einengung kämpfen musste (siehe 1.),
versuchte sich die Missionswissenschaft im Aufbruch der aufgeklärten Moderne
als Wissenschaft gegenüber einem rationalistischen und empiristischen Wissenschaftsverständnis zu behaupten. Wie Mission verstanden werden konnte, war von
Schleiermacher eher mit, von Graul und Warneck eher gegen die Denkrichtungen
des aufgeklärten Wissenschaftsverständnisses formuliert worden. Dennoch war
auch die aufbrechende Missionswissenschaft davon geprägt. Daraus entstand so
etwas wie ein biblisch-missiologischer Positivismus,75 der die verifizierbaren
Ergebnisse biblischer Exegese und missionarischer Erfahrung mit logischer Stringenz zu einem umfassenden System entwickelte. Dieser Ansatz der Missionswissenschaft prägte auch die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, die mit
großem Optimismus „die Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ plante
und mit der baldigen Überwindung der nichtchristlichen Religionen rechnete.
Aus heutiger Sicht sind vor allem die Schwächen dieses Ansatzes betont worden.76
Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass er (1) nicht genügend zwischen der Offenbarung Gottes in der Bibel und darauf aufbauenden menschlichen Theologien
unterschieden (vgl. 2Kor 4,7; 1Kor 13,12), (2) kognitive Korrektheit gegenüber
praktischer Erfahrung überbetont, (3) individualistisch gedacht und Gesellschaft
und Gemeinde als hermeneutische Gemeinschaften unterschätzt, (4) Machbarkeits- und Fortschrittsutopien entwickelt und (5) nichtwestliche kulturelle Erkenntniszugänge geringgeschätzt habe. Andererseits hatte dieser Ansatz seine
Stärke darin, dass er (1) die biblische Offenbarung als Grundlage für Glauben und
Denken hochschätzt, (2) davon ausgeht, dass sorgfältiges Studium (von Welt und
Bibel) auch zu Erkenntnis führt und (3) interkulturelle Kommunikation auf der
Grundlage der überkulturellen Offenbarung Gottes möglich ist.
Warneck, Missionlehre, 274.
Zit. Raupp, Quellen, 419.
75
Positivismus wird hier nicht im religionskritischen Sinne Comtes verwendet, sondern im Sinne eines
unkritischen Realismus im Blick auf die wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten. Vgl. diese
Verwendung u.a. bei Paul G. Hiebert, Missiological Implications of Epistemological Shifts, Harrisburg,
1999, 1-35.
76
Vgl. Hiebert, Missiological Implications, 20-22.
73
74
358
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Die von Aufklärung und Erweckung geprägte Missionswissenschaft des späten 19.
und frühen 20. Jahrhunderts geriet nach dem Ersten, vor allem aber nach dem
Zweiten Weltkrieg in eine ernste und notwendige Krise. Diese Krise markierte
nicht nur das Ende einer positivistisch-eurozentrischen Missiologie, sondern auch
den Abschluss der im späten Mittelalter beginnenden kolonialen europäischen
Expansion, in deren Rahmen sich das Missionsdenken bei aller auch vorhandener
kritischer Distanz bis dahin entfaltet hatte. Der Zusammenbruch der europäischen
Zivilisation durch die Weltkriege und das Ende des Kolonialismus führten auch in
Wissenschaft, Theologie und Missiologie zu einem grundlegenden Umdenken.
3. Kritik und Dialog: Missionswissenschaft im 20. Jahrhundert
Der wissenschaftliche Umbruch des 20. Jahrhunderts zeigt sich vor allem im Übergang von positivistischen zu kritischen Perspektiven, von eurozentrischer zu
dialogischer und interkultureller Hermeneutik und im Einbezug kultureller, sozialer und holistischer Aspekte in die bis dahin vor allem kognitiv-dogmatische Epistemologie.77 Alle diese Veränderungen zeigen sich – vor allem seit den 1960er
und 1970er Jahren – auch in der Missionswissenschaft. Zunächst wird in der Missionswissenschaft jedoch die theologische Kultur- und Wissenschaftskritik Karl
Barths bestimmend, die darum im folgenden Überblick einiger wissenschaftstheoretischer Entwicklungen an den Angang gestellt wird.
3.1. Theologische Wissenschaftskritik bei Karl Barth
Es war Karl Barth (1886-1968), der nach dem 1. Weltkrieg gegen die sorgsamen
Bemühungen, Theologie und Wissenschaft in einem positivistisch-kulturellen
Denkrahmen miteinander zu verbinden, protestierte und die Theologie radikal zur
Sache rief: „Dominus dixit“ – der Herr hat geredet. Damit knüpfte er – unter neuen Bedingungen und in neuer Weise – an der prämodernen Vorrangstellung der
biblischen Offenbarung in der Erkenntnislehre an. Heinz Zahrnt fasst zusammen:
„Gegen alle bloß historische, psychologische und spekulative Auffassung des
Christentums hat Barth die Offenbarung Gottes als die entscheidende theologische
Denkkategorie wiederentdeckt. … Damit aber hat er dem Theologen zugleich
seinen Platz angewiesen: ‚unterhalb‘ der Heiligen Schrift.“78 Nach den Erfahrungen des Kriegs lehnte Barth den kulturprotestantischen Versuch, die Theologie
wissenschaftlich zu legitimieren, schroff ab. Theologie als Wissenschaft will er
nur gelten lassen, (1) um deutlich zu machen, dass auch die Theologie eine
„menschliche Bemühung um die Wahrheit ist“, (2) als „nötigen Protest gegen
jenen … ‚heidnischen‘ allgemeinen Wissenschaftsbegriff“ und (3) um zu dokumentieren, dass die Theologie das „Heidentum“ der anderen Wissenschaften
„nicht ernst genug nimmt, um sich unter anderem Namen vornehm von ihnen
abzusondern. … Sie glaubt an die Vergebung der Sünden und nicht an die Wirklichkeit eines heidnischen Pantheons.“79 In beißender Ironie wird hier die eurozentrisch-positivistische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die sich den sogenannten
Vgl. Schneider, Erkenntnistheorie, 29.
Zahrnt, Sache, 18-19.
79
Zit. bei H. Hempelmann, Kritischer Rationalismus und Theologie als Wissenschaft, Wuppertal:
Brockhaus, 1980, 143.
77
78
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
359
„heidnischen“ Kulturen weit überlegen sah, selbst als „heidnisch“ bezeichnet.
Dabei geht es nicht um eine (unmögliche) Rückkehr zum theologischmittelalterlichen Denkrahmen, sondern die notwendige Erschütterung eines nicht
mehr tragfähigen, gescheiterten eurozentrisch-positivistischen Wissenschaftsideals. Dieser theologischen Grundsatzkritik unterzog Barth auch den überkommenen
und kirchlich-kulturell verengten Missionsbegriff und platzierte ihn neu im Zentrum der Gotteslehre.80 Mission wird nun begriffen als Aktivität Gottes selbst.
Damit entzog Barth den Missionsbegriff dem allzu schnellen Zugriff positivistisch-wissenschaftlicher Theorie und kulturchristlicher Aktivität und gab den
Anstoß zur späteren Entwicklung des missio Dei-Konzepts (vgl. 3.3.2.)
3.2. Kritische Perspektiven in der Wissenschaftstheorie
3.2.1. Karl Poppers kritischer Rationalismus
Auf ganz andere Weise setzt sich der kritische Rationalismus Karl Poppers (19021994) mit dem Erbe des positivistischen Wissenschaftsverständnisses des 19.
Jahrhunderts auseinander.81 Popper ging in seinem 1934 erstmals erschienenen
Hauptwerk Logik der Forschung zwar – im Gegensatz zur radikaleren kritischen
Theorie der Frankfurter Schule82 und späteren postmodernen Ansätzen83 – davon
aus, dass es eine absolute, objektive Wahrheit gebe, die auch über die Gesetze der
Logik dargestellt werden könne. Allerdings verneinte er die Möglichkeit der vom
(Neo-)Positivismus (oder logischen Empirismus) geforderten vollständigen Verifizierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen.84 Vielmehr müsse das Kriterium der
Falsifizierbarkeit genügen, um eine Aussage als wissenschaftlich bezeichnen zu
können: „Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können“.85 Da das menschliche Wissen und Erkenntnisvermögen jedoch unvollkommen sei, könne lediglich eine Annäherung an wissenschaftliche Wahrheit
über immer neue conjectures und refutations erfolgen.86 Eine Theorie könne nie
mit letzter Sicherheit als wahr bezeichnet werden, daher könne „Objektivität nur
K. Barth, „Die Theologie und die Mission in der Gegenwart.“ Vortrag auf der Brandenburgischen
Missionskonferenz 1932, Zwischen den Zeiten, Heft 3 (1932) 189-215. Vgl. D. Bosch, Transforming
Mission, Maryknoll, 1991, 389.
81
Vgl. Schneider, Erkenntnistheorie, 127ff.; Hempelmann, Kritischer Rationalismus; Rieger 335.
82
Vgl. auch den sog. Positivismusstreit in den 1960er Jahren, in dem Adorno und Habermas als Vertreter der kritischen Theorie dem kritischen Rationalismus Poppers eine Vernachlässigung des gesellschaftlichen Zusammenhangs und einen positivistisch-universellen Geltungsanspruch vorwarfen. Vgl.
Schneider, Erkenntnistheorie, 207-212.
83
Unter anderem auch die anything-goes-Sichtweise seines Schülers Paul Feyerabend in: Against
Method: Outline of an anarchistic Theory of Knowledge, London: Verso, 1975.
84
Der Neo-Positivismus oder logische Empirismus des „Wiener Kreises“ um Moritz Schlick (18821936) und Rudolf Carnap (1891-1970) entwickelte die positivistische Perspektive A. Comtes weiter.
Empirische Verifizierbarkeit wird zum zentralen Kriterium von Wissenschaft, die nur noch logische
und empirisch verifizierbare Sätze als sinnvoll und wahr anerkennt. Vgl. H. M. Rieger, „Grenzen
wissenschaftlicher Rationalität, Relativismus und Gottesglaube: Reflexionen zur zeitgenössischen
wissenschaftstheoretischen Diskussion“, Theol. Beiträge 33 (2002) 334-355: 335.
85
Popper zit. bei N. Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, Stuttgart, 1998, 131. Vgl. Hempelmann, „Wissenschaft“, ELThG, 2176-2179: 2177.
86
Vgl. Hempelmann, „Kritik/Kritizismus“, ELThG, 1185-1186. Schneider, Erkenntnistheorie, 137.
80
360
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
in intersubjektiver Nachprüfung bestehen, somit in der methodischen Überprüfung
der Frage, ob eine Hypothese sich als resistent (oder nicht resistent) gegen Widerlegungsversuche erwiesen hat.“87 Dass der Ansatz der Falsifikation für Popper
auch gesellschaftliche Aspekte hat, zeigt sich in seiner soziologischen Schrift The
Open Society and its Enemies (1945), in der er sich „angesichts von Faschismus
und Stalinismus gegen alle Formen des Dogmatismus“ wendet.88
3.2.2. Kritische Theorie und kommunikative Rationalität
Wesentlich für die weitere Entwicklung waren die schon erwähnten Perspektiven
der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die weniger auf das Verstehen, als
viel mehr die Veränderung der Gesellschaft abzielte. In Erkenntnis und Interesse
(1968) betont Jürgen Habermas, dass die „Erkenntnisfunktion der modernen Wissenschaften […] im Zusammenhang mit dem System gesellschaftlicher Arbeit“
verstanden werden müsse. Habermas’ Ziel ist „die Rettung des Subjekts und seines Anspruchs auf Mündigkeit“, die Befreiung und Emanzipation des Unterdrückten mit dem Ziel eines herrschaftsfreien Dialogs „aller mit allen“.89 Wahrheit ist
für Habermas eine gesellschaftliche Größe (das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft nach K.O. Apel) und letztlich auch ein emanzipatorisch-politischsoziales Ziel. Wahrheit wird „durch kommunikative Handlungen, die auf Konsens
und damit auf Zustimmung des Gesprächspartners abzielen, ermittelt.“ Das Ziel
besteht darin, die „Kolonisierung der Lebenswelten“ und die Entfremdung des
Menschen durch Geld und Macht durch kommunikative Rationalität, d.h. das
mündige Gespräch, zu überwinden.90 Daran wird deutlich, wie stark nun soziale
und holistische Aspekte in der Wissenschaftstheorie berücksichtigt werden.
3.2.3. Kritik im hermeneutischen Zirkel
Anregungen für diese Perspektiven hat Habermas auch von Hans-Georg Gadamers Hermeneutik erhalten, wie überhaupt die Hermeneutik als Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften sich im 20. Jahrhundert zunehmend etablierte.91
Schon Wilhelm Dilthey (1833-1911) hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts das
Verstehen der Texte der Vergangenheit als Proprium der Geisteswissenschaften
hervorgehoben, dabei jedoch vor allem die intuitive Einfühlung des Interpreten in
den Autor als Methode hervorgehoben. Demgegenüber hebt Gadamer in Wahrheit
und Methode (1960) die kritische Vernunft als wichtigste Instanz hervor. Er
knüpft an Heideggers Theorie des hermeneutischen Zirkels an, für die das Gespräch die grundlegende hermeneutische Situation darstellt. In der „Horizontver-
N. Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, Stuttgart, 1998, 131.
Schneider, Erkenntnistheorie, 129.
89
Schneider, Erkenntnistheore, 213-214.
90
Schneider, Erkenntnistheorie, 217-218. In den letzten Jahren hat Habermas allerdings verstärkt auf
die Bedeutung der „Übersetzung“ der christlichen Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft für deren Zukunft hingewiesen. Vgl. Habermas´ Dankesrede „Glauben und Wissen“ als Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14.10.2001 in der Frankfurter Paulskirche;
Glasnost-Archiv: Dokumentationssystem für Gesellschaftstheorie, Geschichte und Politik,
www.glasnost.de/docs01/011014habermas.html, (18.11.2009). Vgl. auch: Jürgen Habermas / Joseph
Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Herder, Freiburg, 2005.
91
Schneider, Erkenntnistheorie, 95-99.
87
88
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
361
schmelzung“92 geht es Gadamer um einen Dialog, eine „Dynamisierung beider
Pole, des Texts wie der Deutung.“ Die Bedeutung des Textes ist nicht untrennbar
mit seinem Autor verbunden, sondern kann im Lauf der Geschichte unterschiedliche Aspekte bekommen und wird schließlich auch durch die aktuelle Interpretation des Lesers verändert. Dennoch bleibt der Text in seinem eigenen, auch kritischen Recht bestehen und wird nicht etwa durch die gegenwärtige Begrifflichkeit
des Interpreten „entmächtigt“. Es geht vielmehr darum zu zeigen, „wieviel Geschehen in allem Verstehen wirksam ist“.93
3.2.4. Interkulturelle Perspektiven
Im missiologischen Bereich spielten interkulturelle Perspektiven von Anfang an
eine wichtige Rolle (vgl. Llull). Missionare und Bibelübersetzer hatten, bei allen
(unvermeidlichen) ethnozentrischen Ausgangspunkten und kulturellen Vorurteilen,94 ein ernsthaftes Interesse daran, die Kultur des Gegenübers zu verstehen, um
die biblische Botschaft möglichst verständlich zu vermitteln. Auch die im 20.
Jahrhundert stark gewachsene Kulturanthropologie und Ethnologie hat – in Verbindung mit der Soziologie – wesentliches zum Verständnis von Kulturen als
komplexen Sinnsystemen, zum Dialog zwischen den Kulturen und zur Erforschung transkultureller Prozesse beigetragen.95 Dennoch kam die Eigenperspektive von Vertretern aus der nichtwestlichen Welt in der wissenschaftlichen Diskussion erst langsam zum Ausdruck. Erste Anstöße hierzu lassen sich bezeichnenderweise in der missionstheoretischen Diskussion in den 1950er und 1960er Jahren in der Ökumenischen Bewegung finden. Christliche Theologen aus den Kirchen der nichtwestlichen Welt wie der Inder Paul Devanandan (1901-1962) konfrontierten die westlichen Theologen und Missionswissenschaftler mit der Herausforderung, nicht nur die europäische Geistesgeschichte, sondern auch die von
Hinduismus, Buddhismus, Islam und Stammesreligionen geprägten Kulturen sowie die politische Situation in den postkolonialen Ländern als erkenntnistheoretische Hintergründe und den interreligiösen Dialog als eine Quelle der Missionstheologie ernst zu nehmen.96
„Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu
geiwnnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich
für sich seiender Horizonte.“, H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode [1960], in: Gesammelte Werke,
Bd. 1: Hermeneutik I, Tübingen: Mohr-Siebeck, 1990 (6. durchges. Auflage), 311. Vgl. Schneider,
Erkenntnistheorie, 101.
93
Gadamer, Wahrheit und Methode, 1965 (2. Aufl.), Vorwort, S.XV. Vgl. Schneider, Erkenntnistheorie, 103.
94
Vgl. J. G. Piepke (Hg), Kultur und Religion in der Begegnung mit dem Fremden, Nettetal: Steyler
Verlag, 2007, 24ff.
95
Vgl. L. Lutzbetak, The Church and Cultures: ew Perspectives in Missiological Anthropology,
Maryknoll: Orbis, 1996.
96
Vgl. die Rede Devanandans, „Zu Zeugen berufen“ auf der 3. Vollversammlung der ÖRK in Neu
Dehli 1961, in: Focko Lüpsen, eu Dehli Dokumente. Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in eu Dehli 1961, Witten: Luther-Verlag, 1962, 276-286. Zur gesamten Entwicklung vgl. Pius
Helfenstein, Grundlagen des interreligiösen Dialogs: Theologische Rechtfertigungsversuche in der
92
ökumenischen Bewegung und die Verbindung des trinitarischen Denkens mit dem pluralistischen
Ansatz, Frankfurt a.M.: Verlag Otto Lembeck, 1998.
362
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Ähnliche Entwicklungen finden sich in den 1970er Jahren im Bereich der Literaturwissenschaft. 1978 erschien das Buch Orientalism des in Nordamerika lehrenden palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said, der darin auf die
Macht der Interpretation und die beherrschende Rolle westlich kultureller Interessen im Diskurs interkultureller, vor allem der sogenannten orientalistischen Studien aufmerksam machen wollte. Ähnlich wie Habermas wies Said nun auch im
interkulturellen Bezug auf die Bedeutung politischer und wirtschaftlicher Faktoren
in wissenschaftlichen Diskursen hin. Auch wenn Saids Perspektiven der tatsächlichen Arbeit und Wirkung westlicher wissenschaftlicher Beschäftigung mit asiatischen oder vom Islam geprägten Kulturen nicht immer gerecht wurden und ihrerseits von Interesse und einer gewissen Einseitigkeit geprägt waren,97 haben sie
wichtige Anstöße gegeben und trugen mit zur Entstehung der postcolonial studies
als neuer literaturwissenschaftlicher Forschungsrichtung bei, die sich wiederum
auch in anderen Wissenschaftsbereichen auswirkte.
3.3. Theologische und kulturelle Kritik in der
Missionswissenschaft
Die beschriebenen Entwicklungen der Wissenschaftstheorie von Barth und Popper
bis Gadamer und Habermas prägten auch die Perspektiven der Missionswissenschaft im 20. Jahrhundert. Während sich nach dem 1. und im ersten Jahrzehnt
nach dem 2. Weltkrieg vor allem die von Barth ausgelöste theologische Wende
auswirkte, setzten sich in den 1960er und 1970er Jahren zunehmend gesellschaftsund kulturbezogene kritische Perspektiven durch. So forderte H.W. Gensichen in
seinem missionstheologischen Hauptwerk Glaube für die Welt (1970), dass „das
Erbe der […] Mission kritisch rezipiert“ und dann „neu formuliert und aktualisiert
werden“ müsse, auch auf das Risiko hin, dass die „‘Selbstbefreiung durch Wissen‘, die das Lernen aus der Geschichte einbringen kann (K. R. Popper) zu fortdauernder Selbstkritik führt.“98 Neben das christliche Sendungsbewußtsein trat
nun zunehmend eine ökumenische, kontextuelle und dialogische Hermeneutik, die
sich in der Missionswissenschaft in Deutschland in der wachsenden Wahrnehmung der konfessionell und religiös Anderen zeigte.99 Die in den 1960er und
1970er Jahren in den USA aufbrechende evangelikale Missionswissenschaft entwickelte – vor allem im Kontext der Bibelübersetzung – ein besonderes Interesse
an interkulturellen Fragen und suchte die Verbindung mit Linguistik, Kulturanthropologie und Kommunikationswissenschaft.100 Die Selbstverständlichkeit, mit
der bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts von Mission, Wissenschaft und ihren
Vgl. die von Said ausgelöste kontroverse Diskussion z.B. Michael Sprinker (Hg.), Edward Said. A
Critical Reader, Oxford-Cambridge, 1992. Vgl. auch Andreas Nehring, Orientalismus und Mission.
97
Studien zur Repräsentation der südindischen Kultur und Religion durch deutsche Missionare 18401940, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2003.
98
Hans-Werner Gensichen, Glaube für die Welt. Theologische Aspekte der Mission. Gütersloh: Güters-
loher Verlagshaus Gerd Mohn, 1971, 14f.
99
Dies begann bereits mit der entsprechenden Benennung der neuen Lehrstühle: z.B. 1947 in Mainz,
Religions- und Missionswissenschaft (Walter Holsten), Hamburg 1953, Missionswissenschaft und
ökumenische Beziehungen der Kirchen (Walter Freytag).
100
Vgl. Charles R. Taber, To Understand The World, To Save The World: The Interface Between
Missiology and the Social Sciences, Harrisburg: Trinity, 2000, 98.
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
363
Zusammenhängen geredet worden war, war spätestens im Kontext der Nachkriegs- und postkolonialen Entwicklungen verflogen. Es konnte nun nicht mehr
um eine wissenschaftliche Legitimierung eines unhinterfragten westlichpositivistischen Missionsverständnisses gehen, das nun „zum Problem geworden“
war (W. Freytag).
Zunächst führte dies (unter dem langen Schatten Barths) in der Missionswissenschaft des 20. Jahrhunderts zu einer verstärkten Beschäftigung mit ihren theologischen Grundlagen. Nicht mehr die Fragen der Methodik, die das 19. Jahrhundert
intensiv beschäftigten, sondern die Missionstheologie, die Frage nach den theologischen und hermeneutischen Grundlagen der Mission, rückte nun ins Zentrum.
Wie dies aussah soll exemplarisch zunächst am Konzept des biblischen Realismus
bei Hendrik Kraemer und anschließend anhand der Entwicklung und kontroversen
Diskussion des missio Dei-Begriffs deutlich gemacht werden.
3.3.1. Biblischer Realismus
Mit seinem Vortrag zur missionarischen Begegnung mit den nichtchristlichen
Religionen auf der Weltmissionskonferenz in Tambaram 1938 stellte der holländische Missionswissenschaftler Hendrik Kraemer wichtige Weichen für die weitere
Entwicklung der Missionstheologie. Als epistemologischen Grundrahmen der
Missionstheologie schlug Kraemer einen „biblischen Realismus“ vor,101 in dessen
Rahmen Mission einerseits als in der biblischen Offenbarung Gottes verwurzelt
und andererseits als radikale Kultur- und Religionskritik verstanden wird – und
zwar nicht nur im Blick auf nichtchristliche Religionen und Kulturen, sondern
vorrangig im Blick auf die Religiosität und Kultur der westlichen Christenheit.
Positivistisch-postmillenialistischen Inklusivismen von Christus als der Krone
religiöser und kultureller Entwicklung, setzt Kraemer die religionswissenschaftlich-theologische Analyse der Religionen sowie die missionarische Begegnung in
einer „bemerkenswerten Kombination von schlichter Furchtlosigkeit und radikaler
Demut“ entgegen,102 was David Bosch später als „bold humility“ zusammenfasste.
Demut, weil im Licht der Offenbarung Christi sowohl die Perversion der eigenen
Religiosität als auch die Noblesse fremder Religionen zugegeben werden kann.
Furchtlosigkeit, weil sowohl Christen als auch die Anhänger anderer Religionen
die einzigartige Offenbarung Gottes in Christus hören müssen. Diese neue und
zum Teil paradoxe Verbindung von Selbstkritik und vertiefter biblischer Gewissheit wurde nach dem 2. Weltkrieg auch in Deutschland aufgegriffen und erweitert.
Der Hamburger Missionswissenschaftler Walter Freytag schrieb 1954: „Es ist für
uns ausgeschlossen, dass wir den Unterschied zwischen Christentum und Religionen etwa noch, wie man vor hundert Jahren das tat, unter der Formel Heil und
Heillosigkeit zu betreiben suchten … . Auf der anderen Seite ist es aber ganz klar,
dass … die biblische Verkündigung … etwas bezeugt, was vorher nicht da war:
das Heil.“103
H. Kraemer, „Continuity or discontinuity“, The Authority of the Faith, The Tambaram Series 1,
Oxford/London, 1939, 1-2 (Übersetzung FW).
102
H. Kraemer, The Christian Message in a on-Christian World, zit. bei N. Thomas, Classic Texts,
266 (Übersetzung FW).
103
W. Freytag, „Das Dämonische in den Religionen: Ein vergessener Faktor in der Diskussion“, Reden
und Aufsätze II, München, 1961, 13-21: 14.
101
364
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
3.3.2. Missio Dei
Während etwa W. Holsten in Mainz die Grundlage für die Mission im Kerygma
sah, das den Menschen in eine existentielle Entscheidung für oder gegen Gott
stellt,104 setzte sich im Umfeld der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952
unter dem Einfluss von Karl Hartenstein und Walter Freytag das von der Theologie Barths geprägte Konzept der missio Dei durch.105 Im Abschlussbericht der
Konferenz hieß es:
Die Missionsbewegung von der wir ein Teil sind, hat ihren Ursprung in dem
dreieinigen Gott. Aus den Tiefen seiner Liebe zu uns, hat der Vater seinen
eigenen geliebten Sohn gesandt, alle Dinge mit sich zu versöhnen, auf daß
wir und alle Menschen – durch den Heiligen Geist – eins werden möchten in
ihm mit dem Vater. … In Christus sind wir erwählt, mit Gott versöhnt …, zu
Gliedern seines Leibes … gemacht, und durch eben diese Tatsache sind wir
zur vollen Teilnahme an seiner rettenden Mission bestimmt. Man kann nicht
an Christus teilhaben ohne teilzunehmen an seiner Mission an die Welt. Die
gleichen Taten Gottes, aus denen die Kirche ihre Existenz empfängt, sind es
auch, die sie zu ihrer Weltmission verpflichten. ‚Wie der Vater mich gesandt
hat, so sende ich euch‘.106
Damit wurde Mission von einem eurozentrisch-ekklesiologischen Funktionsbegriff zu einer grundlegenden theologischen Aussage, die die rettende Zuwendung
des dreieinigen Gottes zur Welt und die Teilnahme der Kirche an diesem Geschehen zum Ausdruck brachte.
Während der missio Dei-Gedanke die Missionswissenschaft erfolgreich aus der
kulturell-christentümlichen Engführung des 19. Jahrhunderts befreit und Mission
ins Zentrum von Theologie und weltweiter Kirche gerückt hatte, wurde er aufgrund seiner Offenheit bald zum Schauplatz einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung um das richtige Verständnis von Mission. Während zunächst eine an
Barth orientierte kirchlich-evangelistische Interpretation prägend wurde (heilsgeschichtliches Modell), setzte sich im Laufe der 1960er Jahre unter dem Einfluß
von J. Hoekendijk zunehmend eine sozialpolitisch-dialogische Interpretation
durch.107
3.3.3. Die Auseinandersetzung um die missio Dei
Die heilsgeschichtliche Richtung, die den Begriff der missio Dei zunächst geprägt
hatte, wurde vertreten von Karl Hartenstein, Walter Freytag, Georg Vicedom,
Hendrik Kraemer, Lesslie Newbigin u.a. Hier verstand man die biblische Offenba-
Vgl. Holsten, Kerygma, 120ff. Holsten knüpfte hier an die existentiale Interpretation Bultmanns an.
Die missio Dei-Formulierung selbst wurde auf der Konferenz nicht gebraucht, sondern geht auf Karl
Hartenstein zurück, der den Begriff in seinem Bericht zur Konferenz verwendet. K. Hartenstein,
„Theologische Besinnung“, in: Mission zwischen Gestern und Morgen, hg. v. W. Freytag, Stuttgart,
1952, 51-72: 54. In diesem Bericht deutet er auch an, dass die holländische und nordamerikanische
Delegation einen anderen Akzent setzte, in dem die Mission Gottes nicht als Begründung der Mission
der Kirche verstanden, sondern unmittelbarer in Bezug zur Welt gesetzt wurde.
106
„Dokumente aus Willingen“, EMM 9, Heft 1, Januar 1952, S.155-156.
107
T. Sundermeier, „Theologie der Mission“, Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, hg. v. K.
Müller und T. Sundermeier, Berlin: D. Reimer, 1987, S.470-495.
104
105
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
365
rung, die Verkündigung der Kirche, den Ruf zum persönlichen Glauben und den
Bau der Gemeinde als zentrale Identitäten der missio Dei. Demgegenüber hatte
Johann Hoekendijk, ein Schüler Kraemers, schon in Willingen kritisiert, dass das
(deutsche) Missionsdenken immer vom ethnopathos geprägt und zu eng mit den
Konzepten von Volk und Kirche verknüpft sei.108 Während für Hartenstein die
missio Dei die verkündigende und diakonische Mission der Kirche begründet und
zu ihrem zentralen Auftrag in der Weltgeschichte macht, rückt für Hoekendijk die
Kirche an den Rand der missio Dei und die Weltgeschichte in den Mittelpunkt.
Nicht in der Kirchen- und Missionsgeschichte sah Hoekendijk den roten Faden der
missio Dei, sondern in den Säkularisierungs- und Befreiungsbewegungen in der
Weltgeschichte. Das von Hoekendijk geprägte verheißungsgeschichtliche Modell
ist nach Sundermeier „eher ein sozialethisches Konzept … Die Kirche kommt in
diesem Ansatz nur beiläufig vor … Das Reich Gottes ist im Blick, nicht die Kirche. … In Jesu Kommen und seinem Tod ist Gottes Solidaritätshandeln mit der
Welt erkennbar. Das muß die Kirche fortsetzen und mit den Unterdrückten und
Randsiedlern leben“.109
3.3.4. Von der kritischen Dichotomie zum komplexen Konsens
Während sich in den Missionsgremien des ÖRK und der mit ihm verbundenen
Kirchen in den 1960er und 1970er Jahren eher die verheißungsgeschichtliche
Sichtweise durchsetzte, knüpften konfessionelle Theologen, pietistische Glaubensmissionen und die evangelikalen Missionen verstärkt beim heilsgeschichtlichen Modell an. Internationaler Ausdruck dieser Entwicklung war die WheatonDeclaration von 1966, in der die beiden großen evangelikalen Missionsverbände
der USA (IFMA und EFMA) ihr Missionsverständnis formulierten. Einen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung zwischen beiden Modellen in Deutschland
in den frühen 1970er Jahren, als der ÖRK im Rahmen des Anti-RassismusProgramms Missionsgelder zur Unterstützung umstrittener afrikanischer Freiheitsbewegungen einsetzen wollte,110 während andererseits konservative theologische Gruppen unter Federführung des Tübinger Missionswissenschaftlers Peter
Beyerhaus im Berliner-Ökumene-Dokument 1974 dem ÖRK vorwarfen, „Jesus
Christus durch sein antichristliches Gegenbild zu ersetzen“ und den Bekenntnisstand ausriefen.111 Weniger kontrovers waren die Entwicklungen in den USA.
Parallel zur Wheaton-Declaration entstand am Fuller Theological Seminary in
Pasadena/Los Angeles unter der Leitung von Donald McGavran und Arthur Glasser eine eigenständige evangelikale Missionswissenschaft (Fuller School of World
Mission), die neben einer heilsgeschichtlichen Theologie neuere sozialwissenschaftliche und kulturanthropologische Theorien zur Erforschung interkultureller
Begegnungen und der Bibelübersetzung berücksichtigte. 1974 flossen diese und
andere Entwicklungen zusammen, als sich unter der Initiative von Billy Graham
L. A. Hoedemaker, „The Legacy of J.C. Hoekendijk“, IBMR, Oct. 1995, 166-170.
T. Sundermeier, „Begegnung mit dem Fremden. Plädoyer für eine verstehende Missionswissenschaft“ [1990], in: Konvivenz und Differenz: Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft, hg.
v. Volker Küster, Missionswissenschaftliche Forschungen Neue Folge Bd. 3, Erlangen: VELM, 1995,
76-86: 77f.
110
G. Rosenkranz, Die christliche Mission: Geschichte und Theologie, München: Kaiser, 336.
111
Rosenkranz, Die christliche Mission, 309; vgl. P. Beyerhaus, Krise und euaufbruch der Weltmission, Bad Liebenzell, 1987, 23ff.
108
109
366
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
über 2000 evangelikal geprägte Theologen, Kirchenleiter und Missionswissenschaftler aus 150 Ländern zum Lausanner Kongress für Weltevangelisation trafen.
Die daraus hervorgegangene Lausanner Verpflichtung wurde aufgrund ihres biblisch-theologischen Tiefgangs, ihres versöhnlichen und gesprächsbereiten Charakters und ihrer interkulturellen Entstehungs-Hermeneutik zu einem weit über
den zeitlichen Kontext richtungsweisenden Dokument der weltweiten evangelikalen Bewegung. 1982 legte der ÖRK mit Mission und Evangelisation. Eine Ökumenische Erklärung ein entsprechendes Dokument vor, das – wenn auch mit anderen Akzenten – ebenso zwischen dem heils- und verheißungsgeschichtlichen Modell zu vermitteln und neue Wege zu gehen suchte.11 Sowohl die Lausanner Verpflichtung als auch die Ökumenische Erklärung stellten also bereits einen wichtigen Schritt zur Überwindung einer dichotomen positivistischen Sichtweise dar, die
unterschiedliche missio Dei-Verständnisse gegeneinander auszuspielen drohte.
2
Auch an anderen Stellen lassen sich neue Perspektiven feststellen. Die Verhärtungen der Fronten in den 60er und 70er Jahren haben vermehrt der Einsicht in die
Selbstreferenzialität missionswissenschaftlicher Arbeit Platz gemacht, bescheidenere Sichtweisen und das Gespräch miteinander gefördert. In diesem Zusammenhang können auch die Anfänge einer eigenständigen evangelikalen Missionswissenschaft in Deutschland verstanden werden, die mit der Gründung des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM) sowie dem Beginn der Zeitschrift evangelikale missiologie (em) 1985 verbunden sind. Der Mentor der
damaligen Entwicklungen, der mennonitische Missionswissenschaftler G.W. Peters, forderte damals: um „als Wissenschaft gelten zu können“ müssten in einer
evangelikalen Missiologie mindestens drei grundlegende Aspekte berücksichtigt
werden: (1) die „Breite und Tiefe der Quellen“, (2) „die Bibel als geoffenbarte
Wahrheit“ und (3) das Erkennen der eigenen „Geschichts- und Kulturbezogenheit
und -bedingtheit“. Nicht die Abgrenzung, sondern der eigenständige Beitrag im
Bewußtsein der eigenen Perspektive und die Bereitschaft zum Gespräch standen
hier im Vordergrund.
113
114
115
116
Insofern ist T. Sundermeier zwar zuzustimmen, wenn er die Dichotomie der oben
beschriebenen Positionen zur missio Dei als „vom abendländisch- und amerikanisch hegemonialen Geist durchtränkt“ und „in ihrer radikalen Form heute [1990]
so nicht mehr vertretbar“ sieht und fordert, „die penetrante Vorherrschaft der
117
Beide Erklärungen bei Joachim Wietzke (Hg.), Mission erklärt: Ökumenische Dokumente von 19721992. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 1993. Vgl. auch Vgl. A. Schnepper/ R. Werner (Hg), Eine neue
Vision. Die Lausanner Bewegung in Deutschland, Holzgerlingen, 2005.
112
Selbstreferenzialität ist ein Kernbegriff der Systemtheorie N. Luhmanns und beschreibt die notwendige Abhängigkeit des Erkennens von den eigenen, systeminternen Voraussetzungen, vgl. 4.2. in
diesem Aufsatz.
114
Vgl. Klaus W. Müller, „Bilanz und Plan: Auftrag, Weg und Ziel des Afem. Zum 10-jährigen Jubiläum des AfeM“, em 1/1995, 12-21; 2/1995, 35-42; K.W. Müller, „Deutschsprachige evangelikale
Missiologie“, em 15 (4/1999), 145-156.
115
G. W. Peters, „Evangelische Missionswissenschaft“, em 1/1985, 4.
116
Vgl. Klaus W. Müller, „Bilanz und Plan: Auftrag, Weg und Ziel des Afem. Zum 10-jährigen Jubiläum des AfeM“, em 1/1995, 12-21; 2/1995, 35-42; K.W. Müller, „Deutschsprachige evangelikale
Missiologie“, em 15 (4/1999), 145-156.
117
Sundermeier, Begegnung, 79.
113
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
367
abendländischen Auslegung, sowohl in ihrer historisch-kritischen wie in ihrer
heilsgeschichtlichen Auslegung“ dürfe „keinen Alleinvertretungsanspruch mehr
stellen“.11 Andererseits ist festzuhalten, dass der positivistische Streit um die
Wahrheit, wie er sich zwischen den Modellen entwickelt hatte, durchaus notwendig war. So stellte die heilsgeschichtliche Auslegung durch ihre Betonung der
missionarischen Kommunikation, der Rolle des persönlichen Glaubens und der
Kirche ein wichtiges Korrektiv gegenüber einem säkulär-soziologischen Profilverlust der Mission dar, während die verheißungsgeschichtliche Interpretation mit
Recht auf die Bedeutung einer holistischen Missiologie verwies, die gesellschaftliche, soziale und politische Fragen nicht ausklammert. Gerade in der Wahrnehmung des kulturellen Kontextes und der Entwicklung interkultureller Kommunikation und Hermeneutik, die auch die Perspektiven Gadamers aufnehmen, sind
sich evangelikale und ökumenische Perspektiven näher gekommen. Auf der
Lausanner Consultation on ‘Gospel and Culture’ in Willowbank 1978 wurde die
Beziehung zwischen den Kontexten der Welt und dem Text der Bibel so formuliert: „Out of the context in which his word was originally given, we hear God
speaking to us in our contemporary context, and we find it a transforming experience. This process is a kind of upward spiral in which Scripture remains always
central and normative.“ Mit anderen Akzenten bietet auch Sundermeiers interkulturell-hermeneutische Missionswissenschaft wichtige Perspektiven, die auch
Anliegen der postcolonial studies aufnehmen: „Sendung, Prophetie, gibt es nicht
ohne den, zu dem man gesandt ist. Wie der Glaube lebt das Zeugnis deshalb aus
dem Hören, dem Hören auf das Wort Gottes und auf den Anderen […]. Wo der
Andere in seinem Subjektsein erkannt wird, wird auch seine Situation ernstgenommen.“
8
119
120
Sowohl die biblisch-kontextuelle Ausrichtung der evangelikalen Missionswissenschaft als auch der hermeneutische Ansatz Sundermeiers sind in ihrem komplexen
Konsens längst auf dem Weg zu einer global denkenden Missionswissenschaft,
die um ihre eigene kulturelle Perspektivität weiß und sich zugleich der Herausforderung der Kommunikation des Evangeliums und der biblisch begründeten Reflexion der Mission angesichts der postmodern-globalen „Pluralität und Heterogenität von Wahrheit, bzw. Rationalistätsformen“ stellt. Was wissenschaftlich ist
wird in der Postmoderne in der Spannung zwischen einer interkulturellen Pluralität von Rationalitäten auf der einen Seite und der „Widerständigkeit“ der Wirklichkeit (Thomas Kuhn) auf der anderen Seite neu ausgehandelt werden. Wie die
Wissenschaftstheorie sich von kritischen zu postmodernen Perspektiven weiterentwickelt hat und welche Auswirkungen dies auf die Missionswissenschaft hat,
soll im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.
121
Sundermeier, Begegnung, 80.
Willowbank Report § 4b, zit. Making Christ known: Historic Documents from the Lausanne Movement 1974-1989, Carlisle: Paternoster, 1996, 84.
120
Sundermeier, Begegnung, 83.85.
121
H. M. Rieger, „Grenzen wissenschaftlicher Rationalität, Relativismus und Gottesglaube: Reflexionen zur zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Diskussion“, Theologische Beiträge 33 (2002)
334-355: 338. Vgl. auch G. Gabriel, „Postmoderne“, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. J. Mittelstraß, Bd. 3, Stuttgart/Weimer: J. B. Metzler, 1995, 306.
118
119
368
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
4. Globale Perspektivität:
Missionswissenschaft in der Postmoderne
4.1. Paradigmentheorie und Missionstheologie
Trotz der weithin anerkannten Gültigkeit der oben beschriebenen Perspektiven
Karl Poppers sah man ein Problem darin, dass auch „die falsifizierende Beobachtung … aus dem Zirkel der Theorieabhängigkeit nicht heraustreten kann“. Popper
habe die „historische Dimension des Entdeckungszusammenhangs ausgeblendet“
und zu wenig in Rechnung gestellt, „dass sich eine Hypothesenprüfung nicht in
einer neutralen Beobachterperspektive vollzieht, sondern … von einer umfassenden Lebensperspektive abhängig“ ist.122 Vor allem Thomas Kuhn stellt in seiner
Paradigmentheorie die Rationalität des Wissenschaftsunternehmens als kontinuierlicher Annäherung an die Wahrheit in Frage.123 Aufgrund „wissenschaftshistorischer Studien gelingt es ihm zu zeigen, dass … die Wissenschafts-Geschichte …
aus einem Nach- und Nebeneinander verschiedener Forschungskonzeptionen
[besteht].“124 Er versteht wissenschaftliche Theorien als komplexe Strukturen, die
von soziologischen, historischen und psychologischen Faktoren abhängig und
nicht einfach miteinander kompatibel sind. Eine übergeordnete rationale Prüfinstanz ist nicht vorhanden. Der Weg der Wissenschaft vollzieht sich darum durch
den revolutionären Wechsel von einem Weltbild (Paradigma) zum nächsten im
Sinne eines irrationalen religiösen Bekehrungserlebnisses. Auslöser ist nicht die
Falsifizierung bestehender Erkenntnisse, sondern das Auftreten eines neuen Paradigma-Anwärters.125
David Bosch hat in seinem epochalen Werk Transforming Mission: Paradigm
shifts in Theology of Mission (Maryknoll, 1991) versucht, den Ansatz von Thomas
Kuhn auf die Missionswissenschaft anzuwenden. Er zeigt, dass Missionstheologie
und -praxis untrennbar verbunden sind mit kulturgeschichtlicher Entwicklung und
dem Kontext, in dem sie sich vollziehen. Doch Bosch folgt Kuhn nur bedingt,
denn für die Missionstheologie bestätigt er gegen Kuhn das Vorhandensein einer
übergeordneten rationalen Prüfinstanz.
Für Christen bedeutet das, dass jeglicher Paradigmenwechsel nur auf der Basis des Evangeliums stattfinden kann, niemals im Widerspruch zum Evangelium. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften bezieht sich die Theologie
nicht nur auf die Gegenwart und die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit, …, auf Gottes ursprüngliches Zeugnis an die Menschen. Theologie
muß zweifellos immer relevant und kontextuell sein, aber niemals auf Kosten der Offenbarung Gottes in und durch die Geschichte Israels und, vor allem, in der Geschichte Jesu Christi. Christen nehmen die epistemologische
Priorität ihres klassischen Textes, der Hl. Schrift, ernst.126
Rieger, Grenzen wissenschaftlicher Rationalität, 337.
Thomas Kuhn,
, Frankfurt a.M., 1967.
124
H. P. Hempelmann, „Wissenschaft“,
, 2176-2179: 2177.
125
Rieger, Grenzen, 337.
126
Bosch, Transforming, 187, Übers. FW.
122
123
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
ELThG
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
369
Transforming Mission bedeutet für Bosch darum sowohl die Veränderungskraft
der Mission aufgrund des Evangeliums als auch ihre Veränderbarkeit aufgrund
ihrer Teilhabe an der Kultur. Ein Interpretationsmonopol für das, was Mission ist,
gibt es aus seiner Sicht aber nicht. Der Missionsbegriff kann und muss im Spannungsfeld zwischen biblischem Text und menschlicher Kultur von der weltweiten,
ökumenischen und evangelikalen Gemeinde Jesu Christi immer neu durchdacht
und formuliert werden, um nicht beliebiges Konstrukt menschlicher Machtinteressen zu werden.
4.2. Systemtheorien: Konstruktivismus und Diskursanalyse
Der Konstruktivismus, der seit den 1960er Jahren von H. Maturana und F. Varela
im Kontext der Neurobiologie entwickelt wurde,1 knüpft an bei Immanuel Kants
Überzeugung „derzufolge sich ‚die Gegenstände … nach unserer Erkenntnis richten“. Das bedeutet, dass der Mensch die Dinge nur gemäß seiner Erkenntnismöglichkeiten wahrnehmen kann, als Konstruktion seiner Sinne. Kommunikation
wird als „Perturbation“, eine Störung des Gleichgewichts, aus der Umwelt aufgefasst und regt zum Vergleich und zur Veränderung bestehender Konstruktionen
an, so dass verschiedene Konstruktionen zumindest kompatibel werden können.
Gleichzeitig ist Kommunikation die einzige Möglichkeit, durch den Vergleich von
Konstrukten unterschiedlicher Individuen intersubjektive Welten aufzubauen, die
dann „für die an der Kommunikation Beteiligten als wahr aufgefasst werden“.
Da eine Wahrheit an sich nicht erkannt werden kann, tritt an die Stelle der Wahrheitssuche „als wesentliches Kriterium die Nützlichkeit“ oder Viabilität: inwieweit bewährt sich eine Konstruktion in der Konfrontation mit der Umwelt: ist sie
hilfreich, machbar und verstrickt sich nicht in Widersprüche?
27
128
129
130
131
Unter dem Einfluss Maturanas hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann
(1927-1998) seine systemtheoretischen Perspektiven entwickelt. Luhmann versteht die Gesellschaft als Prozess der Kommunikation zwischen unterschiedlichen
Systemen, die sich einerseits auf sich selbst und andererseits kognitiv offen auf
ihre Umwelt beziehen. Auch die Wissenschaften sind in sich geschlossene soziale Systeme, die ihre Umwelt nur insoweit wahrnehmen und verarbeiten können,
wie ihre inneren Voraussetzungen es ihnen ermöglichen. Als Sinn-Systeme können sie sich nur durch die Kommunikation selbst erhalten (Autopoiesis), wobei
durch Interpenetration und strukturelle Koppelung zwischen selbstreferentiellen
Systemen auch Veränderungen und Anpassungen innerhalb der Systeme erfolgen.
132
133
K. Klein, U. Oetinger, Konstruktivismus: Die neue Perspektive im (Sach-)Unterricht, Hohengeren:
Schneider, 2000, 208.215.221.
128
Rieger, Grenzen, 348.
129
Klein/Oetinger, Konstruktivismus, 17.
130
Klein/Oetinger, Konstruktivismus, 12.
131
Vgl. Klein/Oetinger, Konstruktivismus, 250.
132
Vgl. sein Hauptwerk Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M: Suhrkamp [1984], 2008.
133
Vgl. Feldtkeller, Theologie und Religion, 94/95.
127
370
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Als eine ganz andere Form der Systemtheorie kann der soziologisch-literaturtheoretische Ansatz der Diskursanalyse in seiner Ausprägung nach Michel Foucault verstanden werden. Der Begriff des Systems wird hier durch das Konzept
des Diskurses ersetzt. „Diskurs“ wird dabei nicht wie bei J. Habermas als gesamtgesellschaftlicher Gesprächsprozess verstanden, sondern als „diskursive Praxis“ in
Texten, Medien und Handlungen in abgrenzbaren (Wissens-)Bereichen, die die
Machinteressen bestimmter Gruppen zum Ausdruck bringen. Texte werden „als
Bestandteile übergreifender historischer Diskursformationen … verstanden und
analysiert“, 134 um gesellschaftliche Prozesse und das Selbstverständnis von Gruppen zu erforschen.
Ohne sämtliche Aspekte dieser Ansätze zu teilen, werden in der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft und Missionswissenschaft konstruktivistische und diskurstheoretische Methoden aufgegriffen und für die Untersuchung interreligiöser Begegnungen, Konversionen oder missionsgeschichtlicher
Entwicklungen genutzt.135 Ein Beispiel dafür ist die Studie von Andreas Feldtkeller Die „Mutter der Kirchen“ im „Haus des Islam“. Gegenseitige Wahrnehmungen
von arabischen Christen und Muslimen im West- und Ostjordanland (1998),136 in
der die historische Entwicklung der Konvivenz zwischen arabischen Muslimen
und Christen im „West- und Ostjordanland“ anhand des konstruktivistischen Modells der „strukturellen Koppelung“ als Prozess gemeinsamen „Driftens“ beschrieben wird, in dem „langsam so etwas wie die gemeinsame ‚Welt‘“ entsteht.137
Ein Beispiel für eine diskursanalytische Untersuchung ist die Studie von Andreas
Nehring, die im kritischen Anschluss an Edward Saids Orientalismus-Kritik und
im Horizont postkolonialer Studien wie der Homi Bhabhas die Berichterstattung
der Leipziger Missionare und ihre Repräsentation der tamilischen Gesellschaft in
Südindien untersucht. Dabei soll der besondere Beitrag der Missionare im Vergleich mit anderen europäischen Wahrnehmungsmustern indischer Kultur und
Religion herausgearbeitet werden, um zu zeigen, wie stark gegenseitige Wahrnehmungsmuster wie z.B. die Konzepte „Hinduismus“ oder „Christentum“ in der
Begegnung der Religionen historisch bedingt sind.138
4.3. Kritischer Realismus und interkulturelle Hermeneutik
Auch wenn Paradigmen-, System- und Diskurstheorien dazu tendieren, keine
übergeordnete rationale Prüfinstanz als Wirklichkeit zu akzeptieren, hat H.M.
Rieger mit Recht darauf hinwiesen, dass Thomas Kuhn der Wirklichkeit eine
„gewisse Widerständigkeit“ zugesteht, an der sich die perspektivischen ParadigMetzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, „Diskurstheorien, Diskurs“, Stuttgart/Weimar,
1998, 95-98: 96.
135
Vgl. H. G. Kippenberg/ K. von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München, 2003,
40ff; C. Dahling-Sander et (Hg), Leitfaden Ökumenische Missionstheologie, Gütersloh, 2003, 17-111;
Schultze, Andrea/ Rudolf v. Sinner, Wolfram Stierle (Hg.), Vom Geheimnis des Unterschieds: Die
Wahrnehmung des Fremden in der Ökumene-, Missions- und Religionswissenschaft, Münster: LIT,
2002.
136
Erlangen: Erlanger Verlag f. Mission u. Ökumene.
137
Feldtkeller, Die Mutter der Kirchen, 16.
138
A. Nehring, Orientalismus und Mission. Studien zur Repräsentation der südindischen Kultur und
Religion durch deutsche Missionare 1840-1940, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2003, 52-54.
134
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
371
men brechen können und „die verhindert, dass sie sich in jedes beliebige Begriffssystem zwängen ließe“.139 Dieses Element eines pragmatischen Realismus prägt
denn auch eine wissenschaftliche Gegenbewegung,140 die sich gegen eine postmoderne Verabsolutierung der Perspektivität wehrt, ohne zu einem naiven Positivismus zurückkehren zu wollen. Hilary Putnam betont, dass die Wirklichkeit die
Begriffe, die man sich von ihr macht, bereits enthält.141 Kurt Hübner macht in
seiner Kritik der wissenschaftlichen Vernunft [1978] deutlich, dass „die Dinge,
von denen wir Begriffe haben, auch wirklich existieren“,142 doch wir können sie
immer nur in dem Licht unserer vorgefertigten Begriffe, Ideale und Theorien sehen: „wir können … erwarten, dass die Natur … in diesem Licht sichtbar wird und
uns zeigt, wie sie wirklich darin aussieht“.143 Ähnlich wie bei Kuhn wird der äußeren Wirklichkeit eine „Widerständigkeit“ zugestanden, an der sich die perspektivischen Paradigmen brechen können. Hübner: „Es ist mithin nur bedingt wahr,
wenn gesagt wird, man hole aus den Dingen nur heraus, was man in sie hineingelegt habe; vielmehr tritt dazwischen die Erfahrung, auch wenn sie schon durch
eine Theorie in gewissem Sinn ‚vorgeformt‘ ist.“144 Das heißt: „die Wirklichkeit
… kann sehr wohl entscheiden, ob man mit seinem Horizont von Festsetzungen
‚durchkommt‘ oder nicht.“145 Insofern bleibt die wissenschaftliche und theologische Frage nach Wahrheit immer auch die Frage nach der Wirklichkeit.146
Auf dieser Basis schlägt Hübner vor, die wissenschaftliche Rationalität auch auf
Bereiche wie Kunst und Religion zu erweitern, da diese Teil der historischgenetischen Dimension der Wissenschaft sind. Wissenschaft ist immer eingebettet
in Kultur, Geschichte und Religion. So ging beispielsweise „der mythische Grieche von den Göttern als Apriorismen seiner Welterkenntnis aus“. Dabei will Hübner nicht „zu einer mythischen Weltsicht zurückkehren“, sondern es geht ihm
darum, „dass sich die mythischen Gehalte nicht mehr im Namen der Wissenschaft
unterdrücken lassen und … der moderne, vom Jenseits und vom Göttlichen entfremdete Mensch, nicht auf seine Diesseitigkeit und auf die Abwesenheit Gottes
festgelegt wird.“147
In diesem Zusammenhang spielt auch die interkulturelle Hermeneutik eine wichtige Rolle. In einem Aufsatz zur Frage nach dem christlichen und hinduistischen
Verständnis von Besessenheit durch böse Geister greift Michael Bergunder auf
Rieger, Grenzen, 339.
Diese post-postmoderne Gegenbewegung zeigt sich auch in der Literaturwissenschaft. So behauptet
Matthias Luserke-Jaqui in seiner Einführung in die euere deutsche Literaturwissenschaft (Göttingen,
2002, 19-20), der Poststrukturalismus als historische Diskursanalyse (Derrida, Foucault …) sei „nahezu erfolgreich aus der Literaturwissenschaft ausgetrieben“.
141
Vgl. N. Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, Stuttgart, 1998, 157.
142
So Rieger über Hübner, Grenzen, 347.
143
Hübner in Kritik der wisssenschaftlichen Vernunft, zit. bei Rieger, Grenzen, 347, Fn.71.
144
Hübner zit. bei Rieger, Grenzen, 342.
145
Rieger, Grenzen, 343.
146
Vgl. H. v. Siebenthal, „‘Wahrheit‘ – Thesen zu einem umstrittenen Begriff“, in: K. Müller (Hg.),
Mission als Kommunikation, 87-101; Vgl. zum kritischen Realismus in der Theologie: J. Walldorf,
Realisistische Philosophie: der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen, 1999, S.114-145.
147
Rieger, Grenzen, 343.
139
140
372
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Hübners Sichtweisen zurück. Das „mythische Weltbild“ indischer Christen und
Hindus habe durchaus „kognitive Eigenständigkeit“ und verweise auf eine Wirklichkeitsebene, „die nicht im Gegensatz zum aufgeklärten naturwissenschaftlichen
Weltbild“ stehe, „sondern sich komplementär zu ihm verhält“.148 Auch Andreas
Feldtkeller stellt fest, dass es „unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten
… nicht mehr ohne weiteres plausibel [ist], dass die westlichen Wissenschaften
sich als der einzigen Maßstab verstehen, an dessen Kriterien Sinnzusammenhänge
zu messen sind. […] Die westliche Theologie kann zwar ihren eigenen von der
Tradition der Aufklärung geprägten Zugang nicht überspringen, aber sie muss
sehen lernen, dass auch er ein kulturell bedingter Zugang ist, der nicht als kulturunabhängige Matrix aller menschlichen Wirklichkeitserfahrung zugrunde gelegt
werden darf.“149
Aus evangelikaler Perspektive kann die kulturelle und systemische Pluralität und
Perspektivität der Erkenntniszugänge mit der Überzeugung von der kulturübergreifenden Wirklichkeit und Kommunizierbarkeit des biblischen Evangeliums
verbunden werden. In Missiological Implications of Epistemological Shifts (1999)
beschreibt der amerikanische Missionsanthropologe Paul Hiebert den kritischen
Realismus als einen wissenschaftstheoretisch verantwortlichen Ansatz, um genau
dies zu tun – jenseits sowohl eines naiven Positivismus als auch eines extremen
Perspektivismus. In der Missionstheologie müsse man unterscheiden zwischen der
Realität der Offenbarung Gottes in ihrer kulturell-historisch-textlichen Gestalt in
der Bibel und den kulturell, konfessionell etc. geprägten theologischen Systemen
der Interpreten. Unterschiedliche Theologien müssen verstanden werden als
„Landkarten“, als Versuche, die Offenbarung Gottes in Bibel und Welt nachzuzeichnen. Sie enthalten wirkliche, aber immer auch perspektivisch gebrochene
Informationen: „Although no model provides a complete picture of reality, and
although it simplifies or omits nonessential information, … it must be accurate on
the essentials if it is to serve as a true and useful map.“150 Insofern gibt es sie wohl
doch, die „Sache“ des Neuen Testaments: das Evangelium, das jedoch in seiner
claritas zugleich komplex ist und in immer neuen Situationen, Lebensphasen und
Orten auch zu neuer Offenheit und neuem, interkulturellem Verstehen herausfordert.
4.4. Fazit: (Evangelikale) Missionswissenschaft zwischen Verwundbarkeit und Glaubensgewissheit
Wie nun kann sich (evangelikale) Missionswissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts in Anknüpfung und Abgrenzung zur postmodernen Pluralität der Wissenschaftsverständnisse verstehen? Mit Recht hat die postmoderne Epistemologie
auf die Hybris positivistischer Wissenschaft und auf die kontextuelle Perspektivität menschlicher Erkenntnis hingewiesen.151 David Bosch hat Recht, wenn er
Bergunder, „Wenn die Geister bleiben“, in: D. Becker, A. Feldtkeller (Hg.),
, Missionswissenschaftliche Forschungen Neue
Folge 5, Erlangen, 1997, 163. Vgl. auch Feldtkeller, Theologie und Religion, 98.
149
Feldtkeller, Theologie und Religion, 86.
150
Hiebert, Implications, 99. [Kursiv, FW].
151
G. Gabriel, „Postmoderne“,
, hg. v. J. Mit148
Es begann in Halle …
Misssionswissenschaft von Gustav Warneck bis heute
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie
Friedemann Walldorf: Können wir wissen, was Mission ist?
373
zögert, „Mission“ zu definieren und die missio Dei für größer hält, als menschliches Erkennen. Schon 1956 formulierte der Islamforscher und Missionstheologe
Kenneth Cragg: „The Gospel is always bigger than the capacities and expectations
even of those who take it.“152 Mission als das „Ding an sich“ der Missionswissenschaft übersteigt unser Erkennen nicht nur aufgrund menschlicher Begrenztheit
und Perspektivität, sondern auch aufgrund der Größe, Souveränität und Heiligkeit
Gottes. Die Mission als missio Dei ist unserem missiologischen Erkennen und
missionarischen Handeln uneinholbar vorgeordnet. Damit ist die Chance des gemeinsamen Lernens verbunden, wie H. W. Gensichen der neu aufbrechenden
evangelikalen Missionswissenschaft 1985 hoffnungsvoll ins Stammbuch schrieb:
„Die Wahrheit der Sache, die der Missiologie aufgegeben ist, ist nicht nur größer
als differierende Standpunkte, sondern kann, über Kontroversen hinweg, eine
‚Verwandlung ins Gemeinsame‘ (H.G. Gadamer) bewirken.“153
Andererseits ist die missio Dei in der Sendung Jesu Christi und ihre authentische
Bezeugung im biblischen Wort Teil einer von allen Menschen prinzipiell erkennbaren, überprüfbaren und auch falsifizierbaren Wirklichkeit geworden: „Ist aber
Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch unser
Glaube vergeblich“ (1Kor 15,12). Darin liegt für die Missionswissenschaft der
Grund zur kritischen Abgrenzung vom extremen epistemologischen Relativismus
postmoderner Theorien. Weil Gott sich in der Inkarnation Christi auf die Ebene
menschlicher Geschichte und Sprache begeben hat und das Neue Testament davon
Zeugnis ablegt, können verständliche und zutreffende missionswissenschaftliche
Aussagen gemacht werden. Weil die Inkarnation aber gleichzeitig Gottes Eingang
in die menschliche Relativität bedeutet und sowohl die Gemeinde Jesu Christi als
auch der biblische Text immer Teil historischer und kultureller Zusammenhänge
sind, ist missionswissenschaftliches Verstehen angefochten, verwundbar, korrekturbedürftig und herausgefordert zum Lernen, zur Begegnung, zur Interpretation
und Kreativität.154 Grundlegende hermeneutische Konstanten evangelikaler Missionswissenschaft können darum sein:
das Vertrauen auf die missio Dei trinitatis als Geschenk der Gnade Gottes in
Christus und seiner dynamischen Gegenwart im Heiligen Geist;
die Verstehbarkeit, Interpretationsmöglichkeit und -bedürftigkeit des biblischen Textes als Grunddokument der missio Dei;
die weltweite ökumenische und interkulturelle Gemeinde Jesu Christi als hermeneutische Gemeinschaft der missio Dei. So formuliert §2 der Lausanner
Verpflichtung: „[The Holy Spirit] illumines the minds of God’s people in every
culture to perceice its truth freshly through their own eyes and thus discloses to
the whole Church ever more of the many-colored wisdom of God.“ 155
telstraß, Bd. 3, Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler, 1995, 306.
152
Kenneth Cragg, The Call of the Minaret, New York/Oxford, 1956, 355.
153
H. W. Gensichen, „Erwartungen an eine evangelikale Missionswissenschaft“, em 1 (3/1985) 7-11:8.
154
Vgl. zum Thema der „Verwundbarkeit“ in der Missionswissenschaft: Andreas Grünschloss, Der
eigene und der fremde Glaube: Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus,
Buddhismus und Christentum, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999, 282-295; Siehe auch: Margull, HansJochen, „Verwundbarkeit: Bemerkungen zum Dialog“, EvTh 30 (1974), 410-420.
155
Zit. bei John Stott, Making Christ known: Historic Documents from the Lausanne Movement 1974-
374
Kapitel VI: Im wissenschaftlichen Kontext
Die Begegnung und der Dialog von Christen mit Menschen anderer Weltanschauungen, Religionen und Kulturen, die uns mit ihren Perspektiven und Anfragen helfen, die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe wahrzunehmen, die
Notwendigkeit der Reflexion und Gestaltung religiöser Pluralität als theologischen, missiologischen und gesellschaftlichen Auftrag zu erkennen und das
Evangelium tiefer wertzuschätzen und besser zu kommunizieren.
Das Verstehen von Mission geschieht also in einem
ständigen hermeneutischen Zirkel zwischen dem bibliText
schen Text als dem Grundtext der Mission (in Anlehnung an T. Ahrens könnte man von der „Gegebenheit“
sprechen) und den Kontexten der Mission (hier wäre
nach Ahrens von den „Gegebenheiten“ zu reden).156
Mission
Dementsprechend enfaltet sich die Missionswissenschaft zwischen der empirisch-historischen Erforschung der Mission und ihrer biblisch-theologischen
Reflexion.157 Dabei hat die Theologie nicht nur deutende, sondern auch normativ-definitorische Funktion
Kontexte
wie L. Lutzbetak aufgezeigt hat:
The object of missiology (i.e. the mission of the Church and the evaluation
of the norms according to which this mission is to be carried out) must repeatedly be examined, tested and re-tested, not so much in the light of human wisdom (however vital that wisdom may be) but in terms of how God
understands mission. … Theology is therefore the real acid test in mission
and holds the place of honour among the disciplines involved.158
Können wir wissen, was Mission ist? Ich würde die Frage mit einem „Ja, aber…“
beantworten. Missionswissenschaftliche Ergebnisse, Definitionen und Modelle
bleiben vorläufig, aber sie sind nicht beliebig, da sie sich auf die Wirklichkeit der
biblischen Offenbarung, der Geschichte und der Begegnungen der Gegenwart
beziehen. Auch im erkenntnistheoretischen Sinn bleibt Missionswissenschaft eine
missiologia viatorum, „a discipline en route, holding on to the risen Lord and
reaching out to the fallen world. It has not arrived; it is on the open road to an
open future with a blessed hope“.159
1989, Carlisle: Paternoster, 1996, 13.
Vgl. Klaus A. Baier, „‘Gegebenheiten‘. Zum missionstheologischen Ansatz von Theodor Ahrens“,
19, PDF-Datei, www.gaebler.info/oekumene/baier-2.htm, (23.09.2009).
157
Vgl. H. Wrogemann, „Theologie und Wissenschaft der Mission“ in: Leitfaden Ökumenische Missionstheologie, Gütersloh, 2003, S.17-31:25ff.
158
Louis Luzbetak, The Church and Cultures: ew Perspectives in Missiological Anthropology, New
York, 1996, 14.
159
Hans Kasdorf, Design of my Journey: An Autobiography, Fresno: Center for Mennonite Brethren
Studies / Nürnberg: VTR, 2004, 295.
156
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