Fragen von Redakteur Mathias Bartels an Jürgen Wasella zum Islam-Interview (Hohenloher Tagblatt – Veröffentlichung geplant zweite Dezember-Hälfte). 1. Haben Sie persönlich nach den Anschlägen von Paris Angst um die öffentliche Sicherheit in Deutschland? Nicht mehr als vorher. Es ist doch längst bekannt, dass Hunderte von jungen und leicht zu manipulierenden Menschen nach Syrien und in den Irak gereist sind, um sich dem IS anzuschließen. Viele von denen sind inzwischen zurück, nachdem sie im Kampfgebiet das Töten gelernt haben. Über die Mechanismen der Radikalisierung dieser Jugendlichen ist in letzter Zeit viel geforscht und viel geschrieben worden. Die Gefahr ist da, unabhängig von Anschlägen, die bereits geschehen sind. Wir haben in Deutschland bislang ganz viel Glück gehabt, dass viele Anschläge sehr unprofessionell geplant waren und rechtzeitig verhindert wurden. Was ich am meisten befürchte, sind Angriffe, wie wir sie zur Zeit in Israel erleben: Fanatisierte Einzeltäter, die mit Messern oder sonstigen Waffen wahllos Unbeteiligte attackieren. 2. Die Dschihadisten sprechen vom „Heiligen Krieg“. Sehen Sie uns, den Westen oder Europa , im Krieg mit dem IS? Frau Von der Leyen hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies kein Krieg gegen Staaten ist. Stattdessen haben wir es mit einer Situation der Auflösung eines ganzen Staatensystems im Nahen Osten, aber auch in Pakistan und Afghanistan zu tun. Erst dieser Verfall post-kolonialer Grenzen hat es möglich gemacht, dass Terrororganisationen wie al-Qaida und der IS in einem politischen und ideologischen Vakuum ideale Bedingungen für ihre Ausbreitung gefunden haben. Hinzu kommt, dass staatliche Akteure in der direkten Nachbarschaft den IS vor ihren eigenen ideologischen oder politischen Karren gespannt haben. Die Türkei unter Erdogan agiert hier sehr zweifelhaft und die gefährlichste Brutstätte des islamischen Terrorismus ist schon seit langem Saudi-Arabien. Der Westen bzw. Europa befindet sich tatsächlich in einem Konflikt, der mit den Auseinandersetzungen vergleichbar ist, die in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den großen totalitären Ideologien geführt wurden. Der Dschihadismus und der Islamismus spielen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Rolle, die früher der Faschismus oder der Stalinismus für Europa gespielt haben. Nicht nur als Feindbild, sondern als reale Bedrohung eines freiheitlichen Lebensstils und eines kulturellen Selbstverständnisses, das auf Aufklärung und offenen Gesellschaften beruht. 3. Inwiefern trägt der Westen eine Mitschuld am Erstarken des IS? Nach dem Ende des Kalten Kriegs glaubten Teile der politischen Elite in den USA und Europa tatsächlich daran, das das „Ende der Geschichte“ gekommen und ein Zeitalter der Demokratisierung angebrochen sei. Dabei machte man zwei entscheidende Fehler: Erstens glaubte man, durch Regimewechsel, also die Beseitigung der brutalen Diktatoren wie Saddam Hussein, Gaddafi oder Assad, könne man fast automatisch freiheitliche Gesellschaften und demokratische Strukturen herbeiführen. Das Ergebnis war aber Milizenherrschaft, Staatsverfall und Anarchie und damit wieder neuer Nährboden für Terror und Bürgerkrieg. Der zweite Fehler reicht noch länger zurück, er besteht in der Unterscheidung zwischen „guten“ und „bösen“ Dschihadisten. Seit der sowjetischen Invasion Afghanistans, glaubte man, Islamisten für die eigenen strategischen Ziele einspannen zu können. Die Herrschaft der Taliban war nur ein Ergebnis dieser Fehleinschätzung. Bis heute hat die westliche Politik aus diesen Fehlern nicht gelernt, indem sie z.B. die Herrscherhaus in Saudi Arabien als engen Verbündeten behandelt, obwohl zwischen dessen Islamverständnis und der Ideologie des IS kaum ein Unterschied besteht. 4. Putin und der Westen sind sich plötzlich wieder nähergekommen in der Bekämpfung der „Mächte des Bösen“, also auch des IS. Wer war da eher auf dem „richtigen Weg“, zum Beispiel bei der Beurteilung der Rolle Assads? Das Assad-Regime verkörpert zwar das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit, aber alles, was nach Assad kommt, wird noch viel schlimmer und menschenverachtender sein, solange sich in Syrien keine Zivilgesellschaft entwickelt hat und solange sich dort keine politischen Strömungen gegen den Islamismus entwickeln können. Der Irak und Libyen liefern die Blaupausen für das, was Syrien nach Assad erwartet. Assad ist ein brutaler Diktator und durch den Einsatz von Giftgas gegen die eigene Bevölkerung hat er sich selbst von der Mitgestaltung der politischen Zukunft Syriens ausgeschlossen. Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass Syrien vor dem Bürgerkrieg ein Staat war, der die Rechte von Minderheiten weit besser geachtet hat als alle Nachbarstaaten. Dort herrschte weitgehende Religionsfreiheit und Konflikte zwischen den extrem gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen waren minimal. Russland hat klare eigene Interessen in Syrien. Putin geht es nicht um das Wohl des syrischen Volkes. In einem hat er aber Recht: Ohne die noch bestehende staatliche Infrastruktur werden Syrien und seine Minderheiten den islamistischen Mörderbanden jeglicher Couleur und einem noch größten Blutvergießen bis hin zum Genozid ausgeliefert. 5. Sehen Sie die Gefahr des Eindringens von IS-Kämpfern nach Deutschland auf der Route der Flüchtlingsströme? Ich finde es naiv zu glauben, dass vom IS angeworbene Terroristen die Mühen der Balkan-Route oder die Gefahren einer Mittelmeer-Überquerung auf Schlauchbooten auf sich nehmen müssen. Diese Kämpfer werden entweder in den Vorstädten der europäischen Metropolen rekrutiert. Oder sie reisen mit Flugtickets, die ihre Unterstützer in Qatar und Saudi Arabien bezahlt haben. Schon vor der Flüchtlingskrise galt im Schengen-Raum weitgehende Bewegungsfreiheit, die Flüchtlinge haben daran eigentlich wenig geändert. 6. Der Koran lehrt einerseits Toleranz und Frieden, andererseits ist darin die Rede von Krieg und Gewalt gegen die Ungläubigen. Ein Widerspruch, den offenbar auch gemäßigte Muslime nicht auflösen können, weil sie an die Worte des Korans gebunden sind. Worin liegt das Problem? Das Problem liegt zum Teil in den eindeutigen Aufrufen zur Gewalt und zum Töten, die von der islamischen Überlieferung zur Verfügung gestellt werden. Die Dschihadisten können sich direkt auf viele medinensische Suren des Koran und das Vorbild des Propheten Muhammad berufen. Der IS tut nichts, was der Prophet in seiner Eigenschaft als Kriegsherr entsprechend der islamischen Überlieferung nicht auch schon getan hat. Eine rein theologische Begründung aus den islamischen Quellen reicht trotzdem zur Erklärung der Untaten des IS nicht aus. Die Ideologie des heutigen Islamismus ist ein Produkt von Fehlentwicklungen in der modernen islamischen Geistesgeschichte. Sie wurde seit dem 18. Jahrhundert durch die wahhabitische Erneuerungsbewegung auf der Arabischen Halbinsel vorbereitet. Diese Strömung basiert auf einer Distanzierung von Teilen der eigenen religiös-politischen Geschichte und der „großen Tradition“ islamischer Gelehrsamkeit. Sie reduziert den geistigen Reichtum dieser Tradition auf die buchstabengetreue Auslegung von Koran und Prophetenüberlieferung („Kleine Tradition“). Die so genannte Salafiya betrieb dann im 20. Jahrhundert die Verabsolutierung einer rückwärtsgewandten Utopie der islamischen Urgesellschaft zur Zeit der „verehrungswürdigen Altvorderen“ (salaf salih), also der Zeitgenossen des Propheten. Zu seiner heutigen Ausformung gelangte der Islamismus dann durch die Einbindung zentraler Elemente des modernen Totalitarismus: Dogmatischer Absolutheitsanspruch, ein extrem dualistisches Weltbild mit klaren Freund-FeindSchemata und hohe Gewaltakzeptanz sind nämlich auch Grundbestandteile totalitärer Ideologien des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt noch eine jugendliche Protestkultur gegen die Vorherrschaft des westlichen Gesellschaftmodells. Der Islamismus ist damit eine Primitiv-Version des Islam ohne theologischen Tiefgang, dem jegliche spirituelle Dimension fehlt. 7. Inwiefern sind der Prophet Mohammed und seine Worte wörtlich zu nehmen und inwieweit sind sie in die damalige Zeit des 7. Jahrhunderts einzuordnen? Tatsächlich ist die islamische Überlieferung eng mit den politischen Umständen der Offenbarungsgeschichte verbunden: Im vorislamischen Mekka empfanden sich die frühen Muslime als eine unterdrückte Minderheit und deshalb betonen die frühen Offenbarungen Forderungen nach Toleranz und Duldsamkeit. In Medina wurde Muhammad zum Stammesführer und Staatsmann, der Krieg führte, Karawanen ausraubte und seine Anhänger zum Töten und zum Kämpfen motivieren musste. Aus dieser Zeit stammen die „Schwersuren“, durch die Gewalt rechtfertigt wird. Bereits die traditionelle islamische Gelehrsamkeit hat aber Methoden und Interpretationen entwickelt hat, um Gewalt zu relativieren und einzuschränken. Beispielsweise ermöglicht die Lehre von den „Offenbarungsanlässen“ (sabab alnuzul) eine fast schon modern anmutende kontextuelle und historisierende Lesart des Koran. 8. Viele islamische Staaten sehen Apostasie, also die Abkehr vom Islam, als Kapitalverbrechen an. Also: Wer gegen den Koran und seinen Propheten argumentiert, kann schnell und leicht für „vogelfrei“ erklärt werden. Ist dies das Dilemma der Gemäßigten? Die Strafbarkeit von Apostasie und das Verbot, aus der islamischen Religionsgemeinschaft „auszutreten“ ist das Haupthindernis für die Entwicklung eines modernen islamischen Diskurses und für die Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten. In Saudi Arabien, im Sudan oder in Afghanistan werden noch heute Muslime, die die Abkehr von ihrer Religion verkündet haben, öffentlich hingerichtet. In Ägypten oder Nordafrika steht auf Apostasie nicht mehr die Todesstrafe, aber selbst moderate Islamkritiker werden von Radikalen bedroht oder gar getötet. Solange die konservativen Gelehrten und die politischen Eliten in den islamischen Ländern diese Rechtsvorstellungen aufrecht erhalten, wird es dort kein freies Denken und keine zeitgemäße Theologie geben. 9. Der „Islam-Experte“ Jürgen Todenhöfer argumentiert, wenn der IS der Islam ist, dann ist der Ku-Klux-Clan das Christentum. Wo liegt er falsch? Todenhöfer vertrat als ehemaliger Vordenker der antikommunistischen „StahlhelmFraktion“ innerhalb der CDU eine Denkrichtung, die Islamismus und Dschihadismus schon in den 80er Jahren romantisiert und verharmlost hat. Heute reitet er nicht mehr mit den Mudschahedeen durch den Hinukusch, sondern pflegt seine Selbstinszenierung als moderner Karl May durch Besuche beim IS. Der Vergleich mit dem Klu-Klux-Klan (KKK) geht völlig an der Realität vorbei. Weder kann der KKK als dominierende Strömung im Christentum mit Millionen von Anhängern gelten, wie das beim Islamismus der Fall ist, noch beherrscht er große Territorien wie der IS und wird von ölreichen Staaten mit reichlich Petrodollars und Waffen unterstützt, noch begründet er einen attraktiven Jugendkult für eine ganze Generation von frustrierten Jugendlichen in den Vorstädten der westlichen Metropolen. Außerdem hat der Klan keinen internationalen Terrorismus hervorgebracht, der die Menschen im letzten Winkel der Welt existentiell bedroht. Todenhöfers Versuch, den Islamismus zu einer unbedeutenden und quasi exotischen Strömung innerhalb des sonst so friedlichen islamischen Diskurses zu machen, führt sich selbst ad absurdum. 10. Ist ein Islam der Zukunft überhaupt noch ohne Terror denkbar – oder ist die Büchse der Pandora nunmehr geöffnet auf immerdar? Ich glaube im Gegenteil, dass der IS und die anderen dschihadistischen Strömungen mit ihren Gewaltexzessen und ihrer zur Schau gestellten Pervertierung der Religion sogar dazu beitragen werden, die Dominanz des Islamismus im Nahen Osten zu brechen. Nie zuvor hat es soviel Islamkritik in der arabischen Welt gegeben wie heute und viele junge Intellektuelle bekennen sich sogar inzwischen trotz aller Gefahren und Bedrohungen zu einer Abkehr von der Religion. Nur ein solcher vehement religionskritischer Diskurs kann die Deutungshoheit der Islamisten in Frage stellen, eine Korrektur jahrzehntelanger Fehlentwicklungen einleiten und damit eine Rückbesinnung auf die positiven Traditionen islamischer Geistesgeschichte bewirken. 11. Was bedeutet das für den interreligiösen Dialog hier bei uns? Wir müssen in Deutschland aufhören, nur die konservativen oder staatlich gesteuerten offiziellen Islam-Verbände zu hofieren, die sowieso nur einen sehr kleinen Teil der hier lebenden Muslime repräsentieren. So ist beispielsweise der Moscheeverein Dittib vom staatlichen Präsidium für Religiöse Angelegenheiten der Türkei finanziert und gesteuert und der Zentralrat der Muslime hat eindeutige Verbindungen zur radikal-islamistischen Muslimbruderschaft in Ägypten und in Qatar. Wenn wir solchen Verbänden einen Kirchen-ähnlichen Status zubilligen oder ihnen die Betreuung muslimischer Flüchtlinge übertragen, machen wir den Bock zum Gärtner und treiben die deutschen Muslime in die Arme eines „Islamismus light“ im Sinne von Erdogan. Ein zukunftsorientierter Diskurs sieht anders aus. Umgekehrt gibt es an deutschen Universitäten inzwischen islamisch-theologische Lehrstühle mit kritisch-progressiven Theologen, die genau diese liberale Weiterentwicklung vorantreiben, jedoch von den konservativen Dachorganisationen stark angefeindet werden. Ich sehe es als wichtiges Ziel des interreligiösen Dialogs an, den fortschrittlichen, integrationsbereiten und liberalen Strömungen den Rücken zu stärken und ihnen ein Forum zu bieten. Was mir selbst am interreligiösen Diskurs in Deutschland besonders missfällt, sind die Vorbehalte gegenüber einer wirklich kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam. Religionskritiker, selbst wenn es sich bei ihnen um Muslime oder Ex-Muslime handelt, sehen sich schnell dem Vorwurf der Islamophobie ausgesetzt. Progressiven Muslimen wird somit das Recht abgesprochen, das wir selbst in der Auseinandersetzung mit dem Christentum für selbstverständlich halten, nämlich die eigene Religion in Frage zu stellen. Darin sehe ich eine besondere Form „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“: Wer als Muslim geboren ist, hat gefälligst auf kritisches Denken und deutliche Religionskritik zu verzichten!