1 Autor: Eike Hebecker Der Konflikt in unseren Köpfen 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 Die weltweiten Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA sind einmütig und widersprüchlich zugleich: Entsetzen, Trauer und Betroffenheit stehen Solidarität, Hilfsbereitschaft und Bündnistreue im Kampf gegen Terrorismus gegenüber. Hinzu tritt in den USA die öffentliche Inszenierung von nationaler Geschlossenheit und dem Heldentum der Helfer, Helden, die in den kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen gebraucht werden, vor allem wenn diese mit Bodentruppen geführt werden. Wie immer in Krisensituationen kommt dem Verhalten der Spitzenpolitiker und den Analysen von Experten innerhalb der medialen Berichterstattung eine herausragende Bedeutung zu. Deren Einfluss auf den Alltag in Schule, Beruf und Familie sowie für das gesellschaftliche Zusammenleben nimmt in dem Maße zu, wie die persönliche Betroffenheit durch die Ereignisse und ihre Folgen wächst. Zwar ist der Wille der Politiker zur Demonstration von Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit verständlich und richtig. Dennoch war in vielen Äußerungen ein behutsames und besonnenes Vorgehen zu vermissen. Die Gefahr, sich im Vokabular zu vergreifen und die Situation unnötig eskalieren zu lassen, wie die Beispiele des US-Präsidenten George Bush und Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi zeigen, ist groß. So sprach US-Präsident Bush in einer Rede von den geplanten "Kreuzzügen" gegen den Terrorismus, was mehr als unüberlegt war. Denn es wurde nicht nur als Kampfansage an die Terrororganisation Osama Bin Ladens, al-Qaida, deren Mitglieder sich selbst als Kämpfer gegen Kreuzzüge bezeichnen, verstanden. Vielmehr bedeutete die Aussage eine Verunsicherung der Muslime in den USA sowie eine Irritation der potentiellen Bündnispartner in islamischen Staaten, die auf den Begriff des Kreuzzugs – verständlicherweise - sehr sensibel reagieren. Daraufhin sah sich Präsident Bush veranlasst, demonstrativ das Islamische Zentrum von Washington zu besuchen. Dort sprach er sich mit aller Schärfe gegen die gewalttätigen Angriffe von Amerikanern auf Moslems aus und rief zur Toleranz auf. Auch in Deutschland konnte man verbale Taktlosigkeiten vernehmen. Gerhard Schröder sprach im Zusammenhang mit den Attentaten von einem "Angriff auf die zivilisierte Welt". Auch diese Äußerung war nicht ganz unproblematisch, zieht er doch eine Grenze zwischen zivilisierten und "unzivilisierten" Staaten und Kulturen. Damit verkennt der Kanzler die Tatsache, dass sich die Kulturen schon längst gemischt haben, und zwar auch in der Bundesrepublik, wo sehr viele Muslime leben. Deshalb musste auch Schröder unmittelbar auf die Ängste in den islamischen Gemeinden in Deutschland eingehen und traf sich demonstrativ mit Vertretern aller Religionen und Glaubensgemeinschaften in Berlin. Trotz der ersten Sensibilisierung für diese Problematik, "glänzte" der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit umstrittenen Äußerungen zum Islam, Er tat dies ganz unverblümt und deutlich, so dass man in seinem Fall nicht mehr von Unachtsamkeit sondern Berechnung reden kann. "Unsere Zivilisation ist dem Islam überlegen", sagte Berlusconi nach Angaben der Zeitung "La Stampa". Auch die Berichterstattungspraxis der Medien ist problematisch. Großen Schaden haben etwa jene Fernsehbilder angerichtet, die jubelnde Palästinenser zeigten, die als Reaktion auf die Terroranschläge auf der Straße tanzten. Das dadurch vermittelte Bild war einseitig und undifferenziert. Zu wenig wurde der Hintergrund, dass es sich um radikale Gruppen der Hamas handelte, erläutert. Die Hamas befindet sich quasi im Kriegszustand mit Israel, einem Krieg, der u.a. mit USamerikanischen Waffen geführt wird. Wenn derartige Kontexte wegfallen, wird es für die Zuschauer unmöglich, sich eine differenzierte Meinung zu bilden. Und auch jetzt, nach den Angriffen der USA auf Militärbasen in Afghanistan, besteht die Gefahr, die Fernsehbilder unkritisch zu betrachten, da sie immer nur minimale Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen zeigen. Die Medienberichte über die amerikanischen und britischen Angriffe speisen sich alle aus einem Pool zugelassener Bilder und Journalisten und werden ebenso instrumentalisiert wie die Sender, die das vorbereitete Video mit Osama Bin Laden permanent abspielen. Dass die Berichterstattung und freie Meinungsäußerung in einer solchen Krisensituation in den Augen der Öffentlichkeit und Politik besonderen Maßstäben unterliegt, bekam auch der Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert zu spüren. Der schrieb in der Zeitschrift MAX: "Was haben der amerikanische Präsident und der Terroristenführer Osama Bin Laden gemeinsam? Intolerante Denkstrukturen", und zog damit den Zorn der CDU auf sich, die seinen Rücktritt forderte. So musste auch Wickert seine Äußerung vor dem Millionenpublikum der Tagesthemen zurücknehmen. Ebenso wie aufgebrachte Islamisten nach den ersten Angriffen auf Afghanistan in Pakistan, Palästina und anderen Staaten gewaltsam demonstrierten, waren auch die direkten Reaktionen auf die Terroranschläge in der so genanten zivilisierten Welt nicht nur durch Betroffenheit, sondern auch durch Hass, Intoleranz und Gewalt geprägt. Amerikaner übten Selbstjustiz und attackieren Moslems bzw. Bürger, die sie wegen ihres Aussehens für solche hielten. Britische Rassisten gingen gewaltsam gegen Moslems vor und gaben die Parole "Kill a muslim now" aus. Muslime in Deutschland wurden telefonisch bedroht und auf offener Straße beschimpft. Ein Anschlag auf eine Moschee in München konnte nur knapp verhindert werden. Die Reaktionen auf die Ängste und Verunsicherung der muslimischen Bevölkerung sind ihrerseits von Widersprüchlichkeit geprägt. Überall wird betont, dass nicht alle Moslems mit den Tätern sympathisieren, sondern die Mehrheit ebenso bestürzt ist, trauert und Hilfe anbietet. Doch eben diese permanente Wiederholung einer Selbstverständlichkeit des alltäglichen Zusammenlebens wirkt hilflos und verweist auf die Vorurteile innerhalb unserer westlichen Gesellschaft, in der das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen eben doch nicht selbstverständlich zu sein scheint. Deutlich wird vor allem, dass jetzt Konfliktlinien zu Tage treten, die längst im alltäglichen Zusammenleben bestehen, denen man aber angesichts der gegenwärtigen Eskalation nicht mehr ausweichen kann. Sicher gibt es islamische Fundamentalisten in Deutschland, die wie in anderen Ländern offen oder heimlich mit den Attentätern sympathisieren. Die Täter konnten ihre Verbrechen unerkannt und unbehelligt in Deutschland vorbereiten, unter anderem deshalb, weil sie ihren religiösen Fanatismus nicht öffentlich machten. Religiöser Fundamentalismus ist jedoch keine Eigenart des Islam. Protestantische Theologen in den Vereinigten Staaten haben zu Beginn des letzten Jahrhunderts die konsequente Durchsetzung der in der Schrift fixierten Glaubensgrundsätze für alle gesellschaftlichen Bereiche zu ihrem Ziel erklärt und damit den Fundamentalismus begründet. Der Islam hat den Fundamentalismus daher nicht aus sich heraus entwickelt, sondern aus der westlichen Welt importiert, nicht zuletzt als Reaktion auf die Einflüsse von westlichen Kultur und Kolonialismus. Diese Abwehrrhetorik einer bedrohten islamischen Kultur dient fundamentalistischen Regimen, Glaubensgemeinschaften und terroristischen Clans als Argument für die Instrumentalisierung und Pervertierung der islamischen Lehre. So argumentiert auch der Islamist Osama Bin Laden, der seinen Terror u.a. als Befreiungskampf für die von Israel und den USA unterdrückten Palästinenser bezeichnet. Eine Legitimation des Terrors, die erst jetzt und auch nur zögerlich von palästinensischen Politikern zurückgewiesen wird. Die Auseinandersetzung innerhalb des Islam mit dem politischen und fundamentalistischen Islamismus stellt ein Problem dar. Obwohl in vielen islamischen Staaten vor allem im Zuge des Kolonialismus Bürokratien und Demokratien westlichen Typs eingeführt wurden, herrscht hier ein Demokratiedefizit vor. Funktionierende Demokratien mit Presse- und Meinungsfreiheit, Mehrparteiensystem und der durch Wahlen herbeigeführte Wechsel der politischen Macht sind eine Seltenheit. Ein Prozess der Säkularisierung, der Trennung von Staat und Religion, hat nicht stattgefunden, gilt er doch als unvereinbar mit der islamischen Lehre. Selbst in Staaten wie Ägypten, Pakistan und Saudi Arabien, die sich an der Koalition gegen den Terror beteiligen, stellt der Islamismus eine Bedrohung der inneren Stabilität dar. Aus Furcht vor islamistischem Terror wird einerseits mit harter Hand und undemokratische Mitteln regiert, andererseits werden den Islamisten Zugeständnisse gemacht und Freiräume gewährt, so dass der fundamentalistische Einfluss der Religion auf die Gesellschaft zunimmt. Unter dem Einfluss des Islamismus leiden demnach vor allem die Moslems in den betroffenen Staaten. Sie sind so gesehen immer die ersten Opfer von fundamentalistischem Terrors. © Sämtliche Urheberrechte liegen, wenn nicht anders vermerkt, bei Lehrer-Online. Arbeitsauftrag: 1. Gliedern Sie den Text in sinnvolle Sinnabschnitte und finden Sie passende Überschriften. 2. Arbeiten Sie aus dem Text die wichtigsten Thesen des Autors heraus und formulieren Sie Fragen, die sich Ihnen nach der Lektüre des Textes stellen. 3. Teilen Sie sich in Gruppen und bearbeiten mögliche Themen in Gruppenarbeit. 4. erläutern Sie zentrale Unterschiede zwischen dem Islam und Islamismus. Recherchieren Sie dazu mit Hilfe der empfohlenen Links. 5. Erläutern Sie die These Samuel Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“. Wie stehen Sie zu seiner Position? 2 6. Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien?