INHALT Lebendige Seelsorge 3/2014 Leiten – nicht leiden

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EDITORIAL Lebendige Seelsorge 3/2014
Leiten – nicht leiden
INHALT Lebendige Seelsorge 3/2014
Leiten – nicht leiden
|
THEMA
154
Fragmente einer Theologie kirchlicher
191
Führen und leiten
|
PRAXIS
Coaching von Führungskräften
Leitung
in katholischen Spitzenpositionen:
Von Regina Polak
Was ist anders als in der Wirtschaft?
Von Michael Kempf
160
Interaktive Wertschätzung – Kirche
innovationsgerichtet führen
195
Neue Modelle der Leitungsverantwortung von Laien
Von Florian Sobetzko
Von Daniela Engelhard
167
Warum eigentlich?
Die Replik von Regina Polak auf Florian
200
Was macht eine Leitung
zu einer Geistlichen Leitung?
Sobetzko
Von Christine Rod MC
169
Theologieferne der Praktiker
oder Praxisferne der Theologie?
205
Kirche und Management –
Die Replik von Florian Sobetzko
Ein Kommentar aus betriebswirt-
auf Regina Polak
schaftlicher Perspektive
Von Bernd Halfar
171
Bischof und Kirchenvolk – enttäuschte
Liebe?
210
PRO JEKT
178
|
Im Pfarrhaus brennt das Licht
Von Elmar Maria Morein
Von Wilhelm Damberg
FORUM
Die Führungsakademie für Kirche
215
und Diakonie
|
Wider die Musealisierung der Liturgie
Von Erich Garhammer
Von Peter Burkowski
POPKULTURBEUTEL
INTERVIEW
183
|
232
Der Führungsbedarf innerhalb
|
Endlich Ordnung
Von Bernhard Spielberg
der katholischen Kirche wird öffentlich
wahrgenommen
NACHLESE
|
Liebe Leserin, lieber Leser,
Ist Macht im Prinzip gut oder
Ob in der Familie oder in der
Fantasie
braucht manSchule,
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Aufgabe der Leitung übernehmen. nun wirkMatthias Sellmann
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Die Buch
Schlagworte
lauten:
Liquiditätskontrolle, ImWerte und Maßstäbe,
nach
denen ist.Das
versucht
auf konkrete
Mitglied
mobilienmanagement,
Raumplanung,
Mitarbeiterentwicklung,
Gremiensteuder Schriftleitung
wir Macht gut ausüben
können?
Weise zu zeigen,
worauf beim Füherung, Prozess-Optimierung, Konfliktmediation.
Gott, so heißt es, sei allmächtig –
ren und Leiten von Menschen zu
Für die Einen sind das eben jene Vokabeln, mit denen man Kirche in das geaber was bedeutet das für unsere
achten ist. Dabei bringt der Blick
naue Gegenteil ihrer seelsorglichen Bestimmung navigiert: statt über StrukMacht? Um diese und ähnliche
auf Ignatius von Loyola wertvolle
turen solle man wieder über Inhalte reden. Für die Anderen beginnt nun
Fragen geht es in diesem Buch.
Einsichten in die „Kunst des Leitens“.
endlich die Zeit, in der kirchliche Verwaltung und kirchliche Führung professionelle Standards bekommt.
Um es vorweg zu sagen: es ist nicht die Intention dieses Heftes, diese Polarität aufzulösen oder sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Das zeigt
schon die deutliche Kontroverse zwischen Regina Polak und Florian Sobetzko. Es wird außerdem dadurch dokumentiert, dass wir sowohl theologische
als auch betriebswirtschaftliche Stimmen zu Wort kommen lassen – wobei
mit der Nennung der Disziplinen noch nichts darüber ausgesagt ist, wer welchen Pol der Debatte stark macht.
Nein, die Intention ist es, Sie in die Debatte mit hineinzuziehen. Hierzu bieten wir Ihnen: einen Besuch in der Führungsakademie der Evangelischen
Kirche in Deutschland, kreative kirchenrechtliche Optionen zum „Leitenden
Pfarrer“, eine historische Analyse zu der faktischen Unmöglichkeit, heute Bischof zu sein, Einblicke in das Coaching von Spitzenkräften sowie Erfahrungen aus einer Bistumsleitung, der ökonomischen Beratungspraxis und
einem Medienprojekt. Anton Aigner
Stefan Kiechle
Macht ausüben
Die Kunst des Leitens
Erfahrungen – Einsichten – Hinweise
Was
ist der Unterschied zwischen
einem Manager und einem Leader? Ma3. Auflage · 80 Seiten
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Ihr
Ein Gespräch mit Judith Hahn
222
Glosse von Wolfgang Frühwald
209
Impressum
224
Buchbesprechung
Die Bücher erhalten Sie
bei Ihrem Buchhändler.
www.echter-verlag.de
Prof. Dr. Matthias Sellmann, Mitglied der Schriftleitung
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THEMA Leiten – nicht leiden
Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung
Fragmente einer Theologie kirchlicher
Leitung
„Ich will nicht über euch herrschen, und auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen; JHWH soll
über euch herrschen“ (Ri 8,23). So reagiert Gideon auf das Ansinnen der Israeliten, Israels König zu
werden. Nicht Menschen sollen über Menschen herrschen. Dieses Recht ist allein Gott vorbehalten.
Aus der Sicht Gideons droht die Annahme der Königswürde die Rettung zu verdunkeln, die Israel JHWH
verdankt. Die königskritischen Stellen (Vanoni/Heininger, 19) entstammen der noch frischen Befreiungserfahrung jener Sklaven, die dem Joch ägyptischen Pharaonentums und mesopotamischer Stadtstaatenkönige entkommen sind und neue Formen des Zusammenlebens erproben – aus ihrer Sicht all
dies mit Gottes Hilfe (vgl. Lohfink, 71–102). So reagiert auch Samuel skeptisch, als das Volk einen König
verlangt: Samuel missfiel es, dass sie sagten: „Gib uns einen König, der uns regieren soll“ (1 Sam 8,6).
Für Samuel steht die Einführung des Königtums im Widerstreit zur Königsherrschaft Gottes.
Regina Polak
D
em deuteronomischen Königsgesetz (Dtn
17,14–20) steht auch ein herrschaftskritischer Strang gegenüber, der die Ausübung
königlicher Macht ablehnt. Man kann das Alte
Testament lesen als eine spannungsreiche Lerngeschichte im Umgang mit Macht. Auch das Leben und Sterben des Jesus von Nazareth zeugen
von der Brisanz dieser Thematik. Es sind die
Macht-Eliten, die seinen Tod verantworten. Seine Botschaft vom Reich Gottes beschreibt eine
Form menschlichen Zusammenlebens, in der die
soziokulturellen, ökonomischen und politischen
Machtlogiken auf den Kopf gestellt werden; Qualitätsmaßstab menschlicher Gemeinschaft ist die
Lebenssituation der Machtlosen: der Armen,
Fremden und Marginalisierten; der Kinder und
Kranken. Herrschende werden zum Dienen aufgefordert (Mk 10,43–45), ein Kennzeichen der
Anhänger des Königs, dessen Reich nicht von
dieser Welt ist (Joh 18,36). Dieser stirbt einen
154
Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 154–159)
ohnmächtigen Tod am Kreuz. Die Auferstehung
bildet den Höhepunkt jener paradoxalen Logik,
die die Gestalt des Jesus von Nazareth bezeugt:
die Macht der Ohnmacht.
Diese biblischen Erinnerungen bestimmen meine fragmentarischen Überlegungen zu einer
Theologie der Leitung. Ohne sich mit Macht bewusst auseinanderzusetzen, drohen reale Machtverhältnisse verschleiert oder spirituell überhöht
zu werden – gerade dann, wenn sich die Kirchenleitung als demütige Dienerin ihrer Gläubigen präsentiert. Aus theologischer Sicht ist
Regina Polak
geb. 1967, Dr. theol., Mag. phil., Mag. theol., MAS
(Master of Advanced Studies; Spirituelle Theologie
im interreligiösen Prozess), seit 2013 Associate
Professor am Institut für Praktische Theologie der
Universität Wien.
Macht zunächst eine Gabe: man denke an Moses, dem die Macht verliehen wird, sein Volk aus
der Sklaverei zu führen; oder an Jesus, der seinen Jüngern die Macht verleiht, unreine Geister
auszutreiben und Krankheiten sowie Leiden zu
heilen (Mt 10,1). Macht bezeichnet hier jene
Handlungsmöglichkeiten, die jemandem kraft
seiner Fähigkeiten, Ressourcen und (amtlichen)
Zuständigkeiten zur Verfügung stehen und
mittels derer er/sie auf andere Menschen Einfluss
nehmen kann. Gott lässt Menschen teilhaben an
seiner Macht, damit diese sich an seiner Schöpfungs- und Heilsgeschichte beteiligen können.
Diese Macht dient dem Schutz, der Bewahrung
und Förderung des Lebens. Sie vollzieht sich als
schöpferische Liebe, sie verwirklicht sich im Einsatz für Gerechtigkeit (vgl. Tillich 1991 [1954]).
In den Händen von Menschen verkehrt sich diese Gabe jedoch immer wieder in Herrschaft und
Gewalt über andere Menschen.
Das Bewusstsein um den zwiespältigen Charakter von Macht bildet daher ein Herzstück jeder
Theologie der Leitung. Leitung dient dazu, die
Angelegenheiten und Aufgaben, die alle betreffen, gestalten und erfüllen zu können. Dazu bedarf es auch institutionalisierter Macht und Personen, denen diese anvertraut wird. Zugleich
bilden die Erfahrungen mit dem Scheitern
menschlicher Macht und ihrer Opfer wie die biblischen Erinnerungen ein unverzichtbares Korrektiv und eröffnen eine theologische (Selbst)Kritik im Umgang mit Macht: alle menschliche
Macht ist begrenzt und verliehen und Gott ist der
Herr der Geschichte.
LEITEN IN DER ZEITGENÖSSISCHEN DEUTSCHSPRACHIGEN KIRCHE
Historisch sensible Menschen verstehen sich
nicht gerne als Herrscher oder Führer. Man
spricht stattdessen von Führung oder Leitung.
Auch wenn diesbezüglich noch manches ausbaufähig ist, sind auch in der Kirche die Weichen
für das Bewusstsein, dass Führung und Leitung
professioneller Ausbildung bedürfen, im Wesentlichen gestellt. Zugleich nehme ich eine seltsame Theologie-Ferne wahr: ein wechselseitiger,
kritischer Lernprozess zwischen Leitungswissen/kompetenz und Theologie gehört nicht zur pastoralen Alltagspraxis. Leitungsmethoden werden
übernommen, aber selten theologisch reflektiert
(vgl. Krobath/Heller 2010; Meier/Sill 2010; Aigner 2011; Kiechle 2010; Zulehner/Rossberg/Hennersperger 2013). Wie wirken sich die Erfahrungen mit Leitungspraxis auf Glaube und Theologie
aus? Wie verändern sich dabei auch Inhalte des
Glaubens? Wo spießen sich Leitungspraxis und
theologische Überzeugungen? Welche Leitungstheorien sind aus theologischer Sicht legitim? [...]
Bleiben solche Fragen ausgeklammert, verkommt die Theologie zu einer Art ideologischem
Überbau einer „profanen“ Leitungspraxis. Aber
gibt es aus der Sicht des Glaubens überhaupt Praxis, die nichts mit Gott und seinem Geist zu tun
haben kann? Erst recht eine für die Kirche so
zentrale Praxis wie die des Leitens? Sichtbar wird
dieser Reflexionsmangel z.B. in den heftigen Debatten um die theologische Würde von Strukturen, die gegenüber „dem Eigentlichen“ nur zweitrangig seien, während manche als sakrosankt
gelten. Zudem vertreibt so manche Strukturreform den Geist der Freude, der Hoffnung so heftig aus der Kirche, dass zu viele Gläubige erschöpft und frustriert zurückbleiben.
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THEMA Leiten – nicht leiden
Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung
Neue, individuell erworbene Leitungskompetenzen verändern zudem ohne entsprechende theologische Reflexion nicht von heute auf morgen
eine jahrhundertelang eingeübte Praxis im Umgang mit Macht. Leitung bedeutet dann de facto in einer immer noch reichen Kirche Verwaltung des Altbekannten. Leitungspersonen sollen
sagen, „wo es langgeht“– nur eben mit mehr Professionalität. Konkret wird dies z.B. dort, wo die
Tugend des Gehorsams unverändert als Leitungsinstrument eingesetzt wird – wider jegliches bessere theologische Wissen, dass Gehorsam ein dialogisches Geschehen zwischen
Menschen und Gott ist. Konkret wird das dort,
wo interner Widerstand und Konflikte nicht als
Lernpotential, sondern als Untreue und Illoyalität wahrgenommen werden. Strukturreform
und Glaubensvertiefung laufen nebeneinander
her. Dabei bieten die Erfahrungen mit zeitgenössischen Leitungstheorien und -praktiken eine
Fülle an Impulsen, die den Glauben, die Theologie und damit die Kirche bereichern können. Einige davon möchte ich im Folgenden skizzieren.
VISION UND ZIEL: REICH GOTTES VOR ORT
Wer leitet, braucht eine Vision, eine beschreibbare Vorstellung von der Zukunft. Das gilt auch
für jene, die die Kirche leiten. Aber wie kann eine
solche Vision für die Kirche aussehen? Aus welchen Quellen speist sie sich? Bei Übungen mit
kirchlichen Leitungspersonen bin ich immer wieder mit einem seltsamen Mangel an konkreten
Zukunftsbildern konfrontiert. Die Frage: wie
sieht die Kirche der Zukunft aus, jener Kirche,
die Sie sich wünschen, von der Sie träumen? –
sie stößt nicht selten auf Schweigen. Die Bilder
erschöpfen sich in Extrapolationen der Gegen156
wart. Ich höre von neuen Sozialformen oder pastoralen Großräumen. Ja, aber wofür steht diese
Kirche? Was ist ihre Aufgabe in dieser konkreten geschichtlichen Stunde? Warum sollte sich
ein junger Mensch hier einfinden? Erstickt der
Alltagsdruck der Kirchenverwaltung den Mut
und die Kraft zum Träumen?
Die Vision des Jesus von Nazareth war das Reich
Gottes (Mk 1, 15). Beheimatet in der jüdischen
Tradition steht die Erfahrung der Gottesherrschaft im Zentrum seines Lebens. Es wird real in
Heilungen und Exorzismen, wo Menschen von
Krankheiten und Besessenheiten befreit werden.
Es wird konkret in den Mählern Jesu mit Zöllnern, Sündern und Ausgestoßenen; in der bedingungslosen Zusage der Vergebung der Sünden und in der Seligpreisung der Armen. Das
Böse ist unwiderruflich entmachtet (Lk 10,18).
Das Reich Gottes ist Wirklichkeit und kann nicht
aufgehalten werden. Es beschreibt eine persönlich-existenzielle und eine gesellschaftlichpolitische Wirklichkeit, in deren Zentrum die
Gerechtigkeit steht (Eigenmann 1998; vgl. Polak/Jäggle, 603–638).
Die Vision des Jesus von Nazareth kann Quelle
und Kriteriologie auch für zeitgenössische Visionen sein. Die Vision der Kirche hat einen
besonderen Charakter: sie ist vorgegeben – und
bedarf zugleich ihrer zeitgerechten Vergegenwärtigung und Neuübersetzung. Sie beschreibt
eine Zukunft, die bereits Gegenwart ist, von Gott
her eröffnet. Sie ist Verheißung und Zusage,
Hoffnung und Wirklichkeit, Zumutung und Anspruch in einem. Vor allem aber: sie ist kein Privileg von Leitungspersonen, sondern allen Gläubigen anvertraut. Die Vision der Kirche ist daher
immer eine geteilte, eine gemeinsam geprüfte
und entwickelte. Wäre charismatischen Visionären daher nicht immer mit etwas Vorsicht zu be-
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gegnen? „Das Geheimnis der heiligen Kirche
wird in ihrer Gründung offenbar. Denn der Herr
Jesus machte den Anfang seiner Kirche, indem
er frohe Botschaft verkündigte, die Ankunft
nämlich des Reiches Gottes, das von alters her
in den Schriften verheißen war“ (LG 5). Daher
hat die Kirche die Aufgabe, dieses Reich „anzukündigen und in allen Völkern zu begründen“.
Leitung bedeutet, die Gläubigen und die Kirche
bei der Wahrnehmung und Verwirklichung der
Vision vom Reich Gottes zu begleiten und zu
unterstützen. Weil sich das Reich Gottes geschichtlich und konkret offenbart, wird Leitungspraxis in jeder Situation, an jedem Ort verschieden aussehen.
die Kirche ist „nur“ Zeichen und Werkzeug auf
dem Weg dorthin (LG 1).
Leitung begleitet den Weg der Gläubigen inmitten der Geschichte. Der gemeinsamen Identifikation der „Zeichen der Zeit“ kommt dabei eine
besondere Relevanz zu: sie lassen jene konkreten Aufgaben erkennen, die Gott der Kirche stellt.
Dies geschieht gemeinsam mit jenen, die auf diesem Weg unterwegs sind und mit jenen, denen
man unterwegs begegnet (vgl. Ruggieri, 61–70).
Benötigt dafür nicht jede Leitungsperson in der
Kirche Erfahrungen mit der Welt jenseits der Kirche? (vgl. dazu GS 44). Unternehmen achten
heute bei Bewerbern darauf, ob sie Erfahrungen
nachweisen können, die nichts mit Ausbildung
und Geldverdienen zu tun haben.
PROZESSGESTALTUNG
Um eine Vision des Reiches Gottes vor Ort gemeinsam zu entwickeln, braucht es entsprechende Kommunikations- und Lernprozesse. Leitung initiiert, gestaltet und begleitet solche
Prozesse. Auch und gerade innerhalb dieser Prozesse kann sich Reich Gottes realisieren. Theologisch lassen sich solche Prozesse als „Weg“
verstehen. Auf diesem Weg wird wie in der Apostelgeschichte gebetet und gefeiert, werden Gemeinden gegründet und wieder aufgelassen, engagieren sich ChristInnen in der Welt. Der Weg
führt durch die konkrete Geschichte. Es gibt Irrwege, Abwege, Umwege – und in jedem Fall begegnet man unterwegs anderen Menschen. Sind
Prozesse innerhalb der Kirche, an denen sich nur
die Zugehörigen beteiligen, daher nicht eine Verzerrung des christlichen Weges? Müssen die
„Anderen“ der Kirche nicht notwendig Teil jedes
kirchlichen (Reform)Prozesses sein? Die ReichGottes-Vision bezieht sich ja auf die Menschheit,
MITTEL UND INSTRUMENTE:
FÖRDERN SIE BEZIEHUNG UND KOMMUNIKATION, PARTIZIPATION UND LERNPROZESSE?
Einige Fragen, die helfen können, die Qualität
der eingesetzten Leitungs-Tools theologisch zu
reflektieren:
! Fördern Leitungs-Tools Beziehungen zwischen Menschen: innerhalb der Kirche, innerhalb und außerhalb der Kirche, zwischen
Menschen und Gott? Bürokratie – die jede Organisation immer auch braucht – lässt leicht
die Menschen vergessen. Erleichtert und fördert sie Beziehungen?
! Fördern Leitungs-Tools Kommunikation und
Partizipation? Können Menschen bei Strukturreformen ihre Visionen und Ideen, ihre Erfahrungen und Begabungen, Fragen und Sorgen einbringen? Besonderes Augenmerk gilt
jenen, die in Gesellschaft und Kirche oft unsichtbar und ungehört bleiben: den Kindern
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THEMA Leiten – nicht leiden
Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung
und Jugendlichen, den Migranten und Marginalisierten, den Armen und Kranken. Freilich: Partizipation fördert Konflikte und Widerstand. Eine der wichtigsten Leitungskompetenzen ist daher der Umgang mit Pluralität
und Differenz.
! Setzen Leitungs-Tools Lernprozesse in Gang?
Einer Kirche, die sich auf dem Weg befindet
(„Pilgerin“), entspricht das Selbstverständnis
einer Lerngemeinschaft, die sich persönlicher
und struktureller, gedanklicher und emotionaler Veränderung durch (Differenz)Erfahrung aussetzt. Spannend sind daher all jene
Instrumente, die Zeiten und Räume eröffnen,
glauben und leben zu lernen. Hier wäre auch
die theologische Kompetenz von Leitungspersonen gefragt: Theologie kann helfen, den
inneren Sinn der Praxiserfahrungen aus der
Sicht des Glaubens zu erfragen.
BERUFUNG
Leitung ist aus theologischer Sicht nicht nur auf
Leitungspersonen von Amts wegen beschränkt.
Leitung ist eine geistliche Berufung, die sich an
alle richtet. Als Verheißung und Zusage des Reiches Gottes ist sie von Gott allen anvertraut. So
ist vor jeder Leitungskompetenz zuerst die Frage nach der speziellen Leitungsberufung zu
stellen (vgl. Jacobs, 549–559): anhand der je persönlichen Begabungen, Aufgaben, biographischen Erfahrungen lässt sich fragen: worin besteht mein Leitungsauftrag für die Kirche?
Lumen Gentium denkt ganz in dieser Spur, wenn
von der Teilhabe aller Getauften an den drei Ämtern Christi – König (leiten), Priester (heiligen)
und Prophet (lehren) – oder am Hirtenamt der
Kirche die Rede ist (vgl. z.B. LG 10–12; 34–36).
158
Bereits der Aufbau der Konstitution zeigt diese
Sicht: zuerst ist von Wesen und Auftrag der Kirche die Rede, sodann vom handelnden Subjekt,
dem Volk Gottes. Erst danach wird von der speziellen Berufung zum Bischofsamt geschrieben.
Der Gedanke der Teilhabe prägt das konziliare
Leitungsverständnis. „Die geweihten Hirten [...]
wissen ja, dass sie von Christus nicht bestellt
sind, um die ganze Heilsmission der Kirche an
der Welt allein auf sich zu nehmen, sondern dass
es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen
so als Hirten zu führen und ihre Dienstleistungen und Charismen so zu prüfen, dass alle in ihrer Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenarbeiten“ (LG 30).
Leitung betreibt also Empowerment und Capacity-Building. Sie soll die Gaben und Aufgaben
der Gläubigen entdecken und fördern. Diese dienen der gemeinsamen Arbeit an einem Werk. LG
nennt auch die Spannung zwischen individueller Förderung und Gemeinwohlorientierung. Leitung in der Kirche muss demnach differenzsensibel, pluralitätsgerecht und gemeinwohlorientiert handeln. Nach Heribert Hallermann findet
sich ein solch modernes Leitungsmodell auch im
Kirchenrecht (Hallermann 2014). Alle Gläubigen
haben Anteil am Leitungsamt der Kirche kraft
ihrer Taufe. Leitung dient dem Aufbau, der Stärkung und der Bewahrung der kirchlichen communio, damit diese ihre Sendung verwirklichen
kann.
den Transformationsprozess – außerhalb und
innerhalb der Kirche. Darüber wird freilich noch
vielfach geschwiegen, zu heftig und irritierend
sind die damit verbundenen Fragen und notwendigen Denkanstrengungen.
Organisationstheoretisch nennt man einen solchen Prozess einen „Wandel zweiter Ordnung“:
es ändern sich nicht nur die Bedingungen des
Rahmens, in dem Veränderung stattfindet; es ändert sich der Rahmen selbst – noch zugespitzter:
ein neuer Rahmen wird erforderlich. Die Kirche
befindet sich also nicht bloß in einem Prozess
des Downsizings, in dem sie Altbewährtes anpassen muss. Gefragt ist, organisationstheoretisch, ein substantieller „Change“; theologisch
eine Metanoia, eine Umkehr. Dieser Change betrifft den Glauben selbst: was bedeutet Glauben
im 21. Jahrhundert? Wie ist er zu lernen, zu denken, zu leben? Die wichtigste Aufgabe von Leitung in der Kirche besteht daher vielleicht wohl
darin, die Notwendigkeit zu dieser Metanoia
wahrzunehmen und den Wandel zweiter Ordnung anzudenken und zu riskieren.
!
Seht her, nun mache ich etwas Neues.
Schon kommt es zum Vorschein,
merkt ihr es nicht? (Jes 43,19)
LITERATUR
Aigner, Anton, Die Kunst des Leitens. Erfahrungen – Einsichten – Hinweise (= Ignatianische Impulse Nr. 48), Würzburg 2011.
Eigenmann, Urs, Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die
Erde. Die andere Vision vom Leben, Luzern 1998.
Hallermann, Heribert, Mehr als Strukturen. Chancen für Vielfalt und
Kooperation. Beitrag im Rahmen der Tagung „Lebendige Kirche in neuen Strukturen. Herausforderungen und Chancen“, Schloss Hirschberg
am 30. September 2013 (erscheint 2014).
Jacobs, Christoph, Moses: Führen als Berufung. Skizzen zu einer Führungsspiritualität, in: Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.), Führung. Macht.
Sinn. Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und
Kirche, Regensburg 2010.
Kiechle, Stefan, Macht ausüben (= Ignatianische Impulse Nr. 13),
Würzburg 2010.
Krobath, Thomas / Heller, Andreas (Hg.), Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br. 2010.
Lohfink, Norbert, Das Königtum Gottes und die politische Macht, in:
ders., Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg
i.B. 1987.
Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.), Führung. Macht. Sinn. Ethos und
Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Regensburg 2010.
Polak, Regina / Jäggle, Martin, Diversität und Convivenz: Miteinander Lebensräume gestalten – Miteinander Lernprozesse in Gang setzen, in: Schinkele, Brigitte u.a. (Hg.), Recht. Religion. Kultur. Festschrift
für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014.
Ruggieri, Guiseppe, Zeichen der Zeit. Herkunft und Bedeutung einer
christlich-hermeneutischen Chiffre der Geschichte, in: Hünermann,
Peter (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit,
Freiburg i.Br. 2006.
Tillich, Paul, Liebe Macht Gerechtigkeit, Berlin 1991 [1954].
Vanoni, Gottfried / Heininger, Bernhard, Das Reich Gottes. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments. Die neue Echter Bibel –
Themen. Band 4, Würzburg 2002.
Zulehner, Paul M. / Rossberg, Eckehard / Hennersperger, Anna,
Mit Freuden ernten. Biblisches Saatgut für Zeiten und Prozesse des
Übergangs, Ostfildern 2013.
KAIROS ERKENNEN
Eines der „Zeichen der Zeit“ ist das Ende der konstantinischen Kirchengestalt. Nicht nur Organisations- und Sozialformen gehen zu Ende; der
Glaube selbst befindet sich in einem gravieren-
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Interaktive Wertschätzung
Interaktive Wertschätzung –
Kirche innovationsgerichtet führen
Nicht nur führungstheoretische Forschung, Organisationstheorie und Wirtschaftspsychologie liefern
wichtige Anhaltspunkte für kirchliche Führungskultur. Das betriebs- und ingenieurwissenschaftliche
Technologiemanagement wartet mit starken Impulsen auf und bietet vorteilhafte, überraschend
präzise Werkzeuge, um einen Stil „dienender Führung“ als Vollzugsgestalt kirchlichen Innovationsmanagements zu erschließen. Florian Sobetzko
B
eginnen wir in ungewohnter Sprache.
Beginnen wir mit dem, was Nachwuchsführungskräfte des Technologie- und Innovationsmanagements (TIM) als Lösungsraumerweiterung lernen, um komplexe Probleme
durch eine sogenannte „erweiterte Löserbasis“
bearbeiten zu lassen, die online per „Broadcast
Search“ (Offener Aufruf zur Mitarbeit) veröffentlicht und von einer möglicherweise breiten
Masse auch unbekannter „Solver“ (Problemlöser)
mit Ideen traktiert werden sollen. Wie bitte?
Der Lösungsraum (Gesamtheit möglicher Lösungen) wird erweitert, wo organisationsexterne Experten in Innovationsprozesse integriert werden.
Sie liefern möglicherweise völlig neue Ideen, an
die intern niemand gedacht hätte. Wenn etwa
ein Flugzeugbauer auf der Suche nach schonenden Entfärbungsverfahren für sensible Flugzeugaußenwände nicht nur die eigenen Ingenieure konsultiert, sondern auch Lösungsvorschläge von Restaurateuren kunsthistorisch
wertvoller Bilderrahmen studiert. Er verbreitert
auf diese Weise seine „Problemlöserbasis“ – traditionelle Organisationsgrenzen werden verflüssigt.
160
Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 160–166)
KIRCHLICH UNGEWOHNT:
GEHEIMES WISSEN HERAUSRÜCKEN
Das ist nicht nur kirchlich ungewohnt, man
spricht auch im TIM vom „not-invented-here“Syndrom. Damit ist gemeint, dass externe Ideen
in Unternehmen oft nachrangig behandelt werden: „Nicht bei uns erfunden – lässt sich schlecht
integrieren – ist nicht von uns – müssen wir Lizenzgebühren für zahlen – passt hier nicht.“ Führung in innovationsgetriebenen Unternehmen
basiert aber auf der Einsicht, dass wichtige Produkt- und Prozessinnovationen von außen kommen können – auch von anonymen Partnern
(siehe etwa innocentive.com). Firmen rücken dafür sogar bislang geheimes Wissen heraus und
Florian Sobetzko
2007 Gründer der kafarna:um Gemeinde Aachen,
seit 2013 CrossingOver-Stipendiat über Interaktive
Wertschöpfung und Führungskonzeptionen im
US-Katholizismus; als Referent für Innovationsprozesse und Personalentwicklung im Bistum
Aachen transformiert er im Rahmen eines ZAPProjektes Konzepte betriebswirtschaftlicher Unternehmensgründung zu Werkzeugen für kirchliche
GemeindegründerInnen.
transferieren relevante Werkzeuge in externe Domänen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Damit
andere mir kreativ beim Kochen helfen können,
brauchen sie Zugang zu meinen Töpfen. Interaktive Wertschöpfung (IW) nennt man das, und
es reicht erheblich weiter als das selbständige
Ausdrucken von Kontoauszügen am Bankautomaten. Zwei wesentliche Ausprägungen sind zu
unterscheiden: Open Innovation und Mass Customization.
NICHT GANZ SO UNGEWOHNT:
UNZUFRIEDENE KUNDEN
Open Innovation beschreibt die Vergabe einer
Aufgabe an ein undefiniertes, großes Netzwerk
von externen Akteuren (vgl. Reichwald/Piller
2009, 51). Typisch hierfür ist etwa ein Ideenwettbewerb. IW verfolgt dabei regelmäßig auch
sogenannte Lead-User-Strategien der Kundeninnovation. Hierbei werden vor allem unzufriedene, lösungskreative NutzerInnen identifiziert,
weil deren Unzufriedenheit oft Wege freiräumt
für neue, überraschende Lösungen. Ein bekanntes Beispiel für eine derartige Kundeninnovation
ist die Erfindung des Rollkoffers durch einen
schleppfaulen amerikanischen Piloten in den
1980er Jahren.
Weniger auf das externe Lösungs- als vielmehr
auf das Bedürfniswissen richtet sich IW als Mass
Customization (kundenindividuelle Massenfertigung). Traditionell bewegt sich unternehmerisches Handeln zwischen einerseits Preisstrategien durch skalierbare Massenfertigung und
andererseits Differenzierungsstrategien durch
kundenindividuelle Maßanfertigung bzw.
Dienstleistung. Die kundenindividuelle Massenfertigung ist eine Hybridstrategie: Skalierungs-
und Differenzierungsvorteile werden verheiratet,
wo Kunden z.B. per „Konfigurator“ im Netz ihr
Wunschauto oder ihren perfekten Schuh konfigurieren und gar abonnieren, nachdem ihr Fuß
im Laden vermessen wurde. Der Lösungsraum
(die Zahl der Farben, Ausstattungs- und Erweiterungsmerkmale) ist hier erweitert, aber begrenzt. Statt per Marktforschung immer besser
zu erraten, welchen Schuh der Käufer morgen
möchte, lässt der Hersteller ihn sein Bedürfniswissen aktiv einbringen und lernt zugleich viel
für die nächsten Serienmodelle.
In der Aufsicht begegnet solch ein Unternehmen
der Bedürfnisvielfalt auf Kundenseite nicht nur
nicht bewertend („Relativismus, Individualismus,
Konsumismus“), sondern mit merkantiler Kreativität. Es nutzt Kommunikationstechnologien
zur intelligenten Nutzung externen Bedürfniswissens.
INNOVATION ALS NORMALFALL VON KIRCHE
Die kirchliche Startposition für interaktive Wertschöpfung erscheint eigentlich optimal, denn das
Konzept aktiviert theologisch alle Register: man
lese Propheten und Ordensgründer nur einmal
als unzufriedene Nutzer (Lead User) und pastorale Innovateure, interpretiere Jesu Zusammenarbeit mit Zöllnern, Sündern, Prostituierten und
Kranken oder auch die apostolische Heidenmission als Verbreiterung der Löserbasis. Man lese
can. 212–214 CIC als Aufruf zur Aktivierung externer Expertise und entwickle ein interaktionales Kirchenbild entlang des Glaubenssinnes des
Volkes (LG 12), des gemeinsamen Priestertums
(LG 10) und der Adaptionslogiken von GS 44,
wo Kirche als Co-Kreation aufscheint, zu deren
Kennzeichen Löserbasiserweiterungen in der
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THEMA Leiten – nicht leiden
Interaktive Wertschätzung
Verkündigung (AA 1) oder aber der Liturgie (SC
14) stilbildend gehören.
UND INNOVATIONSMANAGEMENT?
Kirche vollzieht sich, „indem sie sich selbst unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert“ (GS 21), Innovation
(Erneuerung) und Exnovation (Läuterung) sind
nachgerade dogmatischer Normalfall von Kirche. Eine Binsenweisheit des Innovationsmanagements scheint hier provokant auf: unternehmerische Produktzyklen beinhalten nicht nur
die Ankündigung von Neuheiten, sondern auch
die Abkündigung (Exnovation) stagnierender
Leistungserbringung. Der Maschinenbauer weiß:
wenn ich die alte R1600 nicht abkündige, werden die Kunden die neue R12 nicht kaufen, auch
wenn sie mehr kann. Denn die Kunden denken:
bei der R1600 weiß man, was man hat. Die können wir selber reparieren, wir kennen ihre Macken, die reicht uns. Doch von vorne: was hat
das Technologiemanagement mit den Herausforderungslagen kirchlicher Führung zu tun?
GESUCHT: KIRCHLICHE FÜHRUNGSKRAFT
Die aktuellen Handlungsforderungen an kirchliche Entscheider sind signifikant. Der Erfolg unzähliger auf Führungsthemen fokussierter Lernund Beratungsangebote ist ein Indikator dafür.
Ebenso erwähnenswert sind aber auch Gründungen wie das Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung (www.zap-bochum.
de) mit seinem pragmatischen Anspruch, nicht
nur Diagnosen, sondern demnächst auch Lösungsvektoren zur Bearbeitung pastoraler Kom162
plexität zu liefern. Es gibt den Bedarf von Führungsverantwortlichen und Gremien aus allen
Etagen der deutschsprachigen Kirche, in der zur
Zeit Umbrüche zu beobachten sind, die vor kurzem noch undenkbar schienen – die Projekte des
ZAP markieren sämtlich führungsrelevante Themen als Joint Ventures zwischen Bistumsleitungen und Ruhr-Universität.
KONTROLLE ABGEBEN, FÜHRUNG WAHREN
Im Kontext freiheitlicher Selbstbestimmung kann
jeder herrschaftlich prädizierte Leitungsanspruch
nur floppen. Gesellschaftlich honoriert werden
Kulturanbieter, die sich dem Co-Design verschrieben haben und ihre Kunden bzw. Mitglieder nicht als reine Leistungsempfänger betrachten. Benutzergenerierter Inhalt tritt im Web 2.0
wie im physischen Leben an die Stelle interner
Expertise. Die Crowd (die Menge) wird nicht
mehr nur für den Chorschluss gebraucht („So etwas haben wir noch nie gesehen“, Mk 2,12), sie
wird selbst zum Co-Autor. Organisationale Interaktionskompetenz ist dafür gefragt: die Fähigkeit, externes Bedürfnis- und Lösungswissen zu
absorbieren. Der betriebswirtschaftliche Diskurs
arbeitet heraus, dass es zum Überlebenskriterium
wird, ob Organisationen im Gestaltungswillen
ihrer Kunden bzw. Mitglieder Bedrohung oder
Chance erkennen – und eben im Paradigma der
Offenheit oder der Geschlossenheit agieren.
ten: Demographie und Abwesenheit von Interesse seitens überwältigender Mehrheiten der Kirchensteuerzahler lassen erahnen, dass kirchliche
Führung bald zur Suchaufgabe werden könnte –
nach Geführten. Gemeindefusionen erzeugen dabei schlimmstenfalls quantitative Kontinuitätsfiktionen („die Kirche ist voll“) auf Leitungsebene, Pfarrer und Bistumsleitungen sind versucht,
sich eine Personalgemeinde zu konfigurieren –
aus kirchlichem Personal.
Dies führt SeelsorgerInnen in eine kognitive Dissonanz, wo sie für stagnierende familiaristische
Gemeindekonzepte dienstverpflichtet immer
mehr Energie aufwenden müssen, um zu verdrängen, dass sich das auch finanziell einfach
nicht rechnen kann. Ist meine Arbeit das Geld
wert, das sie kostet? PastoralassistentInnen wie
SeelsorgeamtsleiterInnen fragen sich: machen
wir noch ein paar Jahre so weiter und dann das
Licht aus, oder schaffen wir es, unserem Führungsauftrag nachzukommen?
Alle Beteiligten teilen die Intuition, dass von der
Führungsfrage die Zukunft der institutionellen
Kirche abhängt: wie gelingt organisiertes Christsein zwischen Tradition, Transformation und Innovation, wenn nicht durch effektive Führung?
Und wie sieht diese aus, wenn sie sowohl Sachstand der führungstheoretischen Forschung als
auch kirchliche Expertise in Theologie und pastoraler Praxis produktiv kombinieren und synthetisieren soll?
FÜHRUNGSTHEORETISCHE ANHALTSPUNKTE
KIRCHENFÜHRUNG: PASTORALPRODUKTIV
ODER KUNSTHISTORISCH?
Auch wenn die Kirchen in Deutschland eben
noch fulminante Steuereinnahmen verzeichne-
Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen
Die führungstheoretische Forschung, schon früh
erahnbar in Plutarchs Parallelbiographien, hat
ein breites interdisziplinäres Fundament vor allem in den zurückliegenden einhundert Jahren
entwickelt und präsentiert Führung als komplexen Gegenstand: sie ist „ein soziales Phänomen,
das nicht ‚da draußen’ unabhängig existiert und
auf seine vollständige Entdeckung wartet, sondern fortwährend, den sich ändernden Umständen folgend, neu geschaffen wird“ (Neuberger
2002, 6). Gute Führung ist also in diesem Sinne
kulturbedürftig wie gute Verkündigung im Sinne von GS 44. Wie sehen aktuell relevante Linien aus?
TRANSFORMATIONALE FÜHRUNG:
DAS „LEADERSHIP-DING“
Es ist James McGregor Burns, der in den ausgehenden 1970ern in Politik und Ökonomie das
Konzept der „transaktionalen Führung“ diagnostiziert und durch die Idee der „transformationalen Führung“ erweitert (Burns 1978). Transaktional ist Führung, insofern es zu einem
Austausch von Leistungen kommt. Zielvereinbarungen, Aufgaben, Delegationen von Verantwortung, Leistungskontrolle, Belohnung, negative Belohnung, Anreizsysteme prägen diesen
Führungsstil. Als er dies neocharismatisch fortschreibt zur transformationalen Führung, die den
Geführten Sinn und Zweck der organisationalen
Zielsetzungen durch mitreißendes und motivierendes Leitungsverhalten verinnerlichen will,
lenkt er den Fokus nachhaltig auf Führung als
Beziehungsphänomen und bereitet der bald um
sich greifenden Unterscheidung zwischen Manager und Leader den Boden: der eine ist eher
Verwalter, der andere eher Visionär und Inspirator (vgl. etwa Zaleznik 1977; Kotter 1990).
Kirchlich ist das relevant, weil etwa eine ländervergleichende Analyse hervorbringt, dass die zuletzt immer interessierter beobachtete Pastoral
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THEMA Leiten – nicht leiden
Interaktive Wertschätzung
des US-amerikanischen Kulturraums stark von
diesem Denken durchzogen ist: „Könnte es sein,
dass wir Amerikaner sehr fixiert sind auf die Rekrutierung ehrenamtlicher Leader, während Ihr
Deutschen eher auf der Suche nach Followern
seid?“, fragt der amerikanische Pfarrer mich
während meiner Exposure-Erfahrung in der Ortskirche von Chicago. Und die Willow Creek Megachurch, zu deren deutschem Leitungskongress
mittlerweile tausende Protestanten und Katholiken strömen, atmet Transformation: „Lead where you are“ (Führe, wo du bist) heißt das Credo.
Führen heißt hier: sich durch Gottes Führung
verwandeln (transformieren) lassen, um dann
Welt zu verwandeln. Das ist interessant für eine
Kirche, der die Führungskräfte abhanden kommen. Lässt sich hier lernen, Menschen zu gewinnen, die auf Sendung gehen und nicht nur
zuhören möchten?
FÜHRUNG UNTER MANIPULATIONSVERDACHT
Der bis in die Weber’schen Einsichten zu Amt,
Herrschaft und Charisma zurückreichende Führungstrend weckt im hiesigen Denken und Fühlen Widerstände: er erinnert zu sehr an die unheiligen Führer des 20. Jahrhunderts. Die Idee,
die Werte und Einstellungen von Mitarbeitern zu
beeinflussen, um statt einer transaktional extrinsischen nunmehr eine transformational intrinsische Motivation zu erzeugen, lässt Manipulationsverdachte einrasten. Es überrascht
nicht, wenn der Leadershipgedanke hier lange
hinter systemischen und elaboriert transaktionalen Konzepten zurückstand.
In seiner bemerkenswerten Ekklesiologie illustriert nun Michael Böhnke, anknüpfend an die
führungstheoretische Studie von Wolfgang Pax,
164
wie transformationale Führung in der neueren
Wirtschaftspsychologie wie in biblisch-urkirchlicher Perspektive produktiv durch einen sozial
ausgerichteten, situativen Charismenbegriff erschlossen wird (Böhnke 2013, 240ff.). Charisma
ist hier nicht genialisches Persönlichkeitsmerkmal, sondern kontext- und kommunikationsbezogen. Dies deckt sich auch mit dem soziologischen Befund der imposant skalierten GLOBE
Study (House 2004), die für das interkulturelle
Management erschließt, wie divers sich „Leadership“ in den Kultur- und Sprachräumen skizziert. Wie könnte eine katholisch kompatible Enkulturationsform für unseren Sprachraum aussehen?
DIENENDE FÜHRUNG – LEADING LIKE JESUS?
Die Konzeption der „dienenden Führung“ bzw.
„Servant Leadership“ (Greenleaf 1970) weckt
Interesse, insofern sie als Variante der transformationalen Führung enorme Passung sowohl in
kirchlichen Kontexten wie in unternehmerischen
Umgebungen verspricht, denen sie eigentlich
entstammt. Der im deutschen Sprachraum erstaunlich unbeachtete Ansatz hat in den USA
sowohl aufgrund seiner Semantik als auch aufgrund zahlreicher typisch amerikanischer Erfolgsgeschichten wachsende Rezeption in kirchlichen Kontexten gefunden. Zugleich trifft man
neuerdings deutsche KCG-Forscher (Kleine
Christliche Gemeinschaften) bei Servant-Leadership-Kursen auf den Philippinen. Worum geht
es dabei?
Die dienende Führungskraft führt vor allem
transformational, richtet aber den Fokus nicht
auf die Ziele der Organisation, sondern auf Bedürfnisse und Charismen der Geführten. Durch
Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen
vorbildhaft dienendes Verhalten will sie zur
Nachahmung anstiften und damit erzeugen, was
die Arbeits- und Organisationspsychologie „Organizational Citizenship Behaviour“ (OCB)
nennt: Helfen, Initiieren, Beifall geben, Wirtschaften, Partizipation, Teilhabe, Selbst-Entwicklung.
Kirchliche Führung muss dazu, wie alle Verkündigung, „sowohl dem Verständnis aller als auch
berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen“ (GS 44) sein und sich produktiv enkulturieren lassen. Ihre Plausibilität erschließt sich
optimalerweise dem Messdienergruppenleiter so
leicht wie dem Pfarrer, dem Schulleiter wie dem
Schüler, dem Bischofskaplan wie dem Heiligen
Vater. Es darf nicht vieler Prämissen bedürfen,
damit katholische und städtische SchulleiterInnen, Seelsorgeamts- und OrdnungsamtsleiterInnen sich auf Augenhöhe über gute Führung austauschen können.
Eine kirchliche Führungskonzeption wird nicht
historisierend antike Führungsvorbilder adaptieren können, dringlicher noch: sich zu hüten
haben vor der Taufe nur phänotypisch biblisch
fundierten Führungsverhaltens. Die Euphorie
mancher Ratgeberliteratur lässt vermuten, man
könnte tatsächlich führen wie der Heiland. Aber
auch mit größerer Nüchternheit dockt Servant
Leadership offenbar produktiv an biblischem
Dienstverständnis an.
Vor dem Hintergrund der Herausforderungslage
muss eine kirchliche Führungskultur sich überdies daran messen lassen, inwieweit sie auch
Führungskräfte oder nur Follower anzieht. Das
fordert heraus, insofern es in der Frage aufgipfelt, wer nach uns führen wird.
DIENENDE FÜHRUNG ALS „INTERAKTIVE
WERTSCHÄTZUNG“
Doch das Konzept verspricht mehr: ich schlage
vor, es im Sinne einer „interaktiven Wertschätzung“ produktiv in den Horizont des Innovationsmanagements hinein zu entfalten: wo
Unternehmen die Expertise vormaliger Nur-Leistungsempfänger in die Wertschöpfungskette integrieren und aus dem Modus der Publikation in
den Modus der Interaktion wechseln, ist kirchliches Führen mit andienendem Lächeln herausgefordert, aus den Angebots- und Versorgungslogiken der Hintergrunderfüllung zum subsidiären Dienst-Leister kokreativer Kirchenentwicklung zu werden. Kirche dienend führen heißt
dann: eine organisationsvertikal stringente Kultur der Fach- und Führungskräfteentwicklung zu
etablieren, in Haupt- und Ehrenamt. Von professionell innovierenden Unternehmen lernt sie
dabei, dass jahrzehntelang gleichbesetzte Leitungspositionen aller Ebenen auf junge Talente
extrem abschreckend wirken: wer möchte nach
seinem Studium 30 Jahre auf die erste Führungsverantwortung warten? Oder umgekehrt:
was passiert in Organisationen, in denen vorwiegend Mitarbeiter mit dieser Bereitschaft anzutreffen sind? Führung als Interaktive Wertschätzung wird diese Samuel-Effekte (1Sam 3)
nicht nur zum Gegenstand geistlicher Einkehrtage machen, sondern präzisionsscharfe Werkzeuge entwickeln wollen, Bedürfnis- und Lösungsexpertise nicht abperlen zu lassen.
Dienende Führung im Sinne interaktiver Wertschätzung bedeutet auch, dass die für kundenindividuelle Dienstleistung bedeutsamen Prozesse durch konsequente Nutzung von Kommunikationstechnologien erlernt werden. Praktisch
wird das zum Beispiel dort, wo Diözesen, Pfar-
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THEMA Leiten – nicht leiden
Interaktive Wertschätzung
reien, Einrichtungen es meistern, mit bei Dienstleistern oder etwa auch bei missio üblichen CRMSystemen (technisch gestütztes Kundenbeziehungsmanagement) zu arbeiten, die echte
Kunden- oder Mitgliederorientierung in Großpfarreien ohne Überanstrengung erst ermöglichen.
DIENSTSTELLE
Wenn fernerhin SeelsorgerInnen hinter Firewalls
mit elektronischen Kalendarien arbeiten, die sich
mit denen ihrer ehrenamtlichen Kooperationspartner aus technischen Gründen nicht synchronisieren lassen, so strahlt das deutlich aus,
dass Interaktion mit „denen da draußen“ eher
stört. Wo Kirche also interaktiv wertschöpfend
und wertschätzend geführt werden soll, wird sie
das auch organisational abbilden: stark aufgestellte IT-Abteilungen sind in diesem Paradigma
nicht erst zu konsultieren, wenn der Laserdrucker streikt. Ihre Expertise ist missionskritisches
Qualitätskriterium pastoraler Diensterbringung,
im Konzert mit Innovationsmanagern, Pastoralentwicklern und Praktikern aus dem Feld entwi-
THEMA Leiten – nicht leiden
Pro und Contra
ckeln sie die unentbehrlichen Werkzeuge pastoraler Interaktionsfähigkeit.
Führung im Sinne interaktiver Wertschätzung ist
indes auch eine Ermutigung, dem stagnierenden
„Wieviele sind hier?“ eine Kultur des „Wie geht
es Dir?“ nicht entgegen-, sondern zur Seite zu
stellen: Kirche in diesem Sinne ist keine anonyme Massenveranstaltung, aber eben auch keine
Versorgungsanstalt für ein paar Insider aus dem
Nahbereich des Pastoralteams. Interaktiv wertschätzende Führung will die Gefragten inspirieren, infektiös nach dem Ergehen zu fragen – Kirche ist kein Selbstversorgerhaus, sie ist im vornehmsten Sinne: Dienststelle.
!
LITERATUR
Ebener, Dan R., Servant leadership models for your parish, 2010.
Piller, Frank, Mass customization, 2000.
Reichwald, Ralf / Piller, Frank, Interaktive Wertschöpfung: Open innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung, 2009.
Sellmann, Matthias, Kirche als Raum interaktiver Wertschöpfung. Innovationstheologische Seitenblicke auf Betriebswirtschaftslehre und
Zweites Vatikanisches Konzil, in: Knapp, M. / Söding, Th. (Hg.), Glauben in Gemeinschaft. Autorität und Rezeption in der Kirche, 2014 (in
Druck).
Sobetzko, Florian, Bodybuilding für den Leib Christi. Kirchliche Lead
Customer, in: Euangel. Magazin für missionarische Pastoral, Nr. 6/2014.
Warum eigentlich?
Die Replik von Regina Polak auf Florian Sobetzko
W
as gewinne ich bei der Lektüre eines
Textes „in ungewohnter Sprache“? Ich
übersetze exemplarisch einige der Praxisvorschläge in meine etwas schlichtere Sprache: um
sich zu erneuern, soll die Kirche ihre Probleme
möglichst vielen Menschen vorlegen und diese
einbeziehen; möglichst auch jene, die nicht zur
Kirche gehören. Sie soll ihr eigenes „geheimes“
Wissen zur Verfügung stellen, auf dass möglichst
viele andere, auch kirchenfremde Menschen, daraus neue Ideen entwickeln können. Vor allem
unzufriedene Menschen sollen sich einbringen
können. Das Angebot der Kirche soll das Bedürfniswissen ihrer Kunden besser nützen.
Ich teile die Einschätzung Sobetzkos, dass die
Kirche dringlich ihre familialistische Binnenorientierung aufgeben und im Sinne von Gaudium et Spes 44 von den Anderen außerhalb der
Kirche lernen muss. Aber worin liegt der Gewinn,
die Handlungsideen in einer Sprache zu formulieren, die von technokratisch-ökonomischen
Fremdwörtern gespickt ist?
TOTALISIERENDE SPRACHE
Kirche und Theologie können von diesem betriebs- und ingenieurwissenschaftlichen Technologiemanagement wichtige Impulse bekommen: die Bedeutung von Partizipation, von
Vernetzung mit der Welt, vom Wert der Kritik.
Eine grundsätzliche Aversion gegen diese Sphäre, bei Theologen oft anzutreffen, ist unange166
Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen
messen. Auch die Erfahrungen der unternehmerischen US-amerikanischen Kirche sind anregend. Aber kann die Rezeption so undifferenziert geschehen? Rein formal, die Kirche ausschließlich als Organisation und Unternehmen
verstehend? Auch die Theologie – anregend, aber
leider unausgeführt die Übersichtsliste theologischer Zitate – wird nur als Beweis assoziativ angeklebt. Eine Topf-Deckel-Argumentation, die
Angleichung kann doch wie geschmiert klappen,
oder? Hier die weltliche Theorie – da der theologische Beweis, und los geht’s.
Darf man als TheologIn bestimmte Denkformen
und Worte aus anderen Wissenschaften und
Gesellschaftssphären so ohne weiteres übernehmen? Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen? Sobetzko verwendet eine betriebswirtschaftlich-technokratische Sprache. Da
werden „Solver“ mit Ideen „traktiert“, wird „externes Bedürfniswissen genutzt“, Propheten als
„unzufriedene Kunden“ bezeichnet. Wie verändern solche Worte die Wahrnehmung, das Handeln?
Der jüdische Philologe Viktor Klemperer hat sich
in seinen Tagebuchaufzeichnungen (1947) intensiv mit Merkmalen totalisierender Sprache
auseinandergesetzt. Manches, das er beschreibt,
erinnert mich unangenehm an Sprachformen,
mit denen wir heute in Wirtschaft, Technik und
Wissenschaft konfrontiert sind – auch die Theologie ist da nicht ausgenommen. Einige Beispiele, die Klemperer anführt: totalisierende Sprache
entbehrt der Poesie und hat eine Tendenz zum
Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 167–168)
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THEMA Leiten – nicht leiden
Pro und Contra
THEMA Leiten – nicht leiden
Pro und Contra
Monotonen und Nivellierenden. Sie strotzt vor
Fremdwörtern, die dazu dienen, den Mangel an
Nachdenklichkeit zu übertönen. Daher trifft man
auch niemals auf Fragen. Diese Worte sollen imponieren und schließen zugleich jene aus, die
nicht zu dieser Sprach-In-Group gehören. Diese
Art der Sprache wimmelt von (Zeit)Worten, die
menschliches Handeln mechanisieren; technische Metaphern sind überaus beliebt. Beliebt sind
alle Arten von Worten und Tätigkeiten, die sich
rund ums „Inszenieren“ und „Organisieren“ ranken und Dynamik nahelegen, auch wenn nicht
klar ist, wohin die Reise geht und worin der Sinn
dieses „Gesetzes des Handelns“ liegt. Reflexion,
Zweifel, Fraglichkeit sind verdächtig und gelten
als unproduktiv. Klemperer hat gezeigt, wie diese Art von Sprache schrittweise das Denken verändern kann – auch jener, die totalitäre Ideologien nicht teilen. Mich erschreckt das, denn auch
der Ökonomismus und Szientismus unserer Tage
bergen totalisierende Gefahren, die wissenschaftlich reflektiert werden müssen. Wir Wissenschaftler sind verpflichtet, achtsam mit Sprache umzugehen.
FORMALES STEHT IM VORDERGRUND
Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass es
mir fern liegt, Kollegen Sobetzko oder moderne
Führungstheorien in die Nähe totalisierender
Sprachpolitiken zu rücken. Aber gerade wir innovationsfreudigen PastoraltheologInnen – da
stelle ich mich neben Kollegen Sobetzko, weil
auch ich gerne moderne Theorien übernehme –
müssen in der Rezeption technisch-ökonomischer Sprachspiele (selbst)kritisch vorgehen.
Sonst fördern wir unbeabsichtigt riskante Wahrnehmungs- und Denkformen.
168
Lebendige Seelsorge 3/2014 Warum eigentlich?
Mein Eindruck, dass Sobetzko diesbezüglich zu
unbedarft vorgeht, hängt auch mit der Konzentration auf das Formale zusammen. Ich finde in
diesem Ansatz keine Inhalte. Worin besteht z.B.
das „geheime Wissen“ der Kirche? Führungskräfte beziehen sich in diesem Modell auch ganz
explizit nicht auf Ziele, sondern sollen – das ist
gut gemeint – dienen. Aber wem? Welcher Idee,
welcher Vision? Was ist das leitende inhaltliche
„Erfolgs“kriterium? Angeführt werden die amerikanischen Erfolgsgeschichten, die Masse jener,
die zu einem Leitungskongress pilgern. Vom Manipulationsverdacht wird zwar kurz gesprochen,
aber wird er inhaltlich entkräftet? Ich habe kein
Argument gefunden. Wie gesagt, die Theologie
dient als Beweis des Modells, nicht als kritische
Dialogpartnerin.
Keine Frage, die Kirche in Deutschland und Österreich steht vor der Aufgabe der Erneuerung.
Sobetzko bringt ein paar gute Praxis-Ideen. Aber
ist nicht der eigentliche Mangel an Innovation
der Mangel an inhaltlichen Ideen, dass die eigene Tradition unbekannt ist und es massive
Schwierigkeiten gibt, diese zu verheutigen, weil
man sich nicht im Horizont der Gegenwart denken kann? Armin Thurnherr, ein österreichischer
Journalist („Der Falter“), stellt seinen Interviewpartnern gerne eine Frage: „Warum eigentlich?“
Das würde ich gerne von Kollegen Sobetzko wissen: Warum eigentlich soll die Kirche dieses
Modell übernehmen?
!
LITERATUR
Klemperer, Viktor, Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen,
Berlin 1947.
Theologieferne der Praktiker
oder Praxisferne der Theologie?
Die Replik von Florian Sobetzko auf Regina Polak
I
n Ihrem Aufsatz entwickelt Regina Polak, ausgehend von Reflexionen über die Ambivalenz
von Macht und anknüpfend an Beobachtungen
aus ihrer theologischen Arbeit mit kirchlichen
Führungskräften, eine communio- und prozessorientierte Theologie der Leitung. Als Anlass benennt sie ihre Wahrnehmung seltsamer Abwesenheit theologischer Reflexion bei sich mit
modernen Leitungstools durchaus professionalisierenden Leitungsverantwortlichen. Ihr Entwurf knüpft an der jesuanischen Predigt des Reiches Gottes an, das als Reich Gottes vor Ort
entwickelt werden soll. Insofern sich hieraus für
Leitung die Aufgabe der Initiierung, Gestaltung
und Begleitung von Kommunikations- und Lernprozessen ergibt, skizziert Frau Polak eine Kriteriologie zur theologischen Reflexion von Leitungsinstrumenten: sie sollen Beziehungen,
Kommunikation und Partizipation fördern, Lernprozesse induzieren. Entlang LG 30 beschreibt
sie dabei Leitung als Berufung aller Getauften,
woraus sich ferner die Führungsaufgabe der Ermächtigung und Befähigung von Leitungscharismen ergibt. Als „vielleicht wohl“ wichtigste
Aufgabe von Leitung benennt sie abschließend,
die Notwendigkeit der Metanoia wahrzunehmen
und den organisationalen Wandel zweiter Ordnung anzudenken und zu riskieren.
Die Ausarbeitung ist kohärent, knüpft plastisch
an Praxiserfahrungen an und lässt die LeserInnen vermutlich kontinuierlich wissend nicken.
Indes: ich finde mich auch nach wiederholter
Lektüre mit gerunzelter Stirn am Schreibtisch,
fragend „Ja – und also?“
SCHWERWIEGENDE DIAGNOSE
OHNE WIRKSAME KONSEQUENZ
Frau Polaks Beobachtung müsste verstören:
scheinbar signifikant sind kirchliche Führungskräfte gekennzeichnet von der Abwesenheit
theologischer Vision und Reflexion, extrapolieren eine inspirationslose Zukunft aus krisenhafter Gegenwart, agieren in inadäquaten Mustern
von Gehorsamsstrukturen und Konfliktvermeidungslogiken, dabei offensichtlich gegen jede
Form von Fremdprophetie abgesichert. Doch Leitungstheologie deutet ihnen nur diskret an, dass
Ihre Aufgabe „vielleicht wohl“ darin bestehe,
wahrzunehmen und anzudenken, dass die Kirche in ihren bisher dominanten Vollzugsgestalten schwer in der Krise und zu fundamentaler
Metanoia herausgefordert ist?
HOCHABGESICHERTE THEOLOGIE
DER UNBESTIMMTHEIT
Ist es denn wirklich Wunsch der Bistumsleitungen und ihrer Führungskräfte, von ihren theologischen RatgeberInnen so behutsam vor der ReLebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 169–170)
169
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THEMA Leiten – nicht leiden
Pro und Contra
alität geschützt zu werden, die doch immens
konkrete Aufgaben an sie richtet? Dürfen sie von
der Theologie, der praktischen zumal, im 21.
Jahrhundert nicht mehr erwarten als postmaterielle Erbaulichkeit?
Theologie muss sich kontextualisieren, sie hat
das Evangelium auf das konkrete und aktuelle
Leben zu beziehen, sonst erschafft sie selbstreferenzielle Sonderwelten. Ich muss gestehen,
dass ich diese Gefahr hier sehe: wenn kirchliche
Nichtinsider, etwa aus Politik oder Wirtschaft,
uns so über Leitung theologisieren hörten, müssten sie staunen: wir sprechen doch nicht über die
Führung von Kommuniongruppen, sondern über
institutionelle Organisationsgebilde teils exorbitanter Größe, von deren Leitung und ihren Beratern man überall sonst höchste Professionalität
auf ihrem Gebiet erwarten würde. In welcher
Sphäre bewegen sich Kirche und Theologie, so
unpräzise und ergebnisindifferent die Zukunft
diskutieren zu dürfen?
Auftrag alsbald wieder dem Heiligen Geist oder
Jes 43 delegieren?
Wenn von Leitung richtig gute Arbeit gefordert
ist, darf dann eine Theologie der Leitung so unscharf bleiben, dass alle wissend nicken, weil niemand etwas Neues erfährt? Der Vorgang ist mir
ja erklärlich, denn wo immer sich in kirchlichen
Kontexten derzeit jemand vorwagt und die Sicherheit des hochabgesicherten Theologisierens
in monodisziplinären Sprachwelten verlässt, sind
die Stimmen sogleich zu hören: „Machbarkeitsdenken, Flirt mit der BWL, Technokratie, keine
Theologie mehr, Kirche geht doch anders“, um
nur einige zu nennen.
Das Resultat indes muss beunruhigen, denn während die umgebende Welt bestimmt ist von produktiv-interdisziplinärem Lernen, unterhält sich
solch eine Theologie nur mit sich selbst und verkennt, dass Leitungsverantwortliche sich nur
deshalb „seltsam theologiefern“ bei anderen Anbietern eindecken, weil hausintern schlichtweg
niemand liefert, was für kirchliches Komplexitätsmanagement erforderlich wäre.
COMMUNIO-EKKLESIOLOGIE DARF NICHT
ALS SEDATIVUM DIENEN
Natürlich sind kommunikationsförderliche Instrumente „spannend“, die Zeiten und Räume eröffnen, glauben und leben zu lernen. Natürlich
ist Leitung „eine geistliche Berufung, die sich an
alle richtet“, gerne darf man auch in Exerzitien
und Supervisionsrunden „anhand der je persönlichen Begabungen, Aufgaben, biographischen
Erfahrungen [...] fragen: Worin besteht mein Leitungsauftrag für die Kirche?“ Bloß, müsste eine
Theologie der Leitung nicht semantisch wie performativ einen Diskant zu Selbstvergewisserungsstrategien setzen, die im Moment der Herausforderung „zweiter Ordnung“ den eigenen
170
LEITER MÜSSEN WAGNISBEREIT SEIN –
THEOLOGIE DER LEITUNG AUCH
Kirche leiten in nachkonstantinischer Zeit ist vor
allem eines: ein großes Wagnis. Eine Theologie
der Leitung würde ich mir deshalb ebenfalls wagnisbereiter wünschen. Sie sollte prophetischer sein
und kirchliche Führungsverantwortliche unumwunden mit Ihren gewichtigen Aufgaben und
brauchbaren Lernvorschlägen für den Turnaround (Metanoia) konfrontieren, statt sie dialektisch in Gewissheiten zu wägen. Ansonsten wäre
der erste „charismatische Visionär“, dem wir „mit
Vorsicht begegnen“, Jesus Christus, der Herr. !
Lebendige Seelsorge 3/2014 Theologieferne der Praktiker oder Praxisferne der Theologie?
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