LS_2-2014_U2-3_Umschlag - Rücken 80 S. 03.06.14 12:52 Seite 1 LS_3_2014_153_Sellmann 30.05.14 11:34 Seite 1 EDITORIAL Lebendige Seelsorge 3/2014 Leiten – nicht leiden INHALT Lebendige Seelsorge 3/2014 Leiten – nicht leiden | THEMA 154 Fragmente einer Theologie kirchlicher 191 Führen und leiten | PRAXIS Coaching von Führungskräften Leitung in katholischen Spitzenpositionen: Von Regina Polak Was ist anders als in der Wirtschaft? Von Michael Kempf 160 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen 195 Neue Modelle der Leitungsverantwortung von Laien Von Florian Sobetzko Von Daniela Engelhard 167 Warum eigentlich? Die Replik von Regina Polak auf Florian 200 Was macht eine Leitung zu einer Geistlichen Leitung? Sobetzko Von Christine Rod MC 169 Theologieferne der Praktiker oder Praxisferne der Theologie? 205 Kirche und Management – Die Replik von Florian Sobetzko Ein Kommentar aus betriebswirt- auf Regina Polak schaftlicher Perspektive Von Bernd Halfar 171 Bischof und Kirchenvolk – enttäuschte Liebe? 210 PRO JEKT 178 | Im Pfarrhaus brennt das Licht Von Elmar Maria Morein Von Wilhelm Damberg FORUM Die Führungsakademie für Kirche 215 und Diakonie | Wider die Musealisierung der Liturgie Von Erich Garhammer Von Peter Burkowski POPKULTURBEUTEL INTERVIEW 183 | 232 Der Führungsbedarf innerhalb | Endlich Ordnung Von Bernhard Spielberg der katholischen Kirche wird öffentlich wahrgenommen NACHLESE | Liebe Leserin, lieber Leser, Ist Macht im Prinzip gut oder Ob in der Familie oder in der Fantasie braucht manSchule, nicht, und OrganisationsentwicklerIn böse? Dürfen wirviel Macht anstreim Betrieb oder im Verein, muss man auchdurch nicht Macht sein, um sagen einzelnen Verantwortlichen der ben? Was hilft, uns in zu derkönnen: Pfarreidie oder in der OrdensKirchen Ebenen in einer–immer größeren Führungsverantnicht korrumpieren zu stehen lassen?auf allen gemeinschaft immer braucht es wortung. Entscheidungen sind zu fällen Wie verhalten sich MachtImmer und weitreichendere Menschen, die vorangehen und die– und dies in immer mehr Domänen, für die man als Theologin und Theologe Ohnmacht zueinander? Gibt es Aufgabe der Leitung übernehmen. nun wirkMatthias Sellmann lich nicht ausgebildet Die Buch Schlagworte lauten: Liquiditätskontrolle, ImWerte und Maßstäbe, nach denen ist.Das versucht auf konkrete Mitglied mobilienmanagement, Raumplanung, Mitarbeiterentwicklung, Gremiensteuder Schriftleitung wir Macht gut ausüben können? Weise zu zeigen, worauf beim Füherung, Prozess-Optimierung, Konfliktmediation. Gott, so heißt es, sei allmächtig – ren und Leiten von Menschen zu Für die Einen sind das eben jene Vokabeln, mit denen man Kirche in das geaber was bedeutet das für unsere achten ist. Dabei bringt der Blick naue Gegenteil ihrer seelsorglichen Bestimmung navigiert: statt über StrukMacht? Um diese und ähnliche auf Ignatius von Loyola wertvolle turen solle man wieder über Inhalte reden. Für die Anderen beginnt nun Fragen geht es in diesem Buch. Einsichten in die „Kunst des Leitens“. endlich die Zeit, in der kirchliche Verwaltung und kirchliche Führung professionelle Standards bekommt. Um es vorweg zu sagen: es ist nicht die Intention dieses Heftes, diese Polarität aufzulösen oder sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Das zeigt schon die deutliche Kontroverse zwischen Regina Polak und Florian Sobetzko. Es wird außerdem dadurch dokumentiert, dass wir sowohl theologische als auch betriebswirtschaftliche Stimmen zu Wort kommen lassen – wobei mit der Nennung der Disziplinen noch nichts darüber ausgesagt ist, wer welchen Pol der Debatte stark macht. Nein, die Intention ist es, Sie in die Debatte mit hineinzuziehen. Hierzu bieten wir Ihnen: einen Besuch in der Führungsakademie der Evangelischen Kirche in Deutschland, kreative kirchenrechtliche Optionen zum „Leitenden Pfarrer“, eine historische Analyse zu der faktischen Unmöglichkeit, heute Bischof zu sein, Einblicke in das Coaching von Spitzenkräften sowie Erfahrungen aus einer Bistumsleitung, der ökonomischen Beratungspraxis und einem Medienprojekt. Anton Aigner Stefan Kiechle Macht ausüben Die Kunst des Leitens Erfahrungen – Einsichten – Hinweise Was ist der Unterschied zwischen einem Manager und einem Leader? Ma3. Auflage · 80 Seiten · gebunden ISBN 978-3-429-02700-1 94 Seiten gebunden nager tun die Dinge richtig, Leader· tun die richtigen Dinge. € 7,90 [D] / CHF 12,50 / € 8,20 [A] ISBN 978-3-429-03355-2 € 8,90 [D] / CHF 14,50 / € 9,20 [A] Ihr Ein Gespräch mit Judith Hahn 222 Glosse von Wolfgang Frühwald 209 Impressum 224 Buchbesprechung Die Bücher erhalten Sie bei Ihrem Buchhändler. www.echter-verlag.de Prof. Dr. Matthias Sellmann, Mitglied der Schriftleitung Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 153 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 154 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 155 THEMA Leiten – nicht leiden Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung „Ich will nicht über euch herrschen, und auch mein Sohn soll nicht über euch herrschen; JHWH soll über euch herrschen“ (Ri 8,23). So reagiert Gideon auf das Ansinnen der Israeliten, Israels König zu werden. Nicht Menschen sollen über Menschen herrschen. Dieses Recht ist allein Gott vorbehalten. Aus der Sicht Gideons droht die Annahme der Königswürde die Rettung zu verdunkeln, die Israel JHWH verdankt. Die königskritischen Stellen (Vanoni/Heininger, 19) entstammen der noch frischen Befreiungserfahrung jener Sklaven, die dem Joch ägyptischen Pharaonentums und mesopotamischer Stadtstaatenkönige entkommen sind und neue Formen des Zusammenlebens erproben – aus ihrer Sicht all dies mit Gottes Hilfe (vgl. Lohfink, 71–102). So reagiert auch Samuel skeptisch, als das Volk einen König verlangt: Samuel missfiel es, dass sie sagten: „Gib uns einen König, der uns regieren soll“ (1 Sam 8,6). Für Samuel steht die Einführung des Königtums im Widerstreit zur Königsherrschaft Gottes. Regina Polak D em deuteronomischen Königsgesetz (Dtn 17,14–20) steht auch ein herrschaftskritischer Strang gegenüber, der die Ausübung königlicher Macht ablehnt. Man kann das Alte Testament lesen als eine spannungsreiche Lerngeschichte im Umgang mit Macht. Auch das Leben und Sterben des Jesus von Nazareth zeugen von der Brisanz dieser Thematik. Es sind die Macht-Eliten, die seinen Tod verantworten. Seine Botschaft vom Reich Gottes beschreibt eine Form menschlichen Zusammenlebens, in der die soziokulturellen, ökonomischen und politischen Machtlogiken auf den Kopf gestellt werden; Qualitätsmaßstab menschlicher Gemeinschaft ist die Lebenssituation der Machtlosen: der Armen, Fremden und Marginalisierten; der Kinder und Kranken. Herrschende werden zum Dienen aufgefordert (Mk 10,43–45), ein Kennzeichen der Anhänger des Königs, dessen Reich nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Dieser stirbt einen 154 Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 154–159) ohnmächtigen Tod am Kreuz. Die Auferstehung bildet den Höhepunkt jener paradoxalen Logik, die die Gestalt des Jesus von Nazareth bezeugt: die Macht der Ohnmacht. Diese biblischen Erinnerungen bestimmen meine fragmentarischen Überlegungen zu einer Theologie der Leitung. Ohne sich mit Macht bewusst auseinanderzusetzen, drohen reale Machtverhältnisse verschleiert oder spirituell überhöht zu werden – gerade dann, wenn sich die Kirchenleitung als demütige Dienerin ihrer Gläubigen präsentiert. Aus theologischer Sicht ist Regina Polak geb. 1967, Dr. theol., Mag. phil., Mag. theol., MAS (Master of Advanced Studies; Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess), seit 2013 Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Macht zunächst eine Gabe: man denke an Moses, dem die Macht verliehen wird, sein Volk aus der Sklaverei zu führen; oder an Jesus, der seinen Jüngern die Macht verleiht, unreine Geister auszutreiben und Krankheiten sowie Leiden zu heilen (Mt 10,1). Macht bezeichnet hier jene Handlungsmöglichkeiten, die jemandem kraft seiner Fähigkeiten, Ressourcen und (amtlichen) Zuständigkeiten zur Verfügung stehen und mittels derer er/sie auf andere Menschen Einfluss nehmen kann. Gott lässt Menschen teilhaben an seiner Macht, damit diese sich an seiner Schöpfungs- und Heilsgeschichte beteiligen können. Diese Macht dient dem Schutz, der Bewahrung und Förderung des Lebens. Sie vollzieht sich als schöpferische Liebe, sie verwirklicht sich im Einsatz für Gerechtigkeit (vgl. Tillich 1991 [1954]). In den Händen von Menschen verkehrt sich diese Gabe jedoch immer wieder in Herrschaft und Gewalt über andere Menschen. Das Bewusstsein um den zwiespältigen Charakter von Macht bildet daher ein Herzstück jeder Theologie der Leitung. Leitung dient dazu, die Angelegenheiten und Aufgaben, die alle betreffen, gestalten und erfüllen zu können. Dazu bedarf es auch institutionalisierter Macht und Personen, denen diese anvertraut wird. Zugleich bilden die Erfahrungen mit dem Scheitern menschlicher Macht und ihrer Opfer wie die biblischen Erinnerungen ein unverzichtbares Korrektiv und eröffnen eine theologische (Selbst)Kritik im Umgang mit Macht: alle menschliche Macht ist begrenzt und verliehen und Gott ist der Herr der Geschichte. LEITEN IN DER ZEITGENÖSSISCHEN DEUTSCHSPRACHIGEN KIRCHE Historisch sensible Menschen verstehen sich nicht gerne als Herrscher oder Führer. Man spricht stattdessen von Führung oder Leitung. Auch wenn diesbezüglich noch manches ausbaufähig ist, sind auch in der Kirche die Weichen für das Bewusstsein, dass Führung und Leitung professioneller Ausbildung bedürfen, im Wesentlichen gestellt. Zugleich nehme ich eine seltsame Theologie-Ferne wahr: ein wechselseitiger, kritischer Lernprozess zwischen Leitungswissen/kompetenz und Theologie gehört nicht zur pastoralen Alltagspraxis. Leitungsmethoden werden übernommen, aber selten theologisch reflektiert (vgl. Krobath/Heller 2010; Meier/Sill 2010; Aigner 2011; Kiechle 2010; Zulehner/Rossberg/Hennersperger 2013). Wie wirken sich die Erfahrungen mit Leitungspraxis auf Glaube und Theologie aus? Wie verändern sich dabei auch Inhalte des Glaubens? Wo spießen sich Leitungspraxis und theologische Überzeugungen? Welche Leitungstheorien sind aus theologischer Sicht legitim? [...] Bleiben solche Fragen ausgeklammert, verkommt die Theologie zu einer Art ideologischem Überbau einer „profanen“ Leitungspraxis. Aber gibt es aus der Sicht des Glaubens überhaupt Praxis, die nichts mit Gott und seinem Geist zu tun haben kann? Erst recht eine für die Kirche so zentrale Praxis wie die des Leitens? Sichtbar wird dieser Reflexionsmangel z.B. in den heftigen Debatten um die theologische Würde von Strukturen, die gegenüber „dem Eigentlichen“ nur zweitrangig seien, während manche als sakrosankt gelten. Zudem vertreibt so manche Strukturreform den Geist der Freude, der Hoffnung so heftig aus der Kirche, dass zu viele Gläubige erschöpft und frustriert zurückbleiben. Lebendige Seelsorge 3/2014 Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung 155 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 156 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 157 THEMA Leiten – nicht leiden Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung Neue, individuell erworbene Leitungskompetenzen verändern zudem ohne entsprechende theologische Reflexion nicht von heute auf morgen eine jahrhundertelang eingeübte Praxis im Umgang mit Macht. Leitung bedeutet dann de facto in einer immer noch reichen Kirche Verwaltung des Altbekannten. Leitungspersonen sollen sagen, „wo es langgeht“– nur eben mit mehr Professionalität. Konkret wird dies z.B. dort, wo die Tugend des Gehorsams unverändert als Leitungsinstrument eingesetzt wird – wider jegliches bessere theologische Wissen, dass Gehorsam ein dialogisches Geschehen zwischen Menschen und Gott ist. Konkret wird das dort, wo interner Widerstand und Konflikte nicht als Lernpotential, sondern als Untreue und Illoyalität wahrgenommen werden. Strukturreform und Glaubensvertiefung laufen nebeneinander her. Dabei bieten die Erfahrungen mit zeitgenössischen Leitungstheorien und -praktiken eine Fülle an Impulsen, die den Glauben, die Theologie und damit die Kirche bereichern können. Einige davon möchte ich im Folgenden skizzieren. VISION UND ZIEL: REICH GOTTES VOR ORT Wer leitet, braucht eine Vision, eine beschreibbare Vorstellung von der Zukunft. Das gilt auch für jene, die die Kirche leiten. Aber wie kann eine solche Vision für die Kirche aussehen? Aus welchen Quellen speist sie sich? Bei Übungen mit kirchlichen Leitungspersonen bin ich immer wieder mit einem seltsamen Mangel an konkreten Zukunftsbildern konfrontiert. Die Frage: wie sieht die Kirche der Zukunft aus, jener Kirche, die Sie sich wünschen, von der Sie träumen? – sie stößt nicht selten auf Schweigen. Die Bilder erschöpfen sich in Extrapolationen der Gegen156 wart. Ich höre von neuen Sozialformen oder pastoralen Großräumen. Ja, aber wofür steht diese Kirche? Was ist ihre Aufgabe in dieser konkreten geschichtlichen Stunde? Warum sollte sich ein junger Mensch hier einfinden? Erstickt der Alltagsdruck der Kirchenverwaltung den Mut und die Kraft zum Träumen? Die Vision des Jesus von Nazareth war das Reich Gottes (Mk 1, 15). Beheimatet in der jüdischen Tradition steht die Erfahrung der Gottesherrschaft im Zentrum seines Lebens. Es wird real in Heilungen und Exorzismen, wo Menschen von Krankheiten und Besessenheiten befreit werden. Es wird konkret in den Mählern Jesu mit Zöllnern, Sündern und Ausgestoßenen; in der bedingungslosen Zusage der Vergebung der Sünden und in der Seligpreisung der Armen. Das Böse ist unwiderruflich entmachtet (Lk 10,18). Das Reich Gottes ist Wirklichkeit und kann nicht aufgehalten werden. Es beschreibt eine persönlich-existenzielle und eine gesellschaftlichpolitische Wirklichkeit, in deren Zentrum die Gerechtigkeit steht (Eigenmann 1998; vgl. Polak/Jäggle, 603–638). Die Vision des Jesus von Nazareth kann Quelle und Kriteriologie auch für zeitgenössische Visionen sein. Die Vision der Kirche hat einen besonderen Charakter: sie ist vorgegeben – und bedarf zugleich ihrer zeitgerechten Vergegenwärtigung und Neuübersetzung. Sie beschreibt eine Zukunft, die bereits Gegenwart ist, von Gott her eröffnet. Sie ist Verheißung und Zusage, Hoffnung und Wirklichkeit, Zumutung und Anspruch in einem. Vor allem aber: sie ist kein Privileg von Leitungspersonen, sondern allen Gläubigen anvertraut. Die Vision der Kirche ist daher immer eine geteilte, eine gemeinsam geprüfte und entwickelte. Wäre charismatischen Visionären daher nicht immer mit etwas Vorsicht zu be- Lebendige Seelsorge 3/2014 Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung gegnen? „Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung offenbar. Denn der Herr Jesus machte den Anfang seiner Kirche, indem er frohe Botschaft verkündigte, die Ankunft nämlich des Reiches Gottes, das von alters her in den Schriften verheißen war“ (LG 5). Daher hat die Kirche die Aufgabe, dieses Reich „anzukündigen und in allen Völkern zu begründen“. Leitung bedeutet, die Gläubigen und die Kirche bei der Wahrnehmung und Verwirklichung der Vision vom Reich Gottes zu begleiten und zu unterstützen. Weil sich das Reich Gottes geschichtlich und konkret offenbart, wird Leitungspraxis in jeder Situation, an jedem Ort verschieden aussehen. die Kirche ist „nur“ Zeichen und Werkzeug auf dem Weg dorthin (LG 1). Leitung begleitet den Weg der Gläubigen inmitten der Geschichte. Der gemeinsamen Identifikation der „Zeichen der Zeit“ kommt dabei eine besondere Relevanz zu: sie lassen jene konkreten Aufgaben erkennen, die Gott der Kirche stellt. Dies geschieht gemeinsam mit jenen, die auf diesem Weg unterwegs sind und mit jenen, denen man unterwegs begegnet (vgl. Ruggieri, 61–70). Benötigt dafür nicht jede Leitungsperson in der Kirche Erfahrungen mit der Welt jenseits der Kirche? (vgl. dazu GS 44). Unternehmen achten heute bei Bewerbern darauf, ob sie Erfahrungen nachweisen können, die nichts mit Ausbildung und Geldverdienen zu tun haben. PROZESSGESTALTUNG Um eine Vision des Reiches Gottes vor Ort gemeinsam zu entwickeln, braucht es entsprechende Kommunikations- und Lernprozesse. Leitung initiiert, gestaltet und begleitet solche Prozesse. Auch und gerade innerhalb dieser Prozesse kann sich Reich Gottes realisieren. Theologisch lassen sich solche Prozesse als „Weg“ verstehen. Auf diesem Weg wird wie in der Apostelgeschichte gebetet und gefeiert, werden Gemeinden gegründet und wieder aufgelassen, engagieren sich ChristInnen in der Welt. Der Weg führt durch die konkrete Geschichte. Es gibt Irrwege, Abwege, Umwege – und in jedem Fall begegnet man unterwegs anderen Menschen. Sind Prozesse innerhalb der Kirche, an denen sich nur die Zugehörigen beteiligen, daher nicht eine Verzerrung des christlichen Weges? Müssen die „Anderen“ der Kirche nicht notwendig Teil jedes kirchlichen (Reform)Prozesses sein? Die ReichGottes-Vision bezieht sich ja auf die Menschheit, MITTEL UND INSTRUMENTE: FÖRDERN SIE BEZIEHUNG UND KOMMUNIKATION, PARTIZIPATION UND LERNPROZESSE? Einige Fragen, die helfen können, die Qualität der eingesetzten Leitungs-Tools theologisch zu reflektieren: ! Fördern Leitungs-Tools Beziehungen zwischen Menschen: innerhalb der Kirche, innerhalb und außerhalb der Kirche, zwischen Menschen und Gott? Bürokratie – die jede Organisation immer auch braucht – lässt leicht die Menschen vergessen. Erleichtert und fördert sie Beziehungen? ! Fördern Leitungs-Tools Kommunikation und Partizipation? Können Menschen bei Strukturreformen ihre Visionen und Ideen, ihre Erfahrungen und Begabungen, Fragen und Sorgen einbringen? Besonderes Augenmerk gilt jenen, die in Gesellschaft und Kirche oft unsichtbar und ungehört bleiben: den Kindern Lebendige Seelsorge 3/2014 Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung 157 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 158 LS_3_2014_154_159_Polak 24.05.14 14:49 Seite 159 THEMA Leiten – nicht leiden Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung und Jugendlichen, den Migranten und Marginalisierten, den Armen und Kranken. Freilich: Partizipation fördert Konflikte und Widerstand. Eine der wichtigsten Leitungskompetenzen ist daher der Umgang mit Pluralität und Differenz. ! Setzen Leitungs-Tools Lernprozesse in Gang? Einer Kirche, die sich auf dem Weg befindet („Pilgerin“), entspricht das Selbstverständnis einer Lerngemeinschaft, die sich persönlicher und struktureller, gedanklicher und emotionaler Veränderung durch (Differenz)Erfahrung aussetzt. Spannend sind daher all jene Instrumente, die Zeiten und Räume eröffnen, glauben und leben zu lernen. Hier wäre auch die theologische Kompetenz von Leitungspersonen gefragt: Theologie kann helfen, den inneren Sinn der Praxiserfahrungen aus der Sicht des Glaubens zu erfragen. BERUFUNG Leitung ist aus theologischer Sicht nicht nur auf Leitungspersonen von Amts wegen beschränkt. Leitung ist eine geistliche Berufung, die sich an alle richtet. Als Verheißung und Zusage des Reiches Gottes ist sie von Gott allen anvertraut. So ist vor jeder Leitungskompetenz zuerst die Frage nach der speziellen Leitungsberufung zu stellen (vgl. Jacobs, 549–559): anhand der je persönlichen Begabungen, Aufgaben, biographischen Erfahrungen lässt sich fragen: worin besteht mein Leitungsauftrag für die Kirche? Lumen Gentium denkt ganz in dieser Spur, wenn von der Teilhabe aller Getauften an den drei Ämtern Christi – König (leiten), Priester (heiligen) und Prophet (lehren) – oder am Hirtenamt der Kirche die Rede ist (vgl. z.B. LG 10–12; 34–36). 158 Bereits der Aufbau der Konstitution zeigt diese Sicht: zuerst ist von Wesen und Auftrag der Kirche die Rede, sodann vom handelnden Subjekt, dem Volk Gottes. Erst danach wird von der speziellen Berufung zum Bischofsamt geschrieben. Der Gedanke der Teilhabe prägt das konziliare Leitungsverständnis. „Die geweihten Hirten [...] wissen ja, dass sie von Christus nicht bestellt sind, um die ganze Heilsmission der Kirche an der Welt allein auf sich zu nehmen, sondern dass es ihre vornehmliche Aufgabe ist, die Gläubigen so als Hirten zu führen und ihre Dienstleistungen und Charismen so zu prüfen, dass alle in ihrer Weise zum gemeinsamen Werk einmütig zusammenarbeiten“ (LG 30). Leitung betreibt also Empowerment und Capacity-Building. Sie soll die Gaben und Aufgaben der Gläubigen entdecken und fördern. Diese dienen der gemeinsamen Arbeit an einem Werk. LG nennt auch die Spannung zwischen individueller Förderung und Gemeinwohlorientierung. Leitung in der Kirche muss demnach differenzsensibel, pluralitätsgerecht und gemeinwohlorientiert handeln. Nach Heribert Hallermann findet sich ein solch modernes Leitungsmodell auch im Kirchenrecht (Hallermann 2014). Alle Gläubigen haben Anteil am Leitungsamt der Kirche kraft ihrer Taufe. Leitung dient dem Aufbau, der Stärkung und der Bewahrung der kirchlichen communio, damit diese ihre Sendung verwirklichen kann. den Transformationsprozess – außerhalb und innerhalb der Kirche. Darüber wird freilich noch vielfach geschwiegen, zu heftig und irritierend sind die damit verbundenen Fragen und notwendigen Denkanstrengungen. Organisationstheoretisch nennt man einen solchen Prozess einen „Wandel zweiter Ordnung“: es ändern sich nicht nur die Bedingungen des Rahmens, in dem Veränderung stattfindet; es ändert sich der Rahmen selbst – noch zugespitzter: ein neuer Rahmen wird erforderlich. Die Kirche befindet sich also nicht bloß in einem Prozess des Downsizings, in dem sie Altbewährtes anpassen muss. Gefragt ist, organisationstheoretisch, ein substantieller „Change“; theologisch eine Metanoia, eine Umkehr. Dieser Change betrifft den Glauben selbst: was bedeutet Glauben im 21. Jahrhundert? Wie ist er zu lernen, zu denken, zu leben? Die wichtigste Aufgabe von Leitung in der Kirche besteht daher vielleicht wohl darin, die Notwendigkeit zu dieser Metanoia wahrzunehmen und den Wandel zweiter Ordnung anzudenken und zu riskieren. ! Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht? (Jes 43,19) LITERATUR Aigner, Anton, Die Kunst des Leitens. Erfahrungen – Einsichten – Hinweise (= Ignatianische Impulse Nr. 48), Würzburg 2011. Eigenmann, Urs, Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde. Die andere Vision vom Leben, Luzern 1998. Hallermann, Heribert, Mehr als Strukturen. Chancen für Vielfalt und Kooperation. Beitrag im Rahmen der Tagung „Lebendige Kirche in neuen Strukturen. Herausforderungen und Chancen“, Schloss Hirschberg am 30. September 2013 (erscheint 2014). Jacobs, Christoph, Moses: Führen als Berufung. Skizzen zu einer Führungsspiritualität, in: Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.), Führung. Macht. Sinn. Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Regensburg 2010. Kiechle, Stefan, Macht ausüben (= Ignatianische Impulse Nr. 13), Würzburg 2010. Krobath, Thomas / Heller, Andreas (Hg.), Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br. 2010. Lohfink, Norbert, Das Königtum Gottes und die politische Macht, in: ders., Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg i.B. 1987. Meier, Uto / Sill, Bernhard (Hg.), Führung. Macht. Sinn. Ethos und Ethik für Entscheider in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Regensburg 2010. Polak, Regina / Jäggle, Martin, Diversität und Convivenz: Miteinander Lebensräume gestalten – Miteinander Lernprozesse in Gang setzen, in: Schinkele, Brigitte u.a. (Hg.), Recht. Religion. Kultur. Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014. Ruggieri, Guiseppe, Zeichen der Zeit. Herkunft und Bedeutung einer christlich-hermeneutischen Chiffre der Geschichte, in: Hünermann, Peter (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit, Freiburg i.Br. 2006. Tillich, Paul, Liebe Macht Gerechtigkeit, Berlin 1991 [1954]. Vanoni, Gottfried / Heininger, Bernhard, Das Reich Gottes. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments. Die neue Echter Bibel – Themen. Band 4, Würzburg 2002. Zulehner, Paul M. / Rossberg, Eckehard / Hennersperger, Anna, Mit Freuden ernten. Biblisches Saatgut für Zeiten und Prozesse des Übergangs, Ostfildern 2013. KAIROS ERKENNEN Eines der „Zeichen der Zeit“ ist das Ende der konstantinischen Kirchengestalt. Nicht nur Organisations- und Sozialformen gehen zu Ende; der Glaube selbst befindet sich in einem gravieren- Lebendige Seelsorge 3/2014 Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung Lebendige Seelsorge 3/2014 Fragmente einer Theologie kirchlicher Leitung 159 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 160 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 161 THEMA Leiten – nicht leiden Interaktive Wertschätzung Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen Nicht nur führungstheoretische Forschung, Organisationstheorie und Wirtschaftspsychologie liefern wichtige Anhaltspunkte für kirchliche Führungskultur. Das betriebs- und ingenieurwissenschaftliche Technologiemanagement wartet mit starken Impulsen auf und bietet vorteilhafte, überraschend präzise Werkzeuge, um einen Stil „dienender Führung“ als Vollzugsgestalt kirchlichen Innovationsmanagements zu erschließen. Florian Sobetzko B eginnen wir in ungewohnter Sprache. Beginnen wir mit dem, was Nachwuchsführungskräfte des Technologie- und Innovationsmanagements (TIM) als Lösungsraumerweiterung lernen, um komplexe Probleme durch eine sogenannte „erweiterte Löserbasis“ bearbeiten zu lassen, die online per „Broadcast Search“ (Offener Aufruf zur Mitarbeit) veröffentlicht und von einer möglicherweise breiten Masse auch unbekannter „Solver“ (Problemlöser) mit Ideen traktiert werden sollen. Wie bitte? Der Lösungsraum (Gesamtheit möglicher Lösungen) wird erweitert, wo organisationsexterne Experten in Innovationsprozesse integriert werden. Sie liefern möglicherweise völlig neue Ideen, an die intern niemand gedacht hätte. Wenn etwa ein Flugzeugbauer auf der Suche nach schonenden Entfärbungsverfahren für sensible Flugzeugaußenwände nicht nur die eigenen Ingenieure konsultiert, sondern auch Lösungsvorschläge von Restaurateuren kunsthistorisch wertvoller Bilderrahmen studiert. Er verbreitert auf diese Weise seine „Problemlöserbasis“ – traditionelle Organisationsgrenzen werden verflüssigt. 160 Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 160–166) KIRCHLICH UNGEWOHNT: GEHEIMES WISSEN HERAUSRÜCKEN Das ist nicht nur kirchlich ungewohnt, man spricht auch im TIM vom „not-invented-here“Syndrom. Damit ist gemeint, dass externe Ideen in Unternehmen oft nachrangig behandelt werden: „Nicht bei uns erfunden – lässt sich schlecht integrieren – ist nicht von uns – müssen wir Lizenzgebühren für zahlen – passt hier nicht.“ Führung in innovationsgetriebenen Unternehmen basiert aber auf der Einsicht, dass wichtige Produkt- und Prozessinnovationen von außen kommen können – auch von anonymen Partnern (siehe etwa innocentive.com). Firmen rücken dafür sogar bislang geheimes Wissen heraus und Florian Sobetzko 2007 Gründer der kafarna:um Gemeinde Aachen, seit 2013 CrossingOver-Stipendiat über Interaktive Wertschöpfung und Führungskonzeptionen im US-Katholizismus; als Referent für Innovationsprozesse und Personalentwicklung im Bistum Aachen transformiert er im Rahmen eines ZAPProjektes Konzepte betriebswirtschaftlicher Unternehmensgründung zu Werkzeugen für kirchliche GemeindegründerInnen. transferieren relevante Werkzeuge in externe Domänen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Damit andere mir kreativ beim Kochen helfen können, brauchen sie Zugang zu meinen Töpfen. Interaktive Wertschöpfung (IW) nennt man das, und es reicht erheblich weiter als das selbständige Ausdrucken von Kontoauszügen am Bankautomaten. Zwei wesentliche Ausprägungen sind zu unterscheiden: Open Innovation und Mass Customization. NICHT GANZ SO UNGEWOHNT: UNZUFRIEDENE KUNDEN Open Innovation beschreibt die Vergabe einer Aufgabe an ein undefiniertes, großes Netzwerk von externen Akteuren (vgl. Reichwald/Piller 2009, 51). Typisch hierfür ist etwa ein Ideenwettbewerb. IW verfolgt dabei regelmäßig auch sogenannte Lead-User-Strategien der Kundeninnovation. Hierbei werden vor allem unzufriedene, lösungskreative NutzerInnen identifiziert, weil deren Unzufriedenheit oft Wege freiräumt für neue, überraschende Lösungen. Ein bekanntes Beispiel für eine derartige Kundeninnovation ist die Erfindung des Rollkoffers durch einen schleppfaulen amerikanischen Piloten in den 1980er Jahren. Weniger auf das externe Lösungs- als vielmehr auf das Bedürfniswissen richtet sich IW als Mass Customization (kundenindividuelle Massenfertigung). Traditionell bewegt sich unternehmerisches Handeln zwischen einerseits Preisstrategien durch skalierbare Massenfertigung und andererseits Differenzierungsstrategien durch kundenindividuelle Maßanfertigung bzw. Dienstleistung. Die kundenindividuelle Massenfertigung ist eine Hybridstrategie: Skalierungs- und Differenzierungsvorteile werden verheiratet, wo Kunden z.B. per „Konfigurator“ im Netz ihr Wunschauto oder ihren perfekten Schuh konfigurieren und gar abonnieren, nachdem ihr Fuß im Laden vermessen wurde. Der Lösungsraum (die Zahl der Farben, Ausstattungs- und Erweiterungsmerkmale) ist hier erweitert, aber begrenzt. Statt per Marktforschung immer besser zu erraten, welchen Schuh der Käufer morgen möchte, lässt der Hersteller ihn sein Bedürfniswissen aktiv einbringen und lernt zugleich viel für die nächsten Serienmodelle. In der Aufsicht begegnet solch ein Unternehmen der Bedürfnisvielfalt auf Kundenseite nicht nur nicht bewertend („Relativismus, Individualismus, Konsumismus“), sondern mit merkantiler Kreativität. Es nutzt Kommunikationstechnologien zur intelligenten Nutzung externen Bedürfniswissens. INNOVATION ALS NORMALFALL VON KIRCHE Die kirchliche Startposition für interaktive Wertschöpfung erscheint eigentlich optimal, denn das Konzept aktiviert theologisch alle Register: man lese Propheten und Ordensgründer nur einmal als unzufriedene Nutzer (Lead User) und pastorale Innovateure, interpretiere Jesu Zusammenarbeit mit Zöllnern, Sündern, Prostituierten und Kranken oder auch die apostolische Heidenmission als Verbreiterung der Löserbasis. Man lese can. 212–214 CIC als Aufruf zur Aktivierung externer Expertise und entwickle ein interaktionales Kirchenbild entlang des Glaubenssinnes des Volkes (LG 12), des gemeinsamen Priestertums (LG 10) und der Adaptionslogiken von GS 44, wo Kirche als Co-Kreation aufscheint, zu deren Kennzeichen Löserbasiserweiterungen in der Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen 161 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 162 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 163 THEMA Leiten – nicht leiden Interaktive Wertschätzung Verkündigung (AA 1) oder aber der Liturgie (SC 14) stilbildend gehören. UND INNOVATIONSMANAGEMENT? Kirche vollzieht sich, „indem sie sich selbst unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert“ (GS 21), Innovation (Erneuerung) und Exnovation (Läuterung) sind nachgerade dogmatischer Normalfall von Kirche. Eine Binsenweisheit des Innovationsmanagements scheint hier provokant auf: unternehmerische Produktzyklen beinhalten nicht nur die Ankündigung von Neuheiten, sondern auch die Abkündigung (Exnovation) stagnierender Leistungserbringung. Der Maschinenbauer weiß: wenn ich die alte R1600 nicht abkündige, werden die Kunden die neue R12 nicht kaufen, auch wenn sie mehr kann. Denn die Kunden denken: bei der R1600 weiß man, was man hat. Die können wir selber reparieren, wir kennen ihre Macken, die reicht uns. Doch von vorne: was hat das Technologiemanagement mit den Herausforderungslagen kirchlicher Führung zu tun? GESUCHT: KIRCHLICHE FÜHRUNGSKRAFT Die aktuellen Handlungsforderungen an kirchliche Entscheider sind signifikant. Der Erfolg unzähliger auf Führungsthemen fokussierter Lernund Beratungsangebote ist ein Indikator dafür. Ebenso erwähnenswert sind aber auch Gründungen wie das Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung (www.zap-bochum. de) mit seinem pragmatischen Anspruch, nicht nur Diagnosen, sondern demnächst auch Lösungsvektoren zur Bearbeitung pastoraler Kom162 plexität zu liefern. Es gibt den Bedarf von Führungsverantwortlichen und Gremien aus allen Etagen der deutschsprachigen Kirche, in der zur Zeit Umbrüche zu beobachten sind, die vor kurzem noch undenkbar schienen – die Projekte des ZAP markieren sämtlich führungsrelevante Themen als Joint Ventures zwischen Bistumsleitungen und Ruhr-Universität. KONTROLLE ABGEBEN, FÜHRUNG WAHREN Im Kontext freiheitlicher Selbstbestimmung kann jeder herrschaftlich prädizierte Leitungsanspruch nur floppen. Gesellschaftlich honoriert werden Kulturanbieter, die sich dem Co-Design verschrieben haben und ihre Kunden bzw. Mitglieder nicht als reine Leistungsempfänger betrachten. Benutzergenerierter Inhalt tritt im Web 2.0 wie im physischen Leben an die Stelle interner Expertise. Die Crowd (die Menge) wird nicht mehr nur für den Chorschluss gebraucht („So etwas haben wir noch nie gesehen“, Mk 2,12), sie wird selbst zum Co-Autor. Organisationale Interaktionskompetenz ist dafür gefragt: die Fähigkeit, externes Bedürfnis- und Lösungswissen zu absorbieren. Der betriebswirtschaftliche Diskurs arbeitet heraus, dass es zum Überlebenskriterium wird, ob Organisationen im Gestaltungswillen ihrer Kunden bzw. Mitglieder Bedrohung oder Chance erkennen – und eben im Paradigma der Offenheit oder der Geschlossenheit agieren. ten: Demographie und Abwesenheit von Interesse seitens überwältigender Mehrheiten der Kirchensteuerzahler lassen erahnen, dass kirchliche Führung bald zur Suchaufgabe werden könnte – nach Geführten. Gemeindefusionen erzeugen dabei schlimmstenfalls quantitative Kontinuitätsfiktionen („die Kirche ist voll“) auf Leitungsebene, Pfarrer und Bistumsleitungen sind versucht, sich eine Personalgemeinde zu konfigurieren – aus kirchlichem Personal. Dies führt SeelsorgerInnen in eine kognitive Dissonanz, wo sie für stagnierende familiaristische Gemeindekonzepte dienstverpflichtet immer mehr Energie aufwenden müssen, um zu verdrängen, dass sich das auch finanziell einfach nicht rechnen kann. Ist meine Arbeit das Geld wert, das sie kostet? PastoralassistentInnen wie SeelsorgeamtsleiterInnen fragen sich: machen wir noch ein paar Jahre so weiter und dann das Licht aus, oder schaffen wir es, unserem Führungsauftrag nachzukommen? Alle Beteiligten teilen die Intuition, dass von der Führungsfrage die Zukunft der institutionellen Kirche abhängt: wie gelingt organisiertes Christsein zwischen Tradition, Transformation und Innovation, wenn nicht durch effektive Führung? Und wie sieht diese aus, wenn sie sowohl Sachstand der führungstheoretischen Forschung als auch kirchliche Expertise in Theologie und pastoraler Praxis produktiv kombinieren und synthetisieren soll? FÜHRUNGSTHEORETISCHE ANHALTSPUNKTE KIRCHENFÜHRUNG: PASTORALPRODUKTIV ODER KUNSTHISTORISCH? Auch wenn die Kirchen in Deutschland eben noch fulminante Steuereinnahmen verzeichne- Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen Die führungstheoretische Forschung, schon früh erahnbar in Plutarchs Parallelbiographien, hat ein breites interdisziplinäres Fundament vor allem in den zurückliegenden einhundert Jahren entwickelt und präsentiert Führung als komplexen Gegenstand: sie ist „ein soziales Phänomen, das nicht ‚da draußen’ unabhängig existiert und auf seine vollständige Entdeckung wartet, sondern fortwährend, den sich ändernden Umständen folgend, neu geschaffen wird“ (Neuberger 2002, 6). Gute Führung ist also in diesem Sinne kulturbedürftig wie gute Verkündigung im Sinne von GS 44. Wie sehen aktuell relevante Linien aus? TRANSFORMATIONALE FÜHRUNG: DAS „LEADERSHIP-DING“ Es ist James McGregor Burns, der in den ausgehenden 1970ern in Politik und Ökonomie das Konzept der „transaktionalen Führung“ diagnostiziert und durch die Idee der „transformationalen Führung“ erweitert (Burns 1978). Transaktional ist Führung, insofern es zu einem Austausch von Leistungen kommt. Zielvereinbarungen, Aufgaben, Delegationen von Verantwortung, Leistungskontrolle, Belohnung, negative Belohnung, Anreizsysteme prägen diesen Führungsstil. Als er dies neocharismatisch fortschreibt zur transformationalen Führung, die den Geführten Sinn und Zweck der organisationalen Zielsetzungen durch mitreißendes und motivierendes Leitungsverhalten verinnerlichen will, lenkt er den Fokus nachhaltig auf Führung als Beziehungsphänomen und bereitet der bald um sich greifenden Unterscheidung zwischen Manager und Leader den Boden: der eine ist eher Verwalter, der andere eher Visionär und Inspirator (vgl. etwa Zaleznik 1977; Kotter 1990). Kirchlich ist das relevant, weil etwa eine ländervergleichende Analyse hervorbringt, dass die zuletzt immer interessierter beobachtete Pastoral Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen 163 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 164 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 165 THEMA Leiten – nicht leiden Interaktive Wertschätzung des US-amerikanischen Kulturraums stark von diesem Denken durchzogen ist: „Könnte es sein, dass wir Amerikaner sehr fixiert sind auf die Rekrutierung ehrenamtlicher Leader, während Ihr Deutschen eher auf der Suche nach Followern seid?“, fragt der amerikanische Pfarrer mich während meiner Exposure-Erfahrung in der Ortskirche von Chicago. Und die Willow Creek Megachurch, zu deren deutschem Leitungskongress mittlerweile tausende Protestanten und Katholiken strömen, atmet Transformation: „Lead where you are“ (Führe, wo du bist) heißt das Credo. Führen heißt hier: sich durch Gottes Führung verwandeln (transformieren) lassen, um dann Welt zu verwandeln. Das ist interessant für eine Kirche, der die Führungskräfte abhanden kommen. Lässt sich hier lernen, Menschen zu gewinnen, die auf Sendung gehen und nicht nur zuhören möchten? FÜHRUNG UNTER MANIPULATIONSVERDACHT Der bis in die Weber’schen Einsichten zu Amt, Herrschaft und Charisma zurückreichende Führungstrend weckt im hiesigen Denken und Fühlen Widerstände: er erinnert zu sehr an die unheiligen Führer des 20. Jahrhunderts. Die Idee, die Werte und Einstellungen von Mitarbeitern zu beeinflussen, um statt einer transaktional extrinsischen nunmehr eine transformational intrinsische Motivation zu erzeugen, lässt Manipulationsverdachte einrasten. Es überrascht nicht, wenn der Leadershipgedanke hier lange hinter systemischen und elaboriert transaktionalen Konzepten zurückstand. In seiner bemerkenswerten Ekklesiologie illustriert nun Michael Böhnke, anknüpfend an die führungstheoretische Studie von Wolfgang Pax, 164 wie transformationale Führung in der neueren Wirtschaftspsychologie wie in biblisch-urkirchlicher Perspektive produktiv durch einen sozial ausgerichteten, situativen Charismenbegriff erschlossen wird (Böhnke 2013, 240ff.). Charisma ist hier nicht genialisches Persönlichkeitsmerkmal, sondern kontext- und kommunikationsbezogen. Dies deckt sich auch mit dem soziologischen Befund der imposant skalierten GLOBE Study (House 2004), die für das interkulturelle Management erschließt, wie divers sich „Leadership“ in den Kultur- und Sprachräumen skizziert. Wie könnte eine katholisch kompatible Enkulturationsform für unseren Sprachraum aussehen? DIENENDE FÜHRUNG – LEADING LIKE JESUS? Die Konzeption der „dienenden Führung“ bzw. „Servant Leadership“ (Greenleaf 1970) weckt Interesse, insofern sie als Variante der transformationalen Führung enorme Passung sowohl in kirchlichen Kontexten wie in unternehmerischen Umgebungen verspricht, denen sie eigentlich entstammt. Der im deutschen Sprachraum erstaunlich unbeachtete Ansatz hat in den USA sowohl aufgrund seiner Semantik als auch aufgrund zahlreicher typisch amerikanischer Erfolgsgeschichten wachsende Rezeption in kirchlichen Kontexten gefunden. Zugleich trifft man neuerdings deutsche KCG-Forscher (Kleine Christliche Gemeinschaften) bei Servant-Leadership-Kursen auf den Philippinen. Worum geht es dabei? Die dienende Führungskraft führt vor allem transformational, richtet aber den Fokus nicht auf die Ziele der Organisation, sondern auf Bedürfnisse und Charismen der Geführten. Durch Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen vorbildhaft dienendes Verhalten will sie zur Nachahmung anstiften und damit erzeugen, was die Arbeits- und Organisationspsychologie „Organizational Citizenship Behaviour“ (OCB) nennt: Helfen, Initiieren, Beifall geben, Wirtschaften, Partizipation, Teilhabe, Selbst-Entwicklung. Kirchliche Führung muss dazu, wie alle Verkündigung, „sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen“ (GS 44) sein und sich produktiv enkulturieren lassen. Ihre Plausibilität erschließt sich optimalerweise dem Messdienergruppenleiter so leicht wie dem Pfarrer, dem Schulleiter wie dem Schüler, dem Bischofskaplan wie dem Heiligen Vater. Es darf nicht vieler Prämissen bedürfen, damit katholische und städtische SchulleiterInnen, Seelsorgeamts- und OrdnungsamtsleiterInnen sich auf Augenhöhe über gute Führung austauschen können. Eine kirchliche Führungskonzeption wird nicht historisierend antike Führungsvorbilder adaptieren können, dringlicher noch: sich zu hüten haben vor der Taufe nur phänotypisch biblisch fundierten Führungsverhaltens. Die Euphorie mancher Ratgeberliteratur lässt vermuten, man könnte tatsächlich führen wie der Heiland. Aber auch mit größerer Nüchternheit dockt Servant Leadership offenbar produktiv an biblischem Dienstverständnis an. Vor dem Hintergrund der Herausforderungslage muss eine kirchliche Führungskultur sich überdies daran messen lassen, inwieweit sie auch Führungskräfte oder nur Follower anzieht. Das fordert heraus, insofern es in der Frage aufgipfelt, wer nach uns führen wird. DIENENDE FÜHRUNG ALS „INTERAKTIVE WERTSCHÄTZUNG“ Doch das Konzept verspricht mehr: ich schlage vor, es im Sinne einer „interaktiven Wertschätzung“ produktiv in den Horizont des Innovationsmanagements hinein zu entfalten: wo Unternehmen die Expertise vormaliger Nur-Leistungsempfänger in die Wertschöpfungskette integrieren und aus dem Modus der Publikation in den Modus der Interaktion wechseln, ist kirchliches Führen mit andienendem Lächeln herausgefordert, aus den Angebots- und Versorgungslogiken der Hintergrunderfüllung zum subsidiären Dienst-Leister kokreativer Kirchenentwicklung zu werden. Kirche dienend führen heißt dann: eine organisationsvertikal stringente Kultur der Fach- und Führungskräfteentwicklung zu etablieren, in Haupt- und Ehrenamt. Von professionell innovierenden Unternehmen lernt sie dabei, dass jahrzehntelang gleichbesetzte Leitungspositionen aller Ebenen auf junge Talente extrem abschreckend wirken: wer möchte nach seinem Studium 30 Jahre auf die erste Führungsverantwortung warten? Oder umgekehrt: was passiert in Organisationen, in denen vorwiegend Mitarbeiter mit dieser Bereitschaft anzutreffen sind? Führung als Interaktive Wertschätzung wird diese Samuel-Effekte (1Sam 3) nicht nur zum Gegenstand geistlicher Einkehrtage machen, sondern präzisionsscharfe Werkzeuge entwickeln wollen, Bedürfnis- und Lösungsexpertise nicht abperlen zu lassen. Dienende Führung im Sinne interaktiver Wertschätzung bedeutet auch, dass die für kundenindividuelle Dienstleistung bedeutsamen Prozesse durch konsequente Nutzung von Kommunikationstechnologien erlernt werden. Praktisch wird das zum Beispiel dort, wo Diözesen, Pfar- Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen 165 LS_3_2014_160_166_Sobetzko 02.06.14 10:03 Seite 166 LS_3_2014_167_168_Polak 24.05.14 14:57 Seite 167 THEMA Leiten – nicht leiden Interaktive Wertschätzung reien, Einrichtungen es meistern, mit bei Dienstleistern oder etwa auch bei missio üblichen CRMSystemen (technisch gestütztes Kundenbeziehungsmanagement) zu arbeiten, die echte Kunden- oder Mitgliederorientierung in Großpfarreien ohne Überanstrengung erst ermöglichen. DIENSTSTELLE Wenn fernerhin SeelsorgerInnen hinter Firewalls mit elektronischen Kalendarien arbeiten, die sich mit denen ihrer ehrenamtlichen Kooperationspartner aus technischen Gründen nicht synchronisieren lassen, so strahlt das deutlich aus, dass Interaktion mit „denen da draußen“ eher stört. Wo Kirche also interaktiv wertschöpfend und wertschätzend geführt werden soll, wird sie das auch organisational abbilden: stark aufgestellte IT-Abteilungen sind in diesem Paradigma nicht erst zu konsultieren, wenn der Laserdrucker streikt. Ihre Expertise ist missionskritisches Qualitätskriterium pastoraler Diensterbringung, im Konzert mit Innovationsmanagern, Pastoralentwicklern und Praktikern aus dem Feld entwi- THEMA Leiten – nicht leiden Pro und Contra ckeln sie die unentbehrlichen Werkzeuge pastoraler Interaktionsfähigkeit. Führung im Sinne interaktiver Wertschätzung ist indes auch eine Ermutigung, dem stagnierenden „Wieviele sind hier?“ eine Kultur des „Wie geht es Dir?“ nicht entgegen-, sondern zur Seite zu stellen: Kirche in diesem Sinne ist keine anonyme Massenveranstaltung, aber eben auch keine Versorgungsanstalt für ein paar Insider aus dem Nahbereich des Pastoralteams. Interaktiv wertschätzende Führung will die Gefragten inspirieren, infektiös nach dem Ergehen zu fragen – Kirche ist kein Selbstversorgerhaus, sie ist im vornehmsten Sinne: Dienststelle. ! LITERATUR Ebener, Dan R., Servant leadership models for your parish, 2010. Piller, Frank, Mass customization, 2000. Reichwald, Ralf / Piller, Frank, Interaktive Wertschöpfung: Open innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung, 2009. Sellmann, Matthias, Kirche als Raum interaktiver Wertschöpfung. Innovationstheologische Seitenblicke auf Betriebswirtschaftslehre und Zweites Vatikanisches Konzil, in: Knapp, M. / Söding, Th. (Hg.), Glauben in Gemeinschaft. Autorität und Rezeption in der Kirche, 2014 (in Druck). Sobetzko, Florian, Bodybuilding für den Leib Christi. Kirchliche Lead Customer, in: Euangel. Magazin für missionarische Pastoral, Nr. 6/2014. Warum eigentlich? Die Replik von Regina Polak auf Florian Sobetzko W as gewinne ich bei der Lektüre eines Textes „in ungewohnter Sprache“? Ich übersetze exemplarisch einige der Praxisvorschläge in meine etwas schlichtere Sprache: um sich zu erneuern, soll die Kirche ihre Probleme möglichst vielen Menschen vorlegen und diese einbeziehen; möglichst auch jene, die nicht zur Kirche gehören. Sie soll ihr eigenes „geheimes“ Wissen zur Verfügung stellen, auf dass möglichst viele andere, auch kirchenfremde Menschen, daraus neue Ideen entwickeln können. Vor allem unzufriedene Menschen sollen sich einbringen können. Das Angebot der Kirche soll das Bedürfniswissen ihrer Kunden besser nützen. Ich teile die Einschätzung Sobetzkos, dass die Kirche dringlich ihre familialistische Binnenorientierung aufgeben und im Sinne von Gaudium et Spes 44 von den Anderen außerhalb der Kirche lernen muss. Aber worin liegt der Gewinn, die Handlungsideen in einer Sprache zu formulieren, die von technokratisch-ökonomischen Fremdwörtern gespickt ist? TOTALISIERENDE SPRACHE Kirche und Theologie können von diesem betriebs- und ingenieurwissenschaftlichen Technologiemanagement wichtige Impulse bekommen: die Bedeutung von Partizipation, von Vernetzung mit der Welt, vom Wert der Kritik. Eine grundsätzliche Aversion gegen diese Sphäre, bei Theologen oft anzutreffen, ist unange166 Lebendige Seelsorge 3/2014 Interaktive Wertschätzung – Kirche innovationsgerichtet führen messen. Auch die Erfahrungen der unternehmerischen US-amerikanischen Kirche sind anregend. Aber kann die Rezeption so undifferenziert geschehen? Rein formal, die Kirche ausschließlich als Organisation und Unternehmen verstehend? Auch die Theologie – anregend, aber leider unausgeführt die Übersichtsliste theologischer Zitate – wird nur als Beweis assoziativ angeklebt. Eine Topf-Deckel-Argumentation, die Angleichung kann doch wie geschmiert klappen, oder? Hier die weltliche Theorie – da der theologische Beweis, und los geht’s. Darf man als TheologIn bestimmte Denkformen und Worte aus anderen Wissenschaften und Gesellschaftssphären so ohne weiteres übernehmen? Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen? Sobetzko verwendet eine betriebswirtschaftlich-technokratische Sprache. Da werden „Solver“ mit Ideen „traktiert“, wird „externes Bedürfniswissen genutzt“, Propheten als „unzufriedene Kunden“ bezeichnet. Wie verändern solche Worte die Wahrnehmung, das Handeln? Der jüdische Philologe Viktor Klemperer hat sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen (1947) intensiv mit Merkmalen totalisierender Sprache auseinandergesetzt. Manches, das er beschreibt, erinnert mich unangenehm an Sprachformen, mit denen wir heute in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft konfrontiert sind – auch die Theologie ist da nicht ausgenommen. Einige Beispiele, die Klemperer anführt: totalisierende Sprache entbehrt der Poesie und hat eine Tendenz zum Lebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 167–168) 167 LS_3_2014_167_168_Polak 24.05.14 14:57 Seite 168 LS_3_2014_169_170_Sobetzko 24.05.14 14:58 Seite 169 THEMA Leiten – nicht leiden Pro und Contra THEMA Leiten – nicht leiden Pro und Contra Monotonen und Nivellierenden. Sie strotzt vor Fremdwörtern, die dazu dienen, den Mangel an Nachdenklichkeit zu übertönen. Daher trifft man auch niemals auf Fragen. Diese Worte sollen imponieren und schließen zugleich jene aus, die nicht zu dieser Sprach-In-Group gehören. Diese Art der Sprache wimmelt von (Zeit)Worten, die menschliches Handeln mechanisieren; technische Metaphern sind überaus beliebt. Beliebt sind alle Arten von Worten und Tätigkeiten, die sich rund ums „Inszenieren“ und „Organisieren“ ranken und Dynamik nahelegen, auch wenn nicht klar ist, wohin die Reise geht und worin der Sinn dieses „Gesetzes des Handelns“ liegt. Reflexion, Zweifel, Fraglichkeit sind verdächtig und gelten als unproduktiv. Klemperer hat gezeigt, wie diese Art von Sprache schrittweise das Denken verändern kann – auch jener, die totalitäre Ideologien nicht teilen. Mich erschreckt das, denn auch der Ökonomismus und Szientismus unserer Tage bergen totalisierende Gefahren, die wissenschaftlich reflektiert werden müssen. Wir Wissenschaftler sind verpflichtet, achtsam mit Sprache umzugehen. FORMALES STEHT IM VORDERGRUND Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass es mir fern liegt, Kollegen Sobetzko oder moderne Führungstheorien in die Nähe totalisierender Sprachpolitiken zu rücken. Aber gerade wir innovationsfreudigen PastoraltheologInnen – da stelle ich mich neben Kollegen Sobetzko, weil auch ich gerne moderne Theorien übernehme – müssen in der Rezeption technisch-ökonomischer Sprachspiele (selbst)kritisch vorgehen. Sonst fördern wir unbeabsichtigt riskante Wahrnehmungs- und Denkformen. 168 Lebendige Seelsorge 3/2014 Warum eigentlich? Mein Eindruck, dass Sobetzko diesbezüglich zu unbedarft vorgeht, hängt auch mit der Konzentration auf das Formale zusammen. Ich finde in diesem Ansatz keine Inhalte. Worin besteht z.B. das „geheime Wissen“ der Kirche? Führungskräfte beziehen sich in diesem Modell auch ganz explizit nicht auf Ziele, sondern sollen – das ist gut gemeint – dienen. Aber wem? Welcher Idee, welcher Vision? Was ist das leitende inhaltliche „Erfolgs“kriterium? Angeführt werden die amerikanischen Erfolgsgeschichten, die Masse jener, die zu einem Leitungskongress pilgern. Vom Manipulationsverdacht wird zwar kurz gesprochen, aber wird er inhaltlich entkräftet? Ich habe kein Argument gefunden. Wie gesagt, die Theologie dient als Beweis des Modells, nicht als kritische Dialogpartnerin. Keine Frage, die Kirche in Deutschland und Österreich steht vor der Aufgabe der Erneuerung. Sobetzko bringt ein paar gute Praxis-Ideen. Aber ist nicht der eigentliche Mangel an Innovation der Mangel an inhaltlichen Ideen, dass die eigene Tradition unbekannt ist und es massive Schwierigkeiten gibt, diese zu verheutigen, weil man sich nicht im Horizont der Gegenwart denken kann? Armin Thurnherr, ein österreichischer Journalist („Der Falter“), stellt seinen Interviewpartnern gerne eine Frage: „Warum eigentlich?“ Das würde ich gerne von Kollegen Sobetzko wissen: Warum eigentlich soll die Kirche dieses Modell übernehmen? ! LITERATUR Klemperer, Viktor, Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947. Theologieferne der Praktiker oder Praxisferne der Theologie? Die Replik von Florian Sobetzko auf Regina Polak I n Ihrem Aufsatz entwickelt Regina Polak, ausgehend von Reflexionen über die Ambivalenz von Macht und anknüpfend an Beobachtungen aus ihrer theologischen Arbeit mit kirchlichen Führungskräften, eine communio- und prozessorientierte Theologie der Leitung. Als Anlass benennt sie ihre Wahrnehmung seltsamer Abwesenheit theologischer Reflexion bei sich mit modernen Leitungstools durchaus professionalisierenden Leitungsverantwortlichen. Ihr Entwurf knüpft an der jesuanischen Predigt des Reiches Gottes an, das als Reich Gottes vor Ort entwickelt werden soll. Insofern sich hieraus für Leitung die Aufgabe der Initiierung, Gestaltung und Begleitung von Kommunikations- und Lernprozessen ergibt, skizziert Frau Polak eine Kriteriologie zur theologischen Reflexion von Leitungsinstrumenten: sie sollen Beziehungen, Kommunikation und Partizipation fördern, Lernprozesse induzieren. Entlang LG 30 beschreibt sie dabei Leitung als Berufung aller Getauften, woraus sich ferner die Führungsaufgabe der Ermächtigung und Befähigung von Leitungscharismen ergibt. Als „vielleicht wohl“ wichtigste Aufgabe von Leitung benennt sie abschließend, die Notwendigkeit der Metanoia wahrzunehmen und den organisationalen Wandel zweiter Ordnung anzudenken und zu riskieren. Die Ausarbeitung ist kohärent, knüpft plastisch an Praxiserfahrungen an und lässt die LeserInnen vermutlich kontinuierlich wissend nicken. Indes: ich finde mich auch nach wiederholter Lektüre mit gerunzelter Stirn am Schreibtisch, fragend „Ja – und also?“ SCHWERWIEGENDE DIAGNOSE OHNE WIRKSAME KONSEQUENZ Frau Polaks Beobachtung müsste verstören: scheinbar signifikant sind kirchliche Führungskräfte gekennzeichnet von der Abwesenheit theologischer Vision und Reflexion, extrapolieren eine inspirationslose Zukunft aus krisenhafter Gegenwart, agieren in inadäquaten Mustern von Gehorsamsstrukturen und Konfliktvermeidungslogiken, dabei offensichtlich gegen jede Form von Fremdprophetie abgesichert. Doch Leitungstheologie deutet ihnen nur diskret an, dass Ihre Aufgabe „vielleicht wohl“ darin bestehe, wahrzunehmen und anzudenken, dass die Kirche in ihren bisher dominanten Vollzugsgestalten schwer in der Krise und zu fundamentaler Metanoia herausgefordert ist? HOCHABGESICHERTE THEOLOGIE DER UNBESTIMMTHEIT Ist es denn wirklich Wunsch der Bistumsleitungen und ihrer Führungskräfte, von ihren theologischen RatgeberInnen so behutsam vor der ReLebendige Seelsorge 65. Jahrgang 3/2014 (S. 169–170) 169 LS_3_2014_169_170_Sobetzko 24.05.14 14:58 Seite 170 THEMA Leiten – nicht leiden Pro und Contra alität geschützt zu werden, die doch immens konkrete Aufgaben an sie richtet? Dürfen sie von der Theologie, der praktischen zumal, im 21. Jahrhundert nicht mehr erwarten als postmaterielle Erbaulichkeit? Theologie muss sich kontextualisieren, sie hat das Evangelium auf das konkrete und aktuelle Leben zu beziehen, sonst erschafft sie selbstreferenzielle Sonderwelten. Ich muss gestehen, dass ich diese Gefahr hier sehe: wenn kirchliche Nichtinsider, etwa aus Politik oder Wirtschaft, uns so über Leitung theologisieren hörten, müssten sie staunen: wir sprechen doch nicht über die Führung von Kommuniongruppen, sondern über institutionelle Organisationsgebilde teils exorbitanter Größe, von deren Leitung und ihren Beratern man überall sonst höchste Professionalität auf ihrem Gebiet erwarten würde. In welcher Sphäre bewegen sich Kirche und Theologie, so unpräzise und ergebnisindifferent die Zukunft diskutieren zu dürfen? Auftrag alsbald wieder dem Heiligen Geist oder Jes 43 delegieren? Wenn von Leitung richtig gute Arbeit gefordert ist, darf dann eine Theologie der Leitung so unscharf bleiben, dass alle wissend nicken, weil niemand etwas Neues erfährt? Der Vorgang ist mir ja erklärlich, denn wo immer sich in kirchlichen Kontexten derzeit jemand vorwagt und die Sicherheit des hochabgesicherten Theologisierens in monodisziplinären Sprachwelten verlässt, sind die Stimmen sogleich zu hören: „Machbarkeitsdenken, Flirt mit der BWL, Technokratie, keine Theologie mehr, Kirche geht doch anders“, um nur einige zu nennen. Das Resultat indes muss beunruhigen, denn während die umgebende Welt bestimmt ist von produktiv-interdisziplinärem Lernen, unterhält sich solch eine Theologie nur mit sich selbst und verkennt, dass Leitungsverantwortliche sich nur deshalb „seltsam theologiefern“ bei anderen Anbietern eindecken, weil hausintern schlichtweg niemand liefert, was für kirchliches Komplexitätsmanagement erforderlich wäre. COMMUNIO-EKKLESIOLOGIE DARF NICHT ALS SEDATIVUM DIENEN Natürlich sind kommunikationsförderliche Instrumente „spannend“, die Zeiten und Räume eröffnen, glauben und leben zu lernen. Natürlich ist Leitung „eine geistliche Berufung, die sich an alle richtet“, gerne darf man auch in Exerzitien und Supervisionsrunden „anhand der je persönlichen Begabungen, Aufgaben, biographischen Erfahrungen [...] fragen: Worin besteht mein Leitungsauftrag für die Kirche?“ Bloß, müsste eine Theologie der Leitung nicht semantisch wie performativ einen Diskant zu Selbstvergewisserungsstrategien setzen, die im Moment der Herausforderung „zweiter Ordnung“ den eigenen 170 LEITER MÜSSEN WAGNISBEREIT SEIN – THEOLOGIE DER LEITUNG AUCH Kirche leiten in nachkonstantinischer Zeit ist vor allem eines: ein großes Wagnis. Eine Theologie der Leitung würde ich mir deshalb ebenfalls wagnisbereiter wünschen. Sie sollte prophetischer sein und kirchliche Führungsverantwortliche unumwunden mit Ihren gewichtigen Aufgaben und brauchbaren Lernvorschlägen für den Turnaround (Metanoia) konfrontieren, statt sie dialektisch in Gewissheiten zu wägen. Ansonsten wäre der erste „charismatische Visionär“, dem wir „mit Vorsicht begegnen“, Jesus Christus, der Herr. ! Lebendige Seelsorge 3/2014 Theologieferne der Praktiker oder Praxisferne der Theologie?